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Wertsynthese — Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel | APuZ 46/1989 | bpb.de

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APuZ 46/1989 Artikel 1 Politikunterricht und moralische Erziehung Zum Verhältnis von politischer Bildung und politischer Ethik Wertsynthese — Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel Spielregeln parlamentarischen Handelns verstehen Die Bedeutung parlamentarischer Institutionen und Verfahren für die politische Bildung Politikwissenschaft und Zeitdiagnose in der Bundesrepublik Deutschland

Wertsynthese — Eine Antwort der politischen Bildung auf den Wertwandel

Gerd Hepp

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In seiner Wertwandelanalyse, in der er zwischen Pflicht-und Akzeptanzwerten auf der einen und Selbstentfaltungswerten auf der anderen Seite unterscheidet, hat Helmut Klages auch verschiedene Szenarios künftiger Wertentwicklungen herausgearbeitet. Demokratietheoretisch gesehen stellt dabei das von ihm entwickelte Konzept der Wertsynthese einen interessanten Versuch dar, beide Wertprofile unter Vermeidung von Extrempositionen in ein ausgewogenes Verhältnis funktionaler Komplementarität zu bringen, um so personale und soziale Anomien zu vermeiden. Die mit dem Wertwandel einhergehenden Anomien sind Anlaß zu der Frage, ob sich dieses Modell auf die politische Bildung übertragen läßt. Die entsprechende Argumentation erfolgt hier von vier Ebenen aus. Zunächst werden die Auswirkungen des Wertwandels auf die politische Kultur problematisiert und daraus — im Sinne der Wertsynthese — didaktische Schlußfolgerungen abgeleitet: Politische Bildung muß die sozialethische Dimension des Demokratieverständnisses wieder stärker akzentuieren sowie Tendenzen zu einem Wertabsolutismus und zur Erosion des institutionellen Bewußtseins entgegenwirken. Entsprechende Korrekturen sind auch insofern angezeigt, als der verfassungsmäßigen Ordnung selbst wertsynthetische Auffassungen zugrunde hegen und die Politikdidaktik sich in der Phase des Wertwandelschubs einseitig zu einer Selbstentfaltungsdidaktik entwickelt hat. Dies war auch motivationspsychologisch betrachtet problematisch, da sich dies im Hinblick auf die Ausbildung von Autonomie und Persönlichkeitsstärke kontraproduktiv ausgewirkt hat. Schließlich sind es die Herausforderungen der Zukunft, die mit der industriellen und technologischen Entwicklung zusammenhängenden Gefahren, die dem Konzept der Wertsynthese eine geradezu existenzielle Dimension verleihen.

I. Allgemeine Dimensionen des Wertwandels

In seiner Rede anläßlich des 40. Jahrestages der Proklamation des Grundgesetzes hat Bundespräsident Richard von Weizsäcker unter anderem dezidiert zur aktuellen Wertproblematik Stellung bezogen. Die Verfassung, so meinte er, sei „kein ewig sprudelnder Wertebrunnen für ethische Dürrezeiten“, sie lebe vielmehr „von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen oder erneuern“ könne, nämlich den allgemeinen ethischen Überzeugungen -Wo er für die Gegenwart solche ethischen Defizite sah, verschwieg er nicht. So klagte er z. B. über wachsendes individuelles Anspruchsdenken, über abnehmende Solidarität, über schrumpfenden Bürger-und Gemeinsinn sowie über eine Mentalität zur . Vollkasko-und Rechthabereigesellschaft’. Hätte sich der Bundespräsident in den Kategorien der empirischen Wertforschung ausgedrückt, hätte er die angesprochene Problematik auch als Folgeerscheinung des epochalen Wertwandels beschreiben können, der seit Mitte der sechziger Jahre, insbesondere in der Bundesrepublik, für Turbulenzen gesorgt hat. Zur Erklärung des Wertwandels soll im folgenden in Anlehnung an Helmut Klages zwischen zwei globalen — miteinander konkurrierenden — Wertegruppen unterschieden werden, die in der Bevölkerung allerdings sehr unterschiedliche Mischungsverhältnisse eingehen: Pflicht-und Akzeptanzwerten auf der einen und Selbstentfaltungswerten auf der anderen Seite Unter letzteren versteht erz. B. Werte wie Spontaneität, Selbstverwirklichung, Ungebundenheit, Selbständigkeit, Lebensgenuß, Anspruch auf materielle Güter und soziale Sicherheit, Forderungen nach einem Mehr an Gleichheit, politischer Partizipation und selbstbestimmter Demokratie. Am anderen Ende des Wertespektrums stehen die asketisch geprägten Pflicht-und Akzeptanzwerte wie Disziplin, Gehorsam, Leistung, Ordnung, Pflichterfüllung, Opferbereitschaft, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung.

Den Kern der Entwicklung — die Substanz des Wertwandels — sieht Klages in einem Trend begründet, der von den schrumpfenden Pflicht-und Akzeptanzwerten zu den expandierenden Selbstentfaltungswerten verläuft. Das hiermit verbundene empirische Ausmaß des Absinkens der menschlichen Pflicht-und Akzeptanzwerte hält er unter bestimmten Voraussetzungen für einen „außerordentlich einschneidenden Vorgang“ Denn: Wenn die gegenseitigen Balanceverhältnisse zwischen beiden Wertegruppen gestört sind, werden „die Grundstrukturen der menschlichen Wertausstattung“, die „conditio humana, an einem zentralen Punkt zur Diskussion gestellt, ... ist alles potentiell aus den Fugen“ Die Auswirkungen auf die politische Kultur bewertet er eher negativ, denn wo sich der aktuelle Wertwandel dezidiert durchsetzt, „führt er zur Indifferenz oder Unduldsamkeit im Hinblick auf vieles, was für das Gemeinwohl erforderlich ist, wie gleichzeitig auch zu einem starken Beharren aufder Vorrangigkeit von Systemveränderungen zugunsten der Rechte und Möglichkeiten des individuellen Einzelnen“

