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Der Sozialkonservativismus im deutschen Staats-und Gesellschaftsdenken | APuZ 9-10/1990 | bpb.de

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APuZ 9-10/1990 Der Sozialkonservativismus im deutschen Staats-und Gesellschaftsdenken Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebziger Jahren Die Politik des mittleren Weges Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Das Verfassungsprinzip der „Staatsfreiheit“ Kommentar und Replik Politisch-moralische Urteilsbildung ohne politische Beteiligung? Zum Beitrag von Bernhard Sutor: „Politikunterricht und moralische Erziehung“ (B 46/89) Artikel 1

Der Sozialkonservativismus im deutschen Staats-und Gesellschaftsdenken

Klaus Hornung

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Zusammenfassung

Der Beitrag zeichnet zunächst einen heute vielfach vergessenen Strang der deutschen politischen Ideengeschichte nach. Unter „Sozialkonservativismus" werden dabei diejenigen Theoretiker und Ideen zusammenge-faßt, die — auf den Grundlagen des Reform-Konservativismus Edmund Burkes und des Freiherrn vom Stein fußend — schon früh die zentrale Bedeutung der „sozialen Frage“ erkannten und entsprechende Lösungsvorschläge vorlegten. Sie unterscheiden sich sowohl vom Liberalismus wie auch vom organisierten Sozialismus, kritisieren aber auch den „Strukturkonservativismus“ der herrschenden Schichten. Die Linie reicht von Adam Müller über Franz von Baader und Victor Aim Huber, über Hegel und Lorenz von Stein bis zu den Sozialpolitikern der Bismarckzeit Hermann Wagener und Theodor Lohmann. Noch der Kreisauer Kreis im deutschen Widerstand gegen Hitler wie auch Jakob Kaiser nach dem Zweiten Weltkrieg gehören in diesen Ideen-Zusammenhang. Die Darstellung schließt mit einer Kritik der „emanzipatorischen“ Sozialstaats-Postulate und sozial-technischer Gesellschafts-und Politikkonzepte der Gegenwart. Ihnen gegenüber wird an ein politisches Denken und Handeln in langfristig-geschichtlicher Verantwortung und gesamtpolitischer Solidarität erin-nert.

Das staats-und gesellschaftspolitische Denken in der Bundesrepublik steht heute, besonders seit 1968/70, weithin im Zeichen eines tiefen Überlieferungsverlusts und Traditionsabbruchs, von dem die „konservativen“ Elemente am stärksten betroffen sind. Durch das anfängliche Bündnis bürgerlichkonservativer Kräfte mit den Nationalsozialisten erscheint der deutsche Konservativismus bis heute diskreditiert. Dabei wird meist übersehen, daß es seit dem 19. Jahrhundert konservative Gruppen und Ideenkreise gegeben hat, die sich deutlich von dem herrschenden — zunächst feudalen, dann bür-gerlichen — Interessen-und Struktur-Konservativismus unterschieden und auch früh die Bedeutung der „sozialen Frage“ für die politische und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland erkannten. Im folgenden wird eine Skizze dieses Ideenstrangs eines „sozialen Konservativismus“ versucht, die ausmünden soll in einen Blick auf die Probleme und Krisenpunkte des zeitgenössischen Sozialund Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland aus sozialkonservativer Perspektive.

I. Wurzeln des sozialen Konservativismus im europäischen und deutschen Reformkonservativismus

Am Beginn stehen zwei zentrale Anstöße: Zum einen die kritische Auseinandersetzung Edmund Burkes mit der Französischen Revolution in seinen „Reflections on the Revolution in France“ (1790), zum anderen die preußisch-deutsche Reformbewegung von 1807 bis 1815. Burke hatte mit seinen „Betrachtungen“ das Grundbuch eines freiheitlichen Reform-Konservativismus mit gesamteuropäischen Wirkungen geschrieben. Gegen einen hybriden Revolutionarismus setzte er die Einsicht in die historisch-politische Real-Dialektik von Bewahrung durch verbessernde Veränderung, „a disposition to preserve and an ability to improve, taken together". Zugleich trat er dem rationalistischen Fehlverständnis des Staates entgegen, wie es sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte -einem Verständnis des politischen Gemeinwesens als einer „alltäglichen Kaufmannssozietät, einem unbedeutenden Gemeinhandel mit Pfeffer und Kaffee, den man treibt, solange man Lust hat und aufgibt, wenn man seinen Vorteil nicht mehr wahrnimmt“. Das politische Gemeinwesen war für ihn „nicht nur eine Gemeinschaft in Dingen, deren die grob tierische Existenz des vergänglichen Teils un-seres Wesens bedarf ... Da die Zwecke einer sol-chen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben werden.“

Burkes großartiger politisch-historischer Entwurf fand in Deutschland fruchtbaren Boden. Schon 1793 veröffentlichte Friedrich Gentz die Übersetzung von Burkes Werk, das ihn selbst vom Bewunderer der Revolution zum konservativen politischen Publizisten hatte werden lassen. Im aufgeklärten Absolutismus vor allem des preußischen Typs waren neben die kalte Staatsräson schon längst die Prinzipien der Hebung des Wohlstands und der allgemeinen Kultur der Untertanen als Grundlagen staatlicher Legitimität getreten. Das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“, das im selben Jahr (1794) in Kraft trat, als westlich des Rheins der revolutionäre Schrecken tobte, wurde zur frühen, viel bewunderten Charta eines Rechts-und Sozialstaats auf deutschem Bo-den. Und so bemühten sich auch die preußischen Reformer — wie Freiherr vom Stein, Gerhard von Scharnhorst, Neidhardt von Gneisenau, Johann Gottlieb Fichte. Wilhelm von Humboldt und andere — um eine neue, kraftvolle Synthese aus überkommenem Staatsethos und den von der Revolution auf die Tagesordnung gesetzten Notwendigkeiten der Reform und Modernisierung.

Auf dieser Grundlage entwickelte sich bald auch die erste Kritik an den erschreckenden sozialen Begleiterscheinungen der Industriellen Revolution, wie sie sich zuerst in England zeigten. In seinen „Elementen der Staatskunst“ (1809) nahm Adam Müller Burkes Prämisse auf, daß der Staat „nicht eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät“ sei, sondern „die innige Verbindung des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation“ Und Müller gehörte auch zu den ersten in Deutschland, die vor einem „Bienenstaat“ und dem Zerfall der Gesellschaft „in ein taxenzahlendes Arbeitervolk und in ein anderes müßiges Kapitalistenvolk“ warnten — immerhin schon 1820, über zwei Jahrzehnte vor Karl Marx 1835 erschien in München die Schrift Franz von Baaders „Über das Mißverhältnis der Vermögens-losen oder Proletaires zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in Betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkt des Rechts betrachtet“ — eine Schrift, die man „ein Mahnwort an seine Zeit vor Ausbruch des Klassenkampfes und ein Juwel romantischer Sozialpolitik“ genannt hat Im lutherisch-pietistischen preußischen Norden forderte wenig später Ludwig Gerlach, enger Vertrauter König Friedrich Wilhelms IV., von den Konservativen, „eine Partei für das Recht, aber nicht für den Geldbeutel“ zu sein, um hinzuzufügen: „Als bloßes Mittel des Genusses ist Besitz nicht heilig, sondern schmutzig. Gegen ein Eigentum ohne Pflichten hat der Kommunismus recht.“

Bereits bis an den Rand des Staatssozialismus ging Josef Maria von Radowitz (1797— 1853), im Herbst 1850 kurze Zeit preußischer Außenminister. Er schlug die Errichtung staatlicher Fabriken und den Mitbesitz der Arbeiter an den Fabriken vor, desgleichen eine staatliche Versicherung, die aus der progressiven Erbschaftssteuer zu finanzieren sei zwecks Ausgleich des Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital. 1848 konnte man bei ihm lesen: „Das Proletariat steht in riesengroßer Gestalt da und mit ihm öffnet sich die blutende Wunde der Gegenwart: der Pauperismus. Wird kein Mittel gefunden zur gründlichen Heilung der Massenarmut, so entgeht Europa seinem Sklavenkrieg so wenig als Amerika dem seinigen." Und fünf Jahre später: „Wer wahrhaft restaurieren will, muß die Sümpfe des Proletariats, aus welchen die todbringenden Dünste aufsteigen, austrocknen und urbar machen. Der Staat wird dazu getrieben werden, der sozialen Aufgabe zu genügen — oder sie wird ihn über den Haufen werfen.“ Zumindest Teile dieser frühen sozial-konservativen Forderungen sind nicht nur „Ideenpolitik“ geblieben, sondern durch gesetzliche Maßnahmen in Preußen nach 1830 zur Begrenzung der Frauen-und Kinderarbeit, der Arbeitszeit und mit Bestimmungen über Hygiene am Arbeitsplatz auch in praktische Politik umgesetzt worden.

