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Zur Übertragbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf Entwicklungsländer | APuZ 30-31/1990 | bpb.de

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APuZ 30-31/1990 Zur Übertragbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf Entwicklungsländer Die laufende Uruguay-Runde des GATT und ihre Bedeutung für die Entwicklungsländer Soziale Auswirkungen der Sparprogramme von Weltbank und IWF in Entwicklungsländern Wirtschaft und Ethik

Zur Übertragbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf Entwicklungsländer

Karl Fasbender/Manfred Holthus

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Zusammenfassung

Reformbestrebungen in Osteuropa und Schuldenkrise der Dritten Welt haben jedermann das Scheitern sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaften wie auch der vielfältigen dirigistisch-interventionistischen Mischformen der Wirtschaftsordnung sichtbar gemacht. Bei der Suche nach neuen Leitbildern ist ein zunehmendes Interesse an der Sozialen Marktwirtschaft feststellbar. Diese Wirtschaftsordnung hat sich mit ihren dezentralen, individuellen, durch Preismechanismen und Wettbewerb koordinierten Planentscheidungen als äußerst effiziente Lösung des Knappheitsproblems erwiesen. Schon aus dieser Dynamik und Leistungsfähigkeit, bei einem Höchstmaß an individueller Gestaltungsfreiheit, gewinnt sie ihre soziale Dimension. Sozial ist diese Wirtschaftsordnung aber auch, weil sie dem Staat zur Aufgabe macht, Schwächen und Marktversagen zu korrigieren und für einen zusätzlichen sozialen Ausgleich zu sorgen. Grundsätzlich sind auch in den Ländern der Dritten Welt die Voraussetzungen für die Einführung dieser Wirtschaftsordnung gegeben. Die Bürger dieser Staaten sind mit Marktprozessen durchaus vertraut, und die meisten der häufig aufgeführten Hemmnisse wie Mangel an dynamischen Unternehmern, nicht ordnungsgerechte Preis-und Einkommensreaktionen der Marktteilnehmer und mangelnde administrative Kapazität erweisen sich bei eingehender Analyse als nicht stichhaltig. Als Kernproblem für einen Ordnungswechsel hat sich die politische Akzeptanz erwiesen, weil er in der Regel für einen Teil der Bevölkerung mit dem Verlust an Privilegien verbunden ist und sich die Vorteile der neuen Ordnung erst nach und nach in der Zukunft zeigen. Eine wachstumsorientierte Gestaltung der sozialen Komponente ist für das Gelingen des Wechsels somit von großer Bedeutung.

Die Reformbestrebungen in den osteuropäischen Staaten sowie in der UdSSR und der Volksrepublik China haben das Scheitern sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaften hinreichend belegt. Ebenso deutlich offenbarten Anfang der achtziger Jahre unerwartete externe Schocks wie die zweite Ölpreiskrise, der Anstieg der Realzinsen, die Stagnation der Weltwirtschaft und der Verfall der Rohstoffpreise sowie die anschließende Verschuldungskrise, daß auch viele Entwicklungsländer in den siebziger Jahren eine unhaltbare Wirtschaftspolitik verfolgt haben. Die grundlegenden gemeinsamen Merkmale der Politik in den am stärksten von der Wirtschaftskrise betroffenen Entwicklungsländern sind:

— ausgeprägte gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte wie große Haushaltsdefizite des dominierenden Staatssektors und hohe Inflationsraten, — verzerrte Wechselkurse sowie Güter-und Faktorpreise, die zu inflexiblen Märkten führten, Fehl-investitionen begünstigten und den Anreiz zur Kapitalaufnahme im Ausland künstlich erhöhten, — eine Außenhandelspolitik, die der Integration der Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft entgegenwirkte und so die Wettbewerbsfähigkeit der Produktion und die Anpassungsflexibilität des Landes senkte,

— hohe Auslandsverschuldung und Kapitalflucht.

Diese Probleme zeigen, daß auch die vielfältigen dirigistisch-interventionistischen Mischformen der Wirtschaftsordnung in der Dritten Welt weder die wirtschaftlichen noch die sozialen Erwartungen erfüllt haben.

Auf der Suche nach Leitbildern ist ein zunehmendes Interesse an der Sozialen Marktwirtschaft, der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland, feststellbar. Von ihrer Wiederaufbauleistung, ihrem wirtschaftlichen Erfolg und ihrer sozialen Stabilität geht eine große Anziehungskraft aus. Häufig wird aber selbst von Befürwortern der Marktwirtschaft noch immer bezweifelt, daß sich die Soziale Marktwirtschaft auf Staaten in der Dritten Welt oder in Osteuropa übertragen läßt. Im folgenden werden daher zunächst ihre Grundprinzipien und -mechanismen dargestellt. Dann wird der Frage nachgegangen, ob sie sich auf Staaten in der Dritten Welt übertragen läßt oder ob Argumente dagegen sprechen, die sich aus Unterschieden in den Entwicklungsniveaus ergeben -

I. Marktwirtschaft: Eine effiziente Lösung des Knappheitsproblems

Eines der Hauptprobleme des menschlichen Daseins besteht in der grundsätzlichen Knappheit derjenigen Güter und Leistungen (Ressourcen), die objektiv und subjektiv für das Überleben erforderlich sind. Während es sich in Gesellschaften, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen, um einen Mangel an Gütern und Leistungen zur Sicherung der elementaren materiellen Grundbedürfnisse handelt, gewinnt in fortgeschrittenen Gesellschaften die relative Knappheit an Gütern des gehobenen Bedarfs oder an immateriellen Gütern (Dienstleistungen) an Bedeutung. Sobald Ressourcen knapp sind, d. h. wenn die Bedarfsmenge die insgesamt verfügbare Menge an Gütern und Dienstleistungen übersteigt, wird es notwendig, Steuerungsmechanismen zu finden, um das aus der Knappheit und der Verwendungskonkurrenz folgende Verteilungsproblem zu lösen. Das gilt für alle Gesellschaftssysteme gleichermaßen. Allen Gesellschaften stellt sich die grundsätzliche Frage, was bei grundsätzlicher Knappheit der Ressourcen wie für wen produziert werden soll. Da sich keine Gesellschaft eine Verschwendung von natürlichen Ressourcen, menschlicher Arbeit und Zeit leisten kann, muß die Überwindung der Knappheit möglichst effizient erfolgen. Die zwei grundverschiedenen Lösungsansätze, die dafür zur Verfügung stehen, sind die Zentralverwaltungswirtschaft (Planwirtschaft) und die Marktwirtschaft.