II. Wertsynthese als theoretisches Modell

In seiner Studie entwirft Klages auch eine interessante Prognose möglicher künftiger Wertentwicklungen, die er in vier verschiedenen Szenarios zusammenfaßt Die „Status quo“ -Prognose geht aus von der Fortdauer gemischter Wertmuster, impliziert allerdings situativ bedingte Schwankungen der Wertausprägung, das Herausfallen aus eindeutigen Wertbindungen und damit impulshaftes, Identitätsschwäche signalisierendes Reagieren (Wertverlust). Die zweite Alternative „Rückkehr zur Tradition“ beinhaltet ein nachhaltiges und längerfristiges Zurückdrängen von Selbstentfaltungswerten und damit verbunden eine Verstärkung sozialer Kontrollen, einen starken Anpassungs-und Leistungs-druck sowie das Überwiegen kollektivistischer Orientierungen. Die hiermit kontrastierende dritte Möglichkeit des „Durchbruchs nach vom“ umfaßt die ungehemmte Realisierung emanzipatorischer Selbstentfaltungswerte, während die traditionellen Pflicht-und Akzeptanzwerte gleichzeitig tendenziell auf Null absinken (Wertumsturz). Keine dieser drei Möglichkeiten, so Klages, erweist sich jedoch als wünschenswert: Die erste führt zu individueller und gesellschaftlicher Labilität, die zweite zu obrigkeitsstaatlichen und damit demokratiefeindlichen Mustern, die dritte mündet in wirklichkeitsfremde Utopien, begünstigt das Entstehen gegenläufiger politischer Kulturen und damit die Gefahr eines soziokulturellen Risses im Gefüge der Gesellschaft. Das Hauptinteresse von Klages gilt so der vierten, allerdings bislang wenig beachteten Möglichkeit der Wertsynthese. In ihr werden Selbstentfaltungs-, Pflicht-und Akzeptanzwerte unter Vermeidung von Extrempositionen in ein gegenseitig ausgewogenes Verhältnis gebracht und dadurch stabilisiert. Beide Werttypen werden nicht mehr als dialektisch unvereinbare, unerträgliche Wertspannungen provozierende Gegensätze, sondern in ihrer funktionalen, die Vereinigung heterogener Wertelemente durchaus gestattenden Komplementarität gesehen. An die Stelle von Wertradikalismus tritt die Wert-Vernunft, so daß der Wertwandel sozialverträglich wird. Ziel ist das Austarieren von Gleichgewichts-lagen, d. h. die Optimierung des Mischungsverhältnisses im Sinne eines produktiven Mit-und Gegeneinanders beider Wertgruppen. Bezogen auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft meint Wertsynthese nach Klages weder einen Staatsbürger, der frei wird für Fügsamkeiten und Autoritätszwänge, noch einen solchen, der utopischen Forderungen oder irrationalen Ansprüchen zugänglich ist. Vielmehr charakterisiert den Wertsynthetiker, daß er einerseits zwar ein hohes Anspruchsniveau, andererseits jedoch ein hohes Maß an Selbstkontrolle entwickelt.

Nicht Mittelmaß, sondern Mäßigung zeichnet ihn aus. Zu einem realistischen Wechselspiel mit der Wirklichkeit fähig, nutzt er einerseits aktiv gegebene Chancen, indem er versucht, „das Beste“ herauszuholen, zum anderen entwickelt er jedoch über ein hohes Maß an Selbstkontrolle hinaus eine relativ hohe Frustrationstoleranz, die ihn Enttäuschungen leichter ertragen läßt. Er ist kein Duckmäuser, sondern ein zugleich kritisch unbequemer, konflikt-fähiger, selbstbewußter, aber auch stets kooperativer, die eigene Selbstverantwortlichkeit betonender Bürger mit einer stabilen Grundbereitschaft zur gefühlsmäßigen Systembejahung. Er entspricht'nach Klages und Willi Herbert dem Typ des aufgeklärten und aktiven Staatsbürgers, den die Demokratietheorie von Anfang an im Auge gehabt hat. Nach empirischen Untersuchungen beider Autoren können in der Bundesrepublik dem Typ des Wertsynthetikers.der zugleich die Überwindung des soziokulturellen Risses verkörpert, immerhin bereits 15 Prozent der Bevölkerung zugerechnet werden

III. Wertsynthese als didaktische Aufgabe

Der von Klages herausgearbeitete Typus des Wertsynthetikers als eines seinen eigenen Wertehaushalt optimal steuernden demokratischen Wunschbürgers legt die Frage nahe, ob dieses Konzept sich auch auf den Bereich der politischen Bildung übertragen läßt. Vor dem Hintergrund einer solchen, gewissermaßen als Idealtypus dienenden Folie, wäre dazu eine Bestandsaufnahme unserer politischen Wertkultur erforderlich, die Defizite und notwendige Korrekturen aufzuzeigen und der Frage nach der bisherigen und künftigen Rolle und den Intentionen der Politikdidaktik nachzugehen hätte. Das Konzept der Wertsynthese könnte so eine adäquate didaktische Antwort auf die Herausforderungen des Wertwandels darstellen 1. Die Auswirkungen des Wertwandels auf die politische Kultur In zahlreichen Untersuchungen wurde nachgewiesen, daß der Wertwandel sowohl in einzelnen sozialen Lebensbereichen (Erziehungsziele, Ehe und Familie, Arbeits-und Berufsleben, Religion und Kirche) wie auch im Bereich der politischen Kultur weitreichende Veränderungen bewirkt hat. In einer generalisierenden Weise lassen sich diese stichwort-artig resümieren als Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile, als allgemeiner Deinstitutionalisierungsprozeß sowie als Zunahme instrumenteller Einstellungen. Ausschließlich auf die politische Kultur bezogen, soll dies hier — thesenhaft verkürzt — an drei Phänomenen angedeutet und anschließend didaktisch problematisiert werden Demokratieverständnis Wertwandel und Entwicklung des demokratischen Wertbewußtseins stehen in einem ambivalenten Wechselverhältnis. Einerseits war der Wertwandel Motor der „partizipatorischen Revolution“ und steht so gewissermaßen synonym für den allgemeinen Demokratisierungsprozeß seit Mitte der sechziger Jahre. Relikte einer alten „Untertankultur“ mit ihrer Überbetonung von Kollektiv-, Pflicht-und Ordnungswerten konnten so zugunsten von mehr individueller Mit-und Selbstbestimmung abgebaut werden. Andererseits — und dies ist primär wohl nur mit den historischen Vorbelastungen und der allgemeinen Wohlstandsentwicklung erklärbar — war dieser Prozeß auch von Überreaktion und Überkompensation geprägt. Selbstentfaltungswerte wurden einseitig und geradezu eruptiv freigesetzt, so daß zunehmend Entpflichtungs-und Entsolidarisierungstendenzen gegenüber dem sozialen Ganzen und dem demokratischen Gemeinwesen manifest wurden. Nicht der „citoyen“, sondern der möglichst unabhängige Sozialbürger, dessen Lebensgefühl sich mit der Formel „tun und lassen können, was man will“ umschreiben läßt, scheint inzwischen zur gesellschaftlichen Leitfigur geworden zu sein Die Wertschätzung der Demokratie reduziert sich so im wesentlichen auf den möglichst weitgehenden Anspruch auf materielle und individuelle Bedürfnisbefriedigung, die maximale Ausnutzung individueller Freiheitsspielräume und die Gewährleistung eines Maximums an persönlicher Selbstverwirklichung und Glück. Unter kleinstmöglichem Einsatz soll aus dem Rechts-und Sozialstaatsangebot der größtmögliche private Nutzen gezogen werden. Daß Demokratie weniger ideell als individualistisch-instrumentell interpretiert wird, zeigt ein eher konsumentenhaftes Verständnis von Partizipation im Sinne einer möglichst unverkürzten Durchsetzung eigener Interessen, wie auch die wachsende Neigung, sich den diversen „Zumutungen“ des Staates zu entziehen. Treffend kommentiert Helge Pross die hierin zum Ausdruck kommende Erosion des Gemeinsinns: „Übergreifende, über die persönlichen Interessen und das private Glück hinausreichende Ideen, Ideen der Selbstverleugnung zugunsten gemeinschaftlicher Belange, Ideen der Solidarität zu Lasten des eigenen Vorteils. Ideen des Verzichts für ein Kollektiv haben in der Bundesrepublik keine Heimat. In diesem Sinne besteht ein geistiges Vakuum. Auch das ist heute deutsch. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Bundesrepublik von anderen westlichen Gesellschaften.“

