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Wie demokratisch ist unsere Verwaltung? | APuZ 7/1990 | bpb.de

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APuZ 7/1990 Artikel 1 Die Wirkungen politischer Skandale Verwaltungsskandale Zur Korruption in der öffentlichen Verwaltung Wie demokratisch ist unsere Verwaltung? Entwicklung der Politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland

Wie demokratisch ist unsere Verwaltung?

Erwin Curdt

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Führungskräfte der Behörden (Verwaltungen) nehmen verfassungsrechtlich und — resultierend daraus — auch dienstrechtlich eine Leitbildfunktion wahr. Diese Leitbildfunktion ist in der Öffentlichkeit wie intern umstritten, weil zwischen den Ansprüchen des Grundgesetzes und der Realität Diskrepanzen bestehen. Die Kritik richtet sich gegen die häufig beklagte unzulängliche Wahrnehmung (Realitätsfeme) und Bewältigung der zu lösenden Probleme durch die Behörden. Hinzu kommt, daß viele Führungskräfte ein gespanntes Verhältnis zu jeglicher Kritik von Personen und Institutionen haben, die hierarchisch unter ihnen stehen. Sie nehmen ihre Rechenschaftspflicht gegenüber lobbyschwachen Gruppen vergleichsweise unbefriedigend wahr. Es dominieren autoritäre Führungsstile, die aus einer Mischung bestimmter Eigenschaften bestehen: Ignoranz, Arroganz, Inkompetenz, Bequemlichkeit und mangelnde Courage (gegenüber übergeordneten Hierarchien). Auch die Erscheinungsformen demokratiefremden Verhaltens lassen sich in diese Typologie einordnen. Die Skala reicht von subtilen Manipulationsversuchen bis hin zu offenen Disziplinierungspraktiken. Alle Formen dieses Führungsverhaltens sind — graduell unterschiedlich und subjektiv oft unbewußt — nicht geeignet, eigenverantwortliches, kritisches und kooperatives Denken und Handeln im Arbeitsalltag zu fördern. Resignation, „innere Emigration“, scheinbare Anpassung, unterentwickelte Bereitschaft zu konstruktiver Kritik, Bevorzugung von „Karrieretypen“ sind das Resultat. Parteien und Verbände tragen die Hauptverantwortung dafür, daß zu viele Führungspositionen nach politischer „Wohlgefälligkeit“ besetzt werden. Die Folge ist, daß die fachlichen Qualifikationen und in besonderem Maße die Fähigkeit zur kompetenten Führung wie zu fairem menschlichem Umgang mit Mitarbeitern häufig zu wenig berücksichtigt werden. Nicht zuletzt führt dieser „Neofeudalismus“ — die weitgehend unkontrollierte Einflußnahme der Parteien — dazu, daß die Glaubwürdigkeit wie die Funktionsfähigkeit der Institutionen Schaden nehmen.

I. Vorbemerkungen

1989 war das Jahr der Verfassungsfeiem und zeitgeschichtlicher Bilanzen. Zugleich war und ist dies ein Anlaß, Fragen nach dem Zustand der politischen Kultur in unserer Gesellschaft und ihren Institutionen zu stellen. Sicherlich haben wir eine gute Verfassung; aber Bundespräsident Richard von Weizsäcker stellte anläßlich des 40. Jahrestages des Grundgesetzes zu Recht die Frage, ob denn auch wir, Staat und Gesellschaft, in einer guten Verfassung seien.

Kritiker decken die kleinen und die großen Wunden unserer Demokratie auf: Mittelmäßigkeit und Selbstzufriedenheit unter den Politikern und Führungskräften, Mangel an innerer Toleranz, Innovation, Kritikbereitschaft und Courage. Der Alltag in vielen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens zeigt eine Realität, die mit den hehren Bekenntnissen von Mandatsträgem nicht in Einklang zu bringen ist. Vom „Verlust des Politischen“ ist die Rede; Verfehlungen politischer Willensbildungsträger und programmatische Defizite der Parteien haben die politische Kultur in unserem Lande verändert.

In den folgenden Überlegungen soll unter diesen Aspekten der demokratische Alltag im öffentlichen Dienst thematisiert werden. Im Mittelpunkt kritischer Fragen stehen Führungsbeamte aller behördlichen Ebenen. Damit sind Ministerien, Kultusverwaltungen, Bezirksregierungen oder Oberpostdirektionen ebenso gemeint wie leitende Beamte und Angestellte örtlicher Institutionen. Die Auseinandersetzung mit dieser Gruppe hat exemplarischen Charakter. Der öffentliche Dienst repräsentiert mit seinen mehr als 4, 5 Millionen Beschäftigten eines der großen Subsysteme in unserer Gesellschaft. Von seinen Führungsbeamten erwartet der Staat unter anderem, daß sie im Sinne der Verfassung eine Leitbildfunktion wahrnehmen. Das Berufsbeamtentum legitimiert sich durch seine Identifikation mit den elementaren Aussagen des Grundgesetzes. Hier soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese Leitbildfunktion im Geiste des Grundgesetzes im Behördenalltag sichtbar geworden ist.

Wie ist beispielsweise das Verhältnis der Vorgesetzten zu ihren „Nachgeordneten“ unter der Fragestellung „Leitbild“ zu beantworten? Ist etwas von dieser „demokratischen Sinnstiftung“ im Laufe der Jahrzehnte in die Beamtenschaft hineingetragen worden? Denkt und handelt sie flexibler, innovativer und demokratischer als frühere Beamtengenerationen? Oder hat sich die öffentliche Verwaltung im Laufe der Jahrzehnte zu einem „Staat im Staate“ mit spezifischen, demokratiefremden Erscheinungsformen entwickelt?

Um Mißverständnissen und „aspekthaften“ Einschätzungen der folgenden Überlegungen vorzubeugen, seien zwei grundsätzliche Gedanken vorausgeschickt: 1. Es geht nicht um Wunschbilder von ideal-demokratischen Führungsbeamten. Das wäre irreal. Jede pluralistische Gesellschaft tendiert zu Subsystemen mit antidemokratischen Elementen. In jedem demokratischen System wird es ein unaufhebbares Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit geben. Die aufgezeigten Beispiele sollen diesbezüglich sensibilisieren. Antidemokratische Strukturen in einem Subsystem wachsen unbemerkt. Es gilt, den Selbstgefälligen und Selbstzufriedenen konstruktiv entgegenzutreten. Die aufgezeigten Beispiele zeigen auch Extremfälle, die in dieser „Reinkultur“ nicht alltäglich anzutreffen sind. Abgeschwächt und sublimiert werden sie jedoch in vielen Behörden vorkommen. Die Beispiele sind z. T. bewußt allgemein gehalten worden, um Identifikationen mit Personen und Behörden weitgehend zu vermeiden.

