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Entmündigen die Parteien das Volk? Parteienherrschaft und Volkssouveränität | APuZ 21/1990 | bpb.de

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APuZ 21/1990 Der Marsch aus den Institutionen. Zur Organisationsschwäche politischer Parteien in den achtziger Jahren Parteikritik und Parteiverdrossenheit Entmündigen die Parteien das Volk? Parteienherrschaft und Volkssouveränität Die Republikaner im Parteiensystem der Bundesrepublik. Protesterscheinung oder politische Alternative?

Entmündigen die Parteien das Volk? Parteienherrschaft und Volkssouveränität

Hans Herbert von Arnim

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Während es zu Anfang der Bundesrepublik darum ging, die demokratischen Parteien zu etablieren, bedürfen sie heute nach über 40 Jahren Parteienstaat zunehmend der Kontrolle. Vor allem zwei Gefahren, die an die Grundstruktur unseres Staates rühren, gehen von ihnen aus: eine Aufweichung der Gewaltenteilung und eine gewisse Entmachtung des Volkes. Die Parteien suchen zunehmend auch solche Institutionen personell zu kolonisieren, die eigentlich als parteifrei konzipiert sind wie z. B. die Verwaltung, die Rechtsprechung, die öffentlich-rechtlichen Medien, die Wissenschaft. Dadurch werden machtpolitische Denkweisen auch in diese Institutionen getragen und ihre Gegengewichtsfunktion untergraben. Da die Parteien gleichgerichtet operieren, kann der Wähler mit dem Stimmzettel nichts ausrichten. Ebenso wird der Bürger entmachtet, wenn die Parlamente in eigener Sache entscheiden wie bei Abgeordnetendiäten, Parteien-, Fraktions-und Stiftungsfinanzierung. Geboten sind Öffentlichkeit und öffentliche Begründung. Bei Wahlen ist den Bürgern mehr Einfluß auf die Personalauswahl zu geben. Scheinkandidaturen und die Bestimmung der Ortsbeiräte von oben sind zu beseitigen. Die Möglichkeiten der unmittelbaren Demokratie könnten erweitert werden. Es bestehen gute Gründe, die lange festgefahrene Diskussion erneut aufzunehmen, besonders aufgemeindlicher Ebene (Direktwahl des Bürgermeisters und Bürgerentscheid), aber auch auf Staatsebene. Die dringende Begrenzung auch der demokratischen Parteien, nicht zuletzt durch Aktivierung des Volkes selbst, ist eine Verfassungsfrage, deren Bedeutung — auch angesichts der Genugtuung über die geglückte Überwindung der diktatorischen Einparteienherrschaft in der DDR — nicht aus dem Blick geraten darf.

I. Von der Mitwirkung zur „Ausbeutung“

Nach Artikel 21 des Grundgesetzes wirken die Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Dieser Satz war 1949 ausgesprochen fortschrittlich, brachte er doch die legitime Rolle der politischen Parteien zum Ausdruck. Nach über vier Jahrzehnten „Parteienstaat“ haben sich die Problemfronten heute aber völlig verschoben. Mußte es nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur erst einmal darum gehen, die Parteien zu etablieren. so sind sie heute wahrhaft etabliert genug. Es besteht kein Grund mehr, sie gegen Kritik zu immunisieren. Im Gegenteil: Wenn der Satz stimmt, daß Macht, soll sie nicht korrumpieren, Kontrolle benötigt, sind die Parteien heute besonders kontrollbedürftig. Sie haben sich mit den Worten von Bundespräsident Richard von Weizsäcker „fettfleckartig“ ausgebreitet, scheinen hinter allen staatlichen Institutionen hervor, auch dort, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben, kurz: Sie suchen sich den Staat zunehmend „zur Beute“ zu machen

In der Vor-und Anfangsphase der Bundesrepublik hatte sich dem Weg in den Parteienstaat kaum Widerstand entgegengestellt. Die Parteien stießen in der Stunde Null — auch angesichts der politischen Vorbelastung mancher konkurrierender Einflußgruppen — in ein Vakuum und konnten ihre Position rasch festigen. In Überreaktion auf die Verketzerung demokratischer Parteien in der Weimarer Republik, die ihnen die Daseinsberechtigung abgesprochen und der nationalsozialistischen Diktatur in den Sattel geholfen hatte, verfiel man in der Bundesrepublik zunächst ins gegenteilige Extrem.

Die Überhöhung der Parteien fand ihren staatsrechtlichen Ausdruck in der überspitzten Parteienstaatsdoktrin von Gerhard Leibholz, der in den Parteien nicht nur Vermittler zwischen Volk und organisierter Staatlichkeit sah, sondern die Parteien mit Volk und Staat identifizierte und so den Blick für Mißstände und Fehlentwicklungen lange verstellte. Da Leibholz einflußreiches Mitglied des Bundesverfassungsgerichts wurde, schlug sich seine Auffassung anfangs auch in der Rechtsprechung nieder. So bewirkte ein bloßer Wink aus Karlsruhe im Jahre 1958 daß die Bundesrepublik 1959 als erstes europäisches Land die staatliche Finanzierung der Parteien einführte; die Verfasser des Grundgesetzes waren noch von einer rein privaten Finanzierung ausgegangen.

Auch die Politikwissenschaft wirkte einseitig partei-etablierend: Sie sah anfangs ihre Hauptaufgabe darin, die bundesdeutsche Bevölkerung von der Nazidiktatur zur parlamentarischen Demokratie umzuerziehen. Dabei stand auch hier die (natürlich nicht bestreitbare) Unverzichtbarkeit der Parteien in der Demokratie so sehr im Vordergrund, daß die ebenfalls notwendige Diskussion über Begrenzungen und Kontrollen zu kurz kam. Ähnliche Übertreibungen sind auch momentan wieder zu befürchten: In Abgrenzung zum ehemaligen diktatorischen Regime in der DDR mit seiner Einparteienherrschaft droht die Güte unseres Parteienstaats, der auf der Konkurrenz mehrerer Parteien beruht, so überbetont zu werden, daß die Diskussion über Reformen gar nicht erst aufkommen kann. Es geht in diesem Zusammenhang vor allem um zwei Gefahren, die die Grundstruktur unseres Staates berühren: die Aufweichung der Gewaltenteilung und eine gewisse Entmachtung des Volkes

II. Wandel und Auflösung der Gewaltenteilung

Die Gewalten und Institutionen, die sich nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung gegenseitig in Schach halten und zu ausgewogenen Ergebnissen ausbalancieren sollen, werden zunehmend gleich-geschaltet und paralysiert. Hier ist allerdings zu differenzieren zwischen der Einwirkung der Parteien auf Parlament und Regierung einerseits und auf Institutionen, die als parteifrei konzipiert sind, andererseits.

1. Der Parteienwettbewerb ...

In der modernen Massendemokratie kann die Bestellung der Volksvertretungen und der Regierungen nicht ohne politische Parteien erfolgen, die durch Aufstellung von Wahlprogrammen und Kandidaten die unerläßliche Strukturierung der politischen Willensbildung bewirken. Herzstück der Konzeption ist die Vorstellung vom Wettkampf der Parteien um die Gewinnung der staatlichen Macht auf Zeit, einem Wettkampf, den die Wähler mit ihrer Stimmabgabe mehrheitlich entscheiden. Die Wahl hat ihrerseits Auswirkungen auf die Aufstellung der Kandidaten und auf das Sachprogramm. Der Wettbewerb soll jede Partei, will sie bei den Wahlen günstig abschneiden, dazu veranlassen, ihr personelles und programmatisches Angebot möglichst an den Einstellungen, Wünschen und Interessen der Bürger, und zwar möglichst vieler Bürger, auszurichten. Auf diese Weise soll das Konkurrenz-prinzip eine gewisse Rückbindung an das Volk sichern, auch und gerade dann, wenn es den Konkurrenten primär um die Erringung oder Beibehaltung der politischen Macht geht. Die Grundidee ist ähnlich der des wirtschaftlichen Wettbewerbs, dessen Geheimnis darin besteht, daß die Unternehmer sich, wenn der Wettbewerb funktioniert, aufgrund ihres ökonomischen Gewinnstrebens möglichst weitgehend nach den Wünschen der Verbraucher richten.