II. Sozialkonservativismus zwischen genossenschaftlicher Selbstverwaltung und Staatssozialismus

Innerhalb des sozialkonservativen Ideenkreises sind im 19. Jahrhundert deutlich zwei Grundlinien zu unterscheiden, auch wenn sie sich oft überschneiden: auf der einen Seite Vorschläge vor allem genossenschaftlicher Selbsthilfe zur Lösung der sozialen Frage, auf der anderen Seite staatsinterventionistische Konzepte, die sich bei einigen bis zum Staatssozialismus verdichten. Sie reichten bis in die Zeit Bismarcks, ja bis zu den sozialpolitischen Diskussionen in der Weimarer Republik.

Ein interessanter Vertreter der ersteren Grundlinie ist der im Übergang von der romantischen Organismus-Idee zur Auseinandersetzung mit der neuen Industriearbeiterfrage stehende, heute weithin vergessene Victor Aim Huber (1800— 1869) In Frontstellung gegen den politischen Liberalismus und seine „Vorfrucht“, die „unorganische“, bürokratische Verwaltungsmaschinerie des modernen Staates, plädierte Huber für Selbstverwaltung in überschaubaren Kreisen mit dem Königtum als „Haupt“ des politischen Organismus. Eine Reise nach England im Jahr 1844, nahezu zeitgleich mit Friedrich Engels, öffnete ihm aber auch die Augen für die Lage der arbeitenden Klassen in der frühindustriellen Gesellschaft. Unter dem Eindruck seiner Erfahrungen mit der christlichen Sozialbewegung in England wird er zum Anwalt genossenschaftlicher Selbsthilfe. Genossenschaften für Produktion, Konsum und Wohnungsbau sowie Sparvereine sollten einen Weg bahnen zwischen „brutalem konservativem Empirismus“ und „totem sozialistischem Doktrinarismus“. Huber lehnte freilich die Trade Unions als Instrumente des Klassenkampfes ebenso ab wie das allgemeine Wahlrecht. Statt dessen plädierte er für den „weiten, mühsamen, steilen Weg der friedlichen Selbsthilfe“, demgegenüber Staatshilfe zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber doch die Ausnahme bleiben sollte, mißtraute er doch dem „Viel-und Allregieren“ der liberalen Staatsbürokratie.

Sein konservatives Programm „Freiheit und Ordnung statt Zügellosigkeit und Knechtschaft als Frucht der Majoritätsherrschaft“ konnte in Lassalles Forderung nach allgemeinem Wahlrecht nur einen demagogischen Lockvogel erblicken. Andererseits wurde Huber nicht müde, an das soziale Verantwortungsgefühl der oberen Klassen zu appellieren. Ihre „beschränkteste mammonistische Selbstsucht“ konnte nur der „kommunistischen Prädisposition“ der proletarischen Massen Vorschub leisten. So blieb Huber mit seinen Appellen an den bloßen guten Willen der besitzenden Klassen ohne institutioneile Konsequenzen in einem überholten Sozial-Patriarchalismus stecken, so wenig man sein Plädoyer für die überschaubaren Kreise und „kleinen Netze“ sozialer Gestaltung gerade heute, nach den mannigfachen Erfahrungen mit staatssozialistischen Mammut-Organisationen während der letzten eineinhalb Jahrhunderte, gering achten wird.

Moderner, realistischer, politischer war demgegenüber das Staats-und Gesellschaftsverständnis Georg Friedrich Wilhelm Hegels, der schon in seiner Rechtsphilosophie von 1821 die bürgerliche Gesellschaft als das von „Widersprüchen“ geprägte „System der Bedürfnisse“ beschrieb, im dialektischen Verhältnis zum Staat als der „Wirklichkeit des substanziellen Willens“ und „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ Angesichts der „gefährlichen Zuckungen“ in der Gesellschaft durch die Konzentration „unverhältnismäßiger Reichtümer in wenigen Händen“ und der „Erzeugung des Pöbels“ durch denselben dialektischen Prozeß konnte für Hegel der notwendige Ausgleich der „verschiedenen Interessen der Producenten und Konsumenten“ nur durch die „Regulierung“ einer „über beiden stehenden Instanz“ stattfinden, durch den die „Verworrenheit“ des gesellschaftlichen Zustands „bewältigenden Staat“ (wie es in § 185, Zusatz, der Rechtsphilosophie heißt).

Die Überzeugung, daß die autonome Gesellschaft ohne Staat oder bestenfalls mit einem „Nachtwächterstaat“ (wie Ferdinand Lassalle spottete) die notwendige Integrationsleistung und Lebensfähigkeit sich aus nicht selbst heraus hervorbringen könne, ging im übrigen schon damals über konservative und „hegelianische“ Positionen weit hinaus und war auch keine deutsche „Sonderweg“ -Spezialität. So forderte zum Beispiel ein anfänglicher Schüler Adam Smiths, der Schweizer Nationalökonom und Historiker Simonde de Sismondi, vom Staat explizit, der Anwalt der Armen und Beschützer der Schwachen zu sein: „Nous regardons le gouverne-ment etre le protecteur du faible contre le fort, le defenseur de celui qui ne peut point se dfendre par lui-meme, et le röpresentant de l’intrt permanent, mais calme, de tous, contre l’intrt tempo-raire, mais passionn, de chacun“ — geradezu die Begründungsformel sozialkonservativen Denkens.

Vor allem Lorenz von Stein (1815— 1890) hat dann — im Blick auf die weitere Entwicklung der sozialen Frage — Hegels Position systematisch ausgebaut Die Reduktion des Politischen auf das Prinzip des „Interesses“ sowie auf individuell und materiell verstandene „Bedürfnisse“ und dementsprechend auf „Gesellschaft“ als den Ort ihrer angeblich maximalen Befriedigung schien Stein ebenso unzureichend wie gefährlich. Versuchte man den „Widerspruch“ durch die sozialistische Negation des Eigentums und die damit verbundene Verallgemeinerung der Lohnarbeit aufzulösen, so erzeugte der Kommunismus nach Steins, die geschichtliche Erfahrung vorwegnehmender, Argumentation nicht nur Armut, „sondern auch eine wahre Sklaverei, die in absolutem Widerspruch mit der Idee der Gerechtigkeit steht“. Die klassenlose Gesellschaft könne nur dazu führen, „notwendig eine neue und noch unerträglichere Unfreiheit an die Stelle der gesellschaftlichen Abhängigkeit“ in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu setzen, „nur mit dem Unterschiede, daß in dieser die einzelnen Kapitalisten, in jener das Kapital der Ge-meinschaft die Arbeit despotisch beherrscht“, wie Stein mit prognostischer Kraft hinzufügte

Stein versuchte Hegels Staatsbegriff zu einer modernen Sozialethik und Sozialpolitik zu konkretisieren, da er wie Hegel davon überzeugt war, daß der liberale Staat als solcher leicht als Werkzeug der herrschenden bürgerlichen Klasse mißbraucht werden konnte. Dies führte ihn zu seinem Konzept des „Königtums der sozialen Reform“ mit seiner Aufgabe des Schutzes und der Hebung der bisher abhängigen Klassen. Natürlich kann man diesem Ansatz mit den Worten Gustav Radbruchs die Überparteilichkeit als „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ vorwerfen. Gleichwohl wird man nicht verkennen können, daß gerade Lorenz von Steins sozialstaatliche Programmatik insofern realistisch war, als sie die Staatsgewalt vom Zugriff partikularer Interessen befreien wollte — eine Programmatik, auf die seit dem Ende des Jahrhunderts dann auch der sozialdemokratische Reformismus einschwenkte, so daß Steins Programm tatsächlich zu dem der gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde

III. Sozialkonservativismus im Zeitalter Bismarcks

Nach 1848 und in der Reichsgründungszeit gewinnen konservative Sozialreform-Ideen in der politisch-publizistischen und wissenschaftlichen Diskussion zeitweilig einen beachtlichen Rang. Ohne sie ist Bismarcks Sozialpolitik in den achtziger Jahren nicht ausreichend zu beurteilen 1855 wurde die „Berliner Revue“ gegründet als erste sozialkonservative Zeitschrift, die sich vor allem der „Arbeiterfrage“ widmete, 1872 der „Verein für Sozialpolitik“ als Zusammenschluß der sogenannten Historischen Schule der deutschen Nationalökonomen, die für einen Interessenausgleich zwischen den Klassen ohne radikale Umwälzung der bestehenden Eigentumsverhältnisse eintraten und von den Gegnern bald abschätzig als „Kathedersozialisten“ bezeichnet wurden. 1877 gründeten Adolph Wagner, Rudolf Todt und Rudolf Meyer den „Zentralverein für Sozialreform auf religiöser und konstitutioneller Grundlage“, der bis 1882 die Zeitschrift „Der Staatssozialist“ herausgab. 1878 gründete der Berliner Hofprediger Adolf Stöcker eine „ChristlichSoziale Arbeiterpartei“, um den Reformplänen eine Massenbasis zu schaffen — ein Unternehmen, das bei den Reichstagswahlen des gleichen Jahres erfolglos blieb und später durch antisemitische Töne hervortrat.

Man stimmte hier überall Lorenz von Steins Konzept zu. daß die konstitutionelle Monarchie „im Namen der Volkswohlfahrt und der Freiheit“ an die Spitze der Sozialreform treten sollte, und daß es zu verhindern galt, den Staat zum Werkzeug egoistischer Besitzinteressen werden zu lassen. Die einen — wie Carl Rodbertus-Jagetzow oder Adolph Wagener — traten für staatssozialistische Konzepte bis hin zu staatlich festzusetzenden Lohnregelungen ein, andere für genossenschaftliche Lösungen, betriebliche Mitbestimmung („demokratische Fabrikverfassung“) und Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand, wovon man sich vor allem auch erzieherische Wirkungen im Sinne der Bildung eines selbstverantwortlichen Industrieund Staatsbürgertums versprach. Übereinstimmung herrschte in der Kritik an der liberalen Ideologie der Chancengleichheit und an der Abhängigkeit des liberalen Staates von der „Finanz-und Kapitaloligarchie“ — eine Kritik, die nicht selten die Radikalität des organisierten Sozialismus erreichte. Von diesem trennte jedoch der konservative Sinn für Geschichte und Tradition, die Skepsis gegen die Total-Negation alles Bestehenden und die Abwehr der atheistischen Grundlagen der marxistischen Lehre. Umgekehrt distanzierten sich die Sozialdemokraten vom sozialkonservativen „sogenannten Staatssozialismus“ als einem „System von Halbwahrheiten, das seine Entstehung der Furcht vor der Sozialdemokratie verdankt“ und das lediglich den Staat an die Stelle der Privatkapitalisten setzen wolle, um so „dem arbeitenden Volk das Doppeljoch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Sklaverei aufzuerlegen“ Diese Ablehnung spiegelte aber auch die innerparteiliche Auseinandersetzung in der SPD wider zwischen Marxisten und Lassalleanern nach dem Vereinigungsparteitag von Gotha 1875. Tatsächlich hatte Lassalle ja weder dem Gedanken der Produktiv-Assoziation noch dem des „sozialen und revolutionären Volkskönigtums“ ferngestanden.

Die Sozialkonservativen führten also einen gesellschaftspolitischen Dreifrontenkrieg, gleicherweise gegen Liberalismus und Sozialismus wie gegen die staatstragenden konservativen Kräfte nach 1871, die am „naiven Patriarchalismus" (Franz Hitze) und dem Herr-im-Haus-Standpunkt festhalten wollten und keine Folgerungen aus dem tiefgreifenden Wandel vom Ackerbau-zum Industriestaat zu ziehen bereit waren.

Hier soll wenigstens kurz auf zwei wichtige sozial-konservative Wortführer der Bismarckzeit hingewiesen werden: Hermann Wagener und Theodor Lohmann. Wagener, der „bedeutendste Protagonist einer konservativen Sozialpolitik im 19. Jahrhundert“ kam von den Pommerschen Pietisten und ihren Vorstellungen von einem „christlichen Staat“ her. Er hatte, wie Victor . Aime Huber, im England der Jahrhundertmitte die christliche Sozialreformbewegung (Chalmers, Carlyle) kennenge-lernt. Als sozialpolitischer Berater Bismarcks, schon zu dessen Zeit als preußischer Ministerpräsident und dann noch zu Anfang der siebziger Jahre, aber auch als Publizist und zeitweiliger Abgeordneter wurde er zum Wortführer einer christlich und sozialreformerisch argumentierenden Minderheit in der konservativen Partei. Er war an den Kontakten beteiligt, die Bismarck 1863 mit Lassalle aufnahm, konnte die nationalliberale Wendung des Kanzlers ab 1867 jedoch nicht billigen, die seiner Ablehnung der „Oligarchien des Geldkapitals“ und eines Interessen-Konservativismus zuwiderlief, der „die natürlichen Hauptfragen, nämlich die sozialen“ nicht erkannte und „mit der Front nach dem Mist und mit dem Rücken zum Staat“ stand, wie Wagener Ludwig von Gerlach zitierte

Schon als Abgeordneter des preußischen Landtags der sechziger Jahre sprach er sich für das volle Koalitionsrecht der Arbeiter und die Einrichtung von „Arbeiterunterstützungskassen“ aus — Überlegungen, an die Bismarck mit seinen großen Versicherungsgesetzen in den achtziger Jahren wieder anknüpfte. Der späte Wagener wies mit seinen Vorschlägen für staatlich festgelegte Minimallöhne, Fabrikinspektion und Arbeitsschutz sowie Miteigentumsbildung bei langjähriger Betriebszugehörigkeit bereits voraus in die Jahre des sozialpolitischen „neuen Kurses“ des jungen Kaisers Wilhelm II. ab 1890. Auch er dachte an einen Verfassungsumbau aufberufsständischer Grundlage, wobei aus einem allgemeinen Wahlrecht nach Ständen eine korporative Selbstverwaltung und schließlich auch die Volksvertretung hervorgehen sollten, womit bekanntlich auch Bismarck zu Ende seiner Amtszeit geliebäugelt hatte. Versuche des späten Wagener, eine moderne, sozial aufgeschlossene konservative Partei aufzubauen als Bündnis des bürgerlichen und städtischen Mittelstandes, des Handwerks, fortschrittlicher Gutsbesitzer und von Teilen der Arbeiterschaft scheiterten ebenso wie die erwähnten Versuche Adolf Stöckers.

Theodor Lohmann, sozialpolitischer Mitarbeiter und Kritiker Bismarcks in den achtziger Jahren, entstammte wie Wagener einem Elternhaus pietistischer Frömmigkeit (in seinem Fall dem Umkreis der Hermannsburger Mission in Niedersachsen Auch für ihn war die menschliche Gemeinschaft auf der Grundlage von Familie und Eigentum vor allem ein sittlicher Organismus, den er in seiner Zeit von verstecktem und offenem Materialismus bedroht sah. Als praktischer Verwaltungsmann wie als Angehöriger einer jüngeren Generation sah er aber deutlicher als Wagener, daß die Entwicklung zum modernen Individualismus in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht rückgängig zu machen war. Jedoch mußte die gewonnene formelle Freiheit für die Industriearbeiterschaft erst noch mit realen Inhalten materieller wie kultureller Art gefüllt werden, um „den Arbeiter als selbstverantwörtlichen, mitbestimmenden Faktor am Kulturleben teilnehmen zu lassen“. An die Stelle patriarchalischer Verhältnisse mußten neue Sozialformen treten mit dem Ziel „einer sittlich geordneten Gemeinschaft tatsächlich Gleichberechtigter“.