2. Die Beamtenschaft leistete für die Konsolidierung unseres Gemeinwesens nach 1945 wertvolle Dienste. Sie hat wesentlich zum Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur beigetragen. Die Frage, ob das nur mit einem Berufsbeamtentum bisheriger Prägung möglich war, muß hier offen gelassen werden. Falsch verstanden wären die Gedanken zur Rolle der Führungsbeamten allerdings, wenn sie als uneffizientes Arbeiten der gesamten Beamtenschaft verallgemeinert würden.

Eine kritische Bilanz unserer bemerkenswerten Nachkriegsgeschichte kann gewisse Diskrepanzen zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit nicht übersehen. So wird beispielsweise niemand in der verfassungsrechtlichen Würdigung unserer Parteien das Abbild ihres tatsächlichen Einflusses wiedererkennen. Art. 21, 1 GG stellt eine Untertreibung höchsten Grades dar („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“). Parteien verfügen in der Realität über eine dominierende Stellung in der politischen Willensbildung, d. h. ihre Einflüsse reichen weit über die Parlamente hinaus. Ämterpatronage in Behörden aller Ebenen hat dem Ansehen der Parteien immer geschadet. Sie sehen sich der Kritik von „Ämterpatronage“ ausgesetzt und haben in der Öffentlichkeit Probleme, ihre Verdienste in der Geschichte der Bundesrepublik darzustellen.

Das in vielen Schichten der Bevölkerung verbreitete Urteil, Politik verderbe den Charakter, hängt unmittelbar mit dem zusammen, was in der Öffentlichkeit als „Parteienfilz“ kritisiert wird. Dieses verbreitete Erscheinungsbild verdrängt leider einen viel bestimmenderen Faktor der politischen Willensbildungsträger: Sie haben viele verdienstvolle und vorbildliche Repräsentanten im Laufe der Nachkriegszeit hervorgebracht. Ereignisse, wie jene um die Barschel-Affäre, zeigen aber auch, daß die Rechtsstaatlichkeit in unserem Lande verletzbar ist. Viele fragen sich, wie es mit den demokratischen „Sicherungen“ bestellt sein muß, wenn Machtmenschen dieses Schlages Führungspositionen erreichen können.

Projizieren wir die Frage auf die Führungsetagen unserer Behörden: Wieviele Machiavellisten kleineren Formats mag es wohl in den Ministerien, Parteigremien, Verwaltungen, der Justiz . , . geben?

Wie es um die Demokratie einer Gesellschaft bestellt ist, das zeigt sich nicht allein an einer geschriebenen Verfassung, an der Arbeit der Parlamente und bei Wahlen. Wer es ernst damit meint, muß auch aktiv wollen, daß demokratische Prinzipien alle Bereiche unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens durchdringen.

Im Hinblick auf den Bereich der Behörden ist die Frage zu stellen, welches Demokratieverständnis sich herausgebildet hat. Wie gehen ihre Bediensteten mit den Bürgerinnen und Bürgern um? Wie ist das Führungsverhalten der Vorgesetzten gegenüber Nachgeordneten bzw. leitender Behörden gegenüber nachgeordneten Dienststellen? Kann man nach 40 Jahren Grundgesetz auch hier ein positives Resümee ziehen? Inwieweit haben die Bediensteten staatlicher Organe, insbesondere die Führungsbeamten, das Bekenntnis zu den Grundwerten der Verfassung verinnerlicht? Wie praktizieren sie es im Alltag? Der folgende Beitrag will nicht negative Pauschalurteile über „die Behörden und ihre Bediensteten“ fördern, sondern — im Gegenteil — durch Kritik an negativen Erscheinungen auf die Kluft zwischen Anspruch und Realität in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung aufmerksam machen.

II. Behörden, Führungskräfte und ihre Leitbildfunktion

1. Fragen zur Leitbildfunktion Die Beamten bekommen im Urteil der öffentlichen Meinung keine guten Noten. „Mangelnde Entscheidungsfreudigkeit“, „Faulheit“, „kein Rückgrat“ sind nur einige der negativen Eigenschaften, die ihnen angelastet werden. Dieses latent oder offen vorhandene Negativ-Bild der Beamten hat verschiedene Ursachen. Hier soll der Fragestellung nachgegangen werden: Inwieweit sind Urteile wie „mangelnde Entscheidungsfreudigkeit (Innovation . . .)“ oder „Verschanzen hinter formalen Vorschriften (kein Rückgrat . . .)“ Ausdruck einer Mentalität, wie sie in den Führungsetagen der Ministerien und nachgeordneten Behörden gepflegt und honoriert wird? Bei dieser Beamtengruppe dürfte — mehr oder weniger unausgesprochen — das sicher auch irgendwie begründbare Bewußtsein verbreitet sein, eine Auslese darzustellen. Sie verkörpert mit ihren Führungskompetenzen eine gewisse Leitbildfunktion für ihre „Nachgeordneten“. Gemessen an den demokratischen Maximen des Grundgesetzes sind dazu einige Fragen zu stellen: 1. Wie gehen Führungskräfte in ihren Verantwortungsbereichen mit grundrechtlichen Postulaten um: Menschenwürde am Arbeitsplatz, Tolerierung gegensätzlicher Auffassungen, Transparenz von Anordnungen und Entscheidungen? 2. Prägen sie ihre Mitarbeiter/innen so, daß diese sensibel die Anliegen nachgeordneter Instanzen und der Bürger/innen wahrnehmen und entsprechend reagieren?

