Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Lodern oder lottern? Vom möglichen Ende des pathetischen Tons in der Nach-DDR-Literatur | APuZ 44/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 44/1990 Artikel 1 Studenten in der Wende? Versuch einer deutsch-deutschen Typologie vor der Vereinigung Das Ende der Macht ist der Anfang der Literatur. Zum Streit um die Schriftstellerinnen in der DDR Lodern oder lottern? Vom möglichen Ende des pathetischen Tons in der Nach-DDR-Literatur

Lodern oder lottern? Vom möglichen Ende des pathetischen Tons in der Nach-DDR-Literatur

Alexander von Bormann

/ 37 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Untersucht wird, wieweit Pathos in der DDR-Literatur zu den Formen literarischen Widerstehens gehörte. Der pathetische Ton meldet mit Kraft und Überzeugung poetisch Widerstand gegen eine Welt an. die Leiden zufügt, aber Freiheit und Selbstbestimmung verheißen hat. Er bezieht sich auf Friedrich Schillers Satz: „Pathos muß da sein, damit das Vemunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne“. In mehreren Ansätzen wird die Literatur der DDR vor allem der achtziger Jahre auf diese Ausdrucksform hin befragt, mit der abschließenden Hypothese, daß nun vielleicht ein Wechsel der Tonarten zu erwarten ist.

Mitte der achtziger Jahre hatte Rüdiger Rosenthal, damals noch in Ostberlin, jetzt in Westberlin lebend, ein schmerzliches Gedicht enden lassen: „Dann fliehen wir vor uns selbst/in seltsame Welten. Dort ist ein Weg/Ach endlich neu beginnen hier.“ Die Schlußzeile war seinerzeit ein Stoßseufzer ohne Aussicht auf Realisierung gewesen. Und seltsam unbestimmt hatte das „hier“ ohnehin geklungen. könnte auch auf das „Dort ist ein Weg“ bezogen werden, das vielleicht von Goethes „Mignon“ -Lied eingegeben war: auf die seltsamen Welten der Poesie, die einzig den so vielfältig kontrollierten und reglementierten Dichtern noch offen-standen. Hatten sie eigentlich offen gestanden?

Fürs Theater beschreibt Heiner Müller die Situation mit einem sehr plastischen Beispiel: „Die Kunst hat vom Mangel gelebt. Peter Brook erzählt von einer Theateraufführung kurz nach dem Krieg: Da trat ein Clown vor hundert Kindern auf und hat nur Wurstsorten aufgezählt. Und bei jeder Wurst-sorte haben die Kinder gejubelt, weil sie die nicht hatten. Das war bei uns die Funktion von Theater.“

Doch läßt sich so die Funktion der Dramatik, der Literatur, der Kunst in der DDR zureichend erfassen? Sie hat mit ihrem Mangel ja durchaus Rat gewußt, vielfach aus den Nöten Tugenden gemacht und schließlich auch (und gerade) im Westen erhebliche Anerkennung einzuheimsen gewußt. Das ist vermutlich kaum auf jenen von Müller so trefflich charakterisierten sarkastischen Ansatz zurückzuführen.

I. Pathos: Form des Widerstands?

Hier soll die These vertreten werden, daß die Wirkung der DDR-Literatur vor allem in der Wiederbelebung pathetischen Sprechens gelegen war, einer Tonlage, die poetisch und ideologisch im Westen weitgehend obsolet geworden ist, gleichwohl beim Lesepublikum, vor allem im Kleinbürgertum und bei Älteren, noch auf viel Einverständnis trifft. Der pathetische Ton entspricht der Erwartung an ein höheres Wissen der Dichter, evoziert die Rolle des Seher-Priesters, den Gestus der Verkündigung, jedenfalls des stellvertretenden Sprechens. Josef Weinheber (1944): „Ich selbst bin nur die Waage/künftiger Menschlichkeit.“ Muß nun Pathos immer gleich „hohles Pathos“ sein, wie die Umgangssprache es nahelegt? Ist die Ursprungsbedeutung „Sprache des Leids“ nicht immer wieder aktuell?