2. . . . überlagert die Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament

Der Parteienwettbewerb als zentrales politisches Steuerungsmittel in der Demokratie hat unvermeidbare (und deshalb hinzunehmende) Auswirkungen auf Regierung und Parlament: Da die Politik der Parteien praktisch durch Regierung und Parlament umgesetzt wird, kann der Wähler nur dann auswählen, wenn die Aktivitäten jeweils bestimmten Parteien zuzurechnen sind; das setzt eine Strukturierung des Parlaments in Regierungs-und Oppositionsfraktionen voraus. Dadurch wird der klassische Gegensatz zwischen Regierung und Parlament immer mehr überlagert vom Gegensatz zwischen Regierungs-und Oppositionsparteien. An die Stelle der Gewaltenteilung zwischen Regierung und Parlament tritt zunehmend die zwischen Regierung und Opposition. Dieser Verfassungswandel erscheint grundsätzlich systemkonform und wird durch Art. 21 GG legitimiert.

3. „Kolonisierung“ unabhängiger Einrichtungen

Die Parteien bleiben aber bei der Einwirkung auf Parlament und Regierung nicht stehen, sondern suchen auch andere als parteifrei konzipierte Einrichtungen zu „kolonisieren“ und mit Leuten ihres Vertrauens zu durchsetzen. Das ist illegitim und wird durch Art. 21 GG nicht mehr gedeckt.

Bei der Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, die nach dem Grundgesetz durch den Bundestag und den Bundesrat erfolgt, ist es gängige Praxis, daß die Vorschlagsbefugnisse zwischen den Parteien nach bestimmten Quoten aufgeteilt und solche Personen bevorzugt werden, die den Parteien nahestehen. Auch zu Präsidenten der Rechnungshöfe im Bund und in den Ländern werden regelmäßig Kandidaten berufen, die der jeweiligen Regierungspartei angehören. Bei der Auswahl der Mitglieder der Bundesbank ist die parteipolitische Ausrichtung kaum weniger von Belang. Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Sowenig akzeptabel es ist, wenn die Zugehörigkeit zu einer Partei praktisch zur Zulassungsvoraussetzung für den Eintritt in bestimmte Ämter wird, so wird es doch vorderhand darum gehen müssen, die prägende Kraft des Amtes, den „Becket-Effekt“ möglichst wirksam zu halten. Dies kann durch rechtliche Ausgestaltungen gefördert werden, etwa durch die Wahl der Bundesrichter auf Lebenszeit und der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts mit Zweidrittelmehrheit auf zwölf Jahre ohne Wiederwahl.

In anderen Bereichen ist der parteipolitische Einfluß auf die Personalrekrutierung (erst recht auf den Inhalt von Sachentscheidungen) in noch stärkerem Maße als irregulär, ja verfassungswidrig zu bewerten so etwa in der Verwaltung, den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Wissenschaft.

Wer meint, die bei Wahlen siegreiche Partei solle auch sämtliche Beamtenstellen besetzen dürfen, sollte sich einmal die verheerenden Erfahrungen ansehen, die die Vereinigten Staaten mit ihrem früheren „Beutesystem“ gemacht und die sie veranlaßt haben, ein auf Qualität und Professionalität gegründetes Berufsbeamtentum einzuführen. Parteipolitische Ämterpatronage in der Verwaltung ist ein schleichendes Gift im demokratischen Rechtsstaat, dessen Schädlichkeit auf Dauer gar nicht überschätzt werden kann. Parteibuchwirtschaft beeinträchtigt die Chancengleichheit, untergräbt die Leistungsfähigkeit im Amt, bläht die Verwaltung auf, gefährdet ihre Neutralität, preßt Beamte in die Parteien und leistet der Parteien-und Staatsverdrossenheit beim Bürger Vorschub Parteibuchwirtschaft erleichtert es den Parteien, im Wege des Durchgriffs in die Verwaltungen hineinzuregieren. Eschenburg spricht von „Herrschaftspatronage“ In welche Verstrickungen die Verwaltung geraten kann, wenn die Loyalität zu Parteien in Konkurrenz tritt zur Loyalität zu Staat und Recht, haben die Parteispendenverfahren und der Fall Uwe Barschel schlaglichtartig deutlich gemacht. Parteibuchwirtschaft macht umgekehrt diejenigen leicht zu Außenseitern, die mit der Bindung der Verwaltung an „Recht und Gesetz“, die das Grundgesetz vorschreibt, auch dann Emst machen, wenn dem Parteiinteressen entgegenstehen. Ein Beispiel war der Leiter der Bonner Steuerfahndung Klaus Förster, der durch Zufall einen Zipfel der Parteispendenaffäre zu fassen bekam, dann nicht mehr losließ und so die Lawine erst auslöste, dafür aber nicht Anerkennung und Unterstützung, sondern unverhohlene Zurücksetzung erntete, so daß er schließlich seinen Dienst quittierte

Diese und andere Fälle (z. B. die Versuche einer gesetzlichen Amnestie für Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Parteispenden in den Jahren 1981 und 1984) schienen für die Öffentlichkeit ein Selbstverständnis der Führungsriege der politischen Parteien und ihrer Helfer in Verwaltung und Wirtschaft widerzuspiegeln, wonach diese nicht unter, sondern über dem Recht ständen und es sich für ihre Zwecke zurechtbiegen, kurz, mit dem schon erwähnten Wort des Bundespräsidenten: sich den Staat und sein Recht zur Beute machen könnten.

Leider haben selbst manche Innenministerien, die für die Ausgestaltung des Beamtenrechts zuständig sind, das Problem bisher verdrängt. Auf die Anfrage der Bundestagsfraktion der GRÜNEN nach den Wirkungen der Ämterpatronage und den Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, antwortete die Bundesregierung lapidar: Da es das Problem der Ämterpatronage nicht gebe, seien die gestellten Fragen gegenstandslos — eine Antwort nach der Devise, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Eine derartige Haltung hatte der jetzige Bundeskanzler Kohl 1982, also vor der Regierungsübernahme, noch als „lächerlich“ bezeichnet Der parteilich berufene (und beförderte) Schulleiter, Krankenhausdirektor oder auch nur ganz normale Laufbahnbeamte in Gemeinde und Staat sind keine Karikatur, sondern alltägliche Wirklichkeit.

Nicht weniger brisant ist die Parteipolitisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Nachdem Mitte der siebziger Jahre eine Art Trendwende in der (vorher eher zurückhaltenden) Einschätzung der politischen Wirkung der Medien zu beobachten war, haben sich die Bemühungen der Parteien, die Rundfunkanstalten mit ihren Parteigängern zu besetzen, noch weiter verstärkt. Dadurch wird die Informations-, Kritik-und Kontrollfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gemindert, ja teilweise lahmgelegt. Dies berührt eine Grundlage des demokratischen Rechtsstaates, weil unabhängige Information und kritische Kontrolle durch den Rundfunk gerade im Parteienstaat unverzichtbar sind, wenn der Bürger nicht zum manipulierten Objekt degenerieren soll. Die vom Bundesverfassungsgericht unterstrichene Staatsfreiheit des Rundfunks verlangt — angesichts der Beherrschung des Staates durch die Parteien — heute vornehmlich Parteienfreiheit des Rundfunks. Davon kann aber in der Realität keine Rede sein

Auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft ist verfassungsrechtlich nicht zuletzt deshalb gewährleistet, um ihre Sachlichkeit und Kritikfähigkeit auch gegenüber den Mächtigen in Staat und Gesellschaft zu erhalten. Darum ist es schlecht bestellt, wenn diejenigen Wissenschaftler, die sich besonders intensiv mit den Parteien befassen, diesen aufgrund vielfacher Zusammenarbeit zu nahe stehen, um unbefangen Kritik äußern zu können. Werden partei-nahe oder gar parteihörige Personen auch noch vorrangig in Kommissionen zur Reform des Parteiwesens berufen, so wird die Einrichtung der wissenschaftlichen Politikberatung diskreditiert und zugleich das Gemeinwesen vollends zur hilf-und wehrlosen Beute der Parteien gemacht.

Die größten Gefahren durch parteipolitische Ämterpatronage machen sich in der Änderung der Denkweisen bemerkbar. Die Machtorientierung der Parteien steht im Gegensatz zum rein sach-orientierten Denkstil, der das charakteristische Gemeinsame für ansonsten so verschiedene Einrichtungen wie die öffentliche Verwaltung, die Gerichtsbarkeit, die Medien und auch die Wissenschaft ist (oder doch sein sollte). Der parteipolitische Einfluß verändert auch dann, wenn er nicht von einer Partei allein ausgeht, die Motivationsund Denkweise und damit auch die Art der Willensbildung insgesamt. Wem es primär auf Mehrheiten, Bündnisse und Macht ankommt, der ist innerlich anders eingestellt und gelangt oft auch zu anderen Ergebnissen als der, dem es um wert-und erkenntnisorientierte Richtigkeit geht Ein Redakteur, der die parteipolitische Schere im Kopf hat, verliert aufgrund des voraneilenden Gehorsams gegenüber den Machthabern leicht jede Produktivität. Wer immer nur besorgt ist, ob den Mächtigen genehm ist, was er geistig produziert, dem droht allmählich sein sachorientierter Denkstil abhanden zu kommen. Sterilität und Konformität herrschen vor. Innovations-und Reaktions-und damit auch die Überlebensfähigkeit der Gemeinschaft insgesamt nehmen ab. Darin liegt vielleicht die größte — bisher noch kaum diskutierte — Gefahr einer zunehmenden parteipolitischen Ämterpatronage in allen Bereichen.