Hier wurzelte denn auch der spätere Gegensatz zu Bismarck: Bloße Wohltaten von oben, so argumentierte Lohmann, hielten den Arbeiter unmündig und reizten nur sein Drängen nach der Staats-krippe. Lohmann erstrebte statt dessen auf Freiwilligkeit beruhende berufsgenossenschaftliche Formen der Versicherungen mit eigenen Beiträgen und eigener Kassenverwaltung anstelle der vom Reichs-kanzler gewollten Zwangskörperschaft mit Reichszuschuß. Selbstverwaltung im Sinne des Freiherrn vom Stein war nach Lohmanns Überzeugung mit staatssozialistischem Neopatriarchalismus nicht zu vereinbaren, da es um die Mündigkeit des „vierten Standes“ in selbstverantwortlicher Organisation und Leitung — hier der Organisation seiner Versicherungen — ging.

Lohmann war auch am „neuen Kurs“ nach 1890 und seinem umfangreichen, heute viel zu wenig bekannten sozialpolitischen Gesetzgebungswerk prägend beteiligt mit seinem strikten Verbot der Nachtarbeit und der Arbeit unter Tage für Frauen und Kinder, Schwangeren-und Wöchnerinnen-Schutz, Arbeitsausschüssen in den Betrieben, Einigungsämtern im Arbeitskampf, Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen, der Einführung der Arbeitsstatistik, staatlichen Hilfen für den Arbeiterwohnungsbau und der Ausgestaltung eines bald weltweit vorbildlichen gewerblichen Schulwesens.

Für Sozialpolitiker wie Lohmann waren nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes diese Reformen dringend notwendige Teile der noch ausstehenden „inneren Reichsgründung“.

Sicherlich hat der „neue Kurs“ nach 1890 manches zur innenpolitischen Entspannung und sozialpolitischen Befriedung beigetragen; die unzweifelhaften Zusammenhänge zwischen dieser sozialpolitischen Gesetzgebung und der Wendung der Sozialdemokratie zum faktischen Reformismus trotz fortgesetzter revolutionärer Rhetorik verdienten eine gesonderte Untersuchung. Aber auch nach 1890 blieben in der Arbeiterschaft Skepsis und Mißtrauen vorherrschend, dem bestehenden Staat die Lösung der „sozialen Frage“ zuzutrauen. Tatsächlich stand das mächtige Bündnis zwischen Rittergut und Hochofen, Großgrundbesitz und Schwerindustrie dem Ausbau sozialkonservativer Reformvorstellungen sperrig im Wege. Jedenfalls war die weitere Demokratisierung autoritärer Staatsstrukturen und spätfeudal-hochkapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse eine Jahrhundertaufgabe.

IV. Von der Weimarer Republik zum Kreisauer Kreis

Mit dem Übergang von der Monarchie zur demokratischen Republik gewannen sozialkonservative Reformvorstellungen eine zeitweilig beträchtliche Bedeutung. Viele ihrer Vertreter trennten sich nun endgültig vom Verfassungsrahmen der konstitutionellen Monarchie und entschieden sich für die Mitarbeit in der Republik. Gleich zu Beginn, 1918/19, hatten sich die beiden sozialdemokratischen Reichswirtschaftsminister August Müller und Rudolf Wissell mit dem sozialkonservativen Staatssekretär Wichard von Moellendorff in dem Entwurf eines „gemeinwirtschaftlichen“ Programms als „drittem Weg“ zwischen sozialistischen Verstaatlichungsplänen und kurzsichtiger Fortführung eines wirtschaftsliberalen Kurses getroffen

Moellendorff entwarf Pläne einer öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltung der Wirtschaft, die ihren Abschluß in einem Reichswirtschaftsrat als zweiter Kammer neben dem Reichstag finden sollte. Noch einmal spielten hier korporatistische Konzepte einer „Reichsreform an Haupt und Gliedern“ eine Rolle, wie sie schon seit dem Ausgang der Bismarckzeit im Gespräch gewesen waren. Nach Moellendorff sollte eine „gemeinwirtschaftliche Selbstverwaltung unter Reichsaufsicht“ die berufsständischen Interessen in rechtsfähigen Wirtschaftsverbänden zusammenfassen. Daneben sollte die Kohle-und Energiewirtschaft in staatlichen Unternehmen organisiert werden. Mit seinen sozialdemokratischen Ressortchefs war sich Moellendorff darin einig, daß die Zeit des Staates als bloßem liberalen Zivilrechtsgaranten, Steuererheber, Zöllner und Gewerbepolizisten zu Ende war. Schon Mitte 1919 war jedoch deutlich, daß diese Reformpläne im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der neuen Reichsverfassung zum Scheitern verurteilt waren. Die bürgerlichen Koalitionspartner der Weimarer Koalition, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei (DDP), lehnten sie als zu prononciert „antikapitalistisch“ ab, den Ideologen in der SPD galten sie wiederum als „antisozialistisch“. So scheiterte der Anlauf zu einem „dritten Weg“ zwischen bürgerlichem Liberalismus und einem „requisitorischen Gefühlssozialismus“ (Moellendorff). Doch die Fragen der Überwindung der sozialen Gegensätze in einer „neuen Volksordnung“ waren damit nicht vom Tisch Sie wurden in den Bünden der Jugendbewegung ebenso gestellt wie in der katholischen Soziallehre, von den Religiösen Sozialisten um Paul Tillich und Eduard Heimann ebenso wie im evangelischen Christlich-Sozialen Volksdienst und nicht zuletzt auch in der jüngeren Generation der Sozialdemokratie: im Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten sowie von den jungen Reichstagsabgeordneten der SPD wie Julius Leber, Kurt Schumacher, Carlo Mierendorff und ihren Freunden Adolf Reichwein und Theodor Haubach. Aus der bürgerlichen Jugendbewegung kam der Protest gegen die materialistische Verflachung und Kraftlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, Überlegungen für ein neues, auf das Gemeinwohl ausgerichtetes Eigentumsrecht, für eine Bodenreform und genossenschaftliche Gestaltungen des Wirtschaftslebens. Der Rostocker Theologe Friedrich Brunstädt, Mitglied der Deutsch Nationalen Volkspartei (DNVP), stand in der sozialkonservativen Tradition, wenn er das Postulat der Gerechtigkeit zum Zentrum der Sozialordnung erklärte, von der „sozialen Hypothek“ des Eigentumsrechts sprach, betriebliche Mitbestimmung und Ertragsbeteiligung sowie berufsständische Ordnung als Alternative zur Verstaatlichung forderte.

In der DNVP entschied sich eine „volkskonservative“ Minderheit für die Sezession aus der großwirtschaftlich dominierten Partei und, aufgrund ihrer christlich-nationalen und sozialen Wertvorstellungen, für die Mitarbeit in der Republik. Hermann Heller konzipierte im Hofgeismarer Kreis der Jungsozialisten die zukunftsweisende Idee des „sozialen Rechtsstaates“, der die historisch-kulturellen Errungenschaften des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates von der formalen zur materiellen Gleichheit fortentwickeln und den Klassenkampf als historische Phase hinter sich lassen sollte.

Alle diese reichen Denkbestände sind dann in der antitotalitären Opposition gegen den Nationalsozialismus erneut wirksam geworden. Besonders im Kreisauer Kreis fanden sozialkonservative Ideen und Haltungen noch einmal eine überzeugende Gestalt, nicht zuletzt auch durch das politische Bündnis zwischen Repräsentanten der „alten“ Führungsschichten mit den patriotischen Kräften der jüngeren Generation in der SPD sowie mit Menschen aus den Kirchen und der Wissenschaft Das hier wirksame politische und soziale Verantwortungsbewußtsein hatte schon der Vater Peter Graf Yorks.