In den siebziger und achtziger Jahren war alle nennenswerte Kunst-und Literaturproduktion in der DDR subversiv angelegt, also in ausdrücklicher oder verdeckter Weise oppositionell. Die SED-Führung reagierte mit massiver Austreibung dieser kritischen Geister. (Daran waren sehr viele Institutionen und Menschen beteiligt.) Die Dichter, die blieben, entwickelten eine mehrfach kodierte, vielschichtig bedeutsame Formensprache, was sich u. a. am Modell einer „listigen Lyrik“ eindrücklich zeigen ließe. Hier aber interessiert nun das „unverdeckte“ Sprechen, der offene Ton. fordernd oder klagend, die Ausstellung von Leiden. Entfremdung. Fremdbestimmung im Namen humanistischer Grundsätze, auf die man auch den Sozialismus verpflichtet weiß (wissen möchte), eine Kritik also, die Parteilichkeit nicht zu scheuen braucht und Brechts Votum im Expressionismus-Streit begriffen hat. Der sah „das Niedersäbeln des Expressionismus mit Unwillen“, weil er — zu Recht — fürchtete, „daß da Befreiungsakte an und für sich niedergedrückt werden“ sollten. Aber das war 1938, und vierzig bis fünfzig Jahre später stellt sich die Frage, ob das Bestehen auf „Ausdruck“ noch angemessen ist. (Schon Bertolt Brecht hatte es so diffizil wie gründlich relativiert.)

Der pathetische Ton.der in fast allen Gattungen und bei fast allen Dichtern in der DDR vorkommt, hat sein gutes (oder: schlechtes) Recht: Er meldet mit Kraft und Überzeugung poetisch Widerstand gegen eine Welt an. die Leiden zufügt, aber Frei-heit, Emanzipation und Selbstbestimmung verheißen hat. Friedrich Schiller (Über das Pathetische): „Bei allem Pathos muß also der Sinn durch Leiden, der Geist durch Freiheit interessiert sein. Fehlt es einer pathetischen Darstellung an einem Ausdruck der leidenden Natur, so ist sie ohne ästhetische Kraft, und unser Herz bleibt kalt. Fehlt es ihr an einem Ausdruck der ethischen Anlage, so kann sie bei aller sinnlichen Kraft nie pathetisch sein.“

Wenn man so will, war die DDR-Situation besonders geeignet für den pathetischen Ton: Unterdrükkung, Verfolgung, Einschränkung der Willensfreiheit und Lebens-wie Ausdrucksmöglichkeiten, Erziehung zur Doppelzüngigkeit, zu Ironie und Sarkasmus. Das alles war in der Ideologie nicht vorgesehen und deutet die Widersprüchlichkeit an, vor der sich (nicht nur) die Intellektuellen fanden. Viele von ihnen waren nicht bereit, auf die zugemutete Doppelzüngigkeit mit listigem Spiel, satirischen Überbietungen, ironischen Querschlägen einzugehen, sondern hielten sich an den Wortlaut der frühen Versprechen, einen anderen deutschen Staat unter der Losung des „Nie wieder!“ konkret realisieren zu wollen. Das war, was nicht immer wahrgenommen wurde, durchaus eine oppositionelle Geste und keineswegs so blauäugig, wie (z. B. Volker Braun) gern unterstellt wird. Friedrich Schiller dazu: „Die ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift, beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln möglich sei, d. h. daß keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken vermöge. Diese Möglichkeit liegt aber in jeder starken Äußerung von Freiheit und Willenskraft. . (Über das Pathetische).

Die Darstellung des Leidens kann Schiller zufolge niemals Zweck der Kunst sein, und er hat sein Konzept des pathetischen Sprechens (des Erhabenen, des Tragischen) als Frage nach der Ausdrucksform entwickelt, welche der Widerstand gegen die Gewalt (der Lebensverhältnisse, der Politik, der Gefühle) ästhetisch-poetisch finden kann. Taktvoll setzt er eine gewisse Distanz zum Leiden voraus, damit es zur „sympathetischen“ Kunst-Äußerung kommen kann, denn „wirkliches Leiden gestattet kein ästhetisches Urteil, wei es die Freiheit des Geistes aufhebt“ (Vom Erhabenen). Der Wide -stand aber äußert sich im pathetischen Ton: „Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne“ (Über das Pathetische).