Wertabsolutismus Einseitig und teilweise radikalisiert werden Selbstentfaltungswerte — bei gleichzeitig ausgeprägter Distanz gegenüber den als restaurativ und illiberal eingestuften Pflicht-und Akzeptanzwerten — vor allem im Umfeld der neuen sozialen Bewegungen geltend gemacht Obwohl eine Minderheit, beeinflussen sie als Avantgarde des Wertwandels das öffentliche Wertbewußtsein nicht unerheblich. Sich selbst verstehen sie als Sprachrohr einer human-idealistischen Gesellschaftskritik, der es um die Befreiung des Individuums aus vorgegebenen Ordnungen und Zwängen, um die Durchsetzung alternativer Lebensstile wie auch um die „Rettung von Menschheit und Natur“ im technisch-industriellen Zeitalter geht. In einem umfassenden Sinne thematisieren sie „Lebens-und Überlebensfragen“, verstricken sich dabei aber häufig in den Einseitigkeiten eines gesinnungsethischen Moralismus und neigen dann unter Berufung auf sichere Gewißheiten und eine höhere Legitimität dazu, die eigenen Wertpositionen und das eigene Wertverwirklichungsprogramm absolut zu setzen. Die von ihnen ins Spiel gebrachten Themen der „Neuen Politik“ werden so in den Rang von Glaubens-und Letzt-fragen erhoben, Wahrheitsanspruch und politischer Geltungsanspruch nicht mehr auseinandergehalten und in Inhalts-und Verfahrensfragen eine einseitige Veto-und Definitionsmacht reklamiert. Dies läuft einerseits auf eine einseitige Kündigung des gemeinsamen Wertekonsenses (z. B. Toleranzprinzip, Kompromißbereitschaft, Gleichheitsgrundsatz, Beschränkung der Politik auf Vorletztes) hinaus, andererseits erwachsen der politischen Kultur durch Reideologisierung, Polarisierung und Fragmentierung keineswegs unbedeutende Belastungen.

Antiinstitutionelle Affekte Ein dritter Effekt des Wertwandels betrifft die, vor allem bei Jugendlichen zu konstatierende, fortschreitende Entlegitimierung der demokratischen bzw. staatlichen Institutionen Sie hängt mit dem Wachstum der Selbstentfaltungsmentalität zusammen. Beschränkungen eigener Freiheitsspielräume werden als Fremdbestimmung oder als Hindernis spontan-ungebundener, basisdemokratischer Unmittelbarkeit erfahren. Wie weit die Geringschätzung der Institutionen bis in weite Teile der Bevölkerung hinein gediehen ist, läßt sich an einer ganzen Reihe hier nur stichwortartig genannter Symptome ablesen: an der Interpretation demokratischer Spielregeln als purem Formalismus und einer hiermit korrespondierenden Begrifflichkeit wie „Mehrheitsdemokratie“ oder „positivierte Legalitätslegitimität“ an der Subjektivierung des Rechtsverständnisses, wie sie etwa in der abnehmenden Akzeptanz rechtsstaatlich zustandegekommener Entscheidungen zum Ausdruck kommt; an der in allen politischen Lagern erstaunlich großen Bereitschaft zur Billigung illegaler Handlungen und begrenzter Regelverletzungen zum Zwecke politischer Ziel-durchsetzung; an der schon fast popularisierten Vorstellung vom Staat als Inkarnation einer „strukturellen Gewalt“, die für manche zum Anlaß einer exzessiven Interpretation des Widerstandsrechts wird; schließlich auch an der vor allem in Teilen der sozialen Bewegungen üblichen Infragestellung grundlegender Willensbildungs-und Konfliktregelungsmechanismen wie des Repräsentations-und des Mehrheitsprinzips oder des staatlichen Gewaltmonopols.

Didaktische Schlußfolgerungen Politische Bildung hat vor allem die Dialektik von Selbstentfaltung und Demokratie und die hiermit verknüpfte Ambivalenz des Wertwandels zu thematisieren. Das heißt einerseits, die konstruktive Seite eines Zugewinns von Selbstentfaltungswerten bewußt zu machen: Der Bürger als kritisch-autonomes, als ein am demokratischen Prozeß aktiv partizipierendes Individuum, wurde gestärkt und gleichzeitig die Gefahren kollektiver Manipulier-und Instrumentalisierbarkeit vermindert. Andererseits:

Richtung und Intensität der festgestellten Selbstentfaltungstendenzen, deren materialistische und individualistische Verkürzungen gehören auf den Prüfstand des didaktischen Diskurses und müssen auf ihre Demokratie-und Kollektivverträglichkeit hin analysiert werden. Einer möglichst vorurteilsfreien und rationalen Erörterung entsprechender sozialethischer Fragestellungen kann und darf sich der politische Unterricht nicht verschließen.