Der Bürger kann gegen derartige Eigenmächtigkeiten mit dem Stimmzettel nichts ausrichten, denn die Parteien bilden regelmäßig ein politisches Quasi-Kartell der Etablierten. Jede Partei versucht, den öffentlichen Dienst, die öffentlich-rechtlichen Medien und sonstige als parteiunabhängig konzipierte Einrichtungen unter ihren Einfluß zu bringen und Kontrollen möglichst auszuschalten. Hier wetteifern die Parteien zwar im Stillen um möglichst große Einflußanteile, hüten sich aber, die Frage, wie derartige Grenzüberschreitungen wirksam verhindert werden könnten, zum Wahlkampfthema zu machen. Das Kartell des Ausklammerns von dringenden Problemen nimmt dem Wähler jede Alternative und entmachtet ihn insoweit.

4. Entscheidungen in eigener Sache

Besonders kraß ist die Entmachtung des Wählers, wenn das Parlament in eigener Sache entscheidet, etwa über Abgeordnetendiäten Parteien-, Fraktions-und Stiftungsfinanzierung Die parlamentarische Kontrolle durch die Opposition wird hier regelmäßig ausgeschaltet, weil Regierung und Opposition sich abzusprechen pflegen. Wer in dieser Situation den Wähler blauäugig auffordert, den Parteien mit dem Stimmzettel die Quittung zu geben. hat nichts verstanden (oder will nichts verstehen). Denn durch derartige Große Koalitionen in Sachen Abgeordnetendiäten und Parteienfinanzierung (Fraktions-oder Stiftungsfinanzierung) wird die Kontrolle durch den Wähler ja gerade unterlaufen. Welche Partei auch immer er wählt, alle (mit Ausnahme vielleicht der GRÜNEN) sind in das Kartell eingebunden. Die fehlende Kontrolle durch den Wähler fällt bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache besonders ins Gewicht, weil Selbstbetroffenheit befangen macht und man aus Erfahrung weiß, daß die eigenen Interessen der Entscheidenden mangels Gegengewichts durchschlagen und es zu einseitigen, unangemessenen, ja mißbräuchlichen Entscheidungen kommt. Genau das ist auch bei der staatlichen Politikfinanzierung zu befürchten. Um so dringender bedarf es hier der Transparenz der Entscheidung und der öffentlichen Begründung zur Ermöglichung eines Minimums an Kontrolle.

a) Der „hessische Diätenfall“

Ein Beispiel für den Mißbrauch unkontrollierter Macht, zugleich aber auch für die Kraft, die die öffentliche Kritik entfalten kann, bietet der „hessische Diätenfall“. Auslöser war eine Änderung des hessischen Abgeordnetengesetzes vom Februar 1988. Dieses Gesetz, das Regierungskoalition und Opposition (mit Ausnahme der GRÜNEN) gemeinsam einbrachten und verabschiedeten, hatte nicht nur massive Erhöhungen der steuerpflichtigen Entschädigung und Versorgung sowie der ohnehin überhöhten steuerfreien Kostenpauschalen (auf bis zu 64 800 DM jährlich) vorgesehen, sondern darüber hinaus auch üppige Sonderregelungen für Mitglieder des Landtagspräsidiums, für Fraktionsvorsitzende und Abgeordnete, die gleichzeitig Minister waren.

Bemerkenswerter noch als der Inhalt des Gesetzes war seine Begründung. Der seinerzeitige Präsident des Landtags und ein Vizepräsident hatten die geplante Neuregelung auf einer Pressekonferenz am 27. Januar für „in jeder Richtung angemessen“ erklärt und behauptet, die Diäten in Hessen seien „überall Schlußlicht“. Sie müßten deshalb angehoben werden, um aufdas Niveau anderer Landesparlamente zu kommen. In Wahrheit waren die hessischen Diäten schon vor der Februar-Novelle in der Spitzengruppe und danach in jeder Hinsicht alleinige Spitze. Auch die Kosten wurden nicht korrekt angegeben. Im Vorblatt des Gesetzentwurfs waren 3, 5 Millionen DM genannt. Tatsächlich wären es weit über 15 Millionen DM geworden. Auch die hohen verfassungsrechtlichen Risiken wurden nicht erwähnt. Ein Teil der beabsichtigten Regelungen widersprach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Andere Teile waren verfassungsrechtlich zumindest bedenklich. Die „Verkaufsstrategie“ der hessischen Parlamentsspitze schien zunächst so perfekt, daß Presse und Fernsehen verständnisvoll bis wohlwollend kommentierten und das Änderungsgesetz beinahe anstandslos zustande gekommen wäre.

Als dann aber, fünf Monate später, Ende Juni 1988 ein Gutachten des Verfassers über das hessische Abgeordnetengesetz auf einer Pressekonferenz des Bundes der Steuerzahler in Wiesbaden veröffentlicht wurde und die Medienvertreter erkannten, wie sie manipuliert worden waren, brach ein Sturm der Kritik los. Er bewirkte, daß Präsident und Vizepräsident zurücktreten mußten und das Gesetz schließlich Ende Juli in einer Sondersitzung des Landtags wieder aufgehoben wurde.

b) Finanzierung der Fraktionen und Parteistiftungen

Ein anderes Beispiel für den Mißbrauch unkontrollierter Macht sind die Finanzen der Fraktionen und der parteinahen Stiftungen. Das Grundgesetz verlangt von den Parteien, daß sie über ihre Einnahmen. Ausgaben und ihr Vermögen öffentlich Bericht erstatten. Dementsprechend sieht das Parteiengesetz eine jährliche Rechenschaftslegung vor. Das Gesetz setzt zudem genau fest, was die Parteien an öffentlichen Mitteln erhalten. Für die mit den Parteien eng verbundenen Fraktionen und Stiftungen müßte das eigentlich erst recht gelten. Denn sie finanzieren sich zu einem noch größeren Teil, nämlich zu beinahe 100 Prozent, aus den öffentlichen Haushalten. Hier ist gleichwohl keinerlei Publizität vorgeschrieben. Über die Ausgaben und das Vermögen der Fraktionen ist nichts bekannt. Begründungen für die teils sehr hohen Steigerungsraten, um die die Mittel sich von Jahr zu Jahr erhöhen, werden nicht gegeben. Während ein Finanzex-perte die Einnahmen der Fraktionen in etwa dem Haushaltsplan entnehmen kann, ist bei den Partei-stiftungen nicht einmal dies der Fall. Ihre Einnahmen sind über zahlreiche Haushaltstitel des Bundeshaushalts verteilt, und oft ist selbst bei Titeln mit Hunderten von Millionen Mark nicht ersichtlich, daß es die Parteistiftungen sind, die das Geld erhalten. Ein Stiftungsgesetz oder Fraktionsgesetze, die exakt festlegen, was die Begünstigten bekommen, gibt es nicht. In dieser Nische haben sich allein die Subventionen an die Fraktionen des Bundestags seit 1966 (als das Bundesverfassungsgericht der staatlichen Parteienfinanzierung, nicht aber der staatlichen Fraktions-und Stiftungsfinanzierung Grenzen zog) vervierundzwanzigfacht; die Subventionen an die parteinahen Stiftungen sind noch stärker gestiegen. Zusammen mit den Subventionen der Fraktionen betragen sie jetzt jährlich rund 700 Millionen Mark. Um dem Einhalt zu gebieten, muß zumindest eine den Parteifinanzen vergleichbare Transparenz hergestellt werden.