Zentralverwaltungswirtschaft oder Planwirtschaft bedeutet nicht unbedingt — wenngleich es in diesen Wirtschaftsordnungen die Regel ist — daß staatliehe und halbstaatliche Institutionen als alleinige Anbieter und Nachfrager auftreten und keine Konkurrenz mit privaten Anbietern zugelassen ist. Das entscheidende Element dieser Wirtschaftsordnung ist vielmehr eine zentrale imperative Planung, die das Problem der Zuteilung von Rohstoffen und Vorleistungen sowie die Höhe der Produktion und der Einkommen durch Mengenvorgaben und Preisfestsetzung regelt.

Diese Wirtschaftsordnung ist allerdings — wie die Erfahrungen der letzten 40 Jahre lehren — mit gravierenden Schwächen behaftet. Zum einen fehlen ihr ausreichende Anreize, die überdurchschnittliche Leistung auch besonders belohnen und somit die Basis zur vollständigen Ausschöpfung des Produktionspotentials legen. Zum anderen mangelt es ihr an wirksamen Sanktionsmechanismen, die zu rationalem wirtschaftlichen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen zwingen. Zudem schwindet mit fortschreitender Entwicklung die Planbarkeit ökonomischer Prozesse, da sie zunehmend komplexer werden und für den gleichzeitig steigenden Informationsbedarf kein hinreichend verläßliches und schnelles Informationssystem zur Verfügung steht. Die Folge sind schwerwiegende Mängel in der individuellen Bedürfnisbefriedigung, immer häufigere ökonomische Krisen und schwindender gesellschaftlicher Konsens. Das führt in Verbindung mit den Defiziten an individuellen Freiheiten schließlich zur politischen Destabilisierung.

Die Marktwirtschaft dagegen zeichnet sich dadurch aus, daß die Entscheidungen über die Verwendung knapper Ressourcen dezentral von den einzelnen Konsumenten, Produzenten, Kapitalanbietern und Kapitalnachfragern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern getroffen werden. Koordiniert wird diese Vielzahl individueller Planentscheidungen auf den Güter-und Faktormärkten durch den Preismechanismus und durch den Wettbewerb.

Steigt z. B. die Nachfrage nach einem Gut, so wird es sich verknappen, da die Angebotsmenge nicht sofort erhöht werden kann. Wenn die nachgefragte Menge die angebotene Menge übersteigt, erhöhen sich die Güterpreise. Dieses Knappheitssignal zeigt den Produzenten, daß die Herstellung dieses Gutes attraktiver geworden ist. Sie werden die Produktion des Gutes erhöhen, bis der Nachfrageüberhang abgebaut ist. Es bildet sich ein Gleichgewichtspreis bei dem sich Preis-und Mengenvorstellungen vor Anbietern und Nachfragern entsprechen und dei Markt geräumt wird. Der Preismechanismus informiert die Produzenten schnell und zuverlässig übei die Wünsche von Konsumenten und entscheidet so darüber, was produziert wird.

Der (Preis-) Wettbewerb führt dazu, daß Produzenten eines Gutes, die kostenungühstiger arbeiten als ihre Mitanbieter, langfristig aus dem betreffenden Markt ausscheiden müssen, weil der Preis ihrem langfristigen Stückkostenminimum und damit ihr Gewinn (angemessener Untemehmerlohn plus Kapitalverzinsung) unter dem Branchendurchschnitt liegt oder weil ein Verlust auftritt. Der Wettbewerb entscheidet somit darüber, wie produziert wird und wer der Produzent ist: nämlich die Fabrikanten mit den jeweils kostengünstigsten Produktionsmethoden. Somit besteht ein ständiger Anreiz, neue oder verbesserte Produkte anzubieten (Produktinnovation) sowie den technischen Fortschritt zur Entwicklung kostengünstigerer Produktionsmethoden durchzusetzen (Prozeßinnovation).

Darüber hinaus schützen Preismechanismus und Wettbewerb knappe Ressourcen vor Verschwendung, denn die Produzenten müssen den angestrebten Gewinn mit dem geringsten Mitteleinsatz erreichen. Die Konsumenten wiederum werden ihr begrenztes Einkommen so auf die verschiedenen Güter aufteilen, daß ihnen der höchstmögliche Nutzen aus dem Konsum erwächst.

Preismechanismus und Wettbewerb wirken auch auf den Faktormärkten. Somit bilden sich für die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden Preise in Form von Löhnen, Zinsen, Gewinnen, Mieten und Pachten heraus, die wiederum die relative Knappheit widerspiegeln und für eine Entlohnung der Faktoren nach ihrer Leistung, d. h. nach ihrem relativen Beitrag zur Produktion sorgen (Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung). Preis-mechanismus und Wettbewerb entscheiden somit auch darüber, für wen produziert wird, denn die Einkommen bestimmen die Kaufkraft der Wirtschaftssubjekte und wer mehr leistet, kann sich auch mehr leisten.