Heinrich York, in dem leitmotivischen Satz zusammengefaßt: „Herrschen ist Dienen (recht eigentlich politisches Luthertum), Eigentum ist nicht die Möglichkeit des Genusses (Comfort), nicht persönliche Macht, sondern höchstes Kulturgut, zu verwalten im Interesse der Allgemeinheit.“ In der Tradition der Löwenberger Sommerlager von Studenten, jungen Arbeitern und Bauern und unter dem Einfluß seines akademischen Lehrers in Breslau, Eugen Rosenstock-Huessy, suchte Horst von Einsiedel nach einer neuen Synthese von privatwirtschaftlicher Verantwortung und staatlicher Wirtschaftslenkung.

Man mag die Konzepte der Kreisauer für die Verfassung eines „demokratischen Rechtsstaates ohne Parteien“ nach dem Sturz der NS-Diktatur (Pluralwahlrecht für Familienväter, indirektes Wahlsystem etc.) als in manchen Zügen romantisch betrachten. Prinzipiell war ihre Kritik am modernen zentralistischen Staat mit seinen anonymen Machtstrukturen, der den einzelnen isoliert, der Eigenverantwortung beraubt und ihn der Vermassung aussetzt, auf der Höhe der Zeit. Dem stellten sie die Selbstverwaltungsidee des Freiherrn von Stein mit ihrem Aufbau von den „kleinen, überschaubaren Gemeinschaften“ entgegen.

Nach Auffassung der Kreisauer hatte der Wirtschaftsliberalismus das Recht auf Arbeit nicht realisiert. die Natur durch Raubbau mißhandelt, die Menschen in trostlosen Industriequartieren massiert. Durch eine optimale Kombination von marktwirtschaftlichem Leistungswettbewerb und staatlicher Wirtschaftspolitik versuchten die Kreisauer Entwürfe demgegenüber die wirtschaftlichen Eigenkräfte, d. h. besonders Wettbewerb und Dispositionsfreiheit, zu mobilisieren, sie aber zugleich vor dem Abgleiten in gemeinschaftsschädigende Ungebundenheit zu bewahren und gegen die Schwankungen der Konjunktur zu sichern. Die wirtschaftspolitischen Sachverständigen des Kreises, Dietrich von Trotha und Horst von Einsiedel, entwickelten ein breites Spektrum indirekter wie direkter staatlicher Wirtschaftspolitik, das heute längst zum wirtschaftspolitischen Allgemeingut gehört, zu jener Zeit aber ein schöpferischer Neuansatz war: Die Steuer-, Kredit-, Zoll-, Kartell-und Lohnrahmen-Politik des Staates sollte dabei ebenso wirksam werden wie staatliche Standort-und Raumordnungspolitik unter sozialen und regionalen Gesichtspunkten. Bei Entscheidungen großer Unternehmen mit „gesamtpolitischer Bedeutung“ konnten darüber hinaus staatliche Eingriffe ebenso unerläßlich werden. wie die Kreisauer Autoren Eingriffe gegen „leistungshemmende Verflechtungen“ sowie die Überführung von Schlüsselindustrien (Kohle, Stahl, Großchemie, Energie) in die öffentliche Hand nicht ausschlossen. In ihren Konzepten staat-licher Richtungsweisung für Wirtschaftsausbau und Krisenvorsorge, die das wirtschaftliche Leben mit einer „gesunden gesellschaftlichen Ordnung in Einklang halten“ sollten, griffen von Trotha und von Einsiedel auch auf die Wiederherstellung der Selbstverwaltungsorganisation der Wirtschaft zurück, die die Diktatur zerschlagen oder gleichgeschaltet hatte, gipfelnd in einer Reichswirtschaftskammer.

Nicht zuletzt in der Sozialpolitik waren bei den Kreisauem sozialkonservative Traditionen genossenschaftlichen und korporativen Denkens wirksam. Vornan standen das Recht auf und die Pflicht zur Arbeit sowie die Sicherung eines dauerhaften Existenzminimums für den „arbeitenden Menschen“. Gerade auch hier galt es nach Krieg und Zusammenbruch den Rückfall in die „Flegeljahre des Kapitalismus“ zu verhindern. Steuerpolitisch dachte man an eine stärkere Belastung der „sicheren Einkommen“, z. B.der Beamten, zugunsten der reinen Arbeitseinkommen. Mitbestimmungsrechte sowie Gewinn-und Wertzuwachs-Beteili-gung der Belegschaften gehörten zu den langfristigen Strukturreformen, die in Kreisau zur Überwindung des Klassenkampfes als unerläßlich betrachtet wurden. Es entsprach sozialkonservativer Tradition, wenn der Kreisauer Kreis „die freiheitlich gesonnene Arbeiterschaft und die christlichen Kirchen“ als die gesellschaftlichen Hauptkräfte des Wiederaufbaus betrachtete und wenn man sich hier darüber einig war, daß ohne eine Wiederbelebung der geistigen und ethischen Kräfte und Voraussetzungen institutionell-technische Vorkehrungen nicht ausreichten, um das deutsche Volk „aus seiner gegenwärtigen Gefährdung“ zu retten.

V. Sozialkonservative Einflüsse in der Wiederaufbauzeit nach dem Zweiten Weltkrieg

Nicht zufällig sind es besonders jene (wenigen) Persönlichkeiten gewesen, die aus dem Widerstand gegen das NS-Regime kamen, die nach dem Krieg sozialkonservative Ideen in die Debatten um den politisch-gesellschaftlichen Neuaufbau einbrachten. Jakob Kaiser wurde in der sowjetischen Besatzungszone zum Vorsitzenden der CDU mit einem christlich-sozialen und nationalen Programm, das auch im Westen, besonders in der Industrieregion Nordrhein-Westfalens, Resonanz fand. Eugen Gerstenmaier wurde (zusammen mit Hermann Ehlers und Robert Tillmanns) zum Exponenten des evangelischen Flügels der CDU mit deutlich national-und sozialkonservativen Ideen. Hans Lukaschek und Otto Heinrich von der Gablentz, die beide ebenfalls dem Kreisauer Kreis angehört hatten, versuchten dessen geistige Impulse für den Neuaufbau fruchtbar zu machen — der eine als der erste Bundesminister für Vertriebene und Flüchtlinge und Verantwortlicher für die damit verbundene politisch hochbedeutsame Gesetzgebung, der andere als Mitbegründer der Freien Universität und der Hochschule für Politik in Berlin sowie als einer der Väter der Theorie und Praxis politischer Wissenschaft und Bildung. Theodor Steltzer, auch er aus dem Umkreis von Kreisau. wurde erster Ministerpräsident in Schleswig-Holstein.

Jakob Kaiser ging davon aus, „daß das Zeitalter liberalistischer, kapitalistischer Ordnungen hinter uns liegt“; er verstand den „Ausgleich zwischen Sozialismus und Freiheit“ als die zentrale Gestaltungsaufgabe des Neubeginns. Sein christlicher So-zialismus unterschied sich von der Sozialdemokratie durch die Betonung der „Volksgemeinschaft“ (ein Begriff, den er unbefangen verwendete), die mehr war als die Arbeiterklasse; vom dogmatisch-totalitären Marxismus unterschied sich sein christlicher Sozialismus durch die Betonung der politischen und persönlichen Freiheit im Rahmen eines gesellschaftspolitischen „dritten Weges“, der die Sozialisierung von Schlüsselindustrien einschloß und die innenpolitische Dimension seines außenpolitischen „Brücken“ -Konzepts zwischen West und Ost darstellte.

In diesem Zusammenhang ist auch das Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU vom Februar 1947 zu erwähnen Auch dessen Ausgangspunkt war, daß „das kapitalistische Wirtschaftssystem ...den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“ sei. weshalb die anstehende Neuordnung nur auf der Grundlage „einer gemeinwirtschaftlichen Ordnung (möglich sei), die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert“. Bis in Einzelformulierungen hinein finden sich im Ahlener Programm Ideen christlich-sozialer und sozialkonservativer Herkunft. Gegen Monopolunternehmen galt es im Interesse des Gemeinwohls, das „machtverteilende Prinzip“ der politischen Demokratie auch in der Wirtschaft durchzusetzen. Konzerne, „die nicht technisch, sozial oder wirtschaftlich absolut notwendig sind“, sollten entflochten werden (es sei denn, sie waren aus Gründen der technischen Entwicklung und internationaler Konkurrenzfähigkeit „unbedingt zu belassen“).