Zwar hat auch die staatliche Parteienfinanzierung zugenommen die Zuwachsraten bei der Staats-finanzierung der Fraktionen und Stiftungen sind aber sehr viel höher; auch absolut liegen ihre Subventionen inzwischen um ein Vielfaches höher als die der politischen Parteien. Hier zeigt sich nicht nur eine Schwerpunktverlagerung hin zu den im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit liegenden Fraktionen und Stiftungen, sondern auch eine gewaltige Ausdehnung der staatlichen Mittel insgesamt. Das erscheint deshalb besonders gravierend, weil die staatliche Finanzierung der Parteien (Fraktionen und Stiftungen) diese immer weiter stärkt und so das erforderliche Gegenhalten gegen Parteienmacht und -Übermacht erschwert wird. Geld schafft eine Verfügung über Personal und Ressourcen aller Art.

III. Die Rolle der Öffentlichkeit in der Demokratie

Öffentlichkeit ist ganz allgemein eine zentrale Voraussetzung dafür, daß der Bürger und Wähler die öffentlichen Dinge mitverfolgen und nachvollziehen kann. Öffentlichkeit stellt den Bezug zum Bürger (oder besser: zum Volk als dem Souverän in der Demokratie) her, indem sie es ihm erleichtert, mitzudenken, zu kritisieren und, bis zu einem gewissen Grad, bei Wahlen Konsequenzen zu ziehen. Es müßte deshalb eigentlich in allen staatlichen (und gemeindlichen) Angelegenheiten der Grundsatz der Öffentlichkeit gelten Über die Parlamentsöffentlichkeit hinaus müssen Gesetze, Haushaltspläne, aber auch Berichte der Rechnungshöfe oder von wissenschaftlichen Kommissionen, die die staatlichen Organe beraten, veröffentlicht werden. Die Veröffentlichung sachverständiger Berichte macht den Souverän souveräner (Peter Noll). Angesichts der engen Zusammengehörigkeit von Demokratie und Öffentlichkeit kann es in der Demokratie auch nicht die Frage sein, ob ein Staatsorgan Öffentlichkeit herstellen darf, sondern umgekehrt nur die, ob und unter welchen Umständen Öffentlichkeit ausnahmsweise ausgeschlossen werden darf. Bezogen etwa auf den Rechnungshofbedeutet dies: Nicht die Veröffentlichung seiner Berichte hat er zu rechtfertigen, sondern die Nichtveröffentlichung. Dies gilt auch für Prüfungsberichte über Kommunen und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, die gleichwohl bisher regelmäßig nicht veröffentlicht werden -Es ist auch ein Unding, wenn die Gemeindeordnungen in der Mehrzahl der Bundesländer den Bürgern kein Recht auf Einsicht in Protokolle öffentlicher Rats-oder Kreistagssitzungen geben und auch Gerichte ein Einsichtsrecht verwehren, so als ob dies den Bürger nichts an-ginge

Zur Herstellung von Öffentlichkeit gehört die öffentliche Begründung der getroffenen Entscheidungen. Die Begründung von Gesetzen (und anderen Staatsakten) macht diese erst nachvollziehbar und ist für die Mitwirkung des Bürgers und die Kontrolle unverzichtbar: Die öffentliche Kritik durch Presse, Rundfunk, Wissenschaft und Rechnungshöfe. die in und zwischen den Parteien, Interessen-verbänden und der Bürokratie ablaufenden Diskus-sions-und Kontrollprozesse und auch die Kontrolle durch die Verfassungsrechtsprechung — sie alle bedürfen, um möglichst wirksam werden zu können, der Begründung der zu kontrollierenden Akte. Die Ziele eines neuen Gesetzes, das Für und Wider möglicher Alternativen, dies alles muß der Allgemeinheit zugänglich sein. Bei Gerichtsurteilen und Verwaltungsakten ist die Pflicht zur Begründung anerkannt, nicht aber bei Regierungsakten und Gesetzen. Hier ging man lange davon aus, die Begründung ergäbe sich im parlamentarischen Prozeß sozusagen von selbst, sei es, daß das öffentlich räsonierende Parlament die Für-und Gegengründe hin und her wägt, sei es, daß die parlamentarische Opposition die Regierung durch öffentliche Kritik zur öffentlichen Begründung und Rechtfertigung zwingt. Beides trifft nur noch eingeschränkt zu. Der offene und öffentliche Diskussionsprozeß ist durch das machtpolitisch motivierte Gegeneinander von Regierung und Opposition zum großen Teil erdrückt worden. Vielfach zwingt aber auch die Opposition die Regierung nicht mehr zur öffentlichen Rechtfertigung. Die Opposition ist nämlich durch Vorabsprachen in informellen Gremien oder nicht öffentlich tagenden Ausschüssen oft eingebunden und übernimmt Mitverantwortung für die gefundenen Kompromisse. (Der Bundestag verabschiedet das Gros der Gesetze mit den Stimmen der Opposition.) Dann sind ihr vor der Öffentlichkeit aber leicht die Hände gebunden, so daß sie sich außerstande sieht, noch unbefangen zu kritisieren. Damit weicht von der Regierung und den Regierungsfraktionen der Druck, die Entscheidung vor der Öffentlichkeit noch wirklich begründen zu müssen. Der erhoffte Rationalitätseffekt entfällt. Zugleich bleibt die Transparenz für den Bürger auf der Strecke, weil die Verantwortlichkeit verwischt wird. Der Wähler weiß häufig nicht mehr, welcher Partei er welches Gesetz verdankt Das gilt in erhöhtem Maß bei den Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat. Der Vermittlungsausschuß verhandelt in strengster Abgeschlossenheit, und eine ausreichende Begründung für die gefundenen Kompromisse wird regelmäßig nicht gegeben — auch nicht im Plenum des Bundestags —, bevor dieser über die Vermittlungsvorschläge abstimmt

Gleichwohl besteht auch hier — über die bislang herrschende Auffassung in der Staatsrechtslehre hinaus — eine Pflicht zur Begründung Sie folgt aus der Dienstfunktion aller demokratischen Staatsgewalt, die im Grundgesetz auch normativ verankert ist. Danach ist alle staatliche Gewalt ihren Inhabern nur zu treuen Händen, d. h. als Amt zur Bewahrung der Belange der Menschen, die die Gemeinschaft bilden, anvertraut. Dies hervorzuheben ist deshalb wichtig, weil die Vorstellung vom Staat als Selbstzweck immer wieder in der Praxis, teilweise auch noch in der deutschen Staatsrechts-lehre, auftaucht. Sie aber würde in letzter Konsequenz zur Immunisierung des Staates gegen Kritik führen, Begründungen überflüssig und eine Kontrolle unmöglich machen.

Um die öffentliche Rechtfertigung getroffener Entscheidungen in der Praxis durchzusetzen, bedarf es auch der institutioneilen Innovation. Zu denken wäre etwa an die Einschaltung von Gremien, die den Gesetzgebungsorganen öffentlich Fragen stellen und von ihnen öffentliche Antworten erzwingen könnten -Sie könnten dadurch eben das bewirken, was die Opposition nun einmal nicht in vollem Umfang tut.

IV. Wahlen

Auch bei den Wahlen drängen die Parteien den Einfluß der Bürger stärker zurück als unbedingt erforderlich. Auch hier ist die Ohnmacht der Bürger die Kehrseite der Allmacht der Parteien. So liegt die Aufstellung der Kandidaten ausschließlich in der Hand der Parteien (wenn man von kommunalen Wählergemeinschaften absieht). Da die Wahlen im allgemeinen nur geringe Veränderungen in den Mehrheitsverhältnissen erbringen, determiniert die Nominierung das Wahlergebnis bereits weitgehend. Das führt dazu, daß die meisten Volksvertreter, nämlich diejenigen, die in einem sicheren Wahlkreis oder auf einem sicheren Listenplatz nominiert worden sind, ihr Mandat praktisch nicht der Wahl durch das Volk, sondern der Nominierung durch die Partei verdanken. Dadurch werden die Parteien zu beherrschenden Instanzen. Da von den 46 Millionen Wahlberechtigten nur rund 2 Millionen Parteimitglieder sind, von denen nur etwa jeder siebte an Nominierungsverfahren mitwirkt, bestimmt kaum mehr als ein halbes Prozent der Wahlberechtigten den größten Teil der Volksvertreter. Soweit dem Wähler nun starre, für ihn unbeeinflußbare Listen als Pauschalangebote präsentiert werden, die sie nur annehmen oder ablehnen können, bestimmt er nicht mehr, wer ein Mandat erhält, sondern nur noch die Größe der Fraktion und damit die Herrschaftsanteile zwischen den Parteien.