II. Die soziale Dimension und die Rolle des Staates

Ohne Zweifel sorgt die Marktwirtschaft mit ihren hoch entwickelten Anreiz-und Sanktionsmechanismen für einen effizienten Einsatz der knappen Produktionsfaktoren und für ein Höchstmaß an Güter-versorgung und Bedürfnisbefriedigung. In ihrer Entwicklungsdynamik, ihrer hohen Anpassungsflexibilität auf veränderte Verbraucherwünsche, ist sie der Zentralverwaltungswirtschaft oder ähnlichen Systemen weit überlegen. Die Marktwirtschaft hat dem gemeinen Bürger der Länder, die diese Ordnung praktizieren, einen Wohlstand gebracht, der früher unvorstellbar war. Die hohe Güterproduktion und ihre Orientierung am Verbrauch ist die erste und vermutlich wichtigste soziale Leistung der Marktwirtschaft. Diese Leistung ist im eigentlichen Sinne sozial, weil sie auf freiwillig eingegangenen Transaktionen beruht, von denen sich die beteiligten freien und mündigen Personen eine Verbesserung ihrer Lage versprechen. Anders als in der Marktwirtschaft kapitalistischer Prägung, wird dem Staat in der Sozialen Marktwirtschaft durch einen eingegangenen Gesellschaftsvertrag (Demokratie) eine aktive Rolle aufgetragen. Diese Staatsfunktionen begründen die zweite soziale Leistung dieser Wirtschaftsordnung: 1. Festlegung und Sicherung der Rechtsordnung Leistungs-und Risikobereitschaft kommen nur zum Tragen, wenn bestimmte individuelle Freiheiten und Rechte verläßlich gesichert sind. Zu diesen Freiheiten zählen das Recht auf und die Dispositionsfreiheit über privates Eigentum, die private Haftung mit diesem Eigentum, Berufs-, Gewerbe-, Vertrags-und Koalitionsfreiheit sowie Tarifautonomie. Dabei hat der Rechtsrahmen diesen individuellen Freiheiten dort Grenzen zu setzen, wo die individuellen Rechte und Freiheiten anderer eingeschränkt werden. 2. Aufrechterhaltung des Wettbewerbs Die Sanktionswirkungen von Wettbewerb und Preismechanismus liefern den Marktteilnehmern einen Anreiz, den Wettbewerb durch Einigung mit den Konkurrenten oder durch deren Ausschaltung zu beschränken oder zu beseitigen. Die marktwirtschaftliche Ordnung unterliegt der Gefahr der Selbstauflösung. Dem Staat fällt die Aufgabe zu, durch entsprechende gesetzliche Vorschriften wie z. B. einem Kartellverbot, einer Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen und einer Fusionskontrolle den Wettbewerb funktionsfähig zu halten. Diesem Ziel dient auch das Offen-halten der Grenzen für einen freien Waren-, Dienstleistungs-und Kapitalverkehr mit dem Ausland. 3. Korrektur von Marktversagen Die Marktwirtschaft kann nicht automatisch alle Bedürfnisse der Wirtschaftssubjekte befriedigen. Dieses partielle Marktversagen muß durch die staatliche Wirtschaftspolitik korrigiert werden. Marktversagen tritt zum Beispiel bei positiven externen Effekten auf, d. h. wenn es mehr oder weniger unmöglich ist, die unentgeltliche Nutzung eines zu produzierenden Gutes auszuschließen. Dann unterbleibt dessen Herstellung ganz oder erfolgt in unbefriedigendem Umfang. Diese Versorgungslükken muß der Staat entweder durch die Bereitstellung öffentlicher Güter wie innere und äußere Sicherheit, Verkehrsinfrastruktur, Bildung und Grundlagenforschung etc. oder über die Durchset5 zung des Ausschlußprinzips, wie z. B. beim Patent-recht, zu schließen trachten.

Marktversagen tritt aber auch bei negativen externen Effekten auf, d. h. wenn Ressourcen wie die Umwelt unentgeltlich genutzt werden können. Es kommt zu gesamtwirtschaftlich ineffizienter Über-produktion und -konsumtion. In diesen Fällen muß der Staat durch Setzen von Standards und Beeinflussung des Preisbildungsprozesses durch Steuern und Abgaben dafür sorgen, daß sich die Umwelt-schäden in den Produktions-und Nutzungskosten niederschlagen.

Die Erfahrung lehrt zudem, daß die wirtschaftliche Entwicklung nicht automatisch schwankungsfrei verläuft, sondern immer wieder Inflation, Arbeitslosigkeit, außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und sinkendes Wirtschaftswachstum auftreten. In der Sozialen Marktwirtschaft werden daher wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates für erforderlich gehalten, die inflationäre Prozesse vermeiden (Stabilitätspolitik), die Rahmenbedingungen für Investitionen und technischen Fortschritt verbessern und Hemmnisse für den Strukturwandel beseitigen sollen (Wachstums-und Strukturpolitik). 4. Sozialer Ausgleich In der Sozialen Marktwirtschaft hat jeder einzelne nicht nur das Recht auf freie Berufs-und Arbeitsplatzwahl, sondern auch die Pflicht zu eigenverantwortlicher Daseinsfürsorge (Subsidiaritätsprinzip). Die durch den Staat gesicherte oder verbesserte Effizienz der Marktwirtschaft schafft dafür die Voraussetzung. Der Staat ist nach dieser Konzeption verpflichtet, für besondere Lebenssituationen, in denen der einzelne nicht oder nur eingeschränkt durch eigene Leistung für sich zu sorgen vermag, wie bei Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit und natürlicher Benachteiligung, für einen sozialen Ausgleich zu sorgen. Bei Lebensrisiken, deren Absicherung durch Versicherung möglich ist, genügt die Einführung einer Versicherungspflicht. Nur in Fällen, in denen Eigenvorsorge und Versicherung nicht möglich sind, hat der Staat nach dem Solidaritätsprinzip direkt Versorgungs-und Fürsorgepflichten zu übernehmen, damit auch die Existenz einkommensschwacher Bevölkerungsschichten gesichert wird.

Zur sozialen Ausgleichspflicht des Staates gehört auch die Korrektur der Einkommensverteilung. Zwar regelt sich die Entlohnung der Produktionsfaktoren durch Preismechanismus und Wettbewerb auf den Faktormärkten, die personelle Einkommensverteilung wird jedoch erheblich von der Vermögensverteilung (d. h. vom Besitz an Produktionsfaktoren) beeinflußt, die sich im Zeitverlauf auch unabhängig von der eigenen Leistung (z. B. durch Erbschaft) stark verändern kann. Für die not-B wendige Korrektur der Verteilung steht mit der Besteuerung, direkten und indirekten Einkommensübertragungen, Vermögensbildungsmaßnahmen und bildungspolitischen Maßnahmen zur Verbesserung der Startchancen ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung.

