Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Drogenabhängige: Spielball der Gesundheitspolitik? | APuZ 42/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 42/1990 Artikel 1 Kokainhandel in Lateinamerika Drogenabhängige: Spielball der Gesundheitspolitik? Die Drogenpolitik der Bush-Administration und Entwicklung des Drogenproblems in den USA

Drogenabhängige: Spielball der Gesundheitspolitik?

Gerhard Böhringer

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Diskussion zum Umgang mit dem Drogenproblem werden seit einiger Zeit Verbesserungsvorschläge in Richtung auf mehr „Liberalisierung“ oder „Verschärfung“ gemacht. Ausgangspunkt für solche Vorschläge ist das gegenwärtige therapeutische Versorgungssystem. Eine Analyse zeigt, daß die Bundesrepublik ein relativ umfangreiches Netz ambulanter und stationärer Einrichungen hat, in dem es in der Regel keine Wartezeiten gibt, und in denen überwiegend Mitarbeiter mit einer guten Grundausbildung arbeiten. Pro Jahr werden mit diesem System zwischen 30 und 50 Prozent der Drogenabhängigen erreicht. Kritisch ist zu vermerken, daß das therapeutische System in seiner dualen Ausprägung — ambulant versus stationär — und in seiner Betonung der stationären Therapie in Hinblick auf den Bedarfzu undifferenziert ist. Es fehlen teilstationäre Einrichtungen, geeignete Arbeitsplätze und betreute Wohngruppen sowie eine stärkere Differenzierung der stationären Therapieeinrichtungen einschließlich des Ausbaus kombinierter ambulanter und stationärer Behandlung. Das Dilemma im Krankheitsbild und -verlauf der Drogenabhängigkeit liegt darin, daß die emotionalen, sozialen und physischen Konsequenzen der Drogenabhängigkeit über längere Zeit überwiegend positiv sind und sich negative Konsequenzen ernsterer Art erst nach Jahren einstellen. Deshalb arbeiten viele Therapiekonzepte bisher mit den Prinzipien des Abwartens, bis der Abhängige „am Ende“ ist, und dem Prinzip maximaler Aufnahmeschwellen, um eine möglichst hohe Motivation für die Therapie zu erreichen. Andererseits ist das Abwarten auf den durch schwere Folgeschäden „motivierten“ Abhängigen in jeglicher Hinsicht teuer, nicht selten tödlich und unter ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar.

I. Legalisieren, substituieren, bestrafen oder gleich erschießen?

1981. z. B.

— Zahl der Klienten — Symptomatik entspricht die Nutzung dem Bedarf? Gesundheitspolitik entspricht das Angebot dem Bedarf? z. B.

— Zahl der Klienten — Alter — Symptomatik — Maßnahmen kurzfristige Ergebnisse z. B.

— Dauer der Behandlung — Kosten — Entlassungsgründe wissenschaftlicher Kenntnisstand Quelle: G. Bühringer, Planung, Steuerung und Bewertung von Therapieeinrichtungen für junge Drogen-und Alkoholabhängige, München z. B.

— Anzahl der Einrichtungen — Kapazität — Maßnahmen 茘٪

Die Bandbreite der Vorschläge für die Bewältigung des Drogenproblems, das alle Staaten dieser Welt zunehmend gleich trifft, ist frappierend: Einerseits findet man amerikanische Bürgermeister, die selbst den Heroinkonsum legalisieren und über hohe Steueraufschläge ihren Haushalt sanieren wollen, andererseits gibt es asiatische Staaten, die bereits den Besitz von Haschisch mit dem Tode bestrafen. Wie kommt es zu solchen Extremen?

Bühringer. Gesellschaft Entstehung drogenabhängigen Bd. 4, 1974, Göttingen, Verhaltens 252— 258 (modifiziert). über den 28. Deutschen Abbildung 7: Modell für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Opiatabhängigkeit Quelle: G. Zur für Psychologie, S. bei Jugendlichen. Bericht Kongreß der

Die Polarisierung des Problems und der Lösungsvorschläge ist kein neuzeitliches Phänomen: Die Geschichte des sozialen Umgangs mit dem Abhängigkeitsproblem ist auch eine Geschichte des abrupten Wechsels gesundheitspolitischer Strategien. Auffällig ist, daß viele Kritiker der gegenwärtigen Gesundheitspolitik für einen erneuten Kurswechsel, sei es in Richtung „Liberalisierung“ oder „Verschärfung“, wenig direkten Kontakt mit Drogenabhängigen haben. Handelt es sich dabei um Betriebs-blindheit der Drogenexperten oder um Ignoranz der Kritiker?

Die Diskussion über Verbesserung der therapeutischen Versorgung von Drogenabhängigen ist auch ein Beispiel für die mehr oder weniger subtile Vermengung von Wissenschaft und Weltanschauung, wie sie etwa in der Methadon-Frage auffällt. Welche Meinung auch vertreten wird, man findet immer ein paar Daten, die die jeweilige Ansicht stützen. Dabei ist überhaupt nichts gegen Weltanschauungen zu sagen, im Gegenteil: sowohl die Gesundheitspolitik als auch therapeutisches Handeln wären ohne Werthaltungen ein Flickwerk. Notwendig ist allerdings, die jeweiligen Werthaltungen stärker als solche zu kennzeichnen und nicht mit wissenschaftlichen Argumenten zu verbrämen.

II. Therapeutisches Versorgungssystem

Abbildung 2: Drogen-Todesfälle in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitverlauf

Kritik an der Betreuung von Drogenabhängigen macht sich vor allem an den therapeutischen Einrichtungen fest. Für eine erste Analyse ist es deshalb sinnvoll, das therapeutische Versorgungssystem näher zu betrachten.

An der therapeutischen Versorgung von Drogenabhängigen sind in der Bundesrepublik nahezu 1 000 ambulante und stationäre Spezialeinrichtungen mit etwa 5 000 Mitarbeitern beteiligt. Nicht eingerechnet sind dabei die Mitarbeiter im Bereich der Sozialhilfe, der Krankenkassen, der Justiz und ähnlicher sozialer Dienste, die mit Drogenabhängigen zu tun haben. Gerade in der Therapie tätige Mitarbeiter übersehen häufig, daß ihre Einrichtung nicht eine zufällige Anhäufung von Therapiestunden darstellt, sondern einen Dienstleistungsbetrieb, der sein Angebot möglichst optimal auf den Bedarf abstimmen muß, und diese Leistungen effektiv und kostengünstig erbringen sollte. Diese Betrachtungsweise gilt für eine einzelne Einrichtung, für ein lokales oder regionales Einzugsgebiet sowie für die gesamte Bundesrepublik. Damit ist der Grundgedanke der Versorgungssystemforschung angesprochen, die auf der Grundlage einer kontinuierlich dokumentierten Versorgungsstruktur in einem routinemäßigen Prozeß versucht, Bedarf, Angebot und Nutzung des Angebots sowie die damit erreichten Ergebnisse zu analysieren und die einzelnen Bestandteile dieses Systems in ihrer Abstimmung zu optimieren. Versorgungssystemforschung geht somit über die Therapieforschung hinaus, die sich lediglich mit den Zusammenhängen zwischen Patienten, therapeutischen Maßnahmen und Ergebnissen befaßt. Der Begriff „Versorgungssystem“ ist leider eingeführt, aber gerade im Zusammenhang mit Abhängigen nicht sehr glücklich. Es geht nämlich nicht darum. Abhängige ein Leben lang zu „versorgen“. „Ablösung“ von dem System ist eine zentrale therapeutische Aufgabe. 1.

Ziele des Versorgungssystems Sieht man einmal von der Primärprävention ab, so muß das therapeutische Versorgungssystem folgende Ziele anstreben:

1. Frühzeitige Behandlung von „Probierern“, die im Zusammenhang mit dem Probierkonsum ernsthafte Probleme entwickeln (Sekundärprävention, zur Vermeidung einer langandauernden „Drogenkarriere“). 2. Kurze Zeitspanne zwischen der Entwicklung einer ausgeprägten Abhängigkeitsproblematik und der ersten Behandlung (Vorlaufzeit verkürzen, um die Spätfolgen einer schweren Abhängigkeit zu reduzieren). 3. Hoher Anteil von Personen mit Abhängigkeitsproblemen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in Behandlung sind (Erreichungsquote verbessern). 4. Hoher Anteil von Behandelten mit einer planmäßigen Beendigung (Abbruchquote reduzieren). 5. Geringer Anteil von Personen mit einem Rückfall nach Ende der Behandlung (Rückfallquote reduzieren und drogenfreie Intervalle verlängern). 6. Kurze Zeitspanne zwischen erneuten mißbrauchbedingten Problemen und einer erneuten Behandlung (Intervalle mit Drogenkonsum verkürzen).