Der Einfluß des Wählers ist stärker eingeschränkt, als es die Erfordernisse der Massendemokratie verlangen. Zur Stärkung des Bürgereinflusses hat die Enquete-Kommission Verfassungsreform schon 1976 für Bundestagswahlen sogenannte begrenzt-offene Listen nach dem Vorbild des bayerischen Landtagswahlrechts vorgeschlagen. Danach hat der Wähler die Möglichkeit, mit seiner (Zweit-) Stimme einen bestimmten Listenbewerber zu kennzeichnen und damit die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste zu verändern

1. Kumulieren und Panaschieren

Besonders geeignet für die Ausweitung des Bürger-einflusses dürfte die gemeindliche Ebene sein, wo der Wähler die Kandidaten noch am relativ besten kennt. In einigen Bundesländern besteht bereits die Möglichkeit der Stimmenhäufung und des Ankreuzens von Kandidaten unterschiedlicher Listen bei der Gemeinderatswahl. Durch diese früher nur in Baden-Württemberg und Bayern, neuerdings auch in Rheinland-Pfalz — und abgeschwächt in Niedersachsen — vorgesehene Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens kann der Wähler auf die personelle Zusammensetzung des Gemeinderats unmittelbar Einfluß nehmen. Das entspricht dem demokratischen Grundwert der Bürgermitwirkung und hat zugleich zur Folge, daß Parteien und Wählergemeinschaften die Selektionskriterien der Wähler schon bei der Aufstellung der Listen antizipieren und ferner, daß es sich für kommunale Mandatsträger lohnt, intensiveren Kontakt mit den Wählern zu halten und in der Bürgerschaft bekannt und anerkannt zu sein. Im Hinblick auf die politische Mitwirkung der Bürger und die Bürgernähe der Ratsmitglieder hat das Wahlsystem also einen dreifachen Effekt. Im Gegensatz dazu begünstigen starre Listen, die die lokale Parteigruppierung mit ihrem Nominierungsmonopol zur alles beherrschenden Instanz für die Wahl und die Wiederwahl eines kommunalen Mandatsträgers machen, eine primäre Binnenorientierung der Ratsmitglieder, die sich auf parteiinterne Kontakte konzentrieren können. Die Parteien tendieren dann dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen und ihre Funktion, Mittler zwischen Bürgerschaft und Kommunalverwaltung zu sein, zu vernachlässigen

2. Scheinkandidaturen

Geradezu eine Art Wählerverhöhnung sind soge-nannte Scheinkandidaturen bei Kommunalwahlen. Hier lassen sich Verwaltungschefs und Beigeordnete auf die Liste ihrer Parteien setzen, obwohl sie nicht im Emst daran denken, das Mandat auch zu übernehmen, weil sie dann aufgrund von Unvereinbarkeitsbestimmungen ihr Amt aufgeben müßten. Gleichwohl zieht der Scheinkandidat viele Wählerstimmen auf sich und damit auf seine Partei, besonders in den Ländern, wo kumuliert und panaschiert werden kann (direktgewählte Bürgermeister wirken an solchen Manipulationen bei Ratswahlen allerdings nicht mit). Hier liegt eine Täuschung der Wähler vor. Dies könnte in Zukunft dadurch verhindert werden, daß „unvereinbare“ Beamte künftig gegenüber dem Wahlleiter besondere Gründe nennen müssen, die den ersten Anschein, daß in ihrem Fall nur eine Scheinkandidatur vorliege, widerlegen. Die schriftliche Erklärung müßte veröffentlicht werden, so daß ein bloßes Vorschützen von Gründen erschwert würde. Auf diese Weise könnte einerseits dem Unwesen der Scheinkandidatur ein Riegel vorgeschoben werden. Andererseits würde bei ernsthaften Bewerbungen (von Personen mit unvereinbaren Ämtern), wenn diese aus irgendwelchen atypischen Gründen doch einmal vorkommen sollten, nicht das Grundrecht auf Wählbarkeit beeinträchtigt. 3. Bestimmung der Ortsbeiräte von oben?

Widersinnig erscheint es auch, wenn man innerhalb von Gemeinden Orts-oder Bezirksvertretungen zur Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Teils der Gemeinde errichtet, deren Mitglieder dann aber nicht von den Einwohnern der Ortschaft oder des Bezirks, um deren Belange es geht, wählen läßt, sondern sie ihnen vom Gemeinderat der Gesamtgemeinde (und den darin sitzenden Parteien) oktroyiert. In Hessen und im Saarland hat man dies inzwischen korrigiert. Auch in Niedersachsen, Berlin und Hamburg besteht Direktwahl. In anderen Ländern, etwa in Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein aber werden die Mitglieder der Ortsbeiräte immer noch von oben bestimmt

V. Direktentscheidungen des Volkes als Gegengewicht?

Die vielfachen Grenzüberschreitungen der Parteien erfordern Gegenmaßnahmen. Inzwischen hat sich in Teilen der Staatsrechtslehre und der Politikwissenschaft ein Wandel der Auffassungen vollzogen Die Auflösung der Gewaltenteilung, die die Parteien bewirken, ruft nach neuen Konzepten. Als Gegenmacht kommt vor allem eine Aktivierung des Volkes selbst in Betracht. In der Tat bildet die Sorge über die unkontrollierte Macht der Parteien (neben sonstigen Gründen) einen wichtigen Ausgangspunkt für die Forderung nach direkter Demokratie, die in den letzten Jahren zunehmend Gewicht erhalten hat.

Das Grundgesetz ist allerdings äußerst zurückhaltend gegenüber allen Formen der direkten Demokratie, sowohl bei der Verfassungsgebung als auch bei der normalen Gesetzgebung. Beide Ebenen sind in Art. 20 Abs. 2 GG angesprochen, wo es heißt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

1. Verfassungsgebung

Auf die Verfassungsgebung des Volkes wird in Art. 20 Abs. 2 Satz 1, aber auch in der Präambel und in Art. 146 als Schlußvorschrift des Grundgesetzes Bezug genommen.

Die Schaffung der Verfassung als der normativen Grundlage des Staates geschieht im allgemeinen dadurch, daß das Volk eine „verfassungsgebende Versammlung“ beruft und sodann über deren Verfassungsentwurf durch Volksabstimmung entscheidet. So sind die in den Jahren 1946 und 1947 erlassenen Verfassungen der Länder der späteren Bundesrepublik regelmäßig von Versammlungen beschlossen worden, die zu diesem Zweck direkt vom Volk gewählt worden waren. Auch wurden sie vor ihrem Inkrafttreten Volksabstimmungen unterzogen. Demgegenüber war der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz 1948/49 unter erheblicher Einflußnahme der westlichen Besatzungsmächte ausarbeitete, nicht direkt vom Volk, sondern von den Landesparlamenten gewählt worden, und das Grundgesetz wurde auch nicht durch Volksabstimmung, sondern nach Artikel 144 GG lediglich von den Landtagen bestätigt, die zu diesem Zweck aber gar nicht gewählt worden waren. Daß dieses Defizit an demokratischer Legitimität durch die hohe Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen geheilt worden sein soll, wie die Literatur häufig meint, erscheint Ausdruck einer etwas fraglichen Logik. Bei den Bundestagswahlen steht die Entscheidung zwischen bestimmten Parteien, nicht aber für oder gegen das Grundgesetz zur Debatte.

Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß das Grundgesetz nach mehr als 40 Jahren weitgehende Anerkennung in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hat; es besteht ein hohes Maß an grundsätzlichem Verfassungskonsens. Die Legitimationsfrage wird erst wieder massiv gestellt, seitdem die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR in realistische Nähe gerückt ist. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz bewußt nicht „Verfassung“ nannte, weil er es lediglich als Provisorium verstand, sah für den Fall der Vereinigung des „gesamten Deutschen Volkes“, die in der Präambel zum Staatsziel erklärt wurde, in seinem letzten Artikel (Art. 146) vor, das Grundgesetz verliere „seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Darunter versteht die Staatsrechtslehre im allgemeinen eine Verfassungsgebung durch eine zu diesem Zweck direkt gewählte Versammlung und/oder Annahme durch Volksabstimmung Für die Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR gibt es allerdings auch den Weg des Art. 23 GG, nach dem das Grundgesetz nach Beitritt anderer Teile Deutschlands dort „in Kraft zu setzen ist“. Die in Art. 146 GG vorgesehene gesamtdeutsche Verfassungsgebung ist also nicht Voraussetzung der Wiedervereinigung. Sie kann ihr auch nachfolgen. Welcher Weg vorzuziehen ist, und ob überhaupt eine verfassungsgebende Versammlung einberufen werden sollte, ist eine Frage, die derzeit in der Staatsrechtslehre heftig diskutiert wird.

