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Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 49/1989 | bpb.de

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APuZ 49/1989 Artikel 1 Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren

Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland

Eilert Herms

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Bundesrepublik sind die evangelischen Landeskirchen in der EKD zusammengeschlossen. Die Bedingungen, unter denen die gesellschaftliche Wirkung dieser Großorganisation steht, ähneln denjenigen. die in allen pluralistischen Gesellschaften angetroffen werden. Wie andere Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften gehört auch der organisierte Protestantismus zu demjenigen Leistungsbereich der Gesamtgesellschaft, in dem es im Unterschied zu der Leistung des politischen, ökonomischen und des Wissenschaftssystems um die Kommunikation, d. h. um die Begründung und Weitergabe von ethisch orientierenden Überzeugungen geht. Dazu leistet die evangelische Kirche ihren Beitrag unter den typischen Bedingungen der prinzipiellen Pluralisierung, Privatisierung und damit Marginalisierung von religiöser Kommunikation. Aber darüber hinaus müssen spezifische Wirkungsbedingungen in Rechnung gestellt werden, die sich nicht in allen großen Gesellschaften finden, sondern sich aus den Besonderheiten der deutschen Entwicklung ergeben. Diese hat dazu geführt, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft immer noch weniger säkularisiert ist als andere westliche Gesellschaften (etwa die französische). Darin liegen eine Reihe von überdurchschnittlich günstigen Wirkungsmöglichkeiten für die evangelischen Kirchen. Die Frage ist allerdings, ob sie ausreichend genutzt werden.

I.

Jeder Versuch, die geschichtliche Lage christlicher Kirchen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld einzuschätzen, setzt — zumindest implizit — einen Begriff davon voraus, was Kirche als die erfahrbare Gestalt des Christentums in der sozialen Welt ihrem Wesen nach ist. Das gilt auch für die vorliegende Lagebeurteilung. Ihr leitendes Kirchenverständnis sei im Interesse ihrer Durchsichtigkeit eingangs umrissen

In der geschichtlichen Bewegung der sozialen Welt ist Kirche erfahrbar ausschließlich als Interaktionsordnung. als soziales System in geregelter Interdependenz mit allen Systemen ihrer sozialen Umwelt. In diesem Konzert aller gesellschaftlichen Systeme besteht die Eigenart der Kirche darin, daß sie das System der Kommunikation des christlichen Glaubens ist. Damit ist alles Wesentliche über die Gestalt, den Gehalt und die Kräfte gesagt, die dieses System im sozialen Geschehen tragen.

Ihrer Form nach ist Kirche wie alle Kommunikationssysteme gestaltet als System symbolischer Interaktion; also einer Interaktion, in der es nicht um Güterproduktion geht, sondern um Sinnteilhabe; genau um die Teilhabe am Sinn des Weltgeschehens und des menschlichen Lebens, der durch das Evangelium erschlossen ist, an dem der Glaube hängt und an dem der Mensch sein Leben ausrichtet.

Für den Inhalt der kirchlichen Kommunikation sind daher drei Momente wesentlich. Erstens enthält sie den gesamten Bestand der äußeren Zeichen und Symbole, in denen das christliche Verständnis der Wirklichkeit von Welt und Mensch dargestellt ist. Das sind nicht allein die feststehenden Symbole des Ursprungs des Glaubens — Kruzifixus, Bibel. Sakramente-—, sondern auch die erfahrbaren Weisen des Umgangs der Christen mit diesen Symbolen im Gottesdienst, in der christlichen Sitte und in der Führung ihres Lebens. Zweitens gehört das durch diese Symbole bezeichnete Verständnis der Wirklichkeit zum Inhalt kirchlicher Kommunikation. Sie schließt stets den Versuch ein, das durch die tradierten Symbole bezeichnete Wirklichkeitsverständnis im Kontext des zeitgenössischen Wissens und Denkens zu entfalten und verständlich zu machen. Hinzu kommt ein Drittes: Die Wirklichkeit des Glaubens erschöpft sich nicht darin, daß man weiß, was die christlichen Symbole bedeuten, daß man das in ihnen ausgedrückte Wirklichkeitsverständnis kennt. Vielmehr schließt sie darüber hinaus ein, daß einem diese Sicht von Welt und Mensch im Zusammenhang der eigenen Lebenserfahrung als die wahre, nur um den Preis des Scheiterns zu mißachtende, gewiß geworden ist. Dadurch besitzt sie dann ipso facto einen prägenden Einfluß auf das „Herz“ des Menschen, auf seine Selbstgewißheit und sein Lebensgefühl, kurz: seinen Trieb und die affektive Grundlage seines Begehrens; und infolgedessen dann auch zuverlässig auf sein Handeln.

Damit tritt die Kraft in den Blick, aus der das kirchliche Kommunikationssystem in der sozialen Welt lebt: die Kraft der Ergriffenheit vom Inhalt und der Wahrheit des Evangeliums. Diese Kraft setzt zwar eigenverantwortliches kommunikatives Handeln von Menschen frei und verlangt es, liefert sich selbst aber diesem Handeln nicht so aus, daß dieses über sie verfügen könnte. Daher gilt für die kirchliche Kommunikationspraxis: Sie ist wie alle menschliche Interaktion zielstrebiges Handeln. Aber sie kann ihr Ziel aus eigener Kraft nicht erreichen. Daß sie dies weiß und in Rechnung stellt, unterscheidet die Interaktionsordnung „Kirche“ von anderen sozialen Systemen. Allerdings existiert sie nur im universalen Kontext aller dieser Systeme: so. daß ihr durch die Leistung (den Effekt), auf die sie angelegt ist, auch ein spezifischer Ort im Funktionszusammenhang der Gesamtgesellschaft zugewiesen ist.