Dem Gefühl der Ohnmacht und Begrenzung tritt im pathetischen Ton ein Widerstand entgegen, der im Gefühl einer Überlegenheit gegründet ist. Für Schiller ist das die Möglichkeit der Vernunft, sich das Sinnliche geistig zu unterwerfen — eine Argumentation, der die Gegenwart kaum zu folgen bereit sein dürfte, geht Schiller doch so weit zu erklären: „Aufopferung des Lebens in moralischer Absicht ist in hohem Grad zweckmäßig, denn das Leben ist nie für sich selbst, nie als Zweck, nur als Mittel zur Sittlichkeit wichtig.“ Und an anderer Stelle derselben Schrift (Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen): „Übereinstimmung im Reich der Freiheit ergötzt uns unendlich mehr, als alle Widersprüche in der natürlichen Welt uns zu betrüben vermögen.“ Doch erhalten bleibt das pathetische Sprechen als Ausdruck einer Selbst-Gewißheit, die keiner Ableitungen bedarf, in sich selber seinen Grund findet, eine Selbst-konstitutive Rede, welche die Natur des Menschen darein setzt, daß er die Natur zu überschreiten bereit ist.

II. „Der verwundete Mensch“. Das Konzept einer proletarischen Tragödie

Es ist schlimm genug, daß dieses Sprechen von altersher stets an Bedrohungen und Untergangssituationen gebunden ist. Da im Sozialismus hierfür ideologisch kein Raum gegeben ist/war, hatte dort eigentlich auch das Pathos nichts verloren. Nicht nur die klassische Begründung von Tragik ist im Sozialismus obsolet geworden, überhaupt hat die Form der Tragödie dort prinzipiell ausgespielt, wo es überflüssig geworden ist, eine gesellschaftliche/weltanschauliche Sinngebung durch den (Opfer-) Tod von Held(inn) en zu erreichen (man vergleiche hierzu die Studien von Walter Benjamin und Peter Szondi). Im Christentum wie im Sozialismus kann es entsprechend Tragik nur als Zitat geben, als Indiz für Ungleichzeitigkeiten, für nicht erreichte Entwicklungen. Die Ideologie eines notwendigen Untergangs ist nicht mehr begründbar, wohl als Übel von Übergangszeiten zitierbar (Wischnewski, Brecht, Piscator). Heiner Müller schreibt nicht „Optimistische Tragödien“ in diesem Sinne, kritisch wendet er die Tragik zur Groteske hin und zurück (Joseph Hanimann), „dekonstituiert" die Tragödie, beendet (in „Mauser“) die These einer Übergangszeit, man habe den neuen Menschen herbeizutöten. (Erich Fried sarkastisch dazu: „Die Bösen werden geschlachtet/Die Welt wird gut.“) Andererseits versteht Müller einige seiner Werke als „proletarische Tragödie“, was gewiß als kritischer Einwurf gegen die sozialistische Verheißung einer Aufhebung aller Entfremdungen zu verstehen ist. In seiner Nachbemerkung zu „Wolokolamsker Chaussee“ (1987) stehen die etwas kryptischen Sätze: „WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE ist nach GERMANIA und ZEMENT der dritte Versuch in der Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution, das mit der Einheit von Mensch und Maschine zu Ende gehen wird, dem nächsten Schritt der Evolution (der die Revolution voraussetzt und Drama nicht mehr braucht).“

Nun zeigt eine weitere Bemerkung im Nachwort, daß Müller keine strenge Gattungsdiskussion im Sinne hat, mit der Bezeichnung „Trauerspiel“ vermutlich genauso einverstanden wäre. (Das Trauerspiel verzichtet auf den Nachweis von Notwendigkeit, stellt Untergänge „einfach so“ aus, als zu jeder Geschichte gehörig.) Müller: „Das Bild: der verwundete Mensch, der in der Zeitlupe seine Verbände sich abreißt, dem im Zeitraffer die Verbände wieder angelegt werden usw. ad infinitum.“