2. Direkte Demokratie

a) Überblick

Von der Ebene der Verfassungsgebung zu trennen ist der Einfluß des Bürgers auf der Grundlage der gegebenen Verfassung. Auch hier ist das Grundgesetz von großer Zurückhaltung gegenüber allen Formen der direkten Demokratie. Es spricht zwar in Art. 20 von Wahlen und Abstimmungen. In Wahrheit ist der Staatsbürger nach dem Grundgesetz aber auf Wahlen beschränkt. Er hat nur den Bundestag unmittelbar zu wählen. Eine Direktwahl anderer Repräsentanten, etwa des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten, findet nicht statt. Und eine unmittelbare Entscheidung über Sachfragen („Abstimmung“) ist dem Bundesvolk — abgesehen vom Sonderfall der Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29, 118 GG) — schon gar nicht eröffnet. Dagegen sehen die Verfassungen der meisten Bundesländer — ergänzend zur normalen Parlaments-gesetzgebung — eine voll ausgebaute Volksgesetzgebung durch Volksbegehren und Volksentscheid vor (allerdings bleiben drei Bereiche regelmäßig von der Volksgesetzgebung ausgeschlossen: der Staatshaushalt, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen)

Auf der gemeindlichen Ebene ist das Erscheinungsbild überraschend uneinheitlich Die weitestgehenden unmittelbaren Einwirkungsrechte gibt Baden-Württemberg seinen Gemeindebürgern. Das baden-württembergische Gemeinderecht sieht — neben der Direktwahl des Rates mit der Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens — zweierlei vor: — Den Bürgerentscheid als baden-württembergische Errungenschaft, die jüngst Schleswig-Holstein übernommen und auch auf die Kreise ausgedehnt hat; — die direkte Volkswahl des Bürgermeisters, die es sonst nur noch in Bayern gibt (wo als einzigem Land auch der Landrat direkt vom Kreisvolk gewählt wird); in anderen Ländern werden Verwaltungschef und Ratsvorsitzender vom Rat gewählt.

In den Gemeinden anderer Bundesländer sind die Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie weitaus begrenzter.

Die Zurückhaltung gegenüber direkt-demokratischen Formen der Willensbildung in der Bundesrepublik ist wesentlich durch die Reaktion auf den Untergang der Weimarer Republik geprägt. Die Väter des Grundgesetzes suchten, wie Werner Weber formuliert hat, „das in ihren Augen Gefährliche und sozusagen Dämonische an der Weimarer Verfassung zu bannen“ Vor diesem Hintergrund ist die „Prüderie“ des Grundgesetzes (und der nach-grundgesetzlichen Landesverfassungen von Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) gegenüber direkt-demokratischen (über die Wahl des Parlaments hinausgehenden) Elementen zu verstehen. In jüngerer Zeit werden aber auch auf der Bundesebene die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid und die Durchführung konsultativer Volksbefragungen in Politik und Wissenschaft verstärkt diskutiert und befürwortet

b) Beurteilungsmaßstäbe

Eine Würdigung wird allerdings dadurch erschwert, daß eine Grundfrage in der Staatsrechtslehre und der Verfassungstheorie immer noch umstritten ist. Sie betrifft das Verhältnis von Entscheidungen unmittelbar durch das Volk und solchen durch seine Repräsentanten (einschließlich der Parteien). Man muß diese Frage m. E. wie folgt beantworten:

In der Demokratie, in der das Volk Ausgangspunkt und Bezugspunkt aller öffentlichen Gewalt zu sein hat, geben letztlich zwei Kriterien die Beurteilungsmaßstäbe ab: der Grad der möglichen Selbstbestimmung der Bürger, und zwar aller Bürger, und die inhaltliche Richtigkeit der Ergebnisse Direkt-demokratische Entscheidungen erlauben aber einen höheren Grad an Bürgermitwirkung als Entscheidungen von Repräsentanten. Der Bürger hat mehr Möglichkeiten, auf den Inhalt der Entscheidung einzuwirken, als bei Entscheidungen durch Repräsentanten. Deshalb sind Volksentscheide, am Maßstab der Bürgermitwirkung gemessen, den Entscheidungen durch Repräsentanten grundsätzlich vorzuziehen. Deshalb ist auch die Wahl des Bürgermeisters oder eines Staatspräsidenten direkt durch das Volk der indirekten, durch die Volksvertretung vermittelten Wahl grundsätzlich vorzuziehen. Direkt-demokratische Entscheidungen haben einen demokratischen „Mehrwert“.

Das größere demokratische Gewicht direkt-demokratischer Entscheidungen wird auch von allen Beteiligten intuitiv anerkannt. Die direkte Volkswahl verschafft dem süddeutschen Bürgermeister, gleich einer Art.demokratischer Salbung, ein besonderes Maß an Legitimation, und eine direkt vom Volk getroffene Sachentscheidung erscheint von gesteigerter Dignität und besonderem politischen Gewicht. Dieser besondere Rang direkt-demokratischer Äußerungen ist nicht Ausdruck von etwas rein Gefühlsmäßig-Irrationalem, sondern die Widerspiegelung der höchst rational zu begründenden höheren demokratischen Wertigkeit solcher Entscheidungen.

Allerdings ist die Selbstentscheidung des Volkes nicht der alleinige Grundwert in der Demokratie. Daneben tritt, wie schon erwähnt, auch die inhaltliche Richtigkeitserwartung. Geboten ist also ein Vergleich nicht nur anhand des Kriteriums „Intensität der Bürgermitwirkung“, sondern auch anhand des zu erwartenden Maßes an inhaltlicher Richtigkeit. Demokratie ist nicht nur Entscheidung durch das Volk, sondern auch Entscheidung für das Volk. Gegen Volksbegehren und Volksentscheid könnte deshalb als schlüssiger Einwand nur die Behauptung vorgebracht werden, durch sie würde die politische Willensbildung qualitativ verschlechtert. Gegen die Direktwahl der Bürgermeister könnte schlüssig nur eingewandt werden, dadurch würden weniger geeignete Personen an die Spitze der Gemeinde gewählt oder auf andere Weise der Ablauf und die Ergebnisse der gemeindlichen Willensbildung verschlechtert.

Angesichts des feststehenden höheren Grades an demokratischer Mitwirkung, die Direktentscheidungen des Volkes verschaffen, trifft den Gegner allerdings eine gesteigerte Beweislast hinsichtlich des behaupteten geringeren Grades an inhaltlicher Richtigkeit. Besteht Unentschiedenheit in bezug auf die zu erwartende inhaltliche Richtigkeit, so muß die eindeutig größere Mitwirkungskomponente direkt-demokratischer Entscheidungsverfahren grundsätzlich für sie den Ausschlag geben. Es gilt also eine Art verfassungstheoretische Vermutung für den Einbau direkt-demokratischer Institutionen (eine Feststellung, deren kommunalpolitische Brisanz kaum überschätzt werden kann). Diese, wie mir scheint, in einer Demokratie an sich selbstverständliche Feststellung wird in der Praxis dennoch alles andere als selbstverständlich angesehen — die tatsächliche Argumentationslage in der Bundesrepublik ist sogar regelmäßig eine umgekehrte. Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, daß Demokratie, auch auf kommunaler Ebene, in Deutschland nicht von unten erkämpft, sondern von oben „gewährt“ worden ist; vielleicht auch damit, daß unmittelbare Volksrechte geeignet sind, den Einfluß der Repräsentanten (einschließlich der Parteien) zu schmälern, diese aber ihrerseits — zusammen mit den kommunalen Spitzenverbänden, die in der Praxis ja die Verbände der Repräsentanten sind — zentralen Einfluß auf die öffentliche Diskussion haben

c) Volksbegehren und Volksentscheid

Es wird also bei der Beurteilung von Volksentscheid und Volksbegehren (die ohnehin nur als Ergänzung, nicht als Ersetzung der Entscheidungen gewählter Volksvertretungen in Betracht kommen) zu fragen sein, ob das Volk dazu wirklich zu töricht ist und Volksentscheide eine zusammenhängende Politik unmöglich machen, wie die Gegner behaupten, oder ob hier nicht eine überkommene obrigkeitsstaatliche Voreingenommenheit — die dem beschränkten bürgerlichen Untertanenverstand nichts zuzutrauen bereit ist — mit dem Allmachtinteresse der Führungsgruppen der Parteien eine un-heilige Allianz eingegangen ist mit der Folge der Bürgerferne der Parteien und der Parteienverdrossenheit der Bürger. Dabei werden nicht nur die Erfahrungen von Weimar, sondern auch die in den derzeitigen Bundesländern heranzuziehen sein, in denen die Voraussetzungen für ein Volksbegehren allerdings meist drastisch hoch sind, und in den Gemeinden Baden-Württembergs, in denen ebenfalls hohe Barrieren bestehen (die jüngst bei Einführung des Bürgerentscheids in Schleswig-Holstein immerhin gesenkt wurden). Zugleich wäre ein Blick auf Demokratien wie die Schweiz und die Vereinigten Staaten fruchtbar, in denen es Formen direkter Demokratie seit alters gibt.