Öffentliche Körperschaften wie Staat, Land, Gemeinden und Gemeindeverbände, aber auch Genossenschaften und die im Betrieb tätigen Arbeitnehmer sollten im Sinne der „Machtverteilung“ an unternehmerischem Besitz und Vermögen beteiligt werden. Hinsichtlich des Kohlebergbaus und der „eisenschaffenden Großindustrie“ sprach sich das Ahlener Programm für Vergesellschaftung aus, ohne sie indes im einzelnen zu konkretisieren. „Die schon vor 1933 begonnene gesetzliche Kontrolle des Geld-und Bankenwesens sowie des Versicherungswesens“ sollte ausgebaut werden. Das Programm verlangte ferner die nachdrückliche Förderung des Genossenschaftswesens und der Rechtsform der Stiftungen sowie die Unterstützung leistungsfähiger Klein-und Mittelbetriebe.

Bekannte sozialreformerische Denkmuster fanden sich in der Forderung nach „Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft in Wirtschaftskammem“ sowie hinsichtlich der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsorganen der Unternehmen. In Großbetrieben sollten Arbeitnehmer mit langjähriger Betriebszugehörigkeit auf Vorschlag der Betriebsangehörigen in die Vorstände berufen werden können. Die Betriebsräte sollten wesentliche Mitwirkungsrechte — besonders an betrieblichen Sozialentscheidungen — sowie ein kontinuierliches Informationsrecht gegenüber den Betriebsleitungen bzw.den Vorständen erhalten.

Es ist hier nicht der Raum, um die bekannte Diskussion aufzunehmen, warum und wie diese frühen Ansätze der Nachkriegszeit schon vor der Gründung der Bundesrepublik verlassen und mit der Währungsreform vom Juni 1948 und der Wirtschaftspolitik Ludwig Erhards überholt wurden. Die „soziale Marktwirtschaft“ entwickelte sich als ein ebenso einfaches wie erfolgreiches Konzept der Wirtschaftspolitik — war doch erst einmal die Produktivität der deutschen Wirtschaft wiederherzustellen und zu steigern, bevor sozialstaatliche Verteilung und Umverteilung vorgenommen werden konnten.

Bei aller Kritik an dem hohen Konzentrationsprozeß und dem Übergewicht der Großbetriebe in der westdeutschen Wirtschaft sowie am „Fetisch“ unserer Wachstumsideologie sind indes die positiven Auswirkungen sozialer Maßnahmen und angemessener staatlicher Interventionspolitik in unserer prinzipiellen Wettbewerbswirtschaft nicht zu übersehen. In der Kritik wird auch oft zu wenig gewürdigt, wie sehr die Betriebsverfassung und die Mitbestimmungsrechte im Montanbereich seit 1952 sowie die große Rentenreform von 1957 und ihre Nachfolge-Gesetze sozialpolitische Stabilisierungs-Komponenten in unser Wirtschafts-und Sozialsystem einfügten.

VI. Der Sozialstaat der Gegenwart und sozialkonservative Prinzipien heute

Seit dem Beginn der Industriellen Revolution mit ihren umwälzenden gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen hat sozialkonservative Reformpolitik stets die Notwendigkeit und Berechtigung des modernen Staates, sozial gestaltender Staat zu sein, für gesellschaftliche Gerechtigkeit zu sorgen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu schützen, bejaht und gefordert Der „Staat der Industriegesellschaft“ muß Sozialstaat sein, weil die Menschen heute wesentliche Sicherungen ihrer Existenz, besonders in Krisenzeiten, nicht mehr allein zu leisten vermögen, sondern auf umfangreiche Versorgungsapparaturen angewiesen sind Inzwischen ist es freilich zu Wucherungen und nicht selten auch zum Mißbrauch des Sozialstaatsprinzips gekommen. Hier steht dann oft nicht mehr die Hilfe für die wirklich Bedürftigen im Mittelpunkt, sondern die Realisierung prinzipiell grenzenloser Ansprüche der vielen, wenn nicht aller — was zur Folge hat, daß die Grundlage des sozialen Sicherungssystems, die Leistungskraft der Volkswirtschaft, untergraben wird. Es hat ein sehr handfester praktischer Paradigmenwechsel stattgefunden durch die Deformation des (legitimen) Sozialstaats zum zeitgenössischen „Wohltatenstaat“ in dem nicht nur die ökonomischen, sondern ebensosehr auch die ethischen und die politischen Voraussetzungen des Gemeinwesens aus dem Blick zu geraten drohen.

Hier eröffnen sich daher für ein modernes sozialkonservatives Staats-und Gesellschaftsverständnis neue Aufgaben der Politik-Begleitung. Lorenz von Stein etwa mit seiner Warnung vor der Reduktion des Politischen allein auf das gesellschaftliche „System der Bedürfnisse“ gewinnt neue Aktualität. Sozialkonservative Ansätze treffen sich dabei aber auch mit der ordoliberalen Kritik an einem ungehemmten, tendenziell monopolistischen Kapitalismus, wie an den letztlich freiheitsgefährdenden Regelungen eines zur Wohlfahrtsdemokratie aus-ufernden Sozialstaats. Beide werden dann vor allem auf die sittlichen und kulturellen Voraussetzungen einer sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung hinweisen, die nur „jenseits von Angebot und Nachfrage“ gefunden werden können.

Besonders auch in der Bundesrepublik Deutschland wurde schrittweise, aber deutlich erkennbar die Befriedigung steigender Wohlstandserwartungen zur ersten Staatsaufgabe erklärt bzw. als solche behandelt. Die Schleusen der „Staatswohltaten“ wurden seit 1969 weit geöffnet mit allen Konsequenzen einer leichtfertig hingenommenen, permissiven Haushaltspolitik und einer „Lastenverschiebung in die Zukunft“. Der Wohlfahrtsstaat in seiner mißbräuchlichen Wucherung führte zu einem wachsenden Separatismus der Partikularinteressen und zentrifugaler Kräfte auf Kosten eines übergreifenden, aus geschichtlicher Herkunft vergegenwärtigten. wie im Blick auf die Zukunftserfordernisse unentbehrlichen politisch-gesellschaftlichen Konsenses. Statt dessen haben wir konsensauflösende Haltungen und Ideologien zu verzeichnen — vom staatsfremden Egozentrismus bis zu militanten Bestrebungen nach „einer anderen Republik“

Für konservatives Denken ist aber der Sozialstaat zunächst einmal — ebenso wie der Rechtsstaat — eine Ausgestaltung und Form des politischen Gemeinwesens schlechthin Wie der Rechtsstaat leistet auch der Sozialstaat unter den modernen Lebensumständen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Gemeinwesens. Er soll soziale Konflikte entschärfen, die Solidarität der Menschen stärken, als Element der sozialen Integration wirken und nicht zuletzt auch Freiheit und Bindung dialektisch zu-sammenfügen. Konservatives Sozialstaats-Verständnis unterscheidet sich hier kategorisch von einem sozialistisch-emanzipatorischen mit seiner gefährlichen Tendenz, „jede soziale Utopie aufzunehmen und den Staat zu einer ameisenhaften Bürokratie für ameisenhafte Menschen zu machen“ Dem Konservativen ist jedenfalls die klassische Gefahrenmarke des Umschlags der „magischen Freiheit“ in den Despotismus stets gegenwärtig, über den uns schon Platon belehrte, im vorigen Jahrhundert etwa Alexis de Tocqueville und Lorenz von Stein, in diesem Jahrhundert schließlich das epochale Experiment des totalitären Real-Sozialis-mus.