Dieses Motiv könnte auf ein abgeleitetes oder indirektes, sozusagen metaphorisch pathetisches Sprechen führen. Doch Heiner Müller begnügt sich nicht damit. Seine fünf „Szenen nach Motiven“ gehen entschlossen und provokativ auf die Frühzeit der Revolution zurück, buchstabieren sich zurück in jene heroische Phase, leisten Erinnerungsarbeit, vermutlich im Gefühl, daß hierzu ein letzter Moment gekommen ist. arbeiten also zugleich mit erborgtem Pathos: der Vergegenwärtigung von historischen Szenen und Entscheidungsmomenten, da Pathos als „gedeckte Sprache“, als Sprechen mit Körpereinsatz plausibel gemacht werden kann. Die „Russische Eröffnung“ (I) hebt als Hauptfigur den Kommandeur heraus, der einen Deserteur erschießen läßt, woran er zerbricht: „Und immer geht der Tote meinen Schritt/Ich atme esse trinke schlafe nachts/In meinem Kopf der Krieg hört nicht mehr auf/Die eine Salve und die andre Salve/Gehn zwischen meinen Schläfen hin und her . .

Die zweite Szene gehört der gleichen Zeit zu, die dritte („Das Duell“) thematisiert den 17. Juni 1953, die Niederschlagung des Aufstandes mit Panzern, den als Gespenst fortwährenden Stalinismus in der DDR: „Hab ich gesagt Stalin ist tot Heil Stalin/Da kommt er das Gespenst im Panzerturm/Unter den Ketten fault die Rote Rosa/Breit wie Berlin Wir sind die Totengräber/Jeder an seinem Platz im Leistungslohn/Wir wissen wie man tafelt mit Gespenstern.“ Vielleicht ist dieser letzte Satz auch auf die Form zu beziehen: Müller arbeitet mit dem klassischen Blankvers und dem Tragödienmodell, das nach dem Sinn von Untergängen fragt, d. h. ihnen mit hoher Kunstbemühung einen solchen unterlegt. „Ein Text“, sagt Müller im Gespräch mit Sylvere Lotringer (Berlin 1981), „hat zwei Übermittlungsebenen: eine ist Information, die andere Ausdruck.“ Und er meint, daß die Unterdrückung von Information im Osten dazu geführt habe, daß auch die Ausdrucksebene dort als Informationsträger funktioniert.

Das hieße aber, daß die Erinnerung an Tragödie, mit dem provokativen Zusatz „Proletarische Tragödie“, die Wiederbelebung von antikem Pathos und dessen Projektion auf kommunistische Konterrevolutionen (z. B.den 17. Juni) als Kritik aktueller Politik und orthodoxer Geschichtsdeutungen verstanden werden können. Zugleich als Erinnerung daran, daß es „gedeckte“ Pathosrede gibt: Am Körper scheitern die Ideologien, war die antike Über-zeugung. Müller findet die Körper nachgiebiger. Sein Gesprächspartner Lotringer beschreibt den dramatischen Gestus und Impetus, dem Müller unumwunden zustimmt: „die deutsche Geschichte bis auf die Knochen freilegen, um zu verhindern, daß in Schuld und Unterdrückung das Verbrechen überlebt“. In einer Anmerkung zu Teil III der „Wolokolamsker Chaussee“ freilich lenkt Müller auf das barocke Tragik-Modell zurück, das die Pathos-Rede der Verse mitinformiert: „Vielleicht ist der Bruch die Reife: Was nicht gebrochen wird, kann nicht geerntet werden.“ Ähnlich haben auch Volker Brauns frühe Dramen argumentiert.