Die Wirtschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft wird langfristig nur akzeptiert, wenn durch die genannten Staatsfunktionen der soziale Ausgleich herbeigeführt wird. Das kann auf Dauer nur gelingen, wenn die Effizienz dieser Ordnung nicht durch das Bestreben nach sozialem Ausgleich mehr und mehr verringert wird, denn nur was an Gütern und Leistungen produziert wird, steht für die Umverteilung zur Verfügung.

Die Erfüllung der genannten Staatsfunktionen ist unbestreitbar notwendig, denn sie dienen wie insbesondere Wettbewerbs-, Stabilitäts-und Wachstumspolitik auch der Verbesserung der Effizienz. Ebenso unbestreitbar ist jedoch, daß Parteien, Regierungen und Bürokratien ausgeprägte Eigeninteressen verfolgen, zu denen vor allem das Streben nach Erhalt und Ausbau von Macht sowie nach Hebung des sozialen Ansehens und die Verfolgung ideologischer Ziele gehören. Es ist somit keinesfalls sicher, daß tatsächlich Marktversagen die Ursache für die Forderung nach staatlicher Aktivität ist. Ebenso unsicher ist, daß staatliche Eingriffe ein besseres soziales Ergebnis herbeiführen, wenn das Marktergebnis unbefriedigend ist.

Für die Erhaltung der Effizienz bei gleichzeitiger t Herstellung eines sozialen Ausgleichs ist somit die Sicherung des Minimalstaatsprinzips von entscheidender Bedeutung. Danach unterliegt der Staat für i sein Handeln einem permanenten Rechtfertigungszwang. Er ist zudem gehalten, nach Maßnahmen zu suchen, die marktkonform sind, d. h.den Markt-mechanismus nicht oder so wenig wie möglich stö-i ren.

Soziale Marktwirtschaft erfordert die institutioneile Absicherung des Minimalsstaatsprinzips, damit i Marktversagen nicht durch Staatsversagen ersetzt : wird. Die Erfahrungen der Bundesrepublik Deutschland lehren, daß die Dezentralisierung staatlicher Macht und die Errichtung öffentlicher Institutionen, die innerhalb eines vorgegebenen gesetzlichen Rahmens, der nur unter sehr eingeschränkten Umständen verändert werden kann, selbständig bestimmte Staatsfunktionen ausüben, sich als effizient erwiesen haben, die staatlichen 1 Aktivitäten weitgehend von Gruppeninteressen freizuhalten. Als Beispiele seien die Schaffung einer weitgehend unabhängigen Zentralbank, eines Kartellamtes und einer Monopolkommission genannt.

III. Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitische Alternative

In den meisten Entwicklungsländern ist die ordnungspolitische Ausgangssituation wesentlich differenzierter als in den — ehemals ideologisch geprägten — Staatswirtschaften Osteuropas. Da die Wahl der Wirtschaftsordnung, also der gesetzten Rahmenbedingungen für ein planvolles und koordiniertes Handeln aller Wirtschaftssubjekte, die Aufgabe eines jeden Staates ist und zudem die wirtschaftsund sozialpolitischen Ausgangsbedingungen von Land zu Land variieren, ist ein breiter Ordnungspluralismus zu verzeichnen. Hierzu trägt auch bei, daß ein Teil der Entwicklungsländer zwar sozialistischem Gedankengut skeptisch gegenübersteht, staatliche Dirigismen aber als wesentliches Instrument der Wirtschaftspolitik ansieht.

Dementsprechend ist auch die Relation von Elementen „dezentraler Marktmechanismen“ und „zentraler Leitung“ von Staat zu Staat unterschiedlich und oftmals auch innerhalb der Volkswirtschaften im Zeitablauf Änderungen unterworfen. Die meisten Entwicklungsländer haben eine „gemischtwirtschaftliche“ Ordnung mit einem unterschiedlichen, in der Regel aber relativ hohen staatlichen Interventionsgrad. Eine eindeutige Klassifizierung der Entwicklungsländer nach einem der beiden Wirtschaftsmodelle ist somit nur schwer möglich

Wird der Einfachheit halber nach vorwiegend marktwirtschaftlichen oder zentralverwaltungswirtschaftlichen Staaten unterschieden, so bleibt festzuhalten, daß vorwiegend marktwirtschaftliche Entwicklungsländer, in denen der Preismechanismus auf den Märkten die Signalfunktion sowie in Verbindung mit dem Wettbewerb die Anreiz-, Sanktions-und Verteilungsfunktionen aufgabengerecht erfüllen kann, ihre wirtschaftlichen Probleme besser gelöst haben als vergleichbare, vorwiegend zentralverwaltungswirtschaftlich orientierte Staaten. Auch haben marktwirtschaftlich orientierte Staaten in der Regel höhere Wachstumsraten zu verzeichnen. Lediglich bei ausgesprochen unterentwickelten Staaten — mit geringer Arbeitsteilung — sind I keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Wirtschaftsordnungen feststellbar. Die Streubreite — dieser auf empirischen Untersuchungen basierenden Aussage unterstreicht aber die Bedeutung der Ausgestaltung der jeweiligen marktwirtschaftlichen Ordnung.

Der dezentrale Lenkungsmechanismus einer Marktwirtschaft ist in der Regel der zentralen Lenkung interventionistischer Wirtschaftssysteme in der komplexen Realität der Volkswirtschaften der Entwicklungsländer ökonomisch erheblich überlegen Viele Entwicklungsländer sozialistischer und privatwirtschaftlicher Prägung stehen daher ebenso wie sozialistische Industriestaaten einer stärker marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirtschaftsordnung aufgeschlossener als früher gegenüber. Hierzu trägt auch bei, daß viele der Vielvölkerstaaten sich innenpolitisch inzwischen so weit stabilisiert haben, daß sie eine zentrale Willensbildung und Wirtschaftslenkung, die sie lange Zeit als notwendiges Instrument des „nation building“ ansahen, nicht mehr als unabdingbar erachten. Allerdings bestehen auch gegenüber einer reinen Marktwirtschaft — verstanden als Laissez-faire-Kapitalismus — vielfach erhebliche Vorbehalte, weil durch Wachstum allein die sozialpolitisch erforderlichen Sickereffekte (trickle down und spread effects) vielfach nicht einzutreten scheinen.