3. Initiieren sie kooperative Entscheidungsprozesse? Motivieren sie Mitarbeiter in diesem Sinne? 2. Behörden in der Kritik interner und öffentlicher Meinung a) Realitätsferne Je weiter den Behörden die Anliegen der Betroffenen „vor Ort“ entrückt sind, desto geringer scheint ihre Fähigkeit zu realer Beurteilung von Problemen zu sein. Viele Vorgänge „reifen“ hier bei einem Personenkreis, der oft nur noch schemenhafte Vorstellungen von den Fragen hat, über die er entscheiden soll. Es kann dann zu Erlassen (Verfügungen) kommen, die mit den Problemen der Wirklichkeit nur peripher zu tun haben. Zur Entlastung öffentlicher Verwaltungen ist anzumerken, daß auch die Legislativen mit ihren Gesetzeswerken schon an dieser Realitätsferne beteiligt sind. Exekutiven haben jedoch viele Ermessensspielräume, Kluften zwischen Gesetzen und den zu bewältigenden Aufgaben zu überbrücken. Sie nehmen sie häufig nicht in dem erforderlichen Maß wahr. Realitätsfeme zeigt sich beispielsweise auch dort, wo ein Ministerium inkompetente Mitarbeiter mit Fachaufgaben betraut. Das wirkt sich u. a. besonders dann nachteilig aus, wenn etwa die von konzeptionellen Gesprächen oder Tagungen ausgehenden Informationen und Impulse der betroffenen (nachgeordneten) Behörde nicht mitgeteilt werden. Es ist wie mit einem Lehrer, der zu einem Fortbildungskurs mit dem Ziel eingeladen ist, als Multiplikator in seinem Kollegium zu wirken. Wenn er nur „für sich persönlich etwas gelernt“ hat und nichts weitergibt, dann ist die eigentliche Absicht verfehlt. Andererseits nehmen Referenten ihre Aufgaben unvollkommen wahr, wenn sie beispielsweise bei wichtigen Gesprächen nicht präsent sind oder kein Interesse an der Diskussion grundsätzlicher Fragen zeigen. Sie können zu Entscheidungsprozessen inhaltlich nichts beisteuern. Daraus resultiert zuweilen ein „aspekthaftes" Beurteilungsvermögen, das die Betroffenen subjektiv nicht mehr wahrnehmen. In Aufgabenbereichen, wo perspektivisches Den-ken und Handeln gefragt ist, zeigen solche „Fehlbesetzungen“ nach einer gewissen Zeit Folgen. Viele Probleme werden nicht angepackt oder sind nicht lösbar, weil es keine Konzepte gibt. b)

Der Umgang mit Kritik Behörden haben zuweilen ein neurotisches Verhältnis gegenüber Kritik von außen. Kommt sie aus Kreisen, von denen nichts zu befürchten ist, dann werden Kritiker mit lapidaren Bescheiden „ruhiggestellt“. Unangenehme Wahrheiten, bei denen auch Mißstände und Versäumnisse zugegeben werden müßten, enthält man der Öffentlichkeit vor, verharmlost sie oder nennt Scheinargumente.

Da wird etwa vom Ministerium eine Kommission mit der Untersuchung einer Frage beauftragt, zu der sie einen Bericht vorlegen soll. Die ursprünglich vorgesehene Veröffentlichung der Ergebnisse geschieht nicht, weil die geäußerte Kritik dem Ministerium mißfällt. Von der politischen Spitze über die Abteilungsleiter bis zu den Referenten sind alle darauf „getrimmt“, möglichst Erfolgsmeldungen zu machen. Wer dieses Verhaltensmuster verinnerlicht hat, dient seiner Karriere am besten. Wer opponiert, anders denkt (oder auf der „falschen“ politischen Seite steht), wird „geschnitten“. Die vielgepriesenen Tugenden der Toleranz und Kritikfähigkeit bleiben oft auf der Strecke. Gegen „graue Eminenzen“ sind Kritiker und Zweifler, auch wenn sie gute Argumente haben, nahezu chancenlos. Da beklagt der Rektor einer Hauptschule eine für diese Schulform charakteristische schwierige Lage. Er zeigt in einem Schreiben an den Kultusminister im einzelnen auf, weshalb sinnvolle pädagogische Arbeit nicht mehr möglich ist. Das auf dem Dienstweg eingereichte Schreiben wird von der zuständigen Bezirksregierung nicht weitergeleitet, weil sie die mögliche Konfrontation mit dem Kultusministerium scheut.

Zur Charakterisierung dieses Verhaltens eignet sich ein berühmt gewordenes historisches Zitat. Johann Jacoby, Mitglied des 1848er Vorparlaments, rief Friedrich Wilhelm IV. zu: „Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.“ 140 Jahre später könnte die Entrüstung etwa so lauten: „Das ist eben das Unvermögen, die Selbstherrlichkeit, die Ignoranz, das Machtbewußtsein, die Eitelkeit. . . vieler großer und kleiner Könige in unserer Administration, daß sie Wahrheiten und kritische Meinungen nicht ertragen können.“ c) „Aussitzen“ von Problemen und Entscheidungen

Schwierigen und brisanten Problemen geht man zuweilen auch „mit Passivität zu Leibe“. Eingaben mit unbequemen Fragen werden auf die „lange Bank“ geschoben in der Hoffnung, daß sie sich von selbst erledigen. Reagieren die Fragesteller in der Öffentlichkeit und Polemik kommt ins Spiel, dann weiß man sich mit peinlichen Ausreden zu entschuldigen. Zwei Beispiele:

Ein Gymnasium soll geschlossen werden. Der El-temrat wendet sich schriftlich an den Minister und bittet um eine Antwort. In einem anderen Fall wendet sich der Personalrat einer Behörde an das Ministerium und bittet um Klärung einer Grundsatzfrage zur Personalstruktur. Bei beiden Anliegen hatten die Absender nach einem halben Jahr noch nicht einmal einen Zwischenbescheid erhalten. Der Minister entschuldigte die verspäteten Schreiben mit einem „Büroversehen“. Auch wenn für die Betroffenen klar ist, daß die „Entschuldigungsfloskel“ nicht der Wahrheit entspricht, besteht keine Aussicht, den oder die verantwortlichen Beamten zur Rechenschaft zu ziehen. Nur wer einflußreiche Verbündete hat, kann in diesen anonymen Machtstrukturen etwas bewegen. Es gehört schon zu den seltenen Erfolgen, wenn es gelingt, jene Führungsbeamte zu „markieren“, die ihre Aufgaben unbefriedigend wahmehmen. d) Anonymität der Machtstrukturen Über die Machtstrukturen in unseren Behörden, das Verhalten und die Mentalität von Ministerial-beamten und Führungskräften nachgeordneter Behörden liegen der Öffentlichkeit wenig Erkenntnisse vor. Sie weiß kaum etwas über das „Innenleben“ deutscher Ministerien. Wie verlaufen dort Entscheidungsprozesse? Welche personellen und sachlichen Strukturen haben dazu geführt, daß sich ein Subsystem herausgebildet hat, das in vielen Be-23 reichen intransparent geblieben ist? Wie effizient sind diese Führungsbehörden bzw. Beamten bei der Bewältigung ihrer Aufgaben? Die Untersuchungen von Verwaltungswissenschaftlern zu diesen Fragen sind bislang ohne eine erkennbare Wirkung geblieben. Ministerialbeamte lassen sich bei ihren Entscheidungen ungern „in die Karten sehen“; sie argumentieren nach außen gern „verdeckt“. Sind brisante und folgenschwere Entscheidungen zu vertreten, die nachgeordnete Behörden betreffen, dann ist es keine Selbstverständlichkeit, daß sich die eigentlich Verantwortlichen der Diskussion mit den Betroffenen stellen. Sie schicken Mitarbeiter vor und lassen Auffassungen mitteilen. Substantielle Gegenargumente erreichen den Personenkreis der eigentlichen Entscheidungsträger nicht, oder sie werden so gefiltert und uminterpretiert, daß die Kernpunkte des Problems verschwimmen.