Der Reformund Sozialkonservativismus widersprach schon im 19. Jahrhundert einem starren Status quo-Denken. Er nahm die Entdeckung der modernen Gesellschaft als des „Systems der Bedürfnisse“ durch Hegel und Lorenz von Stein auf und erkannte mit diesen in „Arbeit“ und „Interesse“ bewegende Prinzipien der modernen Gesellschaft. Aber er reduziert Politik nicht — was ihn von liberalen und sozialistischen Theorien unterscheidet — auf die Gesellschaft und deren Interessen-Antagonismen. Denn konservative Einsicht ist es, daß das pure Prinzip des Interesses damit leicht zur Unterwerfung der Einzelnen unter die Mehrheit und die in ihrem Namen agierenden „Avantgarden“ und Verwaltungsmaschinerien führt, daß aus den gesellschaftlichen Antagonismen Freiheit gerade nicht automatisch hervorgeht, sondern viel eher „demokratischer Despotismus“ (Tocqueville) nach innen und „tote Völker“ (Lorenz von Stein) im internationalen Kräftefeld. An der sozialkonservativen Ablehnung des — undialektischen — sozialistischemanzipatorischen Sozialstaatsverständnisses hat sich während der letzten hundert Jahre nichts zu ändern brauchen, ja sie wurde durch die konkrete historisch-politische Erfahrung nur bestätigt.

Heute kann sich der Sozialkonservativismus in dem Begriff des „subsidiären Sozialstaats“ wiederfinden, wenn man ihn — mit Manfred Spieker -„ausgewogen mehrdimensional“ definiert als Rechtsordnung mit Sanktionsgewalt, soziales Leistungssystem und Institut zur Sicherung des Frie-dens zwecks Abwehr innerer und äußerer Störungen Weder Victor Aim Huber noch Hermann Wagener noch der Kreisauer Kreis hätten auch et-was einzuwenden gehabt gegen die Auffassung, daß im subsidiären Sozialstaat die öffentlichen sozialen Leistungen vor allem der „Hilfe zur Selbsthilfe“, der Anregung und Förderung individueller Leistungsbereitschaft zu dienen haben und nicht vor allem den individuellen Konsumchancen. Und es entspricht au fond sozialkonservativer Grundauffassung, daß die Fehlentwicklungen des Sozialstaats in unserer Zeit zur wohlfahrtsdemokratischen Be-treuungs-und Versorgungsapparatur dazu tendieren, das Subsidium für den Bürger zum Substitut seiner Selbsttätigkeit und Verantwortlichkeit zu pervertieren

Letztlich sind es also die anthropologischen Grundlagen, die sozialkonservativem Denken sein eigen-ständiges Profil geben: Hier ist der Mensch und Bürger zentral Person und weder unmündiger Untertan noch materialistisches Bedürfniswesen. Hier stehen wir in der europäischen Tradition des „zoon politicon“ mit seiner Ergänzungsbedürftigkeit, aber auch Ergänzungsfähigkeit, also Sozialität. Sozialkonservatives Denken mündet in der grundlegenden Einsicht, daß ohne das Ethos des Sozialstaats-Bürgers kein Staat zu machen und Freiheit nicht zu bewahren und zu entwickeln ist. Es ist ein Ethos sowohl individueller und freiheitlicher Tugenden wie Fleiß, Anstrengung, Beharrlichkeit wie auch der politischen Tugenden des bürgerlichen Mutes, der Solidarität, des Denkens in Generationen und an das Ganze — ein Denken, wie es uns z. B.der Kreisauer Kreis so vorbildhaft vermittelt: nicht individualistisch oder gruppenegoistisch, sondern langfristig und geschichtlich, gesamtpolitisch und solidarisch; nicht hedonistisch, sondern vor allem auf kulturelle Hervorbringung gerichtet.

Sozialkonservatives Denken kennt nicht zuletzt den hohen Rang der religiösen und metaphysischen Bindungen des Menschen für die Legitimitätsund Stabilitätsbedingungen eines freiheitlichen und gesunden Gemeinwesens. Es kann sich nicht mit nur sozial-technischen Gesellschaftsund Politikkonzepten zufrieden geben, sondern verweist auf die „geistigen Grundlagen der dauernden institutioneilen Voraussetzungen menschlicher Existenz“ (Samuel P. Huntington). Wollen wir den freiheitlichen Sozialstaat für die Zukunft sichern, seiner Selbstzerstörung durch Überforderung und „demokratischen Despotismus“ wehren, sind wir gut beraten, uns Ideen und Anregungen der sozialund reformkonservativen Überlieferung zunutze zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. In der deutschen Übersetzung von Friedrich Gentz, Frankfurt 1967, S. 160 ff.

  2. Adam Müller. Die Elemente der Staatskunst, Berlin 1809 (Neuausgabe von Jakob Baxa, Jena 1922), hier zitiert bei Jakob Baxa, Romantik und konservative Politik, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.). Rekonstruktion des Konservatismus, Freiburg 1972, S. 454.

  3. Vgl. Adam Müller, Schriften zur Staatsphilosophie, hrsg. von Rudolf Kohler, München 1923, S. 260 f.

  4. Vgl. Franz von Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, hrsg. von Johannes Sauter, Jena 1925. S. 319ff.; J. Baxa. in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Anm. 2), S. 466.

  5. Zit. bei Hans-Joachim Schoeps, Die preußischen Konservativen, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Anm. 2), S. 186 f.

  6. Josef Maria v. Radowitz, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Berlin 1853, S. 211 und 264.

  7. Vgl. Victor Aimc Huber, Über die corporativen Arbeiterassociationen in England. Ein Vortrag veranstaltet von dem Central-Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen, Berlin 1852, sowie die weiteren Vorträge Hubers in diesem Band; Ingwer Paulsen. Victor Aime Huber als Sozialpolitiker. Königsberger Historische Forschungen, hrsg. von Friedrich Baethgen und Hans Rothfels. Bd. 2, Leipzig 1931; Dirk Blasius, Konservative Sozialpolitik und Sozialreform im 19. Jahrhundert, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Anm. 2), S. 480ff.

  8. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hier bes. Dritter Teil, Zweiter Abschnitt: Die bürgerliche Gesellschaft (§§ 182-256), hrsg. von Bernhard Lakebrin, Stuttgart 1970, S. 327 ff.

  9. Jean Charles Leonard Simonde de Sismondi, Nouveaux principes d’conomie politique ou de la richesse dans ses rapports avec la population, 2 Bände, Paris 18272, zitiert bei Dirk Blasius (Anm. 7), S. 472 f. („Wir betrachten die Regierung als Beschützer des Schwachen gegenüber dem Starken, als den Verteidiger dessen, der sich nicht selbst verteidigen kann, und den Repräsentanten des dauernden, aber stillen Interesses aller gegen das nur zeitweilige, aber leidenschaftliche Interesse des einzelnen“).

  10. Einen guten Überblick über Lorenz v. Steins Gesamtwerk bietet der von Emst Forsthoff herausgegebene Band Gesellschaft — Staat — Recht, Frankfurt-Berlin-Wien 1972 mit einer Einführung von Emst Forsthoff und Beiträgen von Emst-Rudolf Huber. Lorenz v. Stein und die Grundlegung der Idee des Sozialstaats; Emst-Wilhelm Böckenförde, Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft; sowie Dirk Blasius, Steins Lehre vom Königtum der sozialen Reform und ihre verfassungspolitischen Grundlagen. Daß Stein Tagen wiederentdeckt zeigt in unseren wird, der umfangreiche. von Roman Schnur herausgegebene Band Staat und Gesellschaft. Studien über Lorenz von Stein, Berlin 1978 (mit zahlreichen Beiträgen in-und ausländischer Gelehrter); vgl. auch Klaus Hornung, Lorenz v. Stein (1815— 1890), in: ders., Freiheit in unserer Zeit. Geschichte. Politik. Erziehung, Stuttgart-Bonn 1984, S. 47 ff.

  11. Lorenz v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich seit 1789. Einleitung, in: E. Forsthoff, Gesellschaft - Staat - Recht (Anm. 10), S. 96 f.

  12. Vgl. Friedrich Jonas. Geschichte der Soziologie. Bd. 2, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Bd. 304/305, Reinbek 1968, S. 132 ff.