Ohne moralisierenden Vereinfachungen zu verfallen, kann er so deutlich machen, daß Demokratie mehr ist als nur ein Selbstbedienungsladen zum Nulltarif wie auch, daß von der seit geraumer Zeit zu beobachtenden Aufsplitterung und Zerfaserung der Gesellschaft in Subkulturen und Teilinteressen (z. B. Republikaner, Gründung einer Altenpartei) desintegrierende, möglicherweise aber auch destabilisierende Wirkungen ausgehen. Wertsynthese könnte hier folglich als didaktisches Korrektiv fungieren: Sie schärft den Blick für das Problematische des aktuellen Demokratieverständnisses und zielt auf eine Stärkung der sozialethischen bzw.der sozialintegrativen Komponente von Demokratie.

Auch beim Wertabsolutismus muß die politische Bildung differenzieren. Sie hat zum einen zuzugestehen, daß die neuen sozialen Bewegungen als Träger des Wertwandels dem politischen System auch wichtige Impulse zur Selbstreflexion und zum Überdenken verfestigter Werthierarchien vermittelt haben. Andererseits muß sie aber auch die diesem Umfeld entspringende Fundamentalisierung von Wertkonflikten und die hieraus der politischen Kultur erwachsenden Folgelasten problematisieren. Wertsynthetisch gesprochen heißt dies: Politik-didaktik muß verdeutlichen, daß in der pluralistischen Demokratie, die von der Nichtentscheidbarkeit des Richtigen auszugehen hat, es keinen Anspruch auf Absolutsetzung irgendwelcher Werte und daraus abgeleiteter konkreter Wertverwirklichungsprogramme durch eine Gruppe oder Partei geben darf. Werte wie Leben, Freiheit, Gleichheit, Frieden, saubere Umwelt oder Solidarität können weder für sich allein stehen noch losgelöst von anderen Werten absolut gesetzt werden, da dies zur Zerstörung der übrigen Werte führen muß. Vielmehr kommt es aufeine ausgewogene Kombination und Ausbalancierung von Werten an, müssen diese in eine vernünftige Relation gesetzt werden. Wird Freiheit absolut gesetzt, so wird der Schutz des Lebens, auch des noch Ungeborenen, in Frage gestellt, wird die Lebensfähigkeit künftiger Generationen durch rücksichtslose Naturausbeutung beeinträchtigt, gibt es keine Verbürgung von Rechts-gleichheit und kein Bemühen um ausgleichende Solidarität. Umgekehrt würde eine Verabsolutierung des Lebensgutes (z. B. soziale Verteidigung) die Führung eines gerechten, weil aufgezwungenen, gleichzeitig aber die Freiheit bewahrenden Verteidigungskrieges in Frage stellen, würde eine Verabsolutierung von Gleichheit in die freiheitszerstörende Gleichmacherei entarten und ein Absolutsetzen des Gutes der natürlichen Umwelt (radikalökologische Lösung) beispielsweise mit Massenarbeitslosigkeit und dem Verzicht auf wirkungsvolle Entwicklungshilfe erkauft sein und so gegen das Gebot der Solidarität verstoßen. Wertkompromisse gehören somit zu den wichtigsten Elementen einer Demokratie, und Wertsynthese als Auftrag zur Wert-Mäßigung muß hier als Beitrag der politischen Bildung zum Abbau fundamentaler Wertspannungen und zur Überwindung antagonistischer Wertprofile verstanden werden.

Im Bereich der antiinstitutionellen Affekte steht die politische Bildung in einer Bringschuld, hatte man sich doch in krasser Umkehrung früherer kruder Institutionenkunde daran gewöhnt — nun einseitig partizipationsorientiert — die Institutionen als Hemmschuh individueller Spontaneität und Selbstbestimmung oder als Herrschaftsinstrument der Mächtigen zu betrachten. Wertsynthetisch betrach-tet, bilden jedoch Selbstentfaltung und Institutionen keine unversöhnlichen Gegensätze, vielmehr stehen sie in einem spannungsreichen und dialektischen Verhältnis einander bedingender Komplementarität. Politische Bildung, die der Erosion des institutioneilen Bewußtseins entgegenwirken will, sollte deshalb den der Verfassung zugrundeliegenden minimalen Ordnungs-und Verfahrenskonsens in seiner über das rein Formale hinausreichenden materialen Qualität wieder stärker bewußt machen. Dazu gehört auch das Wissen um den normativen Sinn der Institutionen und die damit korrespondierende Erkenntnis, daß es gerade die formalen Spielregeln sind, die Selbstentfaltung erst ermöglichen und garantieren, den politischen Konfliktaustrag regulieren und so die Pazifierung der Gesellschaft erst verbürgen. Schließlich aber auch die Erkenntnis, daß Wertkonflikte, auch wenn es sich um „Schicksals-oder Überlebensfragen“ handelt, nicht außerhalb, sondern — soll der Gleichheitsgrundsatz gewahrt werden — nur innerhalb der demokratisch konstituierten Willensbildungs-und Entscheidungsmechanismen verbindlich entschieden werden können 2. Verfassungsvorgaben und die Antworten der Didaktik Bei der Legitimierung von didaktischen Konzeptionen stellt sich auch die Frage nach deren Kompatibilität mit der Verfassung. Bezogen auf die hier diskutierte Fragestellung hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Verfassungsinterpretation darauf abgehoben, daß das Menschenbild des Grundgesetzes von der Würde des Menschen und damit von dem Anspruch auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt sei. Andererseits, so das Gericht, betone das Grundgesetz aber auch die soziale Einbettung des Individuums, denn das Menschenbild des Grundgesetzes sei „nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit“, wobei das Grundgesetz „die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden habe, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“