Wie Behörden sich „sperren“ können, wenn es um die Untersuchung von zentralen Fragestellungen interner Arbeit geht, mag folgendes Beispiel zeigen: Ein Studierender des höheren Lehramtes setzte sich in einer Examensarbeit mit dem Thema „Die Forderung nach mehr Effizienz in der Diskussion um die Reform in der öffentlichen Verwaltung“ auseinander. Er wollte die zunächst auf reiner Literaturbasis erstellte Arbeit empirisch fortsetzen und mit einer Dissertation abschließen. Dem Studierenden waren aufgrund seiner beruflichen Ausbildung die Strukturen der Dienstleistungsverwaltung vertraut; deshalb versuchte er, sein Forschungsvorhaben dort zu realisieren. Der zuständige Lehrstuhlinhaber der Universität unterstützte das Anliegen nachdrücklich. In Schreiben an eine Bundesbehörde, an ein Kultusministerium und an die Staatskanzlei einer Landesregierung wurden die erkenntnisleitenden Interessen des Forschungsvorhabens erläutert.

Die Bemühungen endeten mit folgendem Ergebnis: Der zuständige Bundesminister teilte dem Lehrstuhlinhaber der Universität mit, daß er für das Interesse am Problembereich der Effizienz in der öffentlichen Verwaltung danke; er sehe aber keine Möglichkeit der Unterstützung aus seinem Ministerium. Im Kultusministerium kam es immerhin zu einem persönlichen Gespräch, in dem im einzelnen dargestellt wurde, wo im Bereich der Schulverwaltung Fragestellungen zur Effizienzproblematik forschungswürdig seien (z. B.: Was kommt von den Erlassen eines Ministeriums noch in den Schulen an? Wie realitätsbezogen sind Erlasse?). Auch hier sah man jedoch keine Möglichkeit, das Vorhaben zu unterstützen. Das Schreiben an die Staatskanzlei einer Landesregierung blieb unbeantwortet. Eine telefonische Nachfrage beim zuständigen Referenten führte zu der Auskunft, der Vorgang sei nicht aufzufinden. e) Zur Rolle der Juristen Zur Charakteristik der Behörden gehören auch einige Bemerkungen über die Rolle der Juristen. Sie bilden in den Ministerien eine Macht mit geschichtlich gewachsener Tradition. Etwa in den letzten beiden Jahrzehnten ist ihr dominierender Einfluß etwas zurückgegangen. Neuerdings rücken auch Akademiker anderer Disziplinen in Leitungsfunktionen auf. Es bedarf keiner Frage, daß für eine Vielzahl ministerieller Aufgaben juristischer Sachverstand notwendig ist. Es gibt klassische Ressorts, die ohne juristische Führungskräfte nicht denkbar sind. Es gibt aber auch Ministerien, deren Hauptaufgaben Juristen nicht gerade „auf den Leib geschnitten“ sind.

In die Kultusverwaltung kommt z. B. diese Berufsgruppe nicht deshalb, weil sie sich durch eine besondere „Nähe zur Pädagogik“ ausgewiesen hätte. Sie besetzten (und besetzen) Positionen, in denen primär nicht juristischer Sachverstand gefragt ist. Juristen neigen oft dazu, pädagogische Fragen und Probleme formal lösen zu wollen. Die verständlicherweise fehlenden Erfahrungen geben vielen Erlassen Intentionen, die den spezifischen Anliegen der Schule nicht gerecht werden. Damit soll nicht vorurteilsvoll gegen Juristen polemisiert werden. Es gibt selbstkritische Kultusbeamte, die dieses Problem durchaus sehen und von Pädagogen in ihrer Arbeit anerkannt werden. In Bereichen, wo lediglich juristische „Service-Dienste“ gefragt sind, ist es jedoch nicht akzeptabel, daß bestimmte „Schlüsselreferate“ prinzipiell von Juristen besetzt werden.

Ministeriales Denken und Handeln in formalen, juristischen Kategorien blieb im Schulalltag nicht ohne Folgen. So ist zu beobachten, daß z. B. Schulräte und Schulleiter eine „Rechtsängstlichkeit“ im Umgang mit Nachgeordneten und Kollegien an den Tag legen, die manches Kopfschütteln auslöst. Pädagogisches und innovatives Handeln wird häufig schon im Keim erstickt, weil es keinen „Erlaß“ gibt oder der nächste Vorgesetzte zweifelt, ob diese oder jene Aktivität auch „abgesichert“ sei.

III. Führungsstile und Führungsverhalten in den Behörden

1. Autoritäre Führungsstile Liest man die gelegentlich erscheinenden Beiträge zu diesem Thema dann schneiden deutsche Führungskräfte insgesamt nicht befriedigend ab. Es dominiert — auch in den nicht-behördlichen Unternehmen — ein obrigkeitsstaatlicher Führungsstil. Weisungen von „oben“ werden in der Regel unkritisch übernommen und ausgeführt. Nachgeordnete, die sich nicht in dieses Verhaltensmuster einfügen, bekommen es mehr oder weniger zu spüren. Mitarbeiter kritisieren drei Hauptschwächen ihrer Vorgesetzten: 1. Sie entscheiden über die Köpfe hinweg. 2. Sie praktizieren das „Reinregieren und Vorbeiregieren“ an ihren Mitarbeiter/innen. 3. Sie haben „Angst vor Gesichtsverlust“ und kompensieren dieses Minderwertigkeitsgefühl mit autoritären Verhaltensweisen. Offensichtlich bilden jene Führungskräfte eine Minderheit, die zugeben und ertragen können, daß ein nachgeordneter Mitarbeiter in ihrem Aufgabengebiet kompetenter ist als sie.

Diese von Kritikern beklagte autoritäre Führungsmentalität ist auch in den Behörden eine bekannte Erscheinung. Der Umgang mit Mitarbeitern und nachgeordneten Verwaltungen ist nicht selten geprägt von einer Mischung aus Ignoranz, Arroganz, Inkompetenz, Bequemlichkeit und mangelndem „Rückgrat“.

Beispiel 1: Da trifft der Abteilungsleiter eines Ministeriums über eine ihm nachgeordnete Dienststelle eine höchst umstrittene Entscheidung mit personellen Konsequenzen. Beamte, die nur einen mittelbaren Einblick hatten, waren seine Ratgeber. Man hielt es nicht für nötig, die Auffassungen der Betroffenen vor der Entscheidung zu hören.