Als Alternative zu Zentralverwaltungswirtschaft und reiner Marktwirtschaft wird von Entwicklungsökonomen der Dritten Welt daher zunehmend die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland analysiert. Wenn die deutsche Wirtschaftsordnung auch für Entwicklungsländer steigende Attraktivität besitzt, ist an dieser Stelle — um Mißverständnissen vorzubeugen — hervorzuheben, daß sich entsprechende Analysen nur auf die grundsätzliche Eignung und Übertragbarkeit beziehen können. Die pauschale Übernahme eines Ordnungsmodells in eine andere Volkswirtschaft ist — falls überhaupt möglich — kaum sinnvoll. Stets müssen die länderspezifischen kulturellen, sozialen und ethnischen Wertvorstellungen sowie das sich im Zeitverlauf ändernde Entwicklungsniveau Berücksichtigung finden.

Grundsätzlich sind nach Ansicht von Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard, die zu den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft zählen, auch in Entwicklungsländern die Grundvoraussetzungen für die Einführung dieser Wirtschaftsordnung gegeben. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Mobilisierungsfunktion sei diese Ordnung für die Länder der Dritten Welt sogar besonders geeignet. Für diese Eignung spreche unter anderem, daß sich in allen Staaten, unabhängig vom Reifegrad derjeweiligen Volkswirtschaft, die gleichen Grundprobleme stellen. Stets gehe es um die gleiche ökonomische Aufgabe, die Knappheit der Güter des menschlichen Bedarfs effizient zu vermindern. Auch sei die „grundsätzliche Vertrautheit mit Marktprozessen“ als wesentliche Voraussetzung für die Einführung dieser Wirtschaftsordnung gegeben. Dies unterstreiche bereits die Tatsache, daß — historisch gesehen — die meisten Entwicklungsländer unterentwickelte Marktwirtschaften ohne zentrale Staatsgewalt mit verbindlichen Wirtschaftsplänen gewesen seien

Die grundsätzliche Vertrautheit mit Marktprozessen ist inzwischen in zahlreichen Entwicklungsländern festgestellt worden und dürfte auch in zentralverwaltungswirtschaftlich orientierten Staaten gegeben sein. Dafür sprechen nicht zuletzt die Märkte des informellen Sektors, der zwar zur Versorgung beiträgt, aber nicht in das Bruttoinlandsprodukt eingeht sowie die Schwarzmärkte für Kapital, Güter und Dienstleistungen. Auch ist die Anreizfunktion funktionsfähiger Märkte, beispielsweise für die Mobilisierung privater Ressourcen und zur Einführung neuer Technologien, inzwischen für Entwicklungsländer weitgehend unbestritten.

Ferner werden in den Verfassungen der meisten Staaten der Dritten Welt — nach R. Clapham — die für eine Marktwirtschaft wesentlichen wirtschaftlichen Grundrechte gewährleistet, wie „persönliches Eigentumsrecht, Freiheit der Arbeit (Schutz vor Zwangsarbeit), Freiheit der Berufswahl und Berufsausbildung, Gewerbefreiheit, Koalitionsfreiheit, freie Mobilität, Niederlassungsfreiheit und Freiheit der Erziehung“ Auch die „Sozialstaatlichkeit“ ist vielfach verfassungsmäßig vorgegeben. Die traditionellen und religiösen Stammesrechte erfüllen zwar meist nicht die Anforderungen einer modernen Marktwirtschaft, stehen ihnen in der Regel aber auch nicht entgegen Die Verankerung in der Verfassung bedeutet allerdings nicht immer, daß diese Rechte in der Realität materiell gesichert sind.

IV. Potentielle Hemmnisse für die Übertragung der marktwirtschaftlichen Ordnung

Die These der grundsätzlichen Übertragbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft wird zwar weitgehend für fortgeschrittene Entwicklungsländer, nur bedingt aber für Staaten mit relativ niedrigem Entwicklungsniveau anerkannt. Kritiker heben vor allem folgende Hemmnisse hervor 1. Mangel an dynamischen Unternehmern Befürchtet wird für viele Länder ein Mangel an dynamischen Unternehmern, die Marktchancen rechtzeitig erkennen und diese durch effizienten Ressourceneinsatz, Einführung neuer Technologien und durch Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen auf eigenes Risiko nutzen. Soweit Unternehmer vorhanden sind, seien sie an der Nutzung kurzfristiger Gewinnchancen (Basarkapitalismus), nicht aber an entwicklungspolitisch erforderlichen langfristigen Kapitalanlagen interessiert.

Empirische Untersuchungen, nicht nur in marktwirtschaftlich orientierten Entwicklungsländern, belegen allerdings, daß das Fehlen von Unternehmern in der Regel nicht das entscheidende Problem ist. Dies gilt auch für afrikanische Staaten — wie Tansania und Ghana —, die oft als Beispiel für fehlendes Unternehmertum genannt werden. Mangelnde unternehmerische Initiative entsteht vielmehr aufgrund fehlender Rechtssicherheit, politischer Instabilität und mangelhafter Rahmenbedingungen, wie Preisverzerrungen und Wettbewerbs-beschränkungen. Unternehmer, die unter derartigen Voraussetzungen kurzfristige Kapitalanlagen mit schnellen Gewinnchancen und geringem Risiko bevorzugen, verhalten sich durchaus rational.