Mit anderen Worten: Das Grundgesetz geht von einer spannungsreichen und unauflöslichen Einheit von Individualität und Sozialität aus, stellt dabei aber individualisierende Selbst-und homogenisierende Pflicht-und Akzeptanzwerte als gleichberechtigte Wertelemente nebeneinander. Dies kann analog auch für die einzelnen Länderverfassungen unterstellt werden. Die meisten enthalten eine Reihe von Bildungs-und Erziehungszielen, die — in Ergänzung des Grundgesetzes — zusätzliche Aussagen zur Stellung und Funktion des Individuums in Gesellschaft und Staat beinhalten. Durchweg werden hierbei in der einen oder anderen Form neben den Selbstentfaltungswerten explizit auch Pflicht-und Akzeptanzwerte angesprochen wie Selbstbeherrschung, Duldsamkeit, Brüderlichkeit, soziale Bewährung oder politische Verantwortlichkeit und somit der Aspekt gleichberechtigter Komplementarität unterstrichen

Sind somit die Verfassungsvorgaben eindeutig, bleibt zu fragen, wie die Politikdidaktik damit umgegangen ist. Hierzu wäre im Prinzip eine detailliertere Auseinandersetzung mit den wichtigsten Didaktiken erforderlich, die jedoch an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Global und vereinfachend kann jedoch gesagt werden, daß in den fünfziger und frühen sechziger Jahren nacheinander Konzepte dominierten, die sich mit Begriffen wie Partnerschaftserziehung, Erziehung zum Staat, zu Nationalwerten oder als eine auf demokratische Funktionserfordernisse bezogene Moralerziehung beschreiben lassen. Gemeinsam war diesen, inhaltlich mehr oder weniger divergierenden Ansätzen, daß sie zeitbedingte Antworten in einer Übergangssituation darstellten und sich in ihnen das zum Teil widersprüchliche Aufeinandertreffen von spezifisch deutscher Tradition und damaligen Situationserfordernissen widerspiegelte. Die traditionelle deutsche Wertschätzung von Pflicht-. Ordnungs-und Kollektivwerten, die Aufgaben des demokratischen Neubeginns, der ethisch-moralischen Neubesinnung nach 1945 und die harten ökonomischen Wiederaufbau-und Integrationserfordemisse (Integration von Millionen von Flüchtlingen aus den Ostgebieten) gaben die objektiven Rahmendaten für die damaligen Didaktiker ab. Dies führte — im zeitgeschichtlichen Rückblick durchaus, weil funktional verständlich — zu einer starken Betonung von Pflicht-und Akzeptanzwerten (z. B. Rücksichtnahme auf die Gemeinschaft, Kooperation, Mitmenschlichkeit, Toleranz, Dienst-oder Opferbereitschaft, Pflichtbewußtsein oder die Fähigkeit des Sich-Einordnen-Könnens), während umgekehrt die Selbstentfaltungswerte. eher reduktionistisch verkürzt, im Sinne eines ethischen-introvertierten Personalismus, als Erziehung zu individueller Sittlichkeit, personaler Identität oder Charakter-und Gewissensbildung verstanden wurden Diese, die subjektiven Interessen ausblendende, somit eher objekts-als subjektsbezogene, stärker homogenisierende als individualisierende Sichtweise von Selbstentfaltung, wirkt im Rückblick eigentümlich statisch und unpolitisch. Doch muß man gerechterweise auch bedenken, daß zum damaligen Zeitpunkt sozialwissenschaftlich und empirisch fundierte Theorien zur Erforschung realpolitischer Wirkungs-und Interessenszusammenhänge, die hier im Sinne einer Stärkung des Subjektcharakters von Politik hätten korrigierend wirken können, noch nicht verfügbar waren.

In den sechziger Jahren ergab sich dann eine völlig andere Ausgangssituation. Die rasante Wohlstandsentwicklung hatte zwischenzeitlich die objektiv-materiellen Grundlagen für eine expandierende Inwertsetzung individueller Selbstentfaltungsansprüche geschaffen, und die angedeuteten Theorie-defizite schienen durch eine Diversifizierung sozialwissenschaftlicher Ansätze weitgehend behoben zu sein. In der sich anschließenden, von einer Welle der Selbstentfaltungs-Euphorie getragenen Ära der Konflikt-und Emanzipationspädagogik, fand eine völlige Revision der Werthierarchien statt. In dieser, im übrigen mit dem Wertwandelschub zeitgleichen Phase, eleminierten viele Repräsentanten der politischen Bildung in ideologiekritischer Absicht traditionelle Wertbegriffe wie Ordnung, Disziplin, Selbstbeherrschung, Pflichtbewußtsein oder Opferbereitschaft aus dem Vokabular der Didaktik. Gefragt waren nun realutopische, ausschließlich am Individuum als mündigem Subjekt orientierte Forderungen: Universelle Freiheit und Emanzipation, Befreiung von jeglicher Herrschaft und Fremdbestimmung, uneingeschränkte Partizipation, Selbst-und Mitbestimmung rückten nun als vorrangige Zielwerte in den Vordergrund. Indem so nun offensichtlich überkompensiert und Selbstentfaltung einseitig subjektzentriert interpretiert wurde, verstellte man sich aber nicht nur den Blick auf das real Machbare, man vergaß dabei auch die notwendige soziale Rückbindung von personaler Selbstentfaltung. Exemplarisch verdeutlichen läßt sich dieser Wandel anhand des Interessenbegriffs. Diskutierten nämlich die Didaktiker vor 1965 den Begriff des Interesses weniger als eine Individualkategorie, sondern — ebenfalls einseitig — im Kontext des Gemeinwohlbegriffs, so wurde nun die subjektive Seite von Politik entdeckt und der Schule die Aufgabe zugewiesen, den Schüler zu befähigen, „seine“ Interessen selbst zu bestimmen und Wege zu deren Durchsetzung aufzuzeigen Da diese vernünftige und legitime Zielsetzung aber von vielen Didaktikern nicht mehr mit dem relativierenden Hinweis auf die legitimen Interessen anderer und das soziale Ganze verknüpft wurde, mußte so der Eindruck entstehen, politische Didaktik rede einem subjektivistischen Interessenpositivismus das Wort Beispielhaft kann hier Hermann Giesecke zitiert werden, der in seinem vielbeachteten „repräsentativen“ Kategorienmodell — in dem bezeichnenderweise die objektbezogenen Begriffe wie Ordnung, Institutionen oder Gemeinwohl mit keiner eigenen Kategorie bedacht wurden — die Kategorie der Solidarität einseitig als ein Verhalten beschrieb, um eigene Interessen durchzusetzen, wobei ein Wechsel der Solidarität nach Interessenänderung möglich sein sollte Deutlicher läßt sich der Verzicht auf die dem Begriff der Solidarität immanente sozial-ethische Verpflichtung nicht formulieren, zumal nach Giesecke die Didaktik der politischen Bildung die Fähigkeit einüben sollte, „überlegte Freund-/Feindunterscheidungen zu treffen und die Zahl der möglichen Gegner der eigenen Interessen so gering wie möglich zu halten“