Beispiel 2: Ein einflußreicher Verband interveniert bei einem Ministerium in einer Sache, von der eine nachgeordnete Behörde betroffen ist. Der zuständige Abteilungsleiter des Ministeriums geht, ohne die betroffene Dienststelle zu konsultieren, auf das Verlangen des Verbandes ein. Es ergeht ein Erlaß an die nachgeordnete Behörde, die ihrerseits keine Möglichkeit der Rechtfertigung bekommt.

Beispiel 3: Ein Referatsleiter wird von externen, aber politisch einflußreichen Personen zur Korrektur einer Sachentscheidung gedrängt. Dem zuständigen Referenten sind die Widerstände bekannt. Er hat mit allen Beteiligten in vielen Gesprächen eine Entscheidung getroffen, die auch sein Referatsleiter akzeptierte. Dieser fürchtet nach der neuerlichn Intervention politischen Ärger und korrigiert die Entscheidung im gewünschten Sinne. Den mit der Sache befaßten Referenten hat er weder informiert noch beteiligt.

Zuweilen geben auch Minister Beispiele schlechten Führungsstils. Ein Kultusminister verkündet wenige Wochen nach seinem Amtsantritt eine neue Konzeption zur Lehrerfortbildung. Die Verantwortlichen für diese Aufgabe in einer nachgeordneten Behörde erfahren es durch die Presse. Konsultationen mit kompetenten Gesprächspartnern ist er aus dem Wege gegangen. Beispiele dieser Art üben eine negative Vorbildfunktion aus. Sie ermuntern Führungsbeamte der folgenden Ebenen zu ähnlichem Tun'.

Es gibt viele Erscheinungsformen obrigkeitsstaatlich geprägter Mentalität. Eine häufig zu beobachtende zeigt sich in der mangelhaft ausgebildeten Fähigkeit, Kritik konstruktiv aufnehmen zu können. Wenn sie eine der Spitzen in der Hierarchie erklommen haben, dann lassen sich die meisten nur noch von denen korrigieren, die über ihnen stehen. Nur eine Minderheit von Führungsbeamten ist in der Lage, ein „Klima“ zu schaffen, in dem nachgeordnete Bedienstete und Behörden offen Kritik äußern können. Passen Anregungen, Auffassungen oder gar Interventionen nicht in die jeweils politische Denkrichtung oder ist bekannt, daß Abteilungsleiter X oder Staatssekretär Y negativ reagieren könnten, dann werden die Informationen entsprechend gefiltert.

Arrogantes Vorgesetzten-Verhalten ist in allen Behörden und auf allen Ebenen anzutreffen und zeigt sich in verschiedenen Formen. Da werden sonst alltägliche Anstandsregeln mißachtet, oder devotes Verhalten wird gefordert. So geht beispielsweise in einer Landesbehörde ein Dezernatsleiter mit Mitarbeitern folgendermaßen um: Er nimmt Kolleginnen und Kollegen von einer bestimmten Rangordnung an „abwärts“ nicht mehr wahr und läßt sie das auch unmißverständlich spüren. Der Gruß des Mitarbei-ters/der Mitarbeiterin wird distanziert erwidert oder kaum zur Kenntnis genommen. Direktes Ansprechen in dienstlichen Angelegenheiten verbittet man sich; der Sachbearbeiter darf grundsätzlich nur dem Gruppenleiter vortragen und dieser dem Dezernenten. Das Anliegen des Sachbearbeiters kommt mehrfach „gefiltert“ zum Dezernats-oder Abteilungsleiter. Um nicht mißverstanden zu werden: Ein Abteilungsoder Dezematsleiter sollte sich nicht mit Sachfragen beschäftigen müssen, die an anderer Stelle geklärt werden können. Es geht hier um ein bedenkliches Symptom von Vorgesetzten-Verhalten, das nicht mit vermeintlichen Sachzwängen zu entschuldigen ist.

Hochmotivierte, couragierte und qualifizierte Mitarbeiter werden zuweilen nur deshalb zurückgesetzt, weil sie bestimmte Verhaltensmuster „grauer Eminenzen“ nicht übernehmen. Die realen Verhaltensnormen in diesem Subsystem haben mit den in der Verfassung und vielen Gesetzen postulierten Ansprüchen wenig zu tun. Schüler sollen beispielsweise u. a. fähig werden, — „Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz zu gestalten“, — „Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen“ und sich unter diesen Prämissen — „im Berufsleben zu behaupten“ (Niedersächsisches Schulgesetz, §

Inwieweit richten wir uns aber selber danach? Wie halten es insbesondere jene damit, die Führungs-und Leitbildfunktionen haben? Vorgesetzte, die sich in ihrem Handeln an den Bedürfnissen der Basis orientieren, gelten — mehr oder weniger unausgesprochen — als suspekt. In Wirklichkeit ist diese Einstellung nämlich nicht so sehr gefragt. Etwas überspitzt formuliert zeitigen jene Verhaltensweisen mehr (Karriere-) Erfolg, die sich mit den Kürzeln „Opportunismus“, „Anpassungsfähigkeit“ (bis zur Selbstverleugnung) oder „vorauseilender Gehorsam“ umschreiben lassen. Wer sie am besten beherrscht, hat besonders gute Aussichten, ge-und befördert zu werden — eine Umkehrung nach außen postulierter Tugenden. 2. Die „zwei Gesichter“ vieler Führungskräfte Häufig zu beobachten ist auch das kollegiale Erscheinungsbild mit „zwei Gesichtem“. Da propagieren Vorgesetzte verbal die Prinzipien kooperativen und kollegialen Arbeitens. Bei ihrem täglichen Umgang mit Kolleginnen und Kollegen zeigen sie jedoch ganz andere Verhaltensweisen. Zur Kategorie der „zweigesichtigen“ Führungstypen gehören einmal jene, die vor einer Beförderung in ein solches Amt ihre wahren Führungsvorstellungen geschickt zu verschleiern wußten oder denen die Vorgesetzten-Rolle „zu Kopf“ gestiegen ist. Sie zeigen mit einem Male unvermutete Umgangsformen und Ansichten. Prägten vorher Offenheit und Vertrauen die kollegiale Zusammenarbeit, so dominieren nun Verhaltensweisen, die Befremden und Irritationen auslösen. Der einstige Kollege kann sich nun zu einem Formalisten entwickeln und für Nachgeordnete nur noch schwer erträglich sein.

Ein weiteres „Janusgesicht“ -Phänomen können wir bei jenem Führungstyp beobachten, der sich seinen Vorgesetzten gegenüber anders verhält als seinen Nachgeordneten. Für Vorschläge zur Lösung einer Frage, die von Mitarbeitern kommen, ist kein Verständnis vorhanden; jede Diskussion wird abgeblockt. Kommt dieser Vorschlag mit den gleichen Argumenten jedoch von Personen der übergeordneten Instanz, dann ist er auf einmal in der Lage, „alles zu verstehen“, plötzlich „wird ihm vieles klar“ und „alles leuchtet ihm ein“.