  13. Vgl. Johann Baptist Müller. Der deutsche Sozialkonservativismus, in: Hans-Gerd Schumann (Hrsg.), Konservativismus, Königstein 19842, S. 199 ff.

  14. Ebd., S. 202.

  15. D. Blasius. Konservative Sozialpolitik (Anm. 7), S. 483; vgt. ferner Hermann Wagener, Die Lösung der sozialen Frage vom Standpunkte der Wirklichkeit und Praxis (anonym: Von einem praktischen Staatsmanne), Bielefeld-Leipzig 1878. sowie ders.. Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis jetzt. Berlin 1884; von den Monographien ist die instruktivste die von Wolfgang Saite. Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus. Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, Bd. 9, Tübingen 1958.

  16. Vgl. Hermann Wagener, Erlebtes (Anm. 14), Teil 1, S. 61.

  17. Zu Lohmann vgl. besonders Hans Rothfels, Theodor Lohmann und die Kampfjahre der staatlichen Sozialpolitik. Forschungen und Darstellungen aus dem Reichsarchiv, Heft 6, Berlin 1927, und ders., Prinzipienfragen der Bis-marckschen Sozialpolitik, Königsberg 1929; Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin—Frankfurt 19815, S. 648ff.; Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, Berlin 1983, S. 225 ff.

  18. Vgl. Wichard von Moellendorff, Konservativer Sozialismus, hrsg. und eingeleitet von Hermann Curth. Hamburg 1932. Der Band erschien in der national-konservativen Hamburger Verlagsanstalt; das NS-Regime hat jedoch kein Interesse an Moellendorffs Ideen gezeigt, sondern rechnete auch ihn dem „Weimarer System“ zu. Moellendorffsche sozialkonservative Anregungen sind jedoch nicht ohne Einfluß geblieben auf die Gedankenwelt und Politik General von Schleichers, des letzten Reichskanzlers vor Hitler; vgl. Axel Schildt, Militärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung um General von Schleicher am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt-New York 1981.

  19. Aus der Fülle der Literatur hier nur folgende Hinweise: James M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany. Bloomington-London 1977; Eugen Gerstenmaier, Streit und Frieden hat seine Zeit. Ein Lebensbericht. Berlin o. J.; James L. Henderson. Adolf Reichwein. Eine politisch-pädagogische Biographie, Stuttgart 1958; Klaus Hornung. Der Jungdeutsche Orden. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Bd. 14, Düsseldorf 1958; Erasmus Jonas. Die Volkskonservativen 1928- 1933. Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 30, Düsseldorf 1966; Julius Leber. Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe, hrsg. von seinen Freunden. Berlin-Frankfurt 1952; Christoph Müller/Ilse Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891 - 1933. Baden-Baden 1984; Bodo Scheurig, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg-Hamburg 1968.

  20. Zum Kreisauer Kreis nach wie grundlegend Ger van Roon. Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. München 1967, auch wegen der hier abgedruckten Kreisauer Grundsatzerklärungen, S. 542 ff.; hier auch die Denkschrift von Einsiedels und von Trothas, Die Gestaltungsaufgaben in der Wirtschaft (1942), S. 523ff., sowie van Roons Darstellung S. 409 ff.; vgl. ferner die Darstellungen von Eugen Gersten-maier(Anm. 18), S. 33ff. und S. 66ff.; Günter Schmölders, Personalistischer Sozialismus. Die Wirtschaftskonzeption des Kreisauer Kreises, Reihe Demokratische Existenz heute, Bd. 17, Köln-Opladen 1969; Klaus Hornung, Die Reformpläne des Kreisauer Kreises. Ein Beitrag zur deutschen politischen Überlieferung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, (1956) 7, S. 730 ff.

  21. Zit nach G. van Roon (Anm. 19), S. 77.

  22. Vgl. Werner Conze. Jakob Kaiser — Politiker zwischen Ost und West 1945-1949, Stuttgart 1969, S. 39f„ S. 62f.

  23. Zitiert u. a. bei Heino Kaack. Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems, Opladen 1971, S. 72 ff.

  24. Als ein Beispiel von vielen vgl. die Urteile bei Kurt Sont-heimer, Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. München 19733, S. 44 ff.; ferner Hans-Hermann Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo. Köln-Opladen 1970.

  25. Vgl. Konrad Löw, Sozialstaat, in: Peter Gutjahr-Löser/Klaus Hornung (Hrsg.). Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch, Percha 19852, S. 440 ff. mit weiteren Literaturhinweisen.

  26. Vgl. Emst Forthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971; ders., Verfassungsprobleme des Sozialstaats, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 146ff.

  27. Diesen Begriff prägte Günter Schmölders, ein einstiger Kreisauer. in: Der Wohlfahrtsstaat am Ende? Adam Riese schlägt zurück, München 1983, S. 8 passim.

  28. Vgl. Klaus Hornung. Wohlfahrtsdemokratie und Sicherheit. Der Fall der Bundesrepublik Deutschland. Asendorf 1986.

  29. Vgl. Herbert Krüger. Allgemeine Staatslehre. Stuttgart 1964. S. 796.

  30. Herbert Krüger. Rechtsstaat — Sozialstaat — Staat. Hamburg 1975, S 11. Krüger urteilt zum damaligen Zeitpunkt. daß in der Bundesrepublik das Bedürfnis nach Rechtsstaat „reichlich“, dasjenige nach Sozialstaat „ausreichend“, dasjenige nach politischer Staatlichkeit jedoch „unzureichend“ gedeckt sei (S. 43). Heute, 15 Jahre später, wird man das Verhältnis zwischen Rechts-und Sozialstaat eher umgekehrt beurteilen müssen: ersterer ausreichend, dieser reichlich. Dazwischen liegt nicht nur der große sozialstaatliche Boom zwischen 1970 und 1982, sondern auch die Erfahrung des Terrorismus, steigender Kriminalität etc.; die Unterversorgung an Staatlichkeit hat hingegen eher noch zugenommen.

  31. Vgl. Manfred Spieker, Legitimitätsprobleme des Sozialstaats. Konkurrierende Sozialstaatskonzeptionen in der Bundesrepublik Deutschland, Bem-Stuttgart 1986, bes. S. 222 ff. Spieker unterscheidet den souveränitätsorientierten, emanzipatorischen und subsidiären Sozialstaats-Typus. Die sozialkonservativen Positionen der letzten eineinhalb Jahrhunderte sind in einem Spektrum zwischen dem ersteren und dem letzteren zu suchen, zwischen dem „staatssozialistischen“ und dem „genossenschaftlichen“ Pol. Gegenüber dem emanzipatorischen Verständnis ist hingegen der Sozialkonservativismus aufgrund seiner politisch-anthropologischen Prämissen stets skeptisch geblieben. Das sozialdemokratische Sozialstaats-Verständnis hat sich nach 1970 im Rahmen der damaligen kulturrevolutionären Bewegung vom staatssozialistischen zum emanzipatorischen Idealtypus hin entwickelt, in jüngerer Zeit wohl auch wieder etwas zurück zu einem mehr subsidiären Verständnis, nicht zuletzt auch unter „grün“ -konservativen Einflüssen, während die Sozial-konservativen heute zunehmend die Konsens-Große des „sozialen Rechtsstaats“ gegen staatsozialistische und emanzipatorische Tendenzen und Kräfte verteidigen.

  32. Vgl. (Anm. 30), S. 307 ff.

Weitere Inhalte

Klaus Hornung, Dr. phil. habil., geb. 1927; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim; bis 1987 Professor an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen und Privatdozent an der Universität Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Der Jungdeutsche Orden, Düsseldorf 1958; Politik und Zeitgeschichte in der Schule, Villingen 1967; Staat und Armee — Studien zum politisch-militärischen Verhältnis in der Bundesrepublik Deutschland, Mainz 1975; Der faszinierende Irrtum — Karl Marx und die Folgen, Freiburg 19824; (Mithrsg, und Mitautor) Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch, Percha 19852; (Hrsg, und Mitautor) Mut zur Wende, Krefeld 1985; Wohlfahrtsdemokratie und Sicherheit, Asendorf 1986; Herkunft und Zukunft — Perspektiven der deutschen Frage, Asendorf 1989.