Resümierend kann festgestellt werden, daß sich die Didaktik mit der Umsetzung der von der Verfassung vorgegebenen Wertkomplementarität schwer tut. Sie neigt entweder zu Pflicht-und Akzeptanz-schulung oder zu Selbstentfaltungsdidaktik. Ein typisches Verhalten für die Didaktik hierzulande ist ein unruhiges, impulshaftes Hin-und Herschwanken zwischen den Extremen, das Fehlen eines synthetischen Wertpragmatismus, der ein auf Dauer gerichtetes und zugleich erfolgreiches Bemühen um eine ausgewogene Mittellage signalisieren könnte. Letztlich spiegelt sich hierin auch eine spezifisch deutsche Unstetigkeit in den Wertbezügen wider, hat doch die deutsche Geschichte in den letzten 100 Jahren vier verschiedene politische Systeme und somit mehrere Wertebrüche verkraften müssen. Wertsynthese könnte im Blick auf dieses spezifisch deutsche Wert-Syndrom, das im übrigen auch immer wieder von ausländischen Beobachtern festgestellt wird — man denke hier nur an das Stichwort von den „unberechenbaren Deutschen“, denen ein Hang zu romantisch-idealistischem Über-schwang, eine Neigung zum Denken in Extremen unterstellt wird — ausgleichend und vermittelnd wirken. Vor diesem Hintergrund dürften auch die aktuellen und gewiß nicht unproblematischen Entwicklungstendenzen der Parteienlandschaft (Erstarken der extremen Ränder mit stark gegensätzlichen, sich gegenseitig hochschaukelnden Wertprofilen, Schrumpfen der Volksparteien-Mitte) ein zusätzlicher Anlaß sein, dem Konzept der Wertsynthese näher zu treten. 3. Motivationspsychologische Aspekte Eine Zunahme von Selbstentfaltungswerten setzt keineswegs zwingend eine Abnahme von Pflicht-und Akzeptanzwerten voraus. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn ein Wachstum der individuellen Freiheitsspielräume erfordert auch einen parallelen Zuwachs an Selbstdisziplin und sozialem Verantwortungsbewußtsein. Da der Wertwandel nur den einen Pol stärkte, mußte dies personale und soziale Anomien zur Folge haben. Wertsynthese versucht solchen Anomien entgegenzuwirken, indem die Individuen motivationspsychologisch für das eigenständige, gleichgewichtige Austarieren beider Werttypen disponiert werden und so eine gleichzeitige Entlastung von Individuen und Gesellschaft möglich wird. In Anlehnung an eine Formulierung von Walter Jacobsen könnte man die Aufgabe politischer Bildung folgendermaßen beschreiben: „Erreicht werden soll beim Heranwachsenden ein Gefühl der persönlichen Mitverantwortung für das soziale Ganze bei aller rechtmäßigen Wahrnehmung subjektiver Interessen und Bedürfnisse, die einer angemessenen personalen Selbstverwirklichung dienen, verbunden mit Mut und Ich-Stärke.“ Dies heißt, wertsynthetisch gesprochen, daß das Individuum einerseits die Fähigkeit entwickeln soll, gegenüber dem gesellschaftlichen und politischen Umfeld Ziele auszubilden, auf die sich sein Streben richtet, wobei es ein möglichst hohes Maß an Selbstdarstellung und Selbstdurchsetzung entfalten wird.

Andererseits charakterisiert den Wertsynthetiker aber auch jenes Maß an autonomer Selbstbeherrschung und Selbstbegrenzung, das die Ausbildung von Persönlichkeitsstärke und eines hiermit korrespondierenden sozialen Pflichtbewußtseins erst ermöglicht. So betrachtet erlag die Didaktik der Wertwandel-phase einem fatalen Irrtum, wenn sie glaubte, das eine ohne das andere haben zu können. Ihr Ziel war der von allen Zwängen befreite, in freier Selbstbestimmung gänzlich über sich selbstverfügende Bürger, den Selbstbewußtsein, Durchsetzungsvermögen und Ich-Stärke auszeichnen sollten. Sie übersah dabei jedoch zweierlei: zum einen, daß Freiheit von allen, nicht durch das Individuum selbst gesetzten Vorgaben und Bindungen psychologisch überfordern muß, wie man auch speziell in der Politikdidaktik die Identifikation und Sinn stiftenden Elemente so wie die emotionale Verankerung innerhalb des Gemeinwesens als „quantit negligeable" zu behandeln können glaubte. Normative Orientierungs-und Bindungslosigkeit sowie Identitätsschwäche sind aber der Ausbildung von Autonomie und Ich-Stärke diametral entgegengesetzt.