Bekanntlich muß die menschliche Interaktion — also Gesellschaft — für die Erhaltung der Menschen in der Welt verschiedene aufeinander bezogene, aber nicht aufeinander zurückführbare Arten von Leistungen erbringen: als politische Interaktion eine verläßliche Rechtsordnung; als ökonomische Interaktion die Sicherung des Lebensunterhalts; und als symbolische Interaktion die Erzeugung. Entwicklung und Tradierung gemeinsamer Über-zeugungen (Gewißheiten), die die ökonomische und politische Interaktion steuern. Dabei sind des näheren zwei verschiedene Arten von Gewißheiten erforderlich: technisch orientierende Gewißheiten über die Regeln, die das Verhalten der Dinge bestimmen, sowie Gewißheiten über die ursprüngliche Verfassung und Bestimmung des Weltgeschehens und des menschlichen Lebens, die als solche nicht die Wahl von Wegen zu feststehenden Zielen, sondern die Wahl von Zielen selber leiten, also eine ethisch orientierende Funktion ausüben. Letzteres leisten nicht „wissenschaftliche“, sondern „weltanschauliche“ bzw. „religiöse“ Überzeugungen.

Der Etablierung und Tradierung einer solchen ethisch orientierenden Gewißheit dient auch die kirchliche Kommunikation des christlichen Glaubens. Wie alle Systeme religiös-weltanschaulicher Kommunikation ist daher auch das Kommunikationssystem Kirche durch diese besondere Art seiner Leistung einem spezifischen Funktionsbereich des gesellschaftlichen Lebens eingeordnet. Daher lautet die Frage nach der Stellung der Kirche im Kontext einer gegebenen Gesellschaft — etwa der der Bundesrepublik — in concreto stets: Welche Beiträge leistet das kirchliche Kommunikationssystem in seiner gegebenen Verfassung jeweils zur Erhaltung der Lebendigkeit und sozialen Präge-kraft der ethisch orientierenden Gewißheit des christlichen Glaubens im gegebenen Zustand dieser Gesellschaft?

Die Gesellschaft der Bundesrepublik zählt zum Typ der hochentwickelten, industrialisierten und pluralistischen, kurz: „offenen“ Gesellschaften Insofern besitzt die Situation der Kirche in dieser Gesellschaft Züge;, die nicht nur für sie, sondern für alle gleichartigen Situationen gelten. Diese seien zunächst in den Blick genommen, bevor dann die besonderen Merkmale der westdeutschen Situation behandelt werden.

II.

Drei Züge, die für alle hochentwickelten Gesellschaften gelten, kennzeichnen auch die bundesrepublikanische Situation:

Erstens funktioniert auf eine bestimmte Weise das Zusammenspiel zwischen politischem und ökonomischem System. Die Erringung und Ausübung von politischer Macht ist nach den Grundsätzen der Gewaltenteilung und des Parlamentarismus organisiert. Dadurch ist die grundsätzliche Beschränkung und Kontrolle von Herrschaft gewährt und gleichzeitig sichergestellt, daß den Anforderungen und Bedürfnissen eines effektiven Wirtschaftsstils weitreichender Einfluß auf die Politik eingeräumt wird. Die Sicherung von Wohlfahrt ist unerläßliche Bedingung für das Erringen und den Erhalt politischer Macht. Politik unterliegt ökonomischer Disziplin, die ihrerseits darin besteht, Interessen am Markt unter Rentabilitätsgesichtspunkten zu verfolgen. Infolgedessen entscheidet sich die Entwicklung der Gesamtgesellschaft wesentlich daran, welche Inhalte durchschnittlich in die Rentabilitätsrechnung der Bürger eingehen. Und darauf hat wiederum die Verfassung des Wirtschaftssystems und die durch sie festgelegten Bedingungen des ökonomischen Erfolgs erheblichen Einfluß.

Zweitens besitzt diese für hochentwickelte Gesellschaften typische Weise der ökonomischen Disziplinierung von Politik eine typische Auswirkung auf das System „Wissen“. Dieses ist in seiner Rechtsform und in seiner materiellen Basis immer abhängig vom politischen und ökonomischen System. Daher wird auch seine inhaltliche Entwicklung stets beeinflußt von den jeweiligen Interessen der Systeme Politik und Ökonomie. Das heißt dann unter der Bedingung der skizzierten ökonomischen Disziplinierung von Politik: Nicht nur das System Ökonomie, sondern auch das durch es disziplinierte System Politik hat ein vorrangiges Interesse an der Entwicklung technisch und damit wirtschaftlich verwertbaren Wissens. Gefördert wird Wissenschaft als den dominierenden wirtschaftlichen Interessen zuarbeitende Technologie; bis hin zur direkten Einordnung weiter Bereiche von Wissenschaft in die Organisationen des Wirtschaftssystems. Diese Tendenz ist seit längerem auch in der Bundesrepublik zu beobachten.