Heiner Müller hat in seinem frühen Text „Mauser“, der die heroischen Parolen des Kommunismus zu Ende dekliniert, die Unmöglichkeit dargestellt, die klassische Position eines mit sich identischen Ichs und eines aus der Fülle sprechenden Subjekts zu behaupten:

Denn unsers gleichen ist nicht unsers gleichen Und wir sind es nicht, die Revolution selbst Ist nicht eins mit sich selber, sondern der Feind mit Klaue und Zahn, Bajonett und Maschinengewehr schreibt in ihr lebendes Bild seine schrecklichen Züge Und seine Wunden vernarben auf unserm Gesicht. “

Das Pathos der Selbstentfremdung im Geschäft des Tötens regiert diese Zeilen und das (auf Brechts „Maßnahme“ reagierende) Stück, die Absage an alle christliche wie „bürgerliche“ Humanität, ein Theorem, das von ursprünglicher (geschöpflicher) Gleichheit ausgeht. Das hohe Pathos steht hier noch in der Tradition der Tragödie und der Revolutionsbejahung, wobei Feind und Kämpfer immerhin durch das Verhältnis Wunde-Narbe verbunden sind. (Man vergleiche auch Volker Brauns hochpathetischen Text „Material IV: Guevara“ in „Training des aufrechten Gangs“, 1979.) Das Pathos wird in Müllers Stück dann, anders als für die Tragödie üblich, von den Personen abgezogen und der Erzähler-Instanz übertragen, was die These vom Bruch als Reife vorbereitet; eine These, die irgendwann kein Pathos mehr gestatten wird.

Neuere Texte jüngerer Autoren halten sich an die (auch Müllersche) Technik, der Tragödie ein Satyr-spielals Farce nachzuschicken. Am eindrucksvollsten in diesem Zusammenhang ist vielleicht Christoph Heins Parabelstück „Die Ritter der Tafelrunde“ (1989), das er selbst „Eine Komödie“ nennt; hier ist es dem Parlandoton überlassen, die ernsten Themen „ins Museum zu schaffen“. In den letzten Zeilen kommt wieder Pathos auf, aber sozusagen abschließend: ARTUS (zu seinem aufmüpfigen Sohn) „Ich habe Angst, Mordret. Du wirst viel zerstören.“ MORDRET „Ja, Vater.“

III. „Du willst es wissen zerschlagener Leib.“ Pathos der Verfolgung

Der November 1989 hat zum letzten Mal deutlich gemacht, wie ungleichzeitig die Situation der DDR war: zur Ideologie und zum eigenen Anspruch, zu den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen, zu den realen Möglichkeiten, zu den Nachbarn, zur Geschichte wie zur Zukunft. Das hat auch die Literatur geprägt, selbst wo sie sich (fast durchgängig) kritisch-oppositionell begriff. Hier soll die These erwogen werden, ob nicht ein Wechsel der Töne angezeigt ist, und genauer: am Beispiel des pathetischen Sprechens, das — als ungleichzeitige Form — die gesellschaftlich-politischen-kulturellen Ungleichzeitigkeiten zu überholen/zu überbieten sucht. Fehlt diese Herausforderung, so könnte doch wohl auch die poetische Sprache wieder weniger angestrengt daherkommen, so die Hypothese. Vermutlich wandelt sich die Sprache nun erstmal vom hohen zum niederen Ton.

Die frühe DDR-Literatur, zu einem guten Teil durch die zurückgekehrten Exilanten geprägt, hat mit Recht in der Verfolgung Andersdenkender ein zentrales Thema gefunden (Bruno Apitz, Anna Seghers, Günther Weisenborn, Bertolt Brecht u. a.), und fast immer ging es um die Verfolgung durch den Nationalsozialismus. Das Modell aber reichte weiter und war ja auch im Zusammenhang der Politik der Einheitsfront (nach 1935) im humanistisch inspirierten antifaschistischen Widerstand (Ernst Toller. Friedrich Wolf, Arnold Zweig, Klaus Mann u. a.) entwickelt worden. So wurde das Aushalten von Verfolgung, der Widerstand gegen Terror und Unterdrückung bald auch ein „Modell“ von dissidenten Autoren in der DDR, früh schon bei Johannes Bobrowski oder Peter Hüchel, in den siebziger und achtziger Jahren dann fast allgemein.

Die Absicht dieses Beitrags ist nicht historisch, sondern eher formsemantisch orientiert: Wie begründet sich pathetisches Sprechen aus der Verfolgten-Situation? Mit der optimistischen Perspektive: auch diese Quelle von Pathos sei nun hoffentlich bald versiegt.