In eine ähnliche Richtung zielte zum anderen die Verabschiedung der unbeliebten Sekundärtugenden. Wahres Selbstbewußtsein und echte Persönlichkeitsstärke lassen sich nur über das Training von Selbstbeherrschung, Verzichtsfähigkeit und Rollendistanz erreichen. Selbstwerdung und damit Glücklichsein vollzieht sich nicht durch Permissivität, die meint, alles müsse unmittelbar Spaß machen, sie gründet vielmehr auf der produktiven Verarbeitung von Enttäuschungen, Versagungen und dem Durchstehen von Durststrecken. Durch die in der Wertwandelphase fortschreitend erfolgte Zurücknahme gesellschaftlicher Akzeptanzforderungen sind so auch die Möglichkeiten, Selbstbeherrschung zu trainieren und Ich-Stärke zu erwerben, seltener geworden. Dies heißt, daß sich die Selbstentfaltungsdidaktik, bezogen auf die Logik der eigenen Zielsetzungen, eigentlich kontraproduktiv ausgewirkt hat. Sie ist zudem enttäuschungsproduktiv, weil sie nicht nur ansprüchlichere Erwartungshaltungen, sondern auch eine Erhöhung entsprechender Verdrossenheits-und Unzufriedenheitsdispositionen zur Folge hat. Nicht von ungefähr hat in den siebziger Jahren die Jugendpsychologie den Narzist als neuen defizitären Sozialisationstypus entdeckt

Im Lichte dieser Erfahrungen ist deshalb das hier vertretene didaktische Konzept als Chance zu verstehen, die Dinge motivationspsychologisch wieder ins Lot zu bringen. Wie sich dann — bezogen auf die politische Bildung — im Modelltypus des Wertsynthetikers „selbstbegrenzte Selbstentfaltung“

konkret darstellen könnte, kann hier nur angedeutet werden. Dazu gehört — sieht man von den hier als selbstverständlich vorausgesetzten Selbstentfaltungs-Tugenden einmal ab (z. B. Durchsetzungsvermögen, Freimut, Zivilcourage, Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Widerstand gegen Unrecht) — zunächst die Fähigkeit zur Toleranz, zur Rücksichtnahme und Fairneß im Umgang mit anderen; die Bereitschaft, konkurrierende Interessen und Zielvorstellungen ernst zu nehmen, sowie das Offensein für alternative Ideen einschließlich der dazu erforderlichen Dialogbereitschaft; das Bemühen, politische Probleme von verschiedenen Seiten unter Berücksichtigung ihrer Komplexität ohne reduktionistische oder moralisierende Vereinfachungen zu durchdenken; die Fähigkeit zu kontroversem Denken, die auch angesichts „tragischer Konflikte“ ein hohes Maß an Differenzierungsvermögen ermöglicht und das Wünsch-und Machbare im Sinne eines pragmatischen Idealismus (Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik) in nüchterner und verantwortlicher Weise gegeneinander abzuwägen weiß; die Bereitschaft zum Kompromiß und zur Anerkennung der Spielregeln auch in Grenzsituationen; die Akzeptanz demokratischer Institutionen und Gesetze, was deren Verbesserungsfähigkeit keineswegs auszuschließen braucht; ferner Absage an Irrationalismen, Kontrolle der Emotionen, Rollen-und Frustrationstoleranz; schließlich wären abschließend noch zu nennen: Verzicht des Sozial-staatsbürgers auf ungezügeltes Anspruchsdenken, Einsatzbereitschaft für das Gemeinwesen, auch wenn es nicht um spezifische eigene Interessen geht, sowie eine — aus Selbstbescheidung entspringende — mitbürgerliche Solidarität. 4. Die Herausforderungen der Zukunft Ein vorurteilfreies Überdenken von Pflicht-und Akzeptanzwerten stößt auf zahlreiche Barrieren. Sie sind mit dem Odium kleinbürgerlich-altmodischer Gesinnung, korrekter Bravheit oder Schein-heiligkeit behaftet, gelten als bloße Sekundärtugenden, wenn nicht gar als antidemokratisches Relikt aus der Zeit des Obrigkeitsstaates. Man verweist auch darauf, daß in der Geschichte mit Tugenden wie Disziplin, Pflicht-und Ordnungsbewußtsein immer wieder Mißbrauch getrieben wurde.

Trotz all dieser Entartungen ist aber der Tugendbegriffzunächst ein ethisch neutraler Begriff. Allerdings bedarf er der Ausrichtung an legitimierbaren Leitbildern und höheren Zielen, will er nicht zu purem Selbstzweck entarten. „D. h., es kommt alles darauf an, wofür oder wogegen, zu welchem höheren sittlichen oder zu welchem unsittlichen Zweck sie gebraucht oder mißbraucht werden. Pflichterfüllung sagt eben noch nichts darüber, wem sie dient; Ordnungssinn und Sparsamkeit können für ganz verschiedene Ziele eingesetzt werden; Leistung kann fremdbestimmt den Menschen deformieren oder als Selbstbestimmung für die Erfüllung, Verwirklichung eines Lebenssinns aktiviert werden.“

Einzig legitimes Kriterium für eine angemessene Würdigung von Pflicht-und Akzeptanzwerten ist deshalb ihre funktionale Zweckbestimmung. Ihr positiver Beitrag zur sittlichen Innenausstattung des Menschen, ihre handlungs-und verhaltenssichernde, Individuum und Gesellschaft gleichermaßen entlastende Funktion, kann ernsthaft nicht bestritten werden. Dies gilt auch für den weiter oben dargelegten Zusammenhang von demokratischer politischer Kultur und individueller Selbstbegrenzung. Gegenwärtig ist es aber vor allem ein veränderter Zukunftshorizont, der entsprechende Wert-muster wieder in den Blickpunkt des Interesses rükken läßt. Es sind nicht nur bürgerlich-konservative oder kirchliche Kreise, sondern auch Alternative, Lebensstilgruppen oder „Wertkonservative“, denen es aus zum Teil unterschiedlichen Gründen und mit zum Teil unterschiedlichen Zielsetzungen um die Wiederentdeckung bestimmter Pflicht-und Akzeptanzwerte geht Carl Friedrich von Weizsäkker, der unsere heutige Kultur als eine bewußt antiasketische bezeichnet und die Menschheit in einer „Zone tödlicher Gefahr“ sieht, nennt z. B. Bescheidenheit, Selbstbeherrschung und Askese die eigentlich lebenserhaltenden Tugenden, und dies aufgrund der „Unfähigkeit der heutigen Menschheit, mit den politischen und technischen Instrumenten umzugehen, die sie selbst in ihrer Geschichte geschaffen hat“ Auch Hans Jonas spricht von der Notwendigkeit einer „systematischen Pflichten-lehre“ und sieht auf die Menschheit eine „Epoche harscher Anforderungen und Verzichte“ zukommen In der Tat bricht sich immer mehr die Erkenntnis Bahn, daß die der industriellen und technologischen Entwicklung inhärenten Gefahren und Widersprüche ohne die bewußte Pflege von Pflicht-und Akzeptanzwerten nicht gelöst werden können. So könnten z. B. die ökologischen Folgelasten des industriellen Fortschritts durch ein entschiedeneres individuelles und kollektives Konsum-und Sparverhalten ein Stück weiter beherrschbar gemacht werden. Die Überwindung von Arbeitslosigkeit, die Sicherung des sozialen Friedens und der Kampf gegen Hunger und Unterentwicklung in der Dritten Welt sind Aufgaben, die ohne Selbstbescheidung, Solidarität und Leistungsbereitschaft nicht lösbar sind. Das wachsende Nord-Süd-Gefälle vor Augen, wird man Jonas beipflichten können, wenn er meint, daß wir uns eine Steigerung des Wohlstands im Weltdurchschnitt nicht mehr leisten können, daß vielmehr nur eine forcierte Umverteilung des Wohlstands in Frage komme, und dies ohne fühlbare Verzichte und Opfer seitens der Industriestaaten nicht zu bewerkstelligen sei