Insgesamt läßt sich feststellen, daß dynamische Unternehmer zwar knapp, aber latent vorhanden sind. Der Mangel an unternehmerischen Kapazitäten ist nicht Ursache, sondern Folge dirigistischer Markt-eingriffe. 2. Preis-und Einkommensreaktionen Gegen die Brauchbarkeit marktwirtschaftlich orientierter Wirtschaftsordnungen in Entwicklungsländern wird oftmals argumentiert, daß sich die Produzenten nicht marktgerecht verhielten. So würden beispielsweise bei positiven Preis-und Einkommenserwartungen die Marktchancen nicht durch entsprechende Ausweitung der Produktion genutzt. Ein derartiges, nicht am Markt orientiertes Verhalten ist empirisch nachweisbar für einige — meist räumlich und ethnisch begrenzte — Regionen mit vorwiegend auf Subsistenz ausgerichteter Wirtschaft; es ist aber nicht die Regel. Im Gegenteil: Bei einem Großteil der Kleinbauern, die oft als Beispiel für nicht marktgerechtes Verhalten erwähnt werden, wurden positive Preiselastizitäten der Produktion empirisch nachgewiesen. Demzufolge ist auch die unzureichende Agrarproduktion vieler Entwicklungsländer nicht zuletzt auf die Niedrigpreispolitik — zugunsten städtischer und industrieller Nachfrager — zurückzuführen. Die Reaktion der Produzenten auf nicht den Knappheitsverhältnissen entsprechende Preise stellt daher für Planwirtschaften oftmals ein größeres Problem dar als das Nicht-Reagieren von Unternehmen auf Preissignale in marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsordnungen. 3. Administrative Hemmnisse Auch im Rahmen einer Marktwirtschaft, vermehrt in einer Sozialen Marktwirtschaft, hat der Staat wesentliche Wachstums-, stabilitäts-, beschäftigungs-und sozialpolitische Aufgaben zu erfüllen, um die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft zu erhalten und zu fördern. Diese Aufgaben — so meinen Skeptiker — könnten von den meisten Entwicklungsländern noch nicht wahrgenommen werden. Dies gelte vor allem für die Finanz-, Geld-und Wettbewerbspolitik. Übersehen wird dabei, daß eine Zentralverwaltungswirtschaft wesentlich höhere Anforderungen an Regierung und Administration stellt als eine Marktwirtschaft. Hinzu kommt, daß beim Übergang in eine dezentrale Wirtschaftsordnung erhebliche Plankosten und hochqualifizierte Fachkräfte freigesetzt werden und in den für eine Marktwirtschaft wichtigen Politikbereichen eingesetzt werden können. Voraussetzung ist allerdings eine handlungsfähige Regierung. Diese ist jedoch für jede Wirtschaftsordnung unabdingbar. 4. Übertragbarkeit marktwirtschaftlicher Elemente Insgesamt läßt sich feststellen, daß die, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aufgeführten Hemmnisse eine verstärkt marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftsordnung durchaus erschweren können. Hervorzuheben ist jedoch auch, daß diese Probleme, durch adäquate Rahmenbedingungen und geeignete Maßnahmen, vor allem im Bereich der Aus-und Fortbildung, gelöst werden können. Trotz vieler Hemmnisse dürften die Grundvoraussetzungen für eine marktwirtschaftliche Ordnung auch in Entwicklungsländern mit relativ niedrigem Wirtschaftsniveau gegeben sein, nach D. Lösch sogar eher als für eine Zentralverwaltungs-bzw. Planwirtschaft: „Die Menschen verhalten sich nutzenmaximierend, zumindest rudimentäre Märkte sind vorhanden. Den knappen Faktor höherer administrativer Qualifikationen setzt der Staat daher zweckmäßigerweise primär dafür ein, mit ordnungs-und prozeßpolitischen Maßnahmen für die Funktionsfähigkeit eines marktwirtschaftlichen Systems zu sorgen; nur da, wo Märkte tatsächlich nicht funktionieren — und es wird sich zeigen, daß dies auch in Entwicklungsländern in viel geringerem Umfang der Fall ist, als vielfach behauptet wird —, ist es sinnvoll, wenn der Staat selbst planend, lenkend oder leitend in die Wirtschaft eingreift.“

V. Politische Akzeptanz — Kernproblem eines wirtschaftlichen Ordnungswechsels

Wesentlicher als die skizzierten Hemmnisse dürfte für die Einführung der Marktwirtschaft — wie für jeden Wechsel einer Wirtschaftsordnung — ihre Akzeptanz durch die politischen und sozialen Gruppen des jeweiligen Staates sein. Ohne die Bereitschaft, die neue Wirtschaftsordnung mitzutragen, fehlt die besonders in der Übergangsphase erforderliche Motivation zur Leistungs-und Produktivitätssteigerung sowie das erforderliche Vertrauen in eine konsistente Wirtschaftspolitik. Abgesehen davon wird eine demokratische Regierung kaum in der Lage sein, gegen den erklärten Widerstand der wichtigsten sozialen Gruppen eine neue Wirtschaftsordnung erfolgreich durchzusetzen. So unterstreicht R. Shams beispielsweise im Hinblick auf Reformaussichten in Jamaika: „Die entscheidende Frage für die Zukunft . . . bleibt, ob ein politischer Konsens über die Wirtschaftsordnung und die Fortführung von Wirtschaftsreformen zur Herbeiführung und Sicherung einer solchen Ordnung erzielt werden kann.“ Die Interessenlagen sind sicherlich länderspezifisch unterschiedlich, lassen sich aber verallgemeinernd darstellen.

In der Regel dürfte die ländliche Bevölkerung — die oft einen Großteil der Bevölkerung ausmacht — bereits kurz-und mittelfristig von der dezentralen Wirtschaftsordnung begünstigt werden. Dafür spricht beispielsweise der mit der Reduzierung von Preisverzerrungen in vielen Staaten — vor allem in Afrika — verbundene Abbau der Niedrigpreispolitik für landwirtschaftliche Erzeugnisse. In diesen Fällen kann die erforderliche Akzeptanz unterstellt werden. Anders verhält es sich dagegen in den wenigen Staaten wie der Türkei, in denen der Agrarsektor überproportional gefördert wurde.