7. Minimierung des mißbrauchbedingten Schadens bei aktuellen Konsumenten, die gegenwärtig zu einer Aufgabe ihres Konsums nicht bereit sind (harm reduction). 2. Bereiche des Versorgungssystems In Abbildung sind die notwendigen Bereiche für eine Analyse des Versorgungssystems dargestellt, zu denen Informationen benötigt werden. Erstens sind Angaben zum Bedarf, wie etwa über die Zahl der Abhängigen in der Bevölkerung, und über relevante Merkmale, die die Versorgungsstruktur bestimmen, wie etwa die Art der begleitenden Erkrankungen oder die Altersstruktur, notwendig. Zweitens werden Informationen zum Versorgungsangebot benötigt wie die Zahl und die Ausstattung der Einrichtungen oder die Ausbildung der Mitarbeiter. Der dritte Bereich betrifft die Nutzung des Versorgungsangebots; der vierte die Ergebnisse, die mit dieser Versorgung erreicht werden, wobei, es nicht nur um die traditionelle Beurteilung von Therapieergebnissen wie Abstinenz geht, sondern auch um eine globalere Betrachtungsweise, die die Kosten und die Adäquatheit des Angebots mit einschließen. Das Versorgungssystem agiert nicht in einem luft-leeren Raum, sondern wird durch zahlreiche andere Faktoren beeinflußt. Herausgegriffen sind lediglich drei zentrale Einflußgrößen, nämlich die Gesundheitspolitik (z. B. die Frage nach dem Einsatz von Methadonsubstitution), die Rechtspolitik (z. B. Gestaltung des Betäubungsmittelgesetzes) und der wissenschaftliche Kenntnisstand (z. B. zur Therapie von Drogenabhängigen). 3. Bedarf Will man über die Problemlage bei der Grundgesamtheit der Drogenabhängigen in der Bundesrepublik Aussagen machen, so genügen nicht die Informationen über diejenigen, die therapeutische Einrichtungen besuchen, da ein unbekannter Anteil der Drogenabhängigen selten oder möglicherweise überhaupt nicht therapeutische Hilfe sucht. Wegen der Illegalität des Verhaltens ist diese Grundgesamtheit sehr schwer zu erfassen.

Anzahl der Drogenabhängigen Die Zahl der Abhängigen von harten Drogen (dies sind nicht nur Heroinabhängige, die Zahl schließt vielmehr den Konsum von allen Opiatstoffen, Opiatersatzstoffen sowie Kokain mit ein) wird in der Bundesrepublik zwischen 50 000 und 120 000 geschätzt, wobei in der Regel von einer Zahl von 60 000 bis 80 000 ausgegangen wird. Häufig wird dabei auf Schätzungen der Drogenbeauftragten der Bundesländer zurückgegriffen. Reuband 1) geht von den 1970 bis Ende 1988 jeweils polizeilich registrierten Konsumenten harter Drogen aus, nämlich etwa 91 000. In der gleichen Zeit sind etwas über 6 000 Drogenabhängige gestorben, so daß etwa 85 000 verbleiben.

Problematisch ist die Berücksichtigung der in der Zwischenzeit durch Behandlung bzw. andere Faktoren drogenfrei gewordenen, die die Prävalenzschätzung senken, sowie das Dunkelfeld derer, die noch keinen polizeilichen Kontakt hatten und somit diese Prävalenzschätzung wieder erhöhen. Man kann dazu folgende Überlegungen anstellen: In den vergangenen 19 Jahren bis 1988 wurden etwa 120 000 Drogenabhängige stationär in Spezialeinrichtungen behandelt (eigene Berechnungen aufgrund der veröffentlichten Bettenkapazitäten, der durchschnittlichen Verweildauer und Auslastungsquote; derzeit sind es etwa 8 000 Personen pro Jahr). Nimmt man eine Heilungsquote von „harten“ Drogen von 25 Prozent an, was sich auf verschiedene Katamnesestudien (abschließende Krankenberichte) bis zu acht Jahren nach Ende der Behandlung stützen läßt, so sind dies etwa 30 000 Drogenabhängige. Demgegenüber wissen wir aus einigen wenigen Untersuchungen, daß die durchschnittliche „Vorlaufzeit“, das heißt die Zeit zwischen Abhängigkeitsbeginn und erster polizeilicher Auffälligkeit, bei etwa drei bis fünf Jahren liegt.

1987/88 lag die Zahl erstauffälliger Konsumenten harter Drogen pro Jahr bei etwa 6 000 bis 7 000. Bei einer vierjährigen Vorlaufzeit waren also Ende 1988 etwa 25 000 Drogenabhängige noch nicht polizeilich auffällig. Damit ergäbe sich Ende 1988 eine geschätzte Prävalenz von etwa 80 000. Diese Berechnungsformel ist mit äußerster Vorsicht zu betrachten, da die Datenbasis für die beiden Korrekturfaktoren „Therapieerfolg“ und „Dunkelziffer“ auf einer schwachen empirischen Grundlage beruht. Sie kann aber gleichzeitig zeigen, daß präzisere Schätzungen als bisher durchaus möglich wären, wenn verstärkt Forschungsanstrengungen zur Abschätzung der Dunkelziffer unternommen werden würden.

Man kann nicht davon ausgehen, daß alle Drogen-abhängigen zu jedem beliebigen Stichtag auch Drogen konsumieren. Abzuziehen sind dabei folgende Gruppen:

— Gefangene (unberücksichtigt der Tatsache, daß ein Teil von ihnen Drogen im Gefängnis nimmt);

— Personen in Behandlung;

— Personen, die nach einer Behandlung kurzfristig drogenfrei sind, und — Personen, die aus sonstigen Gründen drogenfrei sind (z. B. spontane Abstinenzperioden).

Nach eigenen Berechnungen, die sich auf Untersuchungen über die Nutzung therapeutischer Einrichtungen, auf Katamnesestudien sowie auf die Kapazität des Versorgungssystems und auf eine Untersuchung von Kindermann zur Längsschnittanalyse un-betreuter Drogenabhängiger beziehen kann man schätzen, daß zu jedem gegebenen Stichtag etwa 30 Prozent der Drogenabhängigen in einem drogenfreien Intervall leben. Diese drogenfreien Intervalle sind etwa zur Hälfte durch Therapieaufenthalte bedingt, zu einem Viertel durch Gefängnis-aufenthalte und zu einem Viertel durch sonstige Bedingungen, wie z. B. „Stoff“ mangel. Bei den Gefängnis-und Therapieaufenthalten wurde bereits berücksichtigt, daß ein Teil der Patienten auch in diesen Institutionen Drogen nimmt. Leider wissen wir insgesamt zu wenig über die drogenfreien Intervalle von Drogenabhängigen über längere Zeiträume. Drogentodesfälle In Abbildung 2 sind die Drogentodesfälle in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitverlauf der letzten Jahre dargestellt. Die Absolutzahl hat 1989 auf 991 zugenommen und liegt im ersten Halbjahr 1990 bei 553. Die Längsschnittanalyse zeigt erhebliche Schwankungen im Verlauf der letzten 20 Jahre, wobei über die Ursachen für diese Schwankungen nur Spekulationen vorliegen. Reuband nennt unter anderem, daß bei größeren Schwankungen des Reinheitsgrades der benutzten Mittel das Risiko von Überdosen zunimmt; weiterhin das Argument, daß sich unter den länger Abhängigen eine „Hoffnungslosigkeit“ ausbreiten würde, was auch mit einem hohen Selbstmordanteil unter den älteren Drogenabhängigen bestätigt werden könnte. Insgesamt ist das Wissen über die Faktoren, die die Drogentodesfälle beeinflussen, sehr gering.

Gesundheitszustand Drogenabhängige haben einen sehr schlechten Gesundheitszustand, bedingt u. a. durch unsterile Spritzenverwendung (z. B. Abszesse), ständige Schmerzdämpfung (z. B. Zahnerkrankungen) und Mangelernährung. Sie sind besonders gefährdet durch Hepatitis-und HIV-Infektionen. Etwa 20 Prozent der Drogenabhängigen sind HIV-infiziert (Schwankungsbereich je nach Risiko fünf bis 50 Prozent) und ca. 13 Prozent aller AIDS-Erkrankten sind Drogenabhängige.