d) Direktwahl des Bürgermeisters

Auch diejenigen, die gegenüber direkten Sachentscheidungen des Volkes reserviert sind, pflegen dem Volk doch die Fähigkeit zu vernünftigen Personalentscheidungen, also zur Auswahl seiner Repräsentanten, durchaus zu attestieren. Hier erscheint es sinnvoll, den direkt vom Gemeindevolk gewählten süddeutschen Bürgermeister etwas ge-nauer ins Auge zu fassen, weil hier bereits konkrete Erfahrungen vorliegen

Was die Mitwirkungsintensität der Bürger betrifft, so hat die Direktwahl den offensichtlichen Vorzug gegenüber der Wahl durch den Rat, daß sie den Bürgern die Entscheidung über die Person des Gemeindevorstehers selbst in die Hand gibt. Die Volkswahl läßt die Vorstellungen der Bürger über die Eigenschaften, die ihr Bürgermeister haben soll, unbeeinträchtigt zum Zuge kommen. Zugleich pflegt der direkt gewählte Bürgermeister intensiven Kontakt zur Bevölkerung, von der seine Wiederwahl abhängt, zu halten. Aus der unmittelbaren Entscheidung der gesamten Bürgerschaft resultiert ein ausgeprägter Integrationseffekt. Der direkt gewählte Bürgermeister wird eher als Repräsentant der gesamten Gemeinde angesehen als ein von bestimmten Parteien und Fraktionen gewählter Gemeindevorsteher.

Auch die Befürchtung, die Direktwahl werde in Großstädten „demagogische Naturen“ oder „Freibier-Bürgermeister“ zum Zuge kommen lassen, hat sich nach den Erfahrungen in Baden-Württemberg und Bayern nicht bestätigt. Die Wähler haben sehr wohl ein Gespür für qualifizierte Bewerber. Ein kennzeichnendes Merkmal der Direktwahl ist, daß Kandidaten mit Verwaltungspraxis erhöhte Wahl-chancen haben. Die Direktwahl verschafft dem Bürgermeister eine eigenständige Legitimation und stärkt seine Stellung, was wiederum besonders qualifizierte und tatkräftige Persönlichkeiten anzieht. (Daran ist nichts Undemokratisches. Wer meint, Demokratie verlange schwache Repräsentanten, erliegt einem fatalen Irrtum.)

Die Stellung des direkt gewählten Bürgermeisters wird vor allem gegenüber den Parteien gestärkt. In Baden-Württemberg, wo das Wahlrecht den Parteien verbietet, bei der Wahl des Bürgermeisters in Erscheinung zu treten, und wo die Wahl des Bürgermeisters von den Gemeinderatswahlen abgekoppelt ist, ist die Hälfte der Bürgermeister parteilos. Dies wirkt sich bei der Personalpolitik aus. Der direkt gewählte Bürgermeister in Baden-Württemberg braucht auf die Personalwünsche seiner Partei und Fraktion nicht oder doch nur in geringerem Maße einzugehen als der ratsgewählte Gemeinde-vorsteher. Er tut auch gut daran, dies nicht zu tun, weil ihm parteipolitische Ämterpatronage von den Wählern übel angekreidet wird; er würde am Wahltag die Quittung erhalten. Umgekehrt fällt es dem ratsgewählten Gemeindevorsteher, der wiedergewählt werden will, schwer, sich gegen personalpolitische Wünsche seiner Partei zu sperren.

Die starke Stellung des direkt gewählten süddeutschen Bürgermeisters, der zugleich Vorsitzender des Rates und der Ratsausschüsse ist und vor Ablauf seiner regulären Amtszeit nicht abgewählt werden kann, erleichtert ihm seine Koordinationsaufgabe gegenüber den Ausgabenwünschen der Fachpolitiker(und partikularen Interessenten) aller Art. Diese suchen sich mit möglichst umfangreichen Ausgaben für ihr jeweiliges Fachgebiet zu profilieren und sprengen in ihrer Summe leicht die Möglichkeiten der Gemeinde, wenn die auf Koordination bedachten Kräfte (wozu insbesondere der Bürgermeister gehört) zu schwach sind. Es ist das Verdienst Gerhard Banners, des Vorstandes der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung, diese Zusammenhänge seit Beginn der achtziger Jahre in vielen Beiträgen deutlich gemacht und aufgezeigt zu haben, daß der süddeutsche Bürgermeister nicht zuletzt dank seiner Volkswahl zu einer besseren Haushaltspolitik im Interesse des gesamten Gemeinwesens in der Lage ist Den Kontrast bieten die nordrhein-westfälische und die niedersächsische Gemeindeverfassung mit ihren problematischen Resultaten. Die Haushalts-politik ist jedoch nur ein Beispiel für die Fähigkeit des volksgewählten Bürgermeisters, das Gemeindewohl vor dem Überwuchern durch Partikularinteressen zu schützen. Pluralismuskritik und die Thesen vom „Staatsversagen“ haben aufgezeigt, daß die parlamentarische Demokratie Gefahr läuft, zugunsten aktueller Partikularinteressen allgemeine und langfristige Interessen zu vernachlässigen Daraus hat Scharpf die Konsequenz gezogen, der politische Prozeß sei so auszugestalten, daß die „Entscheidungen in relativer Unabhängigkeit von Pressionen der organisierten Interessengruppen . , . durchgesetzt werden können“ und „die Politik . . . gerade aufjene Bedürfnisse, Interessen, Probleme und Konflikte reagieren kann, die innerhalb der pluralistischen Entscheidungsstrukturen nicht ausreichend berücksichtigt werden“ Diesen Anforderungen entspricht der volksgewählte Bürgermeister. Er ist stark genug, jenen Tendenzen im Interesse der Gemeinde als Ganzer wirksam paroli bieten zu können. Er ist als vom Gemeindevolk insgesamt Gewählter, der die Verantwortung für die Gemeinde als Ganze trägt, der Patron des Gemeindewohls. In Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gibt es neuerdings Tendenzen zur Einführung der Direktwahl des Bürgermeisters (der in Nordrhein-Westfalen vorher mit dem Amt des Gemeindedirektors als Verwaltungschef zusammengelegt werden muß). Dies wirkt ermutigend, weil scheinbar Unreformierbares sich nun doch bewegt.

3. Erneuerung der Diskussion

Es gibt gute Gründe, die Diskussion um mehr direkten Einfluß des Volkes (auf Personal-und Sachentscheidungen) auch auf Bundes-und Landes-ebene erneut aufzugreifen: Der extrem antiplebiszitäre Affekt des bundesrepublikanischen Staatsrechts war durch eine Überreaktion auf Weimar geprägt. Neuere Untersuchungen zeigen, daß die damaligen Erfahrungen — entgegen verbreiteten Behauptungen — durchaus nicht negativ waren Die Erkenntnis, daß die Selbstbestimmung des Volkes ein Eigenwert ist (der bei Direktentscheidungen am weitestgehenden realisiert wird) und daß das Volk nicht mehr wie 1945 als erziehungsbedürftiges Mündel dasteht, das Hitler an die Macht gebracht und damit den Weltkrieg und den Holocaust ermöglicht hat, verlangt eine Neubewertung der Alternativen. Die friedliche Revolution in der DDR, diese historische Tat der Befreiung von einem diktatorischen Regime, war ein Akt des Volkes und hat dieser Äußerungsform einen starken Schub an Legitimation vermittelt. Damit stellt sich heute die Frage um so dringender: Soll der Bürger eines einheitlichen Deutschlands auch in Zukunft so weit entmündigt werden, wie dies in der Bundesrepublik bisher der Fall war?