Die städtischen Bevölkerungsgruppen, vor allem die Industriearbeiter, dürften dagegen erst mittel-oder längerfristig an den positiven Wirkungen des Politikwechsels teilhaben. In der Übergangsphase haben sie durch den Abbau der Preissubventionen für Güter des täglichen Bedarfs Realeinkommensverluste zu erwarten. Hinzu kommt, daß durch die Strukturanpassungen in der Industrie Arbeitskräfte freigesetzt werden, Beschäftigungserfolge dieser Politik aber erst nach unterschiedlich langen Anpassungsperioden eintreten werden. In diesen Fällen dürfte die Akzeptanzbereitschaft der oftmals politisch besonders starken sozialen Gruppen wesentlich von der Ausgestaltung der Strukturanpassungsmaßnahmen und ihrer sozialen Abfederung abhängig sein. Wie wichtig letzteres sein kann, dokumentierten beispielsweise in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die politischen Unruhen in den Städten verschiedener arabischer Staaten als Antwort auf Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln. Fast immer führten sie zur Reduzierung der verordneten Preissteigerungen

Die meisten Unternehmer dürften von den mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung verbundenen Liberalisierungs-und Deregulierungsmaßnahmen sowie von den Anreizen zur Leistungssteigerung und zur Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen für den Entwicklungsprozeß profitieren. Abgesehen davon ist die Interessenlage der Unternehmer aber äußerst differenziert. Importorientierte Unternehmen werden von dem Abbau überbewerteter Währungen benachteiligt, exportorientierte Betriebe dagegen begünstigt. Unternehmen, die bisher kaum dem Druck durch in-und ausländischen Wettbewerb ausgesetzt waren, sehen sich zunehmender Konkurrenz nationaler Mitbewerber und dem „kühlen Hauch des Freihandels“ (List) ausgesetzt. Die Akzeptanzbereitschaft der Unternehmen dürfte wesentlich von der Ausgestaltung der ordnungspolitischen Maßnahmen abhängen. Die aus Sicht der Betroffenen unzureichende oder falsche Ausgestaltung ordnungspolitischer Gesetze kann notwendige Reformen in wichtigen Teilbereichen behindern oder gar unmöglich machen. So scheiterte beispielsweise 1980 in der Türkei die Steuerreform am gemeinsamen Widerstand von Klein-und Großbauern, Selbständigen und Industriellen. Ähnlich erging es der Stabilisierungspolitik, die von den Gewerkschaften entschieden bekämpft wurde. Das Beispiel Türkei unterstreicht aber auch, daß durch Nutzung von Kenntnissen und Erfahrung der Interessenverbände erheblich zur Praxisorientierung und Effizienzsteigerung von Entwicklungsmaßnahmen beigetragen werden konnte. Nicht zuletzt führte die Partizipation wichtiger Interessengruppen an der Konzipierung ordnungspolitischer Maßnahmen dazu, daß beispielsweise die Verbände von Landwirtschaft, Industrie und Handel von Gegnern zu Befürwortern der Liberalisierungspolitik wurden

VI. Ordnungswechsel und das soziale Element

Eng verbunden mit der Akzeptanzproblematik ist die soziale Komponente der Marktwirtschaft, vor allem in der Phase des Ordnungswechsels. Der bereits beschriebene Zusammenhang zwischen Effizienz und sozialer Absicherung ist kein Phänomen hochentwickelter Industrieländer. Auch in der Dritten Welt muß das für den sozialen Ausgleich erforderliche Finanzvolumen zunächst erwirtschaftet werden. „Die beste Sozialpolitik kann zu keinem befriedigenden Erfolg führen, wenn die Produktivität der menschlichen Arbeit gering ist. Die Herstellung eines funktionsfähigen Systems zur Lenkung der arbeitsteiligen Wirtschaftsweise ist daher die wichtigste Voraussetzung für die Lösung aller sozialen Probleme.“

In der Dritten Welt hat die soziale Problematik allerdings eine andere Dimension. In vielen Entwicklungsländern umfaßt die Zahl der absolut Armen 30— 60 Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommt, daß die sozialen Sickereffekte in der Dritten Welt oftmals langsamer als erwartet und nicht im politisch vertretbaren Ausmaß wirksam werden. Auch ist die zur Verfügung stehende Verteilungsmasse aufgrund der niedrigen Arbeitsproduktivität äußerst gering.

Eine Sozialhilfepolitik im Rahmen einer Einkommensumverteilung kommt daher — aus eigener Kraft — nur im begrenzten Maße in Betracht oder würde durch Umwandlung von Investitionskapital in konsumtive Mittel eine Reduzierung der künftigen Umverteilungsmasse bedingen. Dieser Zusammenhang trifft insbesondere die Entwicklungsländer mit relativ niedrigen Durchschnittseinkommen.

Somit ist der Wachstumsorientierung der Sozialpolitik eine besondere Beachtung beizumessen. Im Rahmen einer derartigen Politik können durch zielgruppenorientierte Maßnahmen die Startchancen der Armutsgruppen zur Teilhabe am Entwicklungsprozeß und an dessen Ergebnissen verbessert werden. Eine so definierte, auf verstärkte Integration der benachteiligten Bevölkerungsgruppen in den Wirtschaftsprozeß ausgerichtete Entwicklungspolitik führt mittel-und längerfristig sowohl zur Reduzierung der Armut als auch zur Steigerung des Bruttoinlandsproduktes. Eine derartige Entwicklungskonzeption stellt beispielsweise die „ländliche Regionalentwicklung“ dar Politisch nachteilig ist, besonders in der sozial brisanten Anpassungsphase, daß Programme dieser Art erst nach einer oft mehrjährigen Anlaufsphase wirksam werden.