Was schließlich drittens die Kommunikation ethisch orientierender Gewißheit angeht, so stößt man in allen hochentwickelten Gesellschaften auf eine Tendenz zur Pluralisierung, Individualisierung und Privatisierung, die insgesamt eine drastische Schwächung des steuernden Einflusses ethisch orientierender Gewißheit — zwar nicht auf das Verhalten der einzelnen Bürger, wohl aber — auf die Entwicklung der Gesamtgesellschaft zur Folge hat. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß für den Gesamtvorgang die Pluralisierung grundlegend ist. Nämlich als Erfahrung einer Strittigkeit aller religiös-weltanschaulichen Gewißheit, die grundsätzlich nicht in derselben effektiven Weise eingeschränkt oder gar beseitigt werden kann wie die Strittigkeit von Aussagen über sinnenfällige Sachverhalte. Mit dieser Erfahrung ist unmittelbar die andere verbunden, daß der Ort, an dem definitiv über den Wahrheitsanspruch konkurrierender Gesamtanschauungen von Welt und Mensch entschieden wird, ausschließlich das Wahrheitsbewußtsein jedes Individuums und die ihm zuteil werdende Evidenz ist. Es kommt zur Erfahrung der Letztzuständigkeit der Einzelperson für alle Fragen der ethisch orientierenden Gewißheit. Deren schlichteste, für jedermann erschwingliche Wahrnehmung besteht aber darin, daß jede öffentliche Rechenschaftspflicht für ethisch orientierende Gewißheiten zurückgewiesen wird. Das quantitative Überwiegen dieser schlichtesten (abstrakt negativen) Form ethischer „Autonomie“ bedeutet dann seinerseits die Privatisierung aller ethisch orientierenden Gewißheit im Sinne ihrer Verlagerung in den Bereich der von allen Auskunftspflichten, aber auch Artikulationsmöglichkeiten freien Beliebigkeit des persönlichen Empfindens. Soweit ethisch orientierende Gewißheit derart privatisiert ist, kann sie natürlich keinen Einfluß auf die öffentliche Meinungs-und Mehrheitsbildung und damit auf die entwicklungsbestimmenden öffentlichen Entscheidungen gewinnen. Denn auf die konsequent privatisierten ethisch orientierenden Gewißheiten kann kein Versuch, öffentliche Entscheidungen öffentlich zu legitimieren, mehr zurückgreifen. Vielmehr wird er durch das Privatisiertsein aller positiven (die Personen tatsächlich beseelenden) ethischen Gewißheiten dazu gezwungen, auf ideologische Mittel zurückzugreifen: Er muß sich auf das Ansehen eines „angeblich“ Guten abstützen, welches nur davon lebt, daß es bisher von niemandem (bzw. nicht von den ausschlaggebenden Meinungsführern) bestritten wurde.

Diese für hochentwickelte Gesellschaften typischen Merkmale gelten auch für die deutsche Gesellschaft. Aus ihnen ergeben sich gewisse epochenspezifische (für den evolutionär erreichten Gesellschaftszustand typische) Bedingungen für die gesamtgesellschaftlichen Funktions-und Wirkungsmöglichkeiten der evangelischen Kirchen als Teilen des gesamtgesellschaftlichen Leistungsbereichs „ethisch orientierende Gewißheit“.

Erstens steht ihre Arbeit unter dem Vorzeichen des Pluralismus. Einerseits sind sie nicht die einzigen Sozialsysteme, die der Kommunikation der christlichen Überzeugung dienen. Neben ihnen wirken andere christliche Kirchen, die römisch-katholische Kirche und die evangelischen Freikirchen. Andererseits nehmen darüber hinaus nicht nur zahlreiche religiöse Gemeinschaften, die dem Christentum in irgendeiner Weise nahestehen, an der Kommunikation ethisch orientierender Gewißheit teil, sondern auch nichtchristliche Religionsgemeinschaften und unterschiedlich fest formierte Kommunikationssysteme nichtreligiöser — etwa wissenschaftlich-philosophischer — Weltanschauung. Übersehen werden darf auch nicht, daß schon seit dem frühen 19. Jahrhundert das System „Kunst“ (Theater, Literatur, Musik etc.) und im 20. Jahrhundert auch Sport der Kommunikation ethisch orientierender Gewißheit dienen

Daraus ergibt sich zweitens, daß die Glaubenskommunikation der evangelischen Kirchen nirgendwo mehr — wie einst in den konfessionell einheitlich geprägten deutschen Teilstaaten (Preußen, Sachsen. Württemberg etc.) — einen ungebrochenen Einfluß auf den gesellschaftlichen Gesamtprozeß nimmt. Ihr Einfluß ist nur noch indirekt, durch das Verhältnis zu den konkurrierenden Kommunikationssystemen ethisch orientierender Gewißheit vermittelt und durch es gebrochen.

Dazu kommt drittens die Schwächung des Gesamtbereichs ethisch orientierender Gewißheit durch die angedeutete Tendenz zur Privatisierung. Diese Wirkungsschranke betrifft auch die Glaubenskommunikation der evangelischen Kirchen.

Viertens schließlich gibt es eine Wirkungsschranke, die die religiös-ethische Kommunikation nicht insgesamt in gleicher Weise betrifft, sondern in besonderem Maße gerade die Glaubenskommunikation der evangelischen Kirchen. Diese hat sich von Anfang an auf das Medium Sprache konzentriert. Dessen Handhabung stellt aber relativ hohe Anforderungen. Seine Attraktivität ist daher beschränkt; zumal in einer Gesellschaft, die ihre öffentliche Kommunikation zunehmend auf nonverbale Medien umstellt.