VI. Verfassungsfrage

Die Rolle der Parteien und die Frage der direkten Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes markieren eine Verfassungsfrage par excellence. Letztlich geht es um die uralte Frage, wie die Mächtigen am Machtmißbrauch gehindert und wie sie dazu veranlaßt werden können, ihre Macht im Interesse der Gemeinschaft einzusetzen. Das Verfassungsrecht der Bundesrepublik beruht wesentlich noch auf einer Tradition, welche Parteien in der heutigen Form nicht kannte. Das Grundgesetz hat zwar die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien gebracht, die wirksame Begrenzung ihrer Macht steht aber noch aus

Die verfassungsrechtliche Disziplinierung der Parteien ist keineswegs so utopisch, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Fast alle Beteiligten einschließlich der Politiker und der großen Masse der Parteimitglieder fühlen sich nämlich als Opfer der Gesamtentwicklung, führen sie also nicht etwa zielstrebig herbei, sondern erleiden sie.

Angemessene verfassungsrechtliche Spielregeln würden fast alle Mitglieder des Gemeinwesens besserstellen als vorher. Das sollte gerade in einer Demokratie, deren Hauptqualität ihre stetige Diskussions-und Erneuerungsfähigkeit ist. die Chance erhöhen, ein politisches Klima herzustellen, das der Einführung dringender Neuerungen (und zunächst dem Nachdenken und der Diskussion über sie) günstig ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Richard von Weizsäcker, Krise und Chance unserer Parteiendemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/82, S. 3 (4).

  2. Gerhard Leibholz, Verfassungsrechtliche Stellung und innere Ordnung der Parteien, in: Verhandlungen des 38. Deutschen Juristentages (1950), S. C 10.

  3. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 1958, amtl. Sammlung Bd. 8, S. 51 (63).

  4. Vgl. auch Hans Herbert von Arnim. Die neuen Herren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. März 1990.

  5. Vgl.ders.. Die politischen Parteien, in: Die öffentliche Verwaltung, 1985, S. 593 (601).

  6. Vgl. dazu Michael Stolleis. Parteienstaatlichkeit — Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates?. Berlin-New York 1986, S. 7 (23 ff.); Wilfried Berg. Politisierung der Verwaltung: Instrument der Steuerung oder Fehlsteuerung?. in: Hans Herbert von Arnim/Helmut Klages (Hrsg.). Probleme der staatlichen Steuerung und Fehlsteucrung in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1986. S. 141; Manfred Wichmann. Parteipolitische Patronage, in: Zeitschrift für Beamtenrecht. 1988, S. 365.

  7. Hans Herbert von Arnim. Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980.

  8. Theodor Eschenburg. Ämterpatronage. Stuttgart 1961.

  9. Vgl. z. B. Roland Kirbach. Schon zuviel getan. Der Mann, der die Bonner Parteispendenaffäre ans Licht brachte, in: Die Zeit vom 6. Juli 1984.

  10. Bundestagsdrucksache 11/209 vom 30. April 1987.

  11. Helmut Kohl. Der öffentliche Dienst in der Krise der Parteiendemokratie — Retter. Opfer. Mitschuldiger?. Podiumsdiskussion am 9. Januar 1982. in: Gerhart Rudolf Baum u. a., Politische Parteien und öffentlicher Dienst. Bonn-Stuttgart 1982, S. 178.

  12. Martin Bullinger. Freiheit von Presse. Rundfunk. Film, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.). Handbuch des Staatsrechts. Bd. VI. Heidelberg 1989. S. 667 (700, Rdnr. 92).

  13. Hans Herbert von Arnim. Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland. München 1984. S. 203ff.

  14. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975. Amtliche Sammlung. Bd. 40, S. 296 (327).

  15. Hans Herbert von Arnim, Parteienfinanzierung, Wiesbaden 1982, S. 46 ff.

  16. Ders., Macht macht erfinderisch. Der Diätenfall: ein politisches Lehrstück, Zürich-Osnabrück 1988.

  17. Ders.. Staatliche Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle?, Wiesbaden 1987.

  18. Dazu zuletzt ders., Die neue Parteienfinanzierung. Wiesbaden 1989, S. 103 ff.

  19. Zur Problematik der seit 1. Januar 1989 geltenden Neuregelung: ebd.; Karl-Reinhard Titzck, Verfassungsfragen der Wahlkampfkostenerstattung, Baden-Baden 1990.

  20. H. H. v. Arnim (Anm. 13), S. 44, 508 ff. 413ff., 436ff.,

  21. Dcrs.. Die Öffentlichkeit kommunaler Finanzkontrollberichte als Verfassungsgebot, Wiesbaden 1981.

  22. So für die Einsichtnahme in Protokolle öffentlicher Ratssitzungen in Nordrhein-Westfalen: Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Oktober 1970, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1971, S. 512. Für die Einsichtnahme in Protokolle öffentlicher Kreistagssitzungen: Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 31. Juli 1984, in: Die Öffentliche Verwaltung 1985. S. 165.

  23. H. H. v. Arnim (Anm. 13), S. 316— 325.

  24. Ebd., S. 333 f.

  25. Jörg Lücke, Begründungszwang und Verfassung, Tübingen 1987; Rainer Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot. München 1989. S. 95-104.

  26. H. H. v. Amim (Anm. 13), S. 325-327.

  27. Ebd.. S. 245-251.

  28. Ders.. Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene. in: Die Öffentliche Verwaltung. 1990. S. 85 (87. 96f.).

  29. Ders., Zur Rechtmäßigkeit des „Morbacher Modells“, Rechtsgutachten für die Gemeinde Morbach (Speyerer Arbeitshefte 82), 1987.

  30. Symptomatisch ist. daß die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ihre Jahrestagung 1985 dem Thema „Parteienstaatlichkeit — Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaats?“ gewidmet hat: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Bd. 44. Berlin 1986 mit Beiträgen von Michael Stolleis (S. 7— 45), Heinz Schäffer (S. 46— 82) und Rene A. Rhinow (S. 83— 113) und der Aussprache (S. 114— 168). Vgl. auch Christian Graf von Krockow/Peter Lösche (Hrsg.), Parteien in der Krise, München 1986; Peter Haungs/Eckhard Jesse, Parteien in der Krise?, Köln 1987.

  31. Die Schreibweise ist unterschiedlich. Wir verwenden die in der Präambel des Grundgesetzes gebrauchte Schreibweise mit Genitiv-s.

  32. Zum Ganzen Reinhard Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. Heidelberg 1987, S. 219 (253-257).

  33. Albrecht Weber. Direkte Demokratie im Landesverfassungsrecht. in: Die Öffentliche Verwaltung, 1985. S. 178.

  34. Dazu H. H. v. Arnim (Anm. 28).

  35. Werner Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem. Berlin 19703, S. 9 (19).

  36. Vgl. zuletzt die Beiträge von Hans-Peter Schneider, Peter Steinbach und Rudolf Wassermann in der Zeitschrift Universitas vom März 1990.

  37. Hans Herbert von Arnim. Gemeindliche Selbstverwaltung und Demokratie, in: Archiv des öffentlichen Rechts. 1988. S. 1 (5-14).

  38. Zum Ganzen ders. (Anm. 28), S. 85 (90— 92).

  39. Dazu ders. (Anm. 13), S. 512— 518.

  40. Hans-Georg Wehling/H. -Jörg Siewert, Der Bürgermeisterin Baden-Württemberg, Stuttgart u. a. 1984. Zur Direktwahl auchH. H. v. Arnim (Anm. 28), S. 87, 93 ff.; aus österreichischer Sicht instruktiv Harald Stolzlechner, Die Bürgermeister-Direktwahl — eine Möglichkeit zur Verlebendigung der Gemeindedemokratie?, in: Österreichische Gemeinde-zeitung, (1989) 10, S. 22.

  41. Gerhard Banner, Kommunale Steuerung zwischen Gemeindeordnung und Parteipolitik, in: Die Öffentliche Verwaltung. 1984. S. 64 und öfter.

  42. Hans Herbert von Arnim. Gemeinwohl und Gruppeninteressen. Die Durchsetzungsschwäche allgemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Frankfurt a. M.

  43. Fritz Scharpf. Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970, S. 75.

  44. Otmar Jung. Direkte Demokratie in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1989.

  45. Hans Herbert von Arnim, Staatsversagen: Schicksal oder Herausforderung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/87, S. 17 (27 f.).

Weitere Inhalte

Hans Herbert von Arnim, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, geb. 1939; o. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht und Haushaltsrecht, und Verfassungslehre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; 1968— 1978 Leiter des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler; 1976 Habilitation für Staats-und Verwaltungsrecht, Finanz-und Steuerrecht an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen u. a.: Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt 1977; Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980; Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, München 1984; Volks-wirtschaftspolitik. Eine Einführung, Frankfurt 19855; (zus. mit Dagmar Weinberg) Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1986; Macht macht erfinderisch, Zürich-Osnabrück 1988; Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, Berlin 1989; (Hrsg.) Finanzkontrolle im Wandel, Berlin 1989.