Pathos konstituiert Georg Wilhelm Friedrich Hegel zufolge den heroischen Helden und zeigt an, daß die Fähigkeit zum Widerstand und Widerspruch den Individuen noch nicht ganz ausgetrieben ist, daß der Bruch, der sie Ernte werden läßt, noch nicht stattgefunden hat. „Die Individuen dieses Pathos sind weder das, was wir im modernen Sinne des Worts Charaktere nennen, noch aber bloße Abstraktionen, sondern stehen in der lebendigen Mitte zwischen beidem, als feste Figuren, die nur das sind, was sie sind, ohne Kollision in sich selbst, ohne schwankende Anerkennung eines anderen Pathos und insofern — als Gegenteil der heutigen Ironie — hohe, absolut bestimmte Charaktere, deren Bestimmtheit jedoch in einer besonderen sittlichen Macht ihren Inhalt und Grund findet.“

Die Anlehnung an die Pathosrede der Tradition bedeutet so innerhalb der DDR-Literatur den Versuch, der täglich zugemuteten Selbstentfremdung, dem angesonnenen Selbstverrat eine Bestimmtheit entgegenzusetzen, und sei es als Zitat oder Geste, denn wo sollte die von Hegel gepriesene Festigkeit herkommen?

Das Pathos, mit dem Verfolgungen ausgestellt und denunziert werden, versucht, einen Teil der geraubten Menschenwürde wiederzugewinnen. Ein anrührendes Beispiel stammt von Rainer Kirsch. Sein Gedicht „Memorial“ berichtet vom Freund Kostja, der in Moskau 1976 auf der Straße erschlagen wurde. Aber wie kam er dahin? 1952 hatte er eine Bemerkung gegen Stalin gemacht, wurde zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt, saß fünf davon ab und war danach kaputt. Das Gedicht ist vom Dezember 1982 und erschien 1988, ein Indiz dafür, daß es um mehr als ein Porträt ging. Es endet: „Jeder Mensch vorm Galgen/Sagte mir Kostja, oder sagte wer wem/In Moskau oder sonstwo, überschätzt/Für eine knappe Frist das Weltinteresse/An seiner Luftröhre.“ Das ist, nimmt man die Information durch die Ausdrucksform hinzu, weniger resignativ, als es klingt: Immerhin ist diese Über-schätzung fürjeden („vorm Galgen“) konstitutiv; so kommt es zur erhobenen Stimme.

Gabi Kacholds Schreiben ist ganz von diesem Impetus getragen, sich das Selbst nicht abnehmen zu lassen, auch durch die Einweisung ins Gefängnis nicht. Ihr Knast-Text ist einer der intensivsten im unlängst erschienenen Band „zügel los“: „mir ging es um die Wahrheit, die ich getan, gesagt, gespürt hatte, meine Wahrheit, die ich immer wieder schützen mußte vor Verzerrung, umdeutung, sie von mir selbst wegführender Interpretation, die Wahrheit, um die ich stritt, um mich schlug, um die ich bissig und bösartig werden konnte.“

Ein so direkter, sozusagen kratzbürstiger Widerstand ist nicht ganz üblich; oft zeigen die Zeugnisse schon an, daß die Zerstörungen, wie geplant, die Personen erreicht haben. Jürgen Rennert etwa landete für Jahre in der Psychiatrie. Seine Gedichte sprechen in dunklen, oft hermetischen Bildern vom zugefügten Leiden, dessen Ausstellung gleichwohl noch pathetisch heißen darf, hat sie sich doch das Wissen vom Unrecht, also Recht, nicht austreiben lassen. Ein entsprechender Zyklus „Closed. Station 4B, Griesinger“ beginnt:

Die riegellosen Gitter, Durch die ich tags, nachts seh, Verriegeln die Gewitter In mir und lassen Schnee Sanft falln auf meine Zweige Und Äste, die ich hab.

Wenn ich auch falle, steige Ich doch hinauf hinab.

Die Pfleger machen Späße Und schneiden dem ins Haar, Der sich nicht wehrt. Gefäße Sind wir für