Therapierelevante Merkmale Das Durchschnittsalter der Drogenabhängigen sinkt nicht; seit Jahren deuten alle Indikatoren auf eine gegenläufige Entwicklung hin. In Abbildung 3 ist der Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 24 Jahren und jünger unter den Konsumenten harter Drogen über die Jahre dargestellt, und zwar bezogen auf die polizeiauffälligen Erstkonsumenten, auf Daten von Drogenabhängigen in ambulanter Behandlung und auf die Drogen-todesfälle Der Anteil der Personen bis 24 Jahre hat sich in dieser Zeit halbiert. Diese Tatsache ist für die Gestaltung des Versorgungssystems von großer Wichtigkeit. Dies bedeutet zum Beispiel, daß die Inhalte und die Struktur der Therapie gegenüber den früher sehr jugendlichen Patienten geändert werden müssen. Fragen der Ausbildung und des zukünftigen Arbeitsplatzes sowie eine mehr individuelle Orientierung des zukünftigen Lebens spielen bei älteren Drogenabhängigen eine größere Rolle als bei sehr jungen Patienten. Leider wissen wir über weitere therapierelevante Merkmale wenig. Zum Beispiel wäre es notwendig, die Lebenssituation von noch unbetreuten und polizeilich noch nicht auffälligen Drogenabhängigen besser zu untersuchen. Wie weit sind sie noch in Alltagsprozesse integriert, welche Probleme haben sie objektiv und betrachten sie subjektiv als am wichtigsten? Wie sind die Einstellungen und Einschätzungen zu ambulanten und stationären Therapieeinrichtungen oder die Bereitschaft, sich überhaupt Behandlung zu unterziehen? einer Wie wird das Risiko einer HIV-Infektion eingeschätzt und dagegen getan? psychiatrische was über wird Auch wissen Auffälligkeiten oder psychische Störungen wir in der Regel immer nur aus den Akten von behandelten Patienten, nicht aber aus der Grund-gesamtheit der Drogenabhängigen. Daraus resultiert. daß sich das Versorgungssystem zu wenig auf Drogenabhängige einstellt, die erst kurzzeitig abhängig sind oder aus irgendeinem Grund trotz einer langjährigen „Karriere“ nicht in Behandlung wollen. 4. Therapeutische Einrichtungen Es gibt in der Bundesrepublik ein dichtes Netz ambulanter und stationärer therapeutischer Einrichtungen Die etwa 500 bis 600 größeren Einrichtungen (Gesamtzahl: 910), die den üblichen Mindeststandards mit einer gewissen Mindestanzahl von Mitarbeitern entsprechen, betreuen bis auf wenige Ausnahmen grundsätzlich alle Formen des Substanzmittelmißbrauchs. Im Durchschnitt besteht bei etwa 20 Prozent der Klientel ein Mißbrauch bzw. eine Abhängigkeit von illegalen Drogen. 79 stationäre Einrichtungen mit etwa 2 500 Betten sind auf Drogenabhängige spezialisiert, in weiteren 58 Einrichtungen werden anderen Gruppen neben auch Drogenabhängige behandelt. Dies ergibt eine Bettenkapazität von etwa 3 000. Weiterhin stehen etwa 200 stationäre Nachsorgeeinrichtungen mit etwa 2 500 Plätzen zur Verfügung, wobei der Anteil für Drogenabhängige unbekannt ist. Dies gilt auch für die Zahl, Kapazität und Aufschlüsselung nach Drogentypen bei den teilstationären Einrichtungen. Auch hier wäre eine umfassendere Erfassung des therapeutischen Versorgungsangebots hilfreich. Alle genannten Zahlen beziehen sich auf Spezial-einrichtungen für Drogenabhängige. Nicht einbezogen sind zusätzliche Kapazitäten in nicht spezialisierten Einrichtungen. Zum Beispiel sind nur solche psychiatrischen Krankenhäuser einbezogen, die sich auf Drogenabhängige spezialisiert haben. Darüber hinaus behandelt aber jedes psychiatrische Landeskrankenhaus Drogenabhängige in mehr oder minder intensiver Form. Es handelt sich also bei der therapeutischen Kapazität um eine untere Grenze des wahren Wertes. 5. Nutzung des therapeutischen Systems In 4 ist Entwicklung der Patienten-zahlen Abbildung die ambulanter Einrichtungen in den Jahren 1980 bis 1989 dargestellt. Die Gesamtzahl der Patienten hat von etwas über 500 auf knapp 700 zugenommen, die Zahl der intensiv betreuten Patienten (zumindest ein Kontakt) von etwa 160 auf zuletzt etwa 260. Es handelt sich dabei um die Zugänge des Jahres 1989. Bei den intensiv betreuten Patienten liegt der Anteil der Drogenabhängigen bei etwa 19 Prozent oder im Durchschnitt bei knapp 50 Patienten. Die Mitarbeiter betreuen deutlich mehr Patienten als früher, da die Personalkapazität in den letzten zehn Jahren fast konstant blieb (Abbildung 5).

Schlüsselt man die Klientel nach Einzelsubstanzen auf (Mehrfachnennungen möglich), so zeigt sich, daß Personen mit einem Mißbrauch von Alkohol den höchsten Anteil stellen (Abbildung Der Anteil der Männer mit einem Heroinmißbrauch liegt bei etwa neun, für LSD und Kokain bei etwa vier Prozent 6). Ergebnisse In ambulanten Einrichtungen liegt die Quote planmäßiger Beendigungen zwischen 20 und 30, im stationären Bereich liegt sie bei 30 Prozent. Interessant ist dabei, daß der Schwankungsbereich bei den einzelnen Einrichtungen zwischen zehn und 50 Prozent liegt, was die langjährig geäußerte Hypothese widerlegt, daß die Ergebnisse aller Einrichtungen etwa gleich sind. Die Quote des Therapieabbruchs ist insofern wichtig, als die planmäßige Therapie-beendigung den wichtigsten prognostischen Faktor für eine langfristige Stabilität darstellt. In einer Modellförderung des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit konnte gezeigt werden, daß die 90-Tage-Abbruchquote mit einfachen Mitteln von etwa 44 auf 28 Prozent zu senken ist.

Die Ergebnisse zur langfristigen Stabilität sind im ambulanten Bereich relativ ungesichert, da noch zu wenige Untersuchungen vorliegen. Die Freiheit von „harten“ Drogen liegt je nach Berechnungsform sechs Monate nach Therapieende zwischen 20 und 40 Prozent. Bei stationärer Behandlung liegen die Anteile der von „harten“ Drogen freien Personen zwei bis zehn Jahre nach Ende der Behandlung bei 25 bis 40 Prozent, der Anteil sozial stabiler Personen bei 50 bis 80 Prozent.

Insgesamt sind die Lebensverläufe nach Ende einer Behandlung sehr viel komplexer als früher angenommen wurde. Die einfache Zweiteilung in abstinent oder rückfällig wird den tatsächlichen Lebens-verläufennicht gerecht. Auch grundsätzlich stabile Patienten haben ein oder mehrere Intervalle unterschiedlich intensiven Drogenkonsums, während auf der anderen Seite rückfällige Patienten auch längere Zeiten der Drogenabstinenz haben. Dieses komplexe Bild erfordert verstärkte Anstrengungen im Bereich der Längsschnittuntersuchungen. Außerdem ist als ein Maßstab für Therapieerfolg in Zukunft verstärkt darauf zu achten, inwieweit die drogenfreien Intervalle im Laufe der Jahre zuneh-men.

Grundsätzlich kann aufgrund aller Ergebnisse gesagt werden, daß Therapie einen positiven Effekt hat. Noch zu wenig erforscht ist, welche Faktoren der Therapiedurchführung und welche Faktoren im Lebensverlauf der Abhängigen dieses Therapieergebnis positiv oder negativ beeinflussen.

III. Krankheitsmodell

Quelle: K. -H. Reuband (Anm. 1), S. 113— 155. Abbildung 3: Anteil der Jugendlichen im Alter von 24 Jahren und jünger unter den Konsumenten harter Drogen (in Prozent)

Wenn Eltern, Journalisten oder Politiker die Fragen stellen: „Warum wird jemand abhängig?“, „Warum geht er in Therapie?“ oder „Warum wird er wieder rückfällig?“, dann kann man viele wissenschaftliche Daten über Teilaspekte zitieren, aber keine befriedigende Antwort geben. Hilfsweise begnügen wir uns mit der Beschreibungsebene: „Wie kommt jemand zum ersten Mal zu Drogen?“, „Wie entwickelt sich eine Abhängigkeit?“ und „Wie verläuft ein Rückfall?“ 1. Entwicklung einer Drogenabhängigkeit Es gibt nicht den Weg in die Abhängigkeit: Jeder Jugendliche hat einen anderen Entwicklungsverlauf und andere Motive für den ersten Drogenkonsum. Aber es gibt einige gemeinsame Ereignisse auf dem Weg vom Erstkonsumenten zum Abhängigen. Die kritische Zeit liegt etwa zwischen zwölf und 18 Jahren, also in einem Abschnitt, in dem der Jugendliche die Ablösung vom Elternhaus anstrebt. Neue Bezugspunkte werden gesucht, vor allem bei anderen Erwachsenen und bei der gleichaltrigen Clique. In manchen dieser Gruppen gehört der Konsum von Drogen, vor allem Haschisch, zu den Merkmalen des Gruppenzusammenhalts. Der Konsum definiert einerseits die spezifische Zugehörigkeit zu der Gruppe und andererseits die Abgrenzung zur Erwachsenenwelt, wobei die Illegalität des Verhaltens zusätzlich einen besonderen Reiz ausüben kann.