Der vorhandene, wenn auch geringe Verteilungsspielraum dürfte in den meisten Entwicklungsländern daher ein wichtiges flankierendes Instrument einer sozialorientierten Marktwirtschaft darstellen. Um so bedeutsamer ist es, daß die vorhandenen Finanzierungsmöglichkeiten direkt der Armutsbevölkerung zugute kommen. Gelungene Vorbilder sind beispielsweise das „Food for Work Programme“ oder spezielle Programme für Mütter. Ein interessantes Beispiel bietet Sri Lanka, wo durch Ausgabe von Nahrungsmittelcoupons an städtische Armutsgruppen die Entzerrung der Agrarpreise sozial abgefedert wurde Maßnahmen dieser Art sind ebenso wie eine wachstumsorientierte Sozialpolitik länderspezifisch und marktkonform entsprechend den jeweiligen Finanzierungsspielräumen und administrativen Möglichkeiten zu konzipieren. Für Ludwig Erhard, den Schöpfer der Sozialen Marktwirtschaft, stand fest, daß die soziale Verantwortung des Staates auf die Sicherung des Existenzminimums begrenzt ist. Wachsender Wohlstand sollte die Chance für mehr Eigenverantwortung bieten Auf dieser Basis sollte in der Entwicklungszusammenarbeit mehr Anschubfinanzierung für die sozialen Netze in marktwirtschaftlich orientierten Reformprogrammen gewährt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. A. Borrmann/K. Fasbender/H. -H. Härtel/M. Holthus, Soziale Marktwirtschaft. Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland und Überlegungen zur Übertragbarkeit auf Entwicklungsländer, Hamburg 1990, S. 5 ff.; K. Fasbender, Marktwirtschaft. Eine effizienz-und sozialorientierte Wirtschaftsordnung für die Dritte Welt? (i. E.).

  2. Vgl. A. J. Halbach, Economic System and socio-economic development of developing countries, in: ifo-Forschungsberichte, Nr. 63, München u. a. 1983; H. P. Fröhlich, Mehr Marktwirtschaft auch in Entwicklungsländern, Köln 1986; E. Tuchtfeldt, Ordnungspolitische Konzepte in der Dritten Welt, in: E. Dürr/E. Tuchtfeldt (Hrsg.), Studien zur Entwicklungsökonomie, Bem-Stuttgart 1986.

  3. Vgl. u. a. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Wirtschaftsordnung und Entwicklungsplanung, S. 11.

  4. Vgl. L. Erhard/A. Müller-Armack, Soziale Marktwirtschaft. Frankfurt u. a. 1972, S. 377 f.

  5. R. Clapham, Marktwirtschaft in Entwicklungsländern. Zur Anwendung und Leistungsfähigkeit des marktwirtschaftlichen Konzeptes, Freiburg 1973, S. 37.

  6. Als — am Anspruchsniveau einer Marktwirtschaft gemessen — ungünstig wirkt sich dagegen der in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern neben der Verfassungswirklichkeit zu verzeichnende Rechtspluralismus von Verfassungsrecht, Stammesrecht und religiösem, meist islamischem Recht aus. Als Beispiele werden Somalia. Kenia, Tansania. Uganda, Malawi, Nigeria und Ghana hervorgehoben. Vgl. R. Clapham (Anm. 5). S. 39 f.

  7. Vgl. hierzu W. Lachmann, Überwindung der Not in der Dritten Welt durch marktwirtschaftliche Ordnung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/87, S. 13— 25; R. Clapham (Anm. 5), S. 32ff.; ders., Soziale Marktwirtschaft in Entwicklungsländern, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft als nationale und internationale Ordnung, Stuttgart 1978, S. 78ff.; A. Borrmann/K. Fasbender/H. -H. Härtel/M. Holthus (Anm. 1), S. 115 ff.

  8. Vgl. W. Elkan, Unternehmer und Unternehmertum in Afrika, in: Finanzierung und Entwicklung, 25 (1988) 4, S. 20 ff.

  9. D. Lösch, Markt oder Staat für die Dritte Welt, Hamburg 1983, S. 86 f.

  10. R. Shams, Interessengruppen und Anpassungskonflikte in Entwicklungsländern, Fallstudie III Jamaika, Hamburg 1990, S. 70. Vgl. zu den unterschiedlichen Interessenlagen auch die Länderanalysen von R. Shams, Fallstudie I Türkei, Hamburg 1989, und Fallstudie II Mauritius. Hamburg 1989.

  11. Vgl. S. Wiermann u. a.. Entwicklung ländlicher Regionen Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens. HWWA-Report Nr. 76. Hamburg 1988. S. 157 ff.

  12. Vgl. R. Shams, Fallstudie I Türkei (Anm. 10), S. 39 ff.

  13. Vgl. A. Müller-Armack, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg 1966; A. Borrmann/K. Fasbender/H. -H. Härtel/M. Hoithus (Anm. 1), S. 13 f., S. 128 ff.

  14. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, München 1965, S. 180.

  15. Vgl. BMZ/GTZ, Regional Rural Development — Guiding Principles, Eschborn 1984.

  16. Vgl. W. Lachmann (Anm. 7), S. 21; zu sozialorientierten Programmen G. Psacharopoulos, Linderung der Armut in Lateinamerika, in: Finanzierung und Entwicklung, 27 (1990) 1, S. 17-19.

  17. Vgl. L. Erhard, Wohlstand für alle, Düsseldorf-Wien, 1957, S. 261.

Weitere Inhalte

Karl Fasbender, Dipl. -Volkswirt, geb. 1941; Leiter der Forschungsgruppe „Regionale und sektorale Wirtschaftsstruktur“ und Leiter der Abteilung „Entwicklungsländer und Nord-Süd-Wirtschaftsbeziehungen“ im HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung, Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit D. Kebschull und A. Naini) Entwicklungspolitik. Eine Einführung, Opladen 19763; (zus. mit S. Erbe) Towards a New Home: Indonesia’s Managed Mass Migration, Hamburg 1990; (zus. mit M. Holthus u. a.) Soziale Marktwirtschaft. Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland und Überlegungen zur Übertragbarkeit auf Entwicklungsländer, Hamburg 1990. Manfred Holthus, Dipl. -Volkswirt, geb. 1939; Leiter der Forschungsgruppe „Allgemeine Entwicklungspolitik“ im HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung, Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit D. Kebschull) Die Entwicklungspolitik wichtiger OECD-Länder. Eine Untersuchung der Systeme und ihrer außenwirtschaftlichen Implikationen, 2 Bde., Hamburg 1985; (Hrsg. zus. mit A. Gutowski und D. Kebschull) Indebtedness und Growth in Developing Contries, Hamburg 1986; Die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer, Materialien Nr. 76, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Hrsg.), Bonn 1990.