Auf der anderen Seite stehen einer Wiederbelebung solcher asketischer Tugenden nicht unerhebliche Schwierigkeiten im Weg, vor allem ihre landläufige Geringschätzung und die in den Überflußgesellschaften weitverbreiteten hedonistisch-materialistischen Grundhaltungen. Auch stößt man hier an Barrieren unseres demokratischen Selbstverständnisses, bleibt doch dort, wo die Freiheit des Konsumenten als unantastbares Axiom gilt, wenig Raum für administrative Gängelung, kann doch die Demokratie, wo Diktaturen Askese verordnen kön-nen, primär nur auf die freie und vernünftige Einsicht ihrer Bürger hoffen. Diese und damit konforme Verhaltensmuster zu fördern wird aber zu einer immer dringenderen Zukunftsaufgabe von geradezu existentieller Bedeutung. Gerade die politisehe Bildung muß sich hier herausgefordert fühlen.

Inmitten einer durch vermehrte äußere Zwänge immer enger werdenden Welt könnte dann auch das Konzept der Wertsynthese als Korrektiv für fragwürdig gewordene Wertpräferenzen, als Beitrag zum notwendig gewordenen Überlebenstraining seine didaktische Berechtigung erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Mai 1989.

  2. Vgl. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt-New York 1984, S. 17 ff.

  3. Ebd., S. 34.

  4. Ebd.

  5. Ebd., S. 48.

  6. Vgl. ebd., S. 145 ff.

  7. Vgl. Helmut Klages/Willi Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt-New York 1983, S. 12.

  8. Vgl. Gerd Hepp, Wertsynthese als Zukunftsaufgabe der politischen Bildung, in: Zeitschrift für internationale Erzie-hungs-und sozialwissenschaftliche Forschung, (1987) 2, S. 367-391.

  9. Ausführlicher hierzu: Gerd Hepp, Wertwandel und politische Kultur. Eine politikwissenschaftliche Analyse in pädagogischer Absicht, in: Vierteljahresschrift für Wissenschaft-Uche Pädagogik, (1987) 2, S. 206-226.

  10. Vgl. Hans J. Veen. Jugend heute: Womit eigentlich identifizieren?, in: Politische Studien, (1981), Sonderheft 2, S. 42.

  11. Helge Pross, Was ist heute deutsch?, Reinbek 1982, S. 135.

  12. Vgl. Karl W. Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht. Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt-New York 1986, S. 271 und S. 275 f.

  13. Vgl. Hans J. Veen, Die neue Spontaneität. Empirische Ergebnisse zur Erosion des institutioneilen Bewußtseins bei Jüngeren, in: Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der parlamentarischen Demokratie, München 1986, S. 105- 123.

  14. Vgl. Bernd Guggenberger, An den Grenzen von Verfassung und Mehrheitsentscheidung oder: Die neue Macht der Minderheit, in: H. Oberreuter (Anm. 13), S. 57.

  15. Vgl. Heinrich Oberreuter. Mehrheiten und Minderheiten in der parlamentarischen Demokratie, in: ders. (Anm. 13), S. 73 ff.

  16. Bundesvesrfassungsgerichtsentscheidungen, 12 , S. 51; 14,

  17. Vgl. Peter Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat. Freiburg-München 1981, S. 47 ff. und S. 65 ff.

  18. Für diese Phase der Politikdidaktik stehen Namen wie Oetinger, Litt, Spranger, Weniger. Weinstock. Hornung. Schneider, Pieper und andere.

  19. Vgl. Hermann Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München 1965, S. 107.

  20. Vgl. u. a. Herbert Schneider, Ergänzungsbedürftiger Konsens? Zum Identitäts-und Identifikationsproblem in der politischen Bildung, in: S. Schiele/Herber Schneider (Hrsg.), Konsens und Dissens in der politischen Bildung. Stuttgart 1987, S. 29 f.

  21. Vgl. H. Giesecke (Anm. 19), S. 109 f.

  22. Ders.. Didaktik der politischen Bildung. München 1972, S. 156 f.

  23. Walter Jacobsen, Politische Erziehung und Motivations-forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/80, S. 46.

  24. Vgl. Thomas Ziehe, Zur gegenwärtigen Motivationskrise Jugendlicher, in: Klaus Wasmund (Hrsg.), Jugendliche, Neue Bewußtseinsformen und politische Verhaltensweisen, Stuttgart 1982, S. 13-27.

  25. Christian Graf von Krokow, Gewalt für den Frieden? Die politische Kultur des Konflikts, München-Zürich 1983, S. 62.

  26. Vgl. Erhard Eppler. Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, München 1982, S. 34 ff. und S. 42.

  27. Carl Friedrich von Weizsäcker. Deutlichkeit. Beiträge zu politischen und religiösen Gewaltfragen, München 1984, S. 56.

  28. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt 1984, S. 264.

  29. Vgl. ebd., S. 287.

Weitere Inhalte

Gerd Hepp, Dr. phil., geb. 1941; Professor für Politikwissenschaft und politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Wertwandel als ambivalenter Prozeß, in: Civis, (1984) 1; Zerfall der politischen Kultur? Wertvorstellungen im Wandel, Köln 1984; Wertwandel und politische Kultur — eine politikwissenschaftliche Analyse in pädagogischer Absicht, in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, (1987) 2; Wertsynthese als Zukunftsaufgabe der politischen Bildung, in: Zeitschrift für internationale erziehungs-und sozialwissenschaftliche Forschung, (1987) 2.