Eine spezifische Form „gespaltenen“ Verhaltens zeigen auch jene Führungskräfte, die geund befördert worden sind, selber aber keinen Finger rühren, wenn es gilt, motivierten und leistungsfähigen Mitarbeitern eine Chance zu geben. Diese Kategorie von Vorgesetzten sieht nur sich, hat den Blick permanent nach „oben“ gerichtet oder „ruht“ in der erreichten Position.

Fehlende Zivilcourage gehört ebenfalls zu den Führungsschwächen, die die Glaubwürdigkeit von Vorgesetzten erschüttern. Es handelt sich hier umjenen Vorgesetzten-Typus, der immer dann „weiche Knie“ bekommt, wenn er sich kritischen Fragen übergeordneter Personen bzw. Instanzen stellen muß. Dieser an sich von seinen Mitarbeitern akzeptierte Vorgesetzte kann dann unangenehm werden. Ist einer seiner Referenten oder Dezernenten Anlaß der Kritik „von oben“, dann kann aus dem sonst umgänglichen Kollegen ein „ängstlich-absichernd" und auf Distanz gehender Vorgesetzter werden. Diese Kategorie von Führungskräften vermag nicht, sich selbstbewußt und offen berechtigter oder unberechtigter Kritik oder unzumutbaren Ansinnen zu stellen, sondern „fällt um“. Augenscheinlich absurde Argumente „von oben“ werden so lange „abgeklopft“, bis schließlich noch etwas „Sinnhaftes“ hineinzuinterpretieren ist. 3. Formalismus und „Kleiderordnungsdenken“

Darunter soll ein Führungsverhalten verstanden werden, das keine oder nur noch verkümmerte Züge von Kooperations-und Delegationsbereitschaft zeigt. Es ist in der Regel mit mangelnder Kollegialität identisch. Wer die größte Befriedigung und Sinngebung seiner Tätigkeit im Abfassen von Vermerken, Erlassen und Verfügungen sieht, wer nur auf die förmliche Einhaltung der Zuständigkeiten bedacht ist, nur „regelt“ und nur in „Vorgaben“ (Erlaß, Verfügung) denken kann, der vermag Nachgeordnete nicht zu motivieren. Die egozentrische Selbstverwirklichung dieses Führungstypus steht im Gegensatz zum Kollegialprinzip. Obwohl ein Erlaß oder eine Verfügung in der Regel das Produkt der Arbeit mehrerer Dezernenten/Referenten darstellt, spricht der beschriebene Führungstypus von „meinem Erlaß“ oder „meiner Verfügung“. Nachgeordnete, die den charakterisierten Führungsstil täglich erfahren, können nicht flexibel handeln; Initiativen und Kreativitäten verkommen. Der Weg in die „innere Emigration“ beginnt 2) (häufig schon in jungen Jahren). Dieses Führungsverhalten bildet eine der Hauptursachen dafür, daß in unseren Behörden viele Entwicklungen, Neuerungen, Entscheidungen zu lange auf sich warten lassen oder überhaupt nicht in Angriff genommen werden.

Man kann nur darüber spekulieren, wieviel wertvolle Ideen und Aktivitäten in den Behörden nur deshalb nicht zur Geltung kommen, weil entscheidungsmächtige Formalisten es nicht zulassen. Man fügt sich dann ins vermeintlich Unabänderliche. „Die Erlaßlage ist so“, heißt es, oder: „Da können wir nichts machen.“ Das Mittelmaß, der Durchschnitt wird zur orientierenden Norm erhoben, etwas vulgärer ausgedrückt: die „Gesäßmentalität“ bestimmt das Arbeitsethos.

Die hier charakterisierten Erscheinungsformen beschreiben einen menschlichen Führungstypus, der nicht „mit seinen höheren Zwecken wächst“, sondern zu einem Formalbürokraten verkümmert. Die Nivellierung der Persönlichkeit von Staatsdienem scheint auch zur historischen „Erbmasse“ bzw.den „hergebrachten Grundsätzen“ des Berufsbeamtentums zu gehören. Schon Bismarck klagte über seine Erfahrungen aus der Aachener Zeit: man muß vollständig der Beamtenkaste angehören, ihre falschen und richtigen Ansichten teilen und jeder Individualität in Meinung und Handlung entsagen“ Zum „Kleiderordnungsdenken“ gehört vor allem die Frage des Umgangs mit Kolleginnen und Kollegen übergeordneter oder gleichrangiger Behörden. Eine Reihe von Vorgesetzten wacht mit Eifersucht darüber, daß jegliche Kontakte von Mitarbeitern anderer Behörden, Referate oder Abteilungen vorher „abgestimmt“ werden. Bei allen Gesprächen mit denjeweiligen Vertretern meinen sie, die Rangordnung dokumentieren zu müssen. Um nicht mißverstanden zu werden: Hier sollen nicht begründete Notwendigkeiten in Frage gestellt werden. So kann ein Mitarbeiter nicht Fragen grundsätzlicher Natur „an seinen Vorgesetzten vorbei“ erörtern und entscheiden wollen. Die Pflicht der ständigen Konsultation und Kommunikation zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten steht nicht zur Diskussion.

Die Kritik am Führungsverhalten richtet sich gegen starre und verabsolutierte Formen. Weshalb muß beispielsweise ein Referats-oder Dezematsleiter ein Gespräch nur deshalb leiten, weil einer der Teilnehmer seine Rangordnung einnimmt? Weshalb ist es keine Selbstverständlichkeit in unseren behördlichen Führungsetagen, daß Entscheidungsprozesse unter sachlichen und nicht unter hierarchischen Gesichtspunkten betrieben werden? Es gibt unzählige Beispiele dafür, daß „Amtsautoritäten“ sich in Sachdiskussionen nur deshalb einmischen und „Führung“ demonstrieren, weil ihnen die „Kleiderordnung“ heilig ist.

Auch nachgeordnete Behörden können dieses „Rangordnungsdenken“ übergeordneter Instanzen durch ihr Verhalten geradezu herausfordem. Da beanständet der Leiter einer Dienststelle (ein Schulrat), daß eine Verfügung vom zuständigen Sachbearbeiter der Bezirksregierung (einem Amtmann) unterschrieben wurde. Der Schulrat sieht darin eine geringschätzige Behandlung seiner Dienststelle; der zuständige Dezernent (ein Regierungsschuldirektor) hätte die Verfügung ausfertigen müssen.