Akzeptanz in der Gruppe stellt die erste wichtige Bekräftigung für den Drogenkonsum dar, völlig unabhängig von der pharmakologischen Wirkung der Droge In Abbildung 7 ist dies der oberste Kreis unter den auslösenden Bedingungen (1.), wobei die dabei ablaufenden Phänomene gut mit den Erkenntnissen aus den Untersuchungen zum Modellernen erklärt werden können. Die soziale Akzeptanz sowie die Beendigung möglicher Isolationsgefühle und Unsicherheit außerhalb der Gruppe, die subjektiv als positive Folge des Konsumverhaltens erlebt werden, bekräftigen es nach den wissenschaftlich untersuchten Prinzipien der operanten Konditionierung. Bis jetzt spielen die pharmakologischen Eigenschaften der Droge häufig nur eine geringe Rolle.

Nach einiger Zeit erlebt der Jugendliche, daß der Konsum eine weitere Funktion hat: unangenehme Situationen und Probleme werden vergessen, schwierige Situationen gleichgültig gemeistert, das Leben scheint insgesamt angenehmer (2.). Gerade in der kritischen Zeit des Übergangs zum Erwachsenenleben mit den damit verbundenen Übergangsproblemen wird dies von einigen Konsumenten als positiv empfunden: mit der Zeit werden unangenehme Situationen generell zum Auslöser für den Konsum, und dieser wiederum wird durch die Beendigung der unangenehmen Situation (zumindest im subjektiven Erleben) weiter bekräftigt. Verbunden mit dieser zweiten Bekräftigung des Drogen-konsums stehen auch die unterschiedlichen Empfindungen als Folge der allmählich intensiv erlebten pharmakologischen Wirkung der Droge. Sei es Euphorie oder Beruhigung, Erregung oder Entspannung, der Konsument sucht sich die Droge, die in der Wirkung zu seinen Bedürfnissen paßt. Auf diese Weise entwickelt sich allmählich eine psychische Abhängigkeit: Man kann sie als Verhaltenseinengung beschreiben, die dazu führt, daß der Konsument zunehmend alle schwierigen Erlebnisse und unangenehmen Empfindungen nur noch durch ein einziges Mittel bewältigen kann, nämlich durch den Konsum von Drogen. Ein Teil dieser Konsumenten erprobt nach einiger Zeit stärkere Drogen, zum Beispiel Opiate. Dadurch bildet sich nach relativ kurzer Zeit zusätzlich als dritte Bekräftigung des Drogenkonsums eine körperliche Abhängigkeit (wobei die Meinung, daß sich bereits nach einer Spritze eine Abhängigkeit entwickelt, nicht zutrifft). Ohne auf Details einzugehen. kann man eine körperliche Abhängigkeit damit beschreiben, daß der Körper die Opiate in den Stoffwechsel als normalen Bestandteil einbaut, so daß jeder Mangel sofort zu einer Stoffwechsel-störung führt (3.). Diese Stoffwechselstörung erlebt der Abhängige subjektiv als verschiedene Symptome, die wir mit dem Sammelbegriff Entzugserscheinungen bezeichnen: Schwitzen, Schweißausbrüche, Gliederschmerzen, Niedergeschlagenheit. Für diese sehr unangenehme Situation hat der Abhängige bereits „gelernt“, daß man sie mit erneutem Drogenkonsum beendigen kann. Damit ist eine Verhaltenskette aufgebaut — im Fachbegriff zu-B nächst einmal als unkonditionierte Reiz-Reaktionsverbindung (Stoffwechselstörungen führen zu Entzugserscheinungen) — die wiederum einen Opiatkonsum auslösen, der die unangenehmen Entzugs-erscheinungen beendigt und somit per operanter Konditionierung das Verhalten im Konsum bestärkt. Hat der Abhängige freien Zugang zu Drogen, wiederholt sich diese Verhaltenskette etwa alle fünf bis sechs Stunden, da dann die Wirkung des Heroins im Körper nachläßt. Wegen der kurzen Zeitspanne zwischen intravenösem Opiatkonsum und positiven Folgen (wenige Sekunden) und der starken Wirkung kommt es zu einer sehr stabilen Verhaltens-kette. 2. Der Alltag eines Abhängigen Der Tagesablauf eines Drogenabhängigen: Für Außenstehende trostlos einförmig in der gleichen täglichen Routine, in der totalen Unterwerfung des Lebens unter die Kontrolle durch eine chemische Substanz. Die Freude an alltäglichen Dingen wird unwichtig, Freundschaften und Liebesbeziehungen degenerieren zu Geschäftsbeziehungen. Einziger Lebenszweck ist der Erwerb und Konsum von Drogen, um den ständig wiederkehrenden Entzugserscheinungen zu entgehen. Mit der Zeit verlieren Drogenabhängige auch das Interesse an ihrer eigenen Person, bis hin zur totalen Verwahrlosung.

Die schwere körperliche und psychische Abhängigkeit von einer Droge, wie zum Beispiel von Opiaten, ist ein extremes Beispiel für die totale Unterordnung einer Person unter externe Zwänge, nämlich kontinuierlich Drogen zu erwerben, zu konsumieren und dafür ganze Lebensinhalte und Lebensbereiche zunehmend aufzugeben. Zwanghaftes und ritualisiertes Verhalten mit dem Ziel der Injektion von Drogen ist das zentrale Merkmal einer Drogen-abhängigkeit. Der Abhängige ist diesen Zwängen vollständig untergeordnet und orientiert letztendlich sein ganzes Leben, seinen Tagesablauf und seine sozialen Bezüge danach.

Soweit die Beschreibung einer Abhängigkeitsentwicklung. Wir wissen nicht, warum sich eine Abhängigkeit entwickelt, da von etwa 1 000 Personen, die jemals in ihrem Leben illegale Drogen probieren, maximal einer tatsächlich langfristige Probleme entwickelt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielen zahlreiche Faktoren eine Rolle, unter anderem: — Verfügbarkeit von illegalen Drogen in Jugendgruppen. — Lebensgeschichtlich erworbene Kompetenz, mit Schwierigkeiten positiv umzugehen, so daß der Konsum von Drogen für den Jugendlichen nicht die erste erlebte Möglichkeit ist, mit Problemen fertigzuwerden. — Kenntnisstand des Jugendlichen über die Gefährlichkeit von Drogen und Akzeptanz dieser Informationen. — Positive Modelle (positives Leben ohne Drogen-konsum) bzw. negative Modelle (Bewältigung von Problemen durch psychotrope Substanzen, wie etwa häufiger Medikamentenkonsum) bei sozial akzeptierten Erwachsenen der eigenen Umgebung.

— Familienklima, das den Jugendlichen befähigt, bei beginnenden Drogenproblemen ein Familienmitglied oder einen geeigneten Erwachsenen anzusprechen. — Positive Ausprägung allgemeiner Lebenskompetenzen, so daß intellektuelle, kognitive und emotionale positive Alternativen zum Drogenkonsum in der kritischen Zeit bereits ausgebildet sind.

Bei den genannten Faktoren handelt es sich lediglich um Hypothesen. Die Entwicklungsbedingungen sind auf jeden Fall derart komplex, daß wir nach dem heutigen Stand der Erkenntnis kein schlüssiges Modell haben, das auch empirisch abgesichert ist. Dies macht unter anderem auch die Prävention des Drogenmißbrauchs so schwer. 3. Bereitschaft zur Aufgabe des Drogenkonsums Trotz der zwanghaften Rituale, die eine Drogenabhängigkeit kennzeichnen, hören Abhängige ohne erkennbaren Grund mit dem Drogenkonsum auf oder beginnen zumindest eine Behandlung. Wie ist dies zu erklären? Das Aufsuchen einer Behandlung zur Beendigung der Drogenabhängigkeit ist das Ergebnis eines mit hoher Sicherheit ebenfalls langfristigen und komplizierten Prozesses, an dem zahlreiche Faktoren fördernd oder hemmend mitwirken. Der Prozeß läuft auf kognitiver, emotionaler und auf der Verhaltensebene ab. Die Frage nach der Sequenz dieser Prozesse muß derzeit unbeantwortet bleiben. Wahrscheinlich handelt es sich um komplizierte Wechselwirkungen zwischen (1.) den erlebten negativen Folgen des Drogenkonsums und (2.) der gedanklichen und emotionalen Verarbeitung dieser Erlebnisse, weiterhin (3.) den positiven oder negativen Erwartungen im Hinblick auf die Auswirkungen eines drogenfreien Lebens sowie (4.) der vermuteten Wahrscheinlichkeit, ein solches drogenfreies Leben ohne Rückfälle auch faktisch realisieren zu können, zumindest mit therapeutischer Hilfe. 4. Rückfall Warum wird jemand, der einige Zeit abstinent ist und dann die negativen Folgen des Drogenkonsums klar erfassen kann, wieder rückfällig? Was bringt jemanden dazu, sich dem langfristig elenden und zwanghaften Leben eines Abhängigen erneut zu unterwerfen? Die Antwort auf die Frage, warum jemand rückfällig wird, ist ebenso schwer wie die Antwort auf die Frage nach dem Grund für die Entwicklung einer Abhängigkeit. Wiederum können wir den Vorgang lediglich beschreiben und einige Hypothesen dazu äußern, warum nicht alle, und auf jeden Fall nicht alle sofort, nach Ende der Behandlung rückfällig werden.