Es fragt sich, ob die Glaubenskommunikation in den evangelischen Kirchen unter diesen komplizier-ten und schwierigen Bedingungen überhaupt noch gelingen und zum Ziel führen kann? Dies kann nur dann bejaht werden, wenn die Artikulationsleistungen des evangelischen Christentums deutlich gesteigert werden. Deshalb ist darauf zu achten, daß erstens Gehalt und Gestalt der Glaubenskommunikation in den evangelischen Kirchen eine Klarheit und Deutlichkeit gewinnen, die zu Mißverständnissen möglichst wenig Anlaß geben; daß zweitens über das sprachliche Kommunikationsmedium hinaus komplexere Kommunikationsformen zurückgewonnen werden; und schließlich drittens, daß das evangelische Christentum zu einer Organisationsgestalt findet, durch die es als unverwechselbarer und zuverlässiger Faktor im gesellschaftlichen Leben erfahren werden und sich bewähren kann.

III.

Soweit die Merkmale der gegenwärtigen Lage der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik, die ähnlich für alle hochentwickelten Gesellschaften gelten. Darüber hinaus ist die bundesdeutsche Lage durch spezifische Züge gekennzeichnet, die sich aus der besonderen Geschichte unserer Gesellschaft ergeben.

Das evangelische Christentum ist in Deutschland fast 400 Jahre lang — nämlich bis 1918 — staats-kirchlich verfaßt gewesen. Die Chance dieser Verfassung war eine deutliche Unterstreichung des öffentlichen Charakters der christlichen Glaubens-kommunikation; ihre Gefahr war die zu enge und damit das kirchlich verfaßte Christentum kompromittierende Symbiose mit dem politischen System. Es gehört aber zu den Besonderheiten der deutschen Sozialgeschichte — in den evangelischen ebenso wie in den katholischen Gebieten —, daß diese Gefahr (anders als etwa im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts) in bemerkenswertem Ausmaß vermieden werden, gleichzeitig jedoch jene Chance genutzt werden konnte. Daher ist (anders als in Frankreich) in Deutschland die Katastrophe der Monarchie nicht gleichzeitig auch zur Katastrophe des kirchlich verfaßten Christentums geworden. Auch heute gehören noch 80 Prozent der Bevölkerung der evangelischen oder katholischen Kirche an

Aufgrund dieser Sachlage räumt das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik — ebenso wie schon die Weimarer Republik — den Kirchen den Status von Anstalten öffentlichen Rechts ein. Auf diesem Boden ist eine Partnerschaft zwischen Kirchen und Staat entstanden, deren Grundsätze in den meisten Bundesländern in Staatskirchenverträgen explizit niedergelegt worden sind. Der Staat unterstützt nicht nur die Ar-beit der Kirchen, sondern nimmt sie auch — besonders im Bereich der Diakonie — nach dem Subsidiaritätsprinzip in Anspruch. Die mit der Trennung von Staat und Kirche verbundene prinzipielle Zumutung zur organisatorischen Selbständigkeit hat die evangelischen Kirchen in Deutschland erst 1918 unter vergleichsweise günstigen geschichtlichen Rahmenbedingungen getroffen.

Damit wird eine grundsätzliche — und zwar nicht theologisch begründete — Rückständigkeit der evangelischen Kirchen in Deutschland, ein prinzipielles Handicap gegenüber der römisch-katholischen Kirche sichtbar. Letztere hatte schon seit dem 16. und dann besonders während des 19. Jahrhunderts in Preußen Anlaß und Gelegenheit, an ihrer Verfassung als staatsunabhängige Organisation zu arbeiten. Hingegen wurden die evangelischen Kirchen erst im ersten Drittel dieses Jahrhunderts mit der Aufgabe konfrontiert, sich in einem der vier konstitutiven Leistungsbereiche des gesellschaftlichen Lebens — eben der Kommunikation ethisch orientierender Gewißheit — als selbständiges Sozialsystem zu etablieren, ihre Ordnung und ihre Politik in eigene Verantwortung zu nehmen und sich in der Gesellschaft aus eigener Kraft zu erhalten, indem sie sich an ihrem eigenen Auftrag orientieren. Der Widerstand der Bekennenden Kirche gegen den erneuten Versuch der politischen Instrumentalisierung der evangelischen Kirchen in der Zeit von 1933 bis 1945 beweist zwar, daß diese Aufgabe alsbald bejaht und als eine solche begriffen worden ist, die mit theologischen Mitteln gelöst werden muß Dennoch kann die Aufgabe auch heute noch keineswegs als gelöst gelten. Sie konfrontiert die evangelischen Kirchen mit einem ganzen Bündel von Problemen, die teils die kirchliche Verfassung betreffen, teils die sachgemäße Ausgestaltung der Glaubenskommunikation in ihren grundlegenden Vollzügen selbst. daß in ihnen die Grenzen dessen, was in der Orientierung am Evangelium gemeinsam vertreten werden kann, nicht verletzt werden. Das gilt für die schon 1958 begonnene und dann seit 1970 intensivierte Teilnahme am bildungspolitischen Gespräch und alle diesbezüglich einschlägigen Verlautbarungen; es gilt für die — politisch besonders folgeträchtige — Denkschrift über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ von 1965, für die Stellungnahmen zur Reform des Ehescheidungsrechts seit 1969 und die daran anknüpfenden Kundgebungen zur Lage von Ehe und Familie, zur Reform des Paragraphen 218 seit 1971 und später zur Stellung der „Frau in Familie, Kirche und Gesellschaft“ (1979), für die Stellungnahmen zu den Ostverträgen von 1972, für die aus dem gleichen Jahr stammenden Thesen zur Eidesfrage, für die Denkschrift über „Die soziale Sicherung im Industriezeitalter“ und die Erklärung zum Baubodenrecht von 1973; es gilt für die Erklärungen zu den Menschenrechten seit 1973; ebenso für die Erklärungen zu den Entwicklungen im Bereich der Medien (seit 1974 und dann vor allem 1979 ff.), zu den Problemen des ländlichen Raums von 1977, zu den wirtschaftlichen Problemen der Arbeitslosigkeit (1977) und der Nutzung der Kernenergie (1976) sowie für die „Sozialethische(n) Überlegungen zur Frage des Leistungsprinzips und der Wettbewerbsgesellschaft“ von 1978; ferner für die Stellungnahmen zum Terrorismus von 1977 und zum politischen Extremismus aus dem Jahre 1978; es gilt für die Verlautbarungen zu der seit 1979 aus der sicherheitspolitischen Problematik herauswachsenden Friedensdiskussion, insbesondere die Denkschrift „Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981 und das „Wort des Rates der EKD zur Friedensfrage im Herbst 1983“; und ebenso für die Stellungnahmen zur Umweltproblematik seit 1985 und für die Grundsatzerklärungen zu Gentechnik und Humangenetik von 1985 bis 1987

Eine grundsätzliche Beantwortung der Frage, wie weit eine Orientierung am Evangelium zu gemeinsamen Aussagen führt und von welchem Punkte an in der sozialethischen Urteilsbildung mit unterschiedlichen Einschätzungen zu rechnen ist, ist niemals erfolgt. Die Bestimmung der Grenze des gemeinsam Aussagbaren ist immer fallweise gesucht worden. Aus diesem tentativen Verfahren erklärt sich, daß schon im Prozeß der Ausarbeitung und Verabschiedung gesamtkirchlicher Stellungnahmen die schmerzhafte Berührung oder Überschreitung dieser Grenze droht, was exemplarisch an dem gespaltenen Votum der EKD-Synode von 1974 zur Fristenregelung sichtbar wurde. Vor allem haben die Verlautbarungen neben Zustimmung stets auch Widerspruch nicht nur aus der nichtevangelischen, sondern gerade auch aus der evangelischen Öffentlichkeit erfahren. Dieser Widerspruch richtete sich nicht nur auf einzelnes (etwa die besonders heftig umstrittenen Aussagen der Ostdenkschrift), sondern spitzte sich frühzeitig auf eine grundsätzliche Infragestellung des Rechts der Kirche zu, überhaupt Fragen der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in ihrer Verkündigung zu behandeln.

Daher ist die EKD schon seit den sechziger Jahren in einen kontinuierlichen Prozeß der kritischen Reflexion ihres Öffentlichkeitsauftrags eingetreten. Sie hat ihr Recht, ihre Notwendigkeit, gewisse Grundsätze für ihre verantwortliche Wahrnehmung, aber auch ihre Grenze zu bestimmen versucht. Grundlegend in der Denkschrift über „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“ vom Januar 1970. Diese Auseinandersetzung spitzte sich dahingehend zu, daß über die Problematik der sozialethischen Verkündigung hinaus der Gedanke eines möglichen oder gar gebotenen Widerstandes gegen politische Entscheidungen auch des demokratischen Staates zur Diskussion gestellt wurde; ein Gedanke, der dann seinerseits als grundsätzliche Infragestellung der Partnerschaft zwischen evangelischer Kirche und demokratischem Staat verstanden werden konnte

Die EKD hat auf diese Wendung und Zuspitzung der Debatte mit der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“ von 1985 geantwortet, die über den aktuellen Kontext hinaus nicht nur auf zwischenzeitlich im parteipolitischen Raum aufgetretene Grundsatzüberlegungen über das Verhältnis von Kirche und Staat reagiert, sondern auch das in den theologischen Traditionen des Protestantismus noch ungenügend bedachte Verhältnis zur freiheitlichen Demokratie positiv bestimmt. Es werden die Vorzüge benannt, die die politische Ordnung des Grundgesetzes aus der Sicht des evangelischen Christentums besitzt, und damit klargestellt, daß und inwiefern die sozialethische Verkündigung der EKD aus einer partnerschaftlichen Einstellung zu diesem Staat erfolgt. Unbestreitbar hat die sozialethische Arbeit der EKD und ihrer Gliedkirchen — auch dort, wo ihre Ergebnisse nicht voll befriedigen — wichtige Einsichten in die ethische Problematik einzelner Handlungsfelder erbracht und Grundsatzprobleme evangelischer Sozialethik geklärt und präzisiert. Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet, ob diese sozialethische Verkündigung der EKD den Gang der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung selbst aktiv mitbeeinflußt hat oder überwiegend nur nach-gängige Verarbeitung einer sich nach eigenem Gesetz, unabhängig von Glaubensmotiven ergebenden gesellschaftlichen Entwicklung ist. Ist die sozialethische Verkündigung der EKD mitgestaltende Kraft der Entwicklung oder nur ihr kirchlicher Kommentar? Selbst im letzten Fall wäre die Arbeit nicht funktionslos. Sie bliebe ein Beitrag zur eigenen Orientierung der evangelischen Kirchen in einer Gesellschaft, in der sie auch dann leben und sich bewegen müssen, wenn sie auf ihre Gestaltung keinen Einfluß mehr haben sollten.

Tatsächlich kann aber ein mitgestaltender Einfluß der sozialethischen Verkündigung der evangelischen Kirchen nicht geleugnet werden. Er liegt zuerst auf dem Gebiet der öffentlichen Meinungsbildung. Zwar reicht er an die Medienmacht nicht heran, ist aber doch so erheblich, daß die Vertreter angegriffener Interessen auf Protest und Widerspruch nicht verzichten können. Hinzu kommen Einzelfälle, in denen die sozialethische Verkündigung der Kirchen Entwicklungen vorweggenommen und argumentativ vorbereitet hat, die erst daraufhin auch von der Gesamtöffentlichkeit nachvollzogen wurden und vielleicht erst unter dieser Bedingung vollzogen werden konnten (Musterbeispiel: Ostdenkschrift). Auch der heute zunehmende öffentliche Konsens darüber, daß die Menschenwürde unteilbar ist und darum schon dem vorgeburtlichen menschlichen Leben in seinen ersten Stadien eignet, dürfte durch die beharrliche Vertretung dieser Einsicht durch die evangelischen Kirchen (zusammen mit der römisch-katholischen) gefördert worden sein. Darüber hinaus gibt es Fälle, in denen Gremien, die öffentliche Entscheidungen vorzubereiten haben, ausdrücklich den Rat der Kirchen einholen und in ihre Überlegungen miteinbeziehen (ein Beispiel: die Stellungnahme der EKD zum Diskussionsentwurf eines Embryonenschutzgesetzes im Frühjahr 1986).

Aber wie stark ist dieser mitgestaltende Einfluß? Offensichtlich hat gegenüber der ersten Nachkriegszeit in den siebziger und achtziger Jahren die öffentliche Autorität der evangelischen Kirchen abgenommen. Planungsstäbe großer gesellschaftlicher Organisationen können heute darauf verzichten, die evangelischen Kirchen und ihre Entwicklung als wirksamen Faktor in ihre Rechnung einzubeziehen. Wichtige Gesprächskontakte, die in der Nachkriegszeit geblüht haben, sind eingeschlafen (etwa das Gespräch zwischen Theologie und Jurisprudenz). In der öffentlichen Verwaltung gerät der öffentlich-rechtliche Status der Kirchen in Vergessenheit.

VI.

Damit kommt ein ebenso grobes wie letztlich entscheidendes Kriterium für das tatsächliche Ausmaß des sozialgestaltenden Einflusses der evangelischen Kirchen auf die Gesamtgesellschaft in den Blick: die Verbreitung einer inneren Verbundenheit mit den Traditionen des evangelischen Christentums, also mit Bibel, gottesdienstlichem Leben und christlicher Sitte in der Bevölkerung. Ob das evangelische Christentum eine sozialgestaltende Kraft ist oder nicht, hängt letztlich davon ab, wie vielen Bürgern überhaupt etwas von der Wahrheit des Evangeliums und seiner Sicht von Welt und Mensch so gewiß ist, daß davon ihr Lebensgefühl, ihr Affekt und ihre Neigung und infolgedessen auch ihre großen und kleinen, privaten und beruflichen (öffentlichen) Entscheidungen geprägt werden. Kann über das Verbreitetsein des christlichen Glaubens in diesem Sinne etwas Sicheres ausgesagt werden?

Das ist in den letzten Jahrzehnten immer wieder lebhaft bestritten worden: vor allem unter Hinweis darauf, daß sich das menschliche Herz nicht erforschen lasse. Aber diese Argumentation dürfte eine nicht stichhaltige Abwehrmaßnahme sein. Denn der alten reformatorischen Einsicht, daß ein lebendiger Glaube nicht ohne Werke sein kann und daß zu denen auch die Pflege überlieferter kirchlicher Formen gehört, entspricht die moderne Einsicht, daß die Empfindung der Lebensdienlichkeit eines Lebensstils, einer kulturellen Tradition auch nachhaltige Bemühungen einschließt, sie zu pflegen. Wenn das richtig ist, wird man zwar überall dort, wo ein explizites Bemühen um die Pflege christlicher Tradition zu verzeichnen ist, an der innerlichen Verankerung dieser Haltung zweifeln können, aber überall dort, wo diese Bemühung fehlt, an einer inneren Verbundenheit mit dem Evangelium zweifeln müssen.

Darüber hinaus sprechen eine Reihe von inzwischen aktenkundigen Fakten eine ziemlich eindeutige Sprache: Der Mitgliederschwund der evangelischen Kirchen hat sich seit Ende der sechziger Jahre auf niedrigem Niveau verstetigt. Inzwischen sind weniger als 50 Prozent aller Kirchenmitglieder in der Bundesrepublik Mitglied einer evangelischen Kirche. Von diesen wiederum zeigen höchstens 18 Prozent ein engagiertes Bemühen um Pflege der christlichen Tradition (der Gottesdienstbesuch hat sich von 1973 bis 1985 bei fünf Prozent eingespielt, elf Prozent aller Evangelischen bezeichnen sich selbst als fast allsonntägliche Kirchgänger, siebe Prozent ein engagiertes Bemühen um Pflege der christlichen Tradition (der Gottesdienstbesuch hat sich von 1973 bis 1985 bei fünf Prozent eingespielt, elf Prozent aller Evangelischen bezeichnen sich selbst als fast allsonntägliche Kirchgänger, sieben Prozent als gelegentliche) 16). Mithin ist es geboten, die Verbreitung einer klaren, die privaten und beruflichen Entscheidungen der Betroffenen steuernden Überzeugung von der Lebensdienlichkeit des Evangeliums eher gering einzuschätzen.

Diese Fakten haben den evangelischen Kirchen Anlaß zu mannigfaltigen Überlegungen gegeben. Sie enthalten aber eine klare Elementarbotschaft, die in den Kirchen lange weder aufmerksam gehört noch gründlich bedacht worden zu sein scheint: Das evangelische Christentum wird in seiner erfahrbaren kirchlichen Gestalt — d. h. in der Gestalt seiner kirchlichen Räume, in der Atmosphäre seiner Gottesdienste, in der persönlichen Haltung seiner Amtsträger und in der Übersichtlichkeit und Zuverlässigkeit seiner Lehre und Ordnung — von bemerkenswert wenigen Menschen als eine innerlich anrührende, von Herzen liebenswerte, zuverlässig bergende und darum auch treue Zuneigung auslösende Institution erlebt. Es wäre theologisch falsch, den Grund dafür allein in der Unverfügbarkeit der geistlichen Wirkung allen kirchlichen Handelns zu suchen und nicht zunächst auch in der Gestalt, in der es sich den Zeitgenossen präsentiert, und in den Erlebnismöglichkeiten, die es den Menschen anbietet. Das Fundament der sozialgestaltenden Kraft der evangelischen Kirchen ist ihre Fähigkeit, das .. Herz“ von Menschen, ihr Lebensgefühl, ihre Affekte und Neigungen und damit ihre ethisch orientierende Überzeugung zu bilden. Dies ist die eigentliche Bildungsmacht, die der Kirche verheißen ist. Und ob es tatsächlich zu diesem Bildungsgeschehen kommt, entscheidet sich zuerst und zuletzt daran, wie die kirchliche Präsentation des Evangeliums in Predigt und Sakrament, in Gottesdienst und Seelsorge erlebt wird.

Es kann bezweifelt werden, ob die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik dies begriffen haben. Die Zweifel ergeben sich angesichts der Tatsache. daß in der EKD zwei Themen, die sachlich aufs engste zusammengehören, über Jahrzehnte hin in fast völliger Beziehungslosigkeit behandelt worden sind: das Thema „Volkskirche“ bzw. „Kirchenreform“ 17) und das Thema „Bildung“ 18). Das erste Thema ist seit Mitte der sechziger Jahre bis in die Gegenwart ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanzverbesserung und dazu geeignet erscheinender Reformen geführt worden. Aber es läßt sich nicht erkennen, daß dabei ein Begriff von demjenigen spezifischen, unverwechselbaren und unersetzlichen Beitrag zum Leben der Gesamtgesellschaft leitend gewesen wäre, der die kirchliche Interaktion öffentlich relevant macht, gesamtgesellschaftlich unverzichtbar und nur deshalb ihren Charakter als Volkskirche begründen kann: nämlich ihrer Bildungsleistung. Gleichzeitig wird seit gut dreißig Jahren ein aufwendiges Gespräch über „Bildung“ geführt, das sich ohne jeden erkennbaren Bezug zu Gottesdienst und Seelsorge ausschließlich um Fragen des öffentlichen Schul-und Ausbildungssystems sowie des Religionsunterrichts dreht. Das heißt aber: Hier wird der spezifische Charakter desjenigen Bildungsgeschehens verkannt, das den eigentümlichen und unersetzlichen Beitrag der Kirchen zum Gemeinwohl ausmacht. Es wird verkannt, daß es hier um das ganzheitliche und lebenslang unabschließbare Wachstum des „inneren Menschen“ geht, um die Bildung des Personenzentrums. das alles Handeln steuert. Daher kann auch nicht wahrgenommen werden, daß es hier um ein Bildungsgeschehen geht, dessen schöpferische Mitte das prägende Erlebnis der Lebensdienlichkeit des Wortes vom Kreuz ist und in das daher auch die Kirche mit dem gottesdienstlichen Zentrum ihres Lebens selbst und zur Gänze hineingehört. So muß man feststellen, daß jahrzehntelang in der EKD über die rechte Gestalt von Kirche, Gottesdienst und Seelsorge nachgedacht wurde, ohne daß in diesem Zusammenhangjeweils zugleich auch Bildung thematisiert wurde, und über Bildung, ohne dabei zugleich auch Gottesdienst und Seelsorge zu thematisieren. Das sachlich Zusammengehörige wurde nicht in dieser Zusammengehörigkeit bedacht.

Ein solcher Befund gibt Anlaß zu folgenden Fragen: Steht den evangelischen Kirchen gegenwärtig überhaupt ein zulänglicher Begriff von derjenigen spezifischen gesamtgesellschaftlichen Funktion zur Verfügung, deren Erfüllung ihr objektiver Auftrag ist; eben der Begriff ihres spezifischen Beitrags zur Bildung — und zwar genau der „Herzens“ bildung — der Menschen in unserer Gesellschaft? Werden sie ohne eine solche Vorstellung ihrer Aufgabe auftragsgemäße und funktionsgerechte Formen für ihr Wirken finden können? Und muß daher nicht der weitere Rückgang ihrer spezifischen Prägekraft auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung erwartet werden?

Erfreulicherweise sind in jüngster Zeit Ansätze zur Überwindung dieser Orientierungsschwäche zu entdecken Das gilt insbesondere für den von der EKD-Synode 1988 einstimmig angenommenen und empfohlenen Text „Glauben heute. Christ werden — Christ bleiben“ Hier wird nach den Fundamenten des Glaubens gefragt und unmißverständlich klargestellt, daß der Gottesdienst, die Versammlung der Gemeinde um das in Predigt und Sakrament begegnende Evangelium, die lebendige Mitte des kirchlichen Lebens — und zwar gerade in seinem „volkskirchlichen“, öffentlichkeitsrelevanten Charakter — ist. Auch in diesem Text wird zwar die spezifische Bedeutung des Gottesdiensterlebens für die Bildungsgeschichte der Teilnehmer nicht explizit entfaltet. Aber er läßt immerhin die Einsicht erkennen, daß es eben das Evangelium in seinen komplementären Begegnungsgestalten von Predigt und Sakrament ist, welches dem Gottesdienst diese Fumdamentalstellung für das Leben und die Wirkung der Kirche verschafft; und daß deshalb diese Stellung des Gottesdienstes unabhängig ist von der schwankenden Geschicklichkeit der Prediger und der soziologischen Zusammensetzung der versammelten Gemeinde (also auch nicht davon berührt wird, ob diese Versammlung eine Versammlung von Bettlern oder Angehörigen des bürgerlichen Mittelstands ist).

Es ist zu begrüßen, daß sich die Synode schon 1990 erneut diesem Thema zuwenden will. Denn davon, daß den evangelischen Kirchen ihr Auftrag und dessen Grund klar vor Augen steht, hängt ab. daß sie die sachgerechten Formen für seine Erfüllung erkennen. bewahren, pflegen und entwickeln. Und davon wiederum ihr spezifischer Beitrag zur Bildung der Menschen in unserer Gesellschaft und dadurch vermittelt zur gesellschaftlichen Gesamtentwicklung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum folgenden vgl. H. Kaefer. Religion und Kirche als soziale Systeme, Freiburg-Basel-Wien 1977; F. X. Kaufmann. Kirche begreifen, Freiburg-Basel-Wien, 1979; W. Härle, Art. Kirche, dogmatisch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XVII, S. 227-317; ders. (Hrsg.). Kirche und Gesellschaft, Stuttgart 1989; und E. Herms, Erfahrbare Kirche. Tübingen 1990.

  2. Vgl. K. R. Popper. The open Society and its Enemies. London 1945.

  3. Heute am Verhältnis der jährlichen Gesamtzahl von Gottesdienstbesuchen (1986 in beiden Großkirchen 54 Mio.) zur Gesamtzahl der Kinobesuche (87 Mio.), der Museumsbesuche (56, 7 Mio.), der Theaterbesuche (20. 9 Mio.) und der Besuche von Fußballspielen (mindestens 87 Mio.) ablesbar; zit. nach: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland, 113 (1986), S. 88.

  4. Vgl. J. Hanselmann/H. Hild/E. Lohse (Hrsg.). Was wird aus der Kirche?. Gütersloh 1984, S. 11, und Kirchliches Jahrbuch. 112 (1985), S. 136-139.

  5. Vgl. A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht. Ein Leitfaden durch die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und den Religionsgemeinschaften, München 19802.

  6. Vgl. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. 2 Bde., Frankfurt-Berlin 1986.

  7. Die neueren Denkschriften sind sämtlich im Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn erschienen. Die Texte bis 1980. also auch die oben genannte Denkschrift, liegen gesammelt vor in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland. herausgegeben von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1980 ff.; Bd. 1 (in zwei Teilbänden). Frieden, Versöhnung und Menschenrechte; Bd. 2. Soziale Ordnung; Bd. 3. Ehe. Familie, Sexualität, Jugend; Bd. 4 (in zwei Teilbänden), Bildung und Erziehung.

  8. Vgl. Kirchliches Jahrbuch, 112 (1985), S. 136-139.

  9. Vgl. Kirchliches Jahrbuch, 100 (1973), S. 113 ff.

  10. Vgl. die Dokumentationen der drei großen Umfragen: M. Seitz. Gottesdienst in einer rationalen Welt, Stuttgart 1973; H. Hild (Hrsg.), Wie stabil ist die Kirche, Gelnhausen-Berlin 1974; J. Hanselmann/H. Hild/E. Lohse (Anm. 4).

  11. Vgl. zunächst den zusammenfassenden Bericht, in: Kirchliches Jahrbuch, 98 (1971). S. 159— 194. und dann die fortlaufende Berichterstattung in den folgenden Bänden.

  12. Einen ersten Ansatz zur Zusammenführung der Themen „Bildung" und „Gottesdienst“ bietet die Denkschrift über den „Zusammenhang von Leben. Glauben und Lernen. Empfehlungen zur Gemeindepädagogik“ von 1985. Aber auch in ihr wird die Zusammengehörigkeit der Themen Gottesdienst, Seelsorge und Bildung nur kurz behauptet, nicht aber gedanklich durchgearbeitet. Sie sind auch gar nicht das eigentliche Thema der Denkschrift. Das ist vielmehr wiederum ein „sozialer“ Sachverhalt: das Verhältnis zwischen theologischen und nichttheologischen Mitarbeitern in den Kirchen.

  13. Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Glauben heute. Christ werden — Christ bleiben. Gütersloh 1988.

Weitere Inhalte

Eilert Herms, Dr. theol., geb. 1940; seit 1979 Inhaber eines Lehrstuhls für Systematische Theologie an der ev. -theol. Fakultät der Universität München; seit 1985 an der ev. -theol. Fakultät der Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Theologie — eine Erfahrungswissenschaft, München 1978; Theorie für die Praxis. Beiträge zur Theologie, München 1982; Die Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen, Göttingen 1984; Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer für eine realistische Ökumene, Marburg 1989.