IV. Ursachen und Ausblick

1 . Parteien und Verbände als Hauptverantwortliche für nicht legitimierbare „Karrieremuster“ „Der Beamte dient dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Er hat seine Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen . . .“. So steht es im Bundesbeamtengesetz (§ 52 Abs. 1) und im Beamtenrechtsrahmengesetz (§ 35 Abs. 1). Knapp ein Fünftel aller Erwerbstätigen ist im öffentlichen Dienst beschäftigt; sie stellen einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Parteimitgliedern. Kann das nur als Ausdruck besonderen demokratischen Engagements und Bewußtseins gewertet werden? Die Frage ist insbesondere hinsichtlich der Karriere-und Führungsbeamten insgesamt nicht zu bejahen.

Ein hier nicht zu quantifizierender Anteil ist über die „Parteischiene“ oder einen einflußreichen Interessenverband in die Führungsposition gelangt.

Es ist legitim, wenn die Träger politischer Willensbildung mit Männern (neuerdings auch mit Frauen) ihres Vertrauens Einfluß in den Exekutiven zu gewinnen versuchen. Die Mitgliedschaft in einer Partei bzw. das engagierte Eintreten für politische Überzeugungen kann zunächst weder ein qualifizierendes noch ein disqualifizierendes Kriterium sein, wenn es um die Besetzung von Stellen geht. Das gilt auch für sogenannte politisch „Neutrale“, die sich in solchen Situationen oft rühmen, keiner Partei anzugehören oder nahezustehen. Es geht also nicht darum, die parteipolitischen Beamten gegenüber den „indifferenten“ und nach „allen Seiten offenen“ zu diskreditieren.

Bedenklich ist jedoch, wie sorglos Parteien mit dem Problem der Ämterpatronage umgehen. Die krassen Fälle menschlich-charakterlich nicht integrer Personen in den Führungsgremien markieren ja nur die Spitze eines Eisbergs. Doch viele Parteimitglieder und Verbandsvertreter nutzen die Mitgliedschaft ausschließlich für ihre persönlichen Zwecke. Das partei-bzw. verbandspolitische Bekenntnis ist dann nicht Ausdruck demokratischer Überzeugung, sondern ein Karriere-und Opportunitäts-Denken. In vielen Ministerien (und leitenden Behörden) wird eine Personalpolitik betrieben, die vom „Parteienund Verbändefilz" geprägt ist. Diese Kritik richtet sich gegen alle politischen Willensbildungsträger. Sie gehen zu leichtfertig mit Personalfragen in den Behörden um. Sie akzeptieren und fördern diesen „Normalzustand“ und nehmen nicht wahr, wie sehr das dem Ansehen der Parteien und der Institutionen in unserem Lande schadet.

Erfolg wird — Politiker demonstrieren es täglich — zum Selbstzweck. Ist die erklommene Position stark von partei-und machtpolitischen Faktoren abhängig, dann gilt es, möglichst schnell und umfassend die spezifische „Klaviatur“ zu beherrschen. Man denkt und handelt gegenüber dem Abteilungsleiter (Minister) im Sinne des „vorauseilenden Gehorsams“. Kritische Anstöße, Bedenken oder gar Widersprüche, die Mißfallen erregen könnten, haben in diesem Subsystem wenig Chancen. Honoriert und gefördert werden nicht Beamte mit Stehvermögen und kritischem Geist, sondern die Anpasser. Subalternes Denken und Handeln ist gefragt. Die wohlklingenden demokratischen Ziele wie Kritik-bereitschaft, Toleranz oder Konfliktfähigkeit bestimmen nicht den Alltag. Problematisierendes Denken wird verteufelt, weil es für viele noch den „ 68er Ludergeruch“ hat. Anstelle kritischer Solidarität tritt die verschleiernde Harmonie. Sie wiederum bringt subtile Anpassungsmechanismen hervor.

Wieviele Angehörige des öffentlichen Dienstes gelangen über die Wege der parteipolitischen Protektion in Führungspositionen, die sie aufgrund ihrer fachlichen Qualifikationen und/oder ihres menschlichen Führungsformats niemals erreicht hätten? Die damit angerichteten „Schäden“ hängen von verschiedenen Faktoren ab. Vorgesetzte mit Defiziten in der Menschenführung sind für eine Behörde noch erträglich, wenn sie nicht über „Nachgeordnete“ verfügen können. Sind viele Mitarbeiter betroffen, dann leiden Motivation und Engagement. Schließlich hilft dann oft nur noch der kuriose Ausweg des „Hochlobens“. In der Pyramide höherer Besoldungsgruppen ist das jedoch mit größeren Schwierigkeiten verbunden. Welche Dienststelle „reißt sich“ um einen Beamten, dessen negatives Image notorisch ist und der zudem einer Versetzung nur um den Preis einer Beförderung zustimmen würde? 2. Unzulängliche Auswahlkriterien Führungskräfte werden überwiegend — das gilt nicht nur für Beamte — nach fachlichen Qualifikationsmerkmalen ausgesucht. Es ist unstrittig, daß die sachliche Kompetenz ein wichtiges Auslesekriterium darstellen muß. Sie allein reicht aber nicht aus, wenn in der zu besetzenden Position auch die Zusammenarbeit mit Mitarbeitern gefordert ist. Die Frage, ob jemand geeignet ist, mit Menschen umzugehen, wird in der Regel nur am Rande oder überhaupt nicht angesprochen. So treffen wir in vielen Leitungsfunktionen auf Beamte, die hinsichtlich der Menschenführung „Amateure“ sind. Sie reagieren in Konfliktsituationen unangemessen und autoritär, weil sie nicht gelernt haben, wie man kooperativ und kollegial mit Mitarbeitern/Mitmenschen umgeht.