In Abbildung 7 sind auch die auslösenden Situationen für den Rückfall dargestellt. Zunächst einmal können Entzugserscheinungen, die ursprünglich durch Mangelerscheinungen im Stoffwechsel bedingt sind, auch ohne diese entstehen. Es handelt sich dabei um das Phänomen einer klassischen Konditionierung, wobei ursprünglich neutrale Situationen, die im Zusammenhang mit dem Mangel an Drogen im Stoffwechsel erlebt wurden, eine eigenständige Auslösequalität für Entzugserscheinungen bekommen (5.). Die Auslöser sind individuell sehr unterschiedlich, es können Stimmungen, körperliche Zustände, Schmerzen anderer Art als Entzug, aber auch externe Auslöser wie bestimmte Räume oder Personen sein, die mit dem Drogenkonsum verbunden sind.

Ein erneuter Konsum muß nicht sofort und auf jeden Fall zu einer totalen Abhängigkeit führen. Auch hier ist das Konzept, daß die erste Spritze zum totalen Abgleiten führt, durch die Forschung widerlegt. Es gibt extrem unterschiedliche Verläufe nach Beginn eines erneuten Konsums, sowohl was die Frequenz der zukünftigen Einnahme betrifft, als auch was die Menge und Art der benutzten Droge betrifft.

Zwar ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, zumindest bei Drogenabhängigen, daß ein erster Konsum auch früher oder später zu einem intensiven Rückfall führt, doch gibt es nicht selten Fälle mit drogen-freien Intervallen. Wahrscheinlich spielen auch hier verschiedene Faktoren eine Rolle, unter anderem die Fähigkeit des Abhängigen, diese konditionierten Entzugserscheinungen bzw. die Gier als solche zu erkennen und bewußt einzuordnen, sowie die Fähigkeit, mit geeigneten Aktivitäten, die in der Therapie vermittelt wurden, den weiteren Rückfall zu verhindern. Darüber hinaus wird noch eine Rolle spielen, inwieweit die aktuellen Lebensumstände entweder angenehm oder so trostlos sind, daß der erneute Konsum als einzige positive Chance im Leben gesehen wird. 5. Das Dilemma Für viele Jugendliche und junge Erwachsene, die drogenabhängig geworden sind, beginnt das „große Leben“ zumindest für einige Zeit. Dies gilt vor allem für die sozial intelligenteren Drogenabhängigen, die den notwendigen Geldbedarf mit Drogenhandel und/oder Prostitution decken können und auf Diebstähle, Einbrüche und Rezeptfälschungen weniger angewiesen sind. Abhängige, besonders wenn sie als Paar die Prostitution und den Handel als Gelderwerb erfolgreich verbinden, empfinden ein „wunderbares“ Leben, das wesentlich interessanter ist, als die Perspektive, die sie vor Beginn der Abhängigkeit hatten. Viele haben als Abhängige zum ersten Mal große Summen von Geld, und aus ihrer Sicht auch eine unermeßliche Freiheit, da sie an keinen Arbeitstag gebunden sind.

Das Dilemma liegt nun darin, daß das Abwarten, bis der Abhängige „am Ende“ ist und von selbst in Behandlung kommt, vom Abhängigen, der Familie und der Gesellschaft teuer bezahlt wird, teuer im Hinblick auf finanzielle Kosten, emotionale Belastungen, irreversible Krankheiten und zunehmende Belastungen für eine zukünftige Lebensperspektive. Abwarten ist das schlimmste, was man einem Abhängigen antun kann, und nicht selten tödlich: Pro Jahr sterben etwa ein bis zwei Prozent der Abhängigen. Auf der anderen Seite sind Abhängige in der Anfangszeit ihrer „Drogenkarriere“ zu Veränderungen nicht bereit. Gerade da wären sie aber notwendig. Wie kann man dieses Dilemma lösen? Zur Diskussion dieser Frage ist die Analyse der therapeutischen Konzepte notwendig.

IV. Therapiephilosophie

Abbildung 4: Entwicklung der Patientenzahlen in ambulanten Einrichtungen

1. Traditionelles Konzept Zur Verdeutlichung wird die traditionelle Therapiephilosophie überzeichnet dargestelt: Diese geht davon aus, daß ein Abhängiger mehr oder weniger „am Ende“ sein muß, bevor er überhaupt behandelt werden kann. Der Abhängige soll die negativen Konsequenzen seiner Abhängigkeit so stark erlebt haben, daß er letztendlich nicht mehr selbständig lebensfähig ist und aus Überlebensnot eine Behandlung aufsucht. Um zu vermeiden, daß sogenannte unmotivierte Abhängige in die Therapie aufgenommen werden, wurde das Prinzip maximaler Aufnahmeschwellen aufgebaut. Mehrmaliges Erscheinen in einer Entgiftungseinrichtung, bevor man aufgenommen wurde, oder Aufnahmegespräche mit zum Teil unmenschlichen Ritualen zu Beginn der stationären Behandlung sind Beispiele für solche Schwellen. Ausgehend von dem Konzept der Suchtpersönlichkeit, das von einer einheitlichen Konfiguration von Persönlichkeitsmerkmalen für Abhängige ausgeht, wurde postuliert, daß alle Abhängigen weitgehend gleich behandelt werden sollen. Dementsprechend waren die Therapieprogramme relativ starr. In Konfliktfällen wurde häufig mit Konfrontation gearbeitet, wobei ein Patient sich entweder dem Therapeuten bzw.den anderen Mitpatienten zu unterwerfen hatte, oder frühzeitig entlassen wurde, damit er/sie die negativen Konsequenzen eines weiteren Konsums möglichst noch stärker erleben konnte, um dann endgültig behandlungsbereit zu sein. Die Motivation zur Durchführung der Behandlung lag in der Verantwortung des Patienten. Er hatte motiviert zu sein und diese Motivation auch über sehr lange Behandlungszeiträume zu halten. „Mangelnde Motivation“ war ein häufiger Grund für eine vorzeitige Entlassung. Dieses Abwarten auf den durch Spätschäden „motivierten“ Patienten sowie das Alles-oder-Nichts-Prinzip der Behandlung (Abstinenz durch lange stationäre Behandlung oder keine Behandlung) ist unethisch und menschenverachtend, gerade unter Berücksichtigung der Schwere der abhängigkeitsbedingten Folgen. 2. Alternativen zur Weiterentwicklung des therapeutischen Konzepts Es besteht bei allen Kritikern, ob „konservativ“ oder „liberal", Einigkeit, daß das traditionelle Konzept reformiert werden muß, da es zuwenig Abhängige mit zu wenig Erfolg erreicht. Uneinigkeit besteht jedoch über mögliche Lösungsstrategien:

Legalisierung des Drogenkonsums Diese Strategie scheint vordergründig sehr einfach und wird von vielen Wissenschaftlern und Praktikern in den USA und in Westeuropa vertreten. Es wird erwartet, daß die internationale Drogenkriminalität zurückgeht und daß durch die staatliche Kontrolle der Stoffe auch Verunreinigungen vermieden werden, einschließlich der damit verbundenen gesundheitlichen Folgen. Darüber hinaus werden hohe Steuern vorgeschlagen, die teilweise zweckgebunden für die Prävention und Suchtforschung verwendet werden sollen

Trotz der simpel erscheinenden Maßnahme ist diese Strategie auf Dauer eher schädlich als nützlich. Es ist naiv, anzunehmen, daß das kriminelle Potential verschwindet, das international mit dem Anbau und Kauf, mit der Aufbereitung und dem Großhandel von Drogen verbunden ist. Zwar wird wahrscheinlich die Beschaffungskriminalität reduziert werden, aber die internationalen Bandenringe werden wohl kaum um Sozialhilfe bitten, sondern ihre Aktivitäten lediglich verlagern, zum Beispiel in den Bereich des Glücksspiels, was derzeit schon in den USA zu beobachten ist. Zweitens ist mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß die im Vergleich zur Zahl der Alkohol-und Medikamentenabhängigen äußerst geringe Zahl der Drogenabhängigen zunehmen wird.

Als drittes entstehen erhebliche rechtliche und praktische Probleme im Bereich der Medikamentenkontrolle. Es wäre überhaupt nicht zu rechtfertigen, daß Medikamente mit psychotroper Wirkung einschließlich einer möglichen Suchterzeugung in den letzten Jahren mehr und mehr kontrolliert werden, daß aber auf der anderen Seite ähnliche Stoffe, die lediglich früher als illegal bezeichnet wurden, frei erhältlich sind. Auch die Verbraucherschutzgesetze würden ein solches Vorgehen nicht erlauben. Da ein großer Konsens besteht, daß für Jugendliche der Konsum der dann legalisierten Drogen ähnlich wie beim Alkohol weiterhin gefährlich bleibt, werden sich die Bemühungen der internationalen Händlerringe auf diese Altersgruppe konzentrieren, was unter anderem dazu führen muß, daß umfangreiche rechtliche Regelungen und Kontrollen für den Erwerb der Drogen geschaffen werden müssen.

Drogenkonsum durch Methadon substituieren Über die Substitution von Heroin und anderen Opiaten durch Methadon ist in den letzten Jahren vor allem in der Bundesrepublik heftig diskutiert worden, wobei gerade diese Diskussion ein gutes Beispiel für die Verquickung von Wissenschaft und Weltanschauung ist. Für eine umfangreiche Darstellung der Argumente ist an dieser Stelle kein Platz Nach dem jetzigen Stand der Literatur ist eine breite Indikation für Opiatabhängige aufgrund einer Abwägung von Vor-und Nachteilen nicht gegeben. Zur Indikation für eine spezielle Teilgruppe liegen bisher keine Daten vor. Es bleibt eine Indikation für Einzelfälle. Dabei muß geprüft werden, ob unter den gegebenen Umständen und den jeweiligen Vor-und Nachteilen eine drogenfreie Therapie nicht möglich oder nicht erfolgversprechend ist. Eine solche Indikation im Einzelfall wird als sinnvoll erachtet und wird sowohl von der Bundesärztekammer als auch dem Nationalen AIDS-Beirat der Bundesregierung unterstützt.

Drogenkonsum bestrafen Vertreter dieser Strategie halten die bisherigen Therapieversuche für gescheitert und gehen davon aus, daß nur eine verschärfte Strafandrohung und -ausführung Drogenabhängige vom weiteren Konsum abhält und gleichzeitig eine präventive Wirkung erzielt. Hierzu ist zu sagen, daß durch Strafe allein in der Regel keine Verhaltensänderung erreicht wird. Entweder führt es zu kreativem Bemühen, das unter Strafandrohung gestellte Verhalten dennoch auszuführen, oder, falls dies nicht gelingt, zu Aggression, Niedergeschlagenheit bis hin zu Selbstmordgedanken.

Dazu kommt, daß Drogenabhängige im Gefängnis nicht die Grundlage für eine langfristige Drogen-freiheit erwerben, sondern ihre Situation eher verschlechtern und die Bedingungen für einen Rückfall verstärken. Aus diesem Grund sollte alles unternommen werden, daß möglichst wenige abhängige Straftäter in Untersuchungshaft bzw. in den Strafvollzug kommen.

Verbindung von justitiellen Zwängen und Therapie Diese Strategie geht davon aus, daß Abhängige einer Vielzahl von Zwängen ausgesetzt sind, die früher oder später im Verlauf einer „Drogenkarriere“ auftreten. Es handelt sich dabei um negative körperliche Folgen (z. B. Leberschäden, HIV-Infektion), um emotionale negative Folgen (z. B. Selbstmordgedanken und Depression), um soziale Folgen (z. B. Androhung des Arbeitsplatzverlustes) sowie um juristische Folgen (z. B. Polizeiuntersuchungen, Untersuchungshaft und Strafvollzug). Diese negativen Folgen üben einen Druck am Beginn einer Behandlung aus, doch der Preis, den der Abhängige dafür bezahlen muß, ist hoch. Insofern ist zu überlegen, inwieweit durch frühzeitige justitielle Zwänge der Abhängige nicht die Erfahrungen einer Therapie machen kann, und so möglicherweise frühzeitiger den Drogenkonsum beendet, als dies der Fall wäre, wenn er so lange weiterkonsumiert, bis die beschriebenen Folgen von selbst auftreten.

Aus den Beobachtungen über die Lebensweise von Abhängigen ergeben sich zwei Ansatzpunkte für justitielle Zwänge

— Intensivierung der negativen Folgen der Abhängigkeit. Justitielle Zwänge könnten dazu beitragen, das Gleichgewicht zwischen den intensiven positiven und den zunächst noch geringen negativen Folgen des Drogenkonsums schneller herzustellen — eine Voraussetzung für den Beginn von Überlegungen des Drogenabhängigen zum Besuch einer Behandlung. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß ein attraktives Behandlungsangebot zur Verfügung steht. — Erfahrung der therapeutischen Realität und eines drogenfreien Lebens.

Justitielle Zwänge könnten dazu beitragen, daß Drogenabhängige zumindest für eine gewisse Zeit den therapeutischen Alltag, die Mitarbeiter sowie ein drogenfreies Leben kennenlemen. Dies ist vor allem bei solchen Drogenabhängigen wichtig, die noch nie oder nur wenig in Behandlung waren und möglicherweise über Erzählungen Dritter negative Vorurteile aufbauen. Insgesamt könnten justitielle Zwänge dazu beitragen, die „Karriere“ eines Abhängigen zumindest versuchsweise und für zeitlich definierte Fristen zu unterbrechen. Durch die Reduzierung bzw. Unterbrechung langandauernder Konsumphasen können justitielle Zwänge Gesundheit bewahren und Todesfälle vermeiden helfen. Solche Zwänge haben darüber hinaus den Vorteil, daß sie gerade in der Anfangszeit der Therapie noch weiter bestehen, wenn die negativen körperlichen und emotionalen Empfindungen sowie ein Teil der negativen sozialen Konsequenzen bereits durch die Behandlung reduziert sind. Da die Erinnerung an die positiven Folgen des Drogenkonsums dann nach wie vor sehr stark sind, herrscht in der Regel zu Beginn der Behandlung eine Phase der Ambivalenz zwischen Rückfall und zukünftigem drogenfreien Verhalten.

Darüber hinaus ermöglichen es justitielle Zwänge, daß Drogenabhängige zumindest eine gewisse Zeit den therapeutischen Alltag und ein drogenfreies Leben erfahren. Nur so haben sie überhaupt die Chance, aufgrund dieser Erlebnisse zwischen den Konsequenzen einer Fortführung des Drogenkonsums und den Vorteilen der Aufgabe des Drogen-konsums und einem drogenfreien Leben abwägen zu können. In diese „erzwungene“ Erfahrungssammlung eines konkurrierenden Lebensmodells zur Sucht wird das zentrale Argument für die Rechtfertigung justitieller Zwänge in der Therapie von Drogenabhängigen gesehen. Der Abhängige hat so die Chance, die in der Regel undifferenzierte Flucht in die Droge unter therapeutischer Hilfe und unter Kenntnis und Erfahrung alternativer Lebens-möglichkeiten rationaler abzuwägen.

Die genannten Überlegungen zum Einsatz justitieller Zwänge setzen voraus, daß diese für die therapeutische Zielsetzung auch effektiv sind. Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen in diesem Bereich deuten darauf hin, daß Patienten, die unter justitiellem Zwang in Therapie sind, zwar in der Anfangszeit für die Therapeuten mehr Probleme als üblich bereiten, daß aber im Laufe der Zeit ein ähnlich gutes therapeutisches Klima aufgebaut werden kann, und daß zumindest gleich gute und teilweise bessere Ergebnisse erreicht werden, als bei Patienten, die „freiwillig“ in Behandlung sind.

Die beschriebene Strategie zum Einsatz justitieller Zwänge würde darauf abzielen, daß statt Geld-oder Haftstrafen eine geeignete Form der Behandlung angeordnet wird, wenn eine Drogenabhängigkeit vorliegt. Dabei sollten auch vermehrt ambulante Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Die Behandlung sollte in jedem Fall mit einer längeren anschließenden Bewährungsauflage verbunden werden. Notwendig wäre es aber, für intensive therapeutische Kontakte sowie besser ausgebildete Bewährungshelfer zu sorgen. Darüber hinaus sollte das Prinzip „Therapie statt Strafe“

wesentlich stärker ausgebaut und flexibler gehandhabt werden, so daß die Anzahl der Drogenabhängigen in Untersuchungs-bzw. Strafhaft deutlich reduziert wird.

Therapeutische Einrichtungen verbessern Es gibt eine Reihe von Forderungen für die Verbesserung der therapeutischen Einrichtungen. Sie laufen alle darauf hinaus, ein „Mehr“ an Angeboten einzurichten, die Schwellen für die Zugänge zu den therapeutischen Einrichtungen abzubauen und die Ergebnisse durch eine individuellere Behandlung, die auf die Situation des einzelnen Patienten Rücksicht nimmt, zu verbessern. Alle drei Punkte sind wichtig. Dennoch muß vor allzu hohen Erwartungen an die Verbesserung des Versorgungssystems gewarnt werden. Abhängigkeit ist eine schwere Krankheit und das „nicht mehr aufhören können“ ist ihr zentrales und bestimmendes Merkmal. Verbesserungen der therapeutischen Versorgung sind zwar eine notwendige, aber als isolierte Maßnahme keine hinreichende Bedingung für das Ziel, mehr Abhängige zu behandeln und bessere Ergebnisse zu erreichen.

Die genannten fünf grundsätzlichen Strategien haben auf der technisch-pragmatischen Ebene alle ihre Vor-und Nachteile. Man kommt deshalb leicht in Begründungsschwierigkeiten, wenn man für gesundheitspolitisches Handeln eine der Strategien oder eine Kombination davon auswählen muß. Hier zeigt sich, daß zusätzlich zu den angenommenen Vor-und Nachteilen einer jeden Strategie die übergeordnete Gesundheitspolitik und die ihr zu Grunde liegende Maxime formuliert werden müssen. Hierbei geht es nicht um wissenschaftliche Ergebnisse, sondern um Werthaltungen. 3. Versuch einer Formulierung von gesundheitspolitischen Maximen für die Therapie von Drogenabhängigen Es gibt im Leben eines Menschen Phasen bzw. Situationen, in denen individuelle Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung zum Schutz des einzelnen oder Dritter eingeschränkt ist. Beispiele dafür sind die Kinder-und Jugendzeit, schwere Krankheiten oder die Verhinderung weiterer Straftaten. Aber auch hier ist es der Grundgedanke jeglichen staatlichen Handelns, sei es im Bereich der Polizei oder Justiz, im Bereich der Fürsorge oder Behandlung, diese Einschränkungen der Freiheit so gering und so kurz wie möglich zu halten.

Aus dem eben gesagten ergibt sich als oberstes Ziel für die Behandlung von Abhängigen immer die Abstinenz mit der damit verbundenen Unabhängigkeit von Medikamenten und weiterer therapeutischer Betreuung. Hierfür sind alle Anstrengungen durch die Gesellschaft, die soziale Umgebung, den einzelnen Therapeuten und auch durch den Abhängigen notwendig. Bei einer schweren Abhängigkeit und der damit verbundenen Einschränkung der Freiheit ist Unabhängigkeit nicht einfach zu erreichen. In der Regel sind dazu über Jahre mehrere Anläufe notwendig.

Allerdings sollte darauf geachtet werden, und dies unterscheidet eine moderne Therapiephilosophie von der traditionellen abstinenzorientierten Konfrontation, daß die Anstrengungen des Abhängigen zur Abstinenz nicht zu einer unnötigen Quälerei werden, weil diese momentan nicht erreicht wird. Die Achtung der Menschenwürde gebietet es hier, einem Abhängigen zu helfen, auch wenn er zur Abstinenz nicht fähig ist. Diese Aussage erscheint selbstverständlich, war aber über Jahre für viele Therapiekonzepte wenig relevant.

Ein solches Vorgehen bedeutet nicht die Akzeptierung der Sucht. Begriffe wie „suchtakzeptierende oder suchtbegleitende Arbeit“ werden deshalb auch als gefährlich angesehen. Dem Abhängigen muß verdeutlicht werden, daß nicht die Sucht als Lebensform akzeptiert wird, wohl aber die Person des Abhängigen, die momentan nicht zu einer Verhaltensänderung fähig ist. Die Betonung liegt hier auf „momentan“. Zahlreiche amerikanische Untersuchungen und auch eigene Studien zeigen, daß es sehr selten einen sich ständig verschlimmernden Verlauf der Drogenabhängigkeit gibt, der es erlaubt, einen „cut-off“ zu definieren, ab dem jegliches therapeutisches Handeln mit dem Ziel Abstinenz sinnlos wird. Untersuchungen konnten zeigen, daß die Veränderungsbereitschaft nicht linear abnimmt, sondern zyklisch verläuft, und daß auch zahlreiche Behandlungsversuche die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ergebnisses nicht reduzieren.

Akzeptieren der momentanen Unfähigkeit zur Abstinenz bei einem Abhängigen erfordert aber dennoch eine intensive Betreuung. Es geht darum, mit allen geeigneten Möglichkeiten die Risiken eines weiteren Konsums zu minimieren. „Lebenserhaltende“ Maßnahmen wie Wohn-oder Übernach25 tungsmöglichkeiten, Entschuldungshilfen, Maßnahmen zur HIV-Prävention wie Hilfen zur Sterilisierung von Spritzen bzw. Spritzenaustauschprogramme, Maßnahmen zur Verbesserung der Sexualhygiene sind erforderlich; alles, was das Risiko des weiteren Konsums für das Leben des Abhängigen und seine Umgebung reduziert.

In diesem Zusammenhang hat auch die einzelfall-bezogene Indikation für die Substitution durch Methadon ihren Stellenwert. Sie ist dann gegeben, wenn aufgrund einer sorgfältigen Analyse davon auszugehen ist, daß Versuche zur Abstinenz keinen Erfolg mehr haben, und daß das Risiko einer Methadonsubstitution geringer ist als das Risiko eines weiteren illegalen Konsums. 4. Merkmale eines modernen Therapiekonzepts Auf dem Hintergrund der beschriebenen gesundheitspolitischen Überlegungen sollte man bei der Gestaltung der therapeutischen Versorgung darauf achten, daß die folgenden Merkmale berücksichtigt werden.

Frühzeitige Intervention Statt dem Abwarten, bis der Abhängige aufgrund der Spätschäden von selbst kommt, sollte alles versucht werden. Abhängige frühzeitig nach Auftreten erster negativer Folgen bzw. nach einem erneuten Rückfall zu erreichen. Dazu gehört, daß ein attraktives Behandlungsangebot besteht, und daß alle Hindernisse und Schwellen zum Besuch dieses Angebots abgebaut werden

Individuelle Behandlung Der Mythos, daß alle Abhängigen in ihrer Struktur und in ihren Folgeproblemen gleich sind und deshalb auch gleich behandelt werden, muß aufgegeben werden. Je früher man Abhängige erreicht, desto größer sind die Unterschiede in der Entwicklungsgeschichte und in der aktuellen Problemlage. Individuelle Behandlung erfordert eine individuelle Diagnostik und damit zusätzliche Kompetenzen bei den Therapeuten. Individualität ist zu beachten im Hinblick auf die Inhalte der Behandlung, auf die Dauer der Behandlung, die traditionell sehr lange ist, und auf die Organisationsform wie ambulant, teilstationär oder stationär

Förderung der Motivation Der Aufbau und die Aufrechterhaltung der Motivation zum weiteren Besuch der Therapie und zur Veränderung des eigenen Lebens darf nicht mehr in die alleinige Verantwortung des Patienten gestellt werden. Vielmehr ist es notwendig, daß der Therapeut motivationsfördernde Maßnahmen kontinuierlich als integrierten Bestandteil in die Therapie einbezieht. Auch hier ist es notwendig, die Therapeuten mit moderneren Verfahren der Motivationsförderung aus der Psychotherapieforschung vertraut zu machen.

Rückfallprävention Der Rückfall als ein kaum auszuschließendes Vorkommnis nach Ende der Therapie darf nicht mehr kollektiv von Therapeuten und Patienten „verdrängt“ werden. Vielmehr ist er aktiv in das therapeutische Geschehen einzubeziehen. Aus der neuen Forschung liegen zahlreiche Maßnahmen zur Rückfallprävention vor. Dazu gehören die Zusammenstellung möglicher Rückfallauslöser, die gedankliche Verarbeitung der vorausgehenden Situationen bis zum Rückfall, der möglichen Lösungsansätze, aber auch Rollenspiele, um kritische Rückfallsituationen besser als bisher zu meistern. Auch hier sind zusätzliche Therapieausbildungen notwendig.

Einsatz justitieller Zwänge zum frühzeitigen Besuch einer Behandlung Es sollte unter allen Umständen verhindert werden, daß Drogenabhängige in Untersuchungs-oder Strafhaft geraten. Vielmehr sollte versucht werden, Rechtsverletzungen von Abhängigen mit Auflagen zum Besuch einer ambulanten oder stationären Therapie zu sanktionieren, um ihnen möglichst häufig und frühzeitig den Kontakt mit einem alternativen Lebenskonzept zum Drogenkonsum vertraut zu machen.

Abgestufte Therapieziele im Sinne der Risikominimierung Drogenabhängige, die momentan zur Änderung ihres abhängigen Verhaltens nicht fähig sind, sollten dennoch intensiv betreut werden. Ziel ist dabei, die Risiken des Drogenkonsums möglichst zu minimieren. Im Rahmen der Risikominimierung kann es im Einzelfall angebracht sein, ein Substitutionsprogramm mit Methadon durchzuführen. Dazu müssen die notwendigen Organisationsstrukturen geschaffen werden.

V. Prävention

Quelle: 1980 a. Arbeitskraft und Klientenzahl in den Jahren 1980 • 1989 1981 1982 1983 1984 Jahr 1985 1986 1987 1988 1989 Abbildung 5: Vgl. R. Simon u. Zunahme von Arbeitskraft und Patientenzahl in den Jahren 1980 bis 1989 (Anm. 6).

Die Drogen-Prävention in der Bundesrepublik Deutschland ist in einem desolaten Zustand. Desolat im Hinblick auf strukturelle Bedingungen, Ausmaß der Aktivitäten und Qualität der Konzepte. Zwar gehört die Sekundärprävention zur Aufgabenstruktur ambulanter Einrichtungen für Drogen-und Alkoholabhängige, doch gibt es für die Primärprävention faktisch keine Organisationen auf lokaler Ebene, die sich damit umfassend beschäftigen. Das Gesundheitsamt hat zwar die Prävention von Erkrankungen im Aufgabenkatalog, nimmt diese aber in der Regel für den Bereich der Prävention von Abhängigkeiten nicht wahr. Drogenberatungsstellen sind sowohl personell als auch vom Ausbildungsstand der Mitarbeiter und den strukturellen Einflußmöglichkeiten her für die primäre Prävention ungeeignet. Zwar gibt es durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung umfangreiche Materialien, u. a. für den Schulunterricht zu allen relevanten Altersstufen, doch wird in der Schule zu sehr das naturwissenschaftliche Fachwissen vermittelt, aber zu wenig die Lebenskompetenz und die Möglichkeiten, mit dem Drogenproblem in unserer Gesellschaft als Jugendlicher und junger Erwachsener umzugehen.

Aber auch inhaltlich sind zahlreiche präventive Maßnahmen veraltet. Sie betonen zu sehr Konzepte der Informationsvermittlung bzw.der Angstauslösung durch Abschreckung, die beide nur eine sehr begrenzte Wirkung haben. Auch das seit einigen Jahren einbezogene „Risikofaktorenkonzept“ ist heute unzureichend. Es vernachlässigt die individuellen Differenzen zwischen Personen und betont zu stark das grundsätzliche Risiko umschriebener Gruppen. Dazu kommt, daß zahlreiche Risikofaktoren empirisch kaum begründbar sind, und daß — überspitzt ausgedrückt — nahezu die gesamte Bevölkerung zu einer der zahlreichen Risikogruppen gehört, obwohl nur ein sehr geringer Teil tatsächlich abhängigkeitsbezogene Probleme entwickelt.

In Zukunft sollten präventive Maßnahmen stärker nach dem Konzept der individuellen „Lebenskompetenzförderung“ orientiert werden. Die rechtzeitige Erkennung und der geeignete Umgang mit Streßsituationen, Fähigkeiten zu Problemanalyse und -bewältigung, die positive Einschätzung des eigenen Lebens aktiv gestalten können, Fähigkeiten, Kompromisse schließen zu können, sind Beispiele für solche Lebenskompetenzen. Diese müssen individuell in der Kindheit und Jugendzeit gefördert werden. Dafür sind langfristig eine Vielzahl struktureller Maßnahmen notwendig, u. a. Veränderungen bei den Lehrplänen und Verbesserung des Ausbildungsstandes von Bezugspersonen (Kindergarten, Jugendzentrum, Schule). Darüber hinaus müssen auf lokaler Ebene organisatorische Strukturen mit einer Verantwortung für präventive Maßnahmen geschaffen sowie die Forschung verstärkt werden.

VI. Schlußbemerkungen

80 70 Mißbrauch und Abhängigkeit nach Einzelsubstanzen Bundesrepublik Deutschland (Referenzstichprobe). Berichtszeitraum: 1. 1. 1988— 31. 12. EBIS-Berichte, Behandlungsstellen für Abbildung 6: Aufschlüsselung der mißbrauchten Substanzen von Patienten ambulanter Einrichtungen % der Klientinnen Quelle: R. Simon u. a. Erweiterte Jahresstatistik 1988 der ambulanten Beratungs-und EBIS-AG der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren. 1988. Suchtkranke in der Bd. 13. Hamm 1990,

Der Aufsatz versteht sich als ein Plädoyer an alle Beteiligten, das Versorgungssystem für Drogenabhängige in der Bundesrepublik sowie die präventiven Ansätze sorgfältig zu analysieren und im Sinne eines adaptiven Vorgehens durch zahlreiche einzelne, aber in sich abgestimmte Maßnahmen zu optimieren. Nach Meinung des Autors sollten dabei solche Maßnahmen im Vordergrund stehen, die es ermöglichen, daß mehr Abhängige frühzeitiger in eine Form der Betreuung oder Behandlung kommen und daß weniger Abhängige diese wieder abbrechen. Die dazu notwendige individuellere Behandlung ist zum Teil eine Frage zusätzlicher finanzieller Mittel und zu verändernder Strukturen und Gesetze, zum größeren Teil allerdings von der Weiterentwicklung der therapeutischen Philosophie der Mitarbeiter abhängig. Begleitend dazu sind weitere Modellerprobungen und der Ausbau der Forschung notwendig.

Das vorgeschlagene Vorgehen ist zwar wenig spektakulär, macht die Drogenabhängigen jedoch nicht zum möglichen Opfer unnötiger Risiken. Zum Abschluß soll in diesem Zusammenhang an die Konvention von Helsinki erinnert werden, die zwar für medizinische Versuche an Patienten gilt, deren Prinzipien aber auch für die Behandlung von Drogenabhängigen herangezogen werden können. Wenn alle Vorschläge für Weiterentwicklungen, „liberale“ oder „konservative“, sich an diesen Prinzipien orientieren würden, wäre viel gewonnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. K. -H. Reuband, Illegale Drogen, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch ‘ 90 zur Frage der Suchtgefahren, Hamburg 1989, S. 113— 155.

  2. Vgl. W. Kindermann. Komplexität von Drogenkarrieren, in: W. Feuerlein/G. Bühringer/R. Wille (Hrsg.), Therapie-verläufe bei Drogenabhängigen. Kann es eine Lehrmeinung geben?, Heidelberg 1989, S. 28-39.

  3. Vgl. K. -H. Reuband (Anm. 1).

  4. Vgl. ebd.

  5. Vgl. H. Ziegler, Zur Versorgung Suchtkranker in der Bundesrepublik Deutschland, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.), Jahrbuch ‘ 90 zur Frage der Suchtgefahren, Hamburg 1989, S. 23— 31.

  6. R. Simon/M. Strobl/B. Schmidtobreick/H. Ziegler/G.

  7. Vgl. G. Bühringer, in: Süddeutsche Zeitung vom 28. /29. Januar 1989, S. V.

  8. Vgl. G. Bühringer, Mißbrauch und Abhängigkeit von illegalen Drogen und Medikamenten, in: H. Reinecker (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Psychologie, Göttingen 1990, S. 196-221.

  9. Vgl. G. Bühringer, Die juristischen Maßnahmen sollen so gestaltet werden, daß Drogenabhängige möglichst früh therapeutisch erreicht werden und der Strafvollzug weitgehend vermeidbar wird, in: M. Adams u. a. (Hrsg.), Drogen-politik. Meinungen und Vorschläge von Experten, Freiburg 1989, S. 19-28.

  10. Vgl. Bundesamt für Gesundheitswesen (Hrsg.), Methadonbericht. Suchtmittelersatz in der Behandlung Heroinabhängiger in der Schweiz. Eidgenössische Betäubungsmittel-kommission Arbeitsgruppe „Methadon“ der Subkommission „Drogenfragen“, Bern 1989; Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.), Medikamentengestützte Rehabilitation bei Drogenabhängigen, Düsseldorf 1987; G. Bühringer, Analyse des therapeutischen Angebots für Drogenabhängige in der Bundesrepublik. Kann Methadon-Behandlung einen Beitrag zur Verbesserung leisten?, in: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW (Hrsg.), Medikamentengestützte Rehabilitation bei Drogenabhängigen, Düsseldorf 1987, S. 33— 47; ders., Substitution: Die Einführung von Mcthadon-Erhaltungsprogrammen in der Bundesrepublik Deutschland zu Ende gedacht. Vortrag anläßlich der Jahrestagung des LWL „Legalisieren — Entkriminalisieren — Substituieren“ am 5. Dezember 1989 auf Schloß Herten.

  11. Vgl. M. Adams u. a. (Hrsg.) (Anm. 9); G. Bühringer/K. Herbst/C. D. Kaplan/J. J. Platt. Die Ausübung bei justitiellem Zwang bei der Behandlung von Drogenabhängigen, in: W. Feuerlein/G. Bühringer/R. Wille (Hrsg.), Therapie-verläufe bei Drogenabhängigen. Kann es eine Lehrmeinung geben?, Heidelberg 1989, S. 43— 74.

  12. Vgl. G. Bühringer, Frühzeitige Behandlung von Abhängigen. Vortrag anläßlich des Dresdner Symposiums „Ambulante und stationäre Behandlung von Alkoholkranken in der BRD. Voraussetzungen — Schlußfolgerungen — Ergebnisse“ am 17. Mai 1990 in Dresden.

  13. Vgl. G. Bühringer. Individualisierung der Suchttherapie — Forschung und Praxis. Vortrag anläßlich des 2. Kongresses „Individualisierung der Suchttherapie“ des Fachverbands Sucht e. V. am 1. Juni 1989 in Heidelberg.

Weitere Inhalte

Gerhard Bühringer, Dipl. -Psych., Dr. rer. soc., geb. 1947; Leiter des Instituts für Therapieforschung (IFT) in München; Mitglied des nationalen AIDS-Beirats der Bundesregierung und des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Suchtforschung und Evaluation von Behandlungseinrichtungen der psychosozialen und psychosomatischen Gesundheitsversorgung.