In den Ministerien geschieht die Berufung von Referenten bzw. Referatsleitem oft nach intransparenten Verfahrensweisen. In bestimmten Behörden gibt es dafür keine Ausschreibungen; Besetzungen erfolgen über persönliche Beziehungen, partei-bzw. verbandspolitische Kanäle. Einerseits werden hinsichtlich der fachlichen Eignung strengste Maßstäbe angelegt. Manche sind über die sogenannte „Ochsentour“ aufgestiegen, d. h. sie haben es beispielsweise vom Lehrer über den Schulleiter zum Schulrat gebracht, sind Dezernent einer Bezirksregierung gewesen und letztendlich in das Kultusministerium berufen worden. Diesen Einzelkarrieren haftet zuweilen — aus Sicht derer, die sich als „geborene“ Ministerialbeamte fühlen — ein „Stallgeruch“ an. Wer über die „Mannschaftsdienstgrade“ Sprossen erklommen hat, gelangt nur in Ausnahmefällen in leitende Stellen des Ministeriums. Einen viel einfacheren Karriereweg gehen die politischen „Seiteneinsteiger“, jene mit den „prädestinierten“ Laufbahnvoraussetzungen. Sie müssen nicht über fachliche Erfahrungen oder Qualifikationen verfügen — und legen zumeist auch keinen Wert darauf. Die Folgen dieses parteipolitischen „Neofeudalismus“ — das zeigen mittlerweile die Erfahrungen aus der gesamten Bundesrepublik — sind verheerend: menschlich, was die Kollegialität betrifft; sachlich, was die kompetente Erledigung von Aufgaben angeht; und schließlich politisch im Hinblick auf den Glaubwürdigkeitsverlust unserer Institutionen. 3. Reformerische Gedanken Seit Jahrzehnten beschäftigen sich Fachleute verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Studienkommissionen mit der Reform der öffentlichen Verwaltung. Vieles ist vereinfacht und verbessert worden, viele Fragen sind jedoch noch nicht oder nur unbefriedigend beantwortet. Unbestritten war und ist bei allen Beteiligten die Notwendigkeit einer Reform der öffentlichen Verwaltung. Sie müsse den Ansprüchen einer modernen Industriegesellschaft gerecht werden. Die Geister scheiden sich bei der Auslegung des Art. 33, 5 GG: „Das Recht des öffentlichen Dienstes ist unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln.“ Mit dieser Aussage sollten bewährte Prinzipien des Berufsbeamtentums verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Die „hergebrachten Grundsätze“ knüpfen an historische Erfahrungen an. Beamte waren immer eine staatstragende Säule in unserer Geschichte. Dieses Kontinuum hat, wie wir wissen, nicht nur positive Seiten gehabt. Die Machthaber der NS-Zeit nutzten die Treueverpflichtung der Beamten gegenüber dem Staat skrupellos für ihre Ziele aus. Naiver Gehorsam, Gewissenskonflikte und schuldhafte Verstrik-kungen haben gezeigt, daß eine schlichte Auslegung der Treueund Gehorsamspflicht nicht wünschbar ist.

In der Diskussion um die Reform des öffentlichen Dienstes ist die Frage strittig, wie die demokratietheoretischen Grundforderungen unserer pluralistischen Gesellschaft und die „hergebrachten Grundsätze“ auf einen Nenner zu bringen sind. Ellwein wies schon 1973 auf die Notwendigkeit hin, trotz kontroverser Reformvorstellungen wenigstens im Ansatz die Prinzipien Mitbestimmung, Partizipation und Emanzipation zu realisieren Im Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts beklagte eine Reihe von Autoren. daß die konservative Interpretation von Art. 33, 5 GG ein verfassungspolitisches Problem darstelle Wenn die Treue-und Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat nicht kritisch-solidarisch begriffen wird, dann behalten wir ein Subsystem mit obrigkeitsstaatlichen Strukturen.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker stellte zur Eröffnung des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im März 1988 die Frage: „Haben die Institutionen ihren Wert verloren? Oder droht nur ihren Repräsentanten ein Verlust an Glaubwürdigkeit?“ Mir scheint die zweite Frage ein grundsätzliches Problem zu sein. auf das die Öffentlichkeit sensibler reagieren muß. Es gilt jene Kräfte zu stärken, die verantwortungsbewußt, flexibel, ideenreich und kooperativ die ihnen übertragenen Aufgaben erledigen. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daß gerade im öffentlichen Dienst die Realisierung demokratischer Prinzipien stärker als bisher die Alltagsarbeit bestimmt.

Diese Prinzipien sind längerfristig nur dann realisierbar, wenn Führungskräfte ausgewählt werden, die neben der fachlichen Qualifikation auch menschliche Führungseigenschaften im Geiste des kooperativen Arbeitens umsetzen können. Die offenen wie subtilen Disziplinierungspraktiken müssen abgebaut werden. Damit läßt sich die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verringern, die resignierend in die „innere Emigration“ gehen. Die sich daraus entwickelnde negative Anpassungsbereitschaft darf nicht zum bestimmenden Ethos der „staatstragenden“ öffentlichen Verwaltung werden. Hier liegt eine der Wurzeln für die Staatsund Parteienverdrossenheit.

Sollten sich Tendenzen eines Bürokratismus mit autoritären Zügen weiter ausbreiten, dann wird die Entwicklung zu mehr Demokratie im Behördenalltag noch mehr stagnieren. Skeptischen Lesern dieser kritischen Bilanz sei eine Mahnung des ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann in Erinnerung gerufen, die er 1972 anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels aussprach. Er sagte im Zusammenhang mit der Frage „einer vernünftigen Weiterentwicklung unserer eigenen Gesellschaft“ folgendes: „Dies kann nicht heißen, das Bestehende um des lieben Friedens willen zu bestätigen . . . gelänge es den Selbstzufriedenen, sie (die Publizisten, die Schriftsteller und Wissenschaftler, d. Verf.) zum Schweigen zu bringen, so wäre das verhängnisvoll. Im Gegenteil: Ihr Aufdecken der Wirklichkeiten, ihr Drängen nach besseren Wegen muß von uns aufgenommen und Gemeingut eines breiten Bewußtseins werden . . ,“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z. B. Irene Mayer-List, Abschied vom Ehrgeiz, in: Die Zeit, Nr. 43 vom 21. Oktober 1988.

  2. Vgl. Reinhard Höhn, Wenn die innere Kündigung zur Regel wird, in: Die Welt vom 30. Juli 1987.

  3. Zit. in: Emst Engelberg, Bismarck, Berlin 1985, S. 150.

  4. Vgl. dazu u. a. Rudolf Wassermann, Die Zuschauerde-mokratie, München 1989, S. 133 ff.; Josef Isensee, Beamtentum — Sonderstatus in der Gleichheitsgesellschaft, in: Zeitschrift für Beamtenrecht, (1988) 5, S. 147 ff.

  5. Vgl. Thomas Ellwein/Ralf Zoll, Berufsbeamtentum. Anspruch und Wirklichkeit, Düsseldorf 1973, S. 242 ff.

  6. Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Heft 4 der Schriftenreihe des DGB. Düsseldorf 1973, S. 12.

  7. Dokumente der Zeit. Verhängnisvolles Schweigen, in: Die Zeit, Nr. 40 vom 6. Oktober 1972.

Weitere Inhalte

Erwin Curdt, geb. 1939; Oberstudienrat; Studium der Geschichte und Politologie für das Höhere Lehramt; wissenschaftlicher Assistent an der TU Braunschweig (Didaktik der Geschichte); Lehrer an einem Gymnasium; seit 1984 Dezernent beim Niedersächsisches Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung in Hildesheim. Zahlreiche Publikationen zu pädagogischen, sozialwissenschaftlichen und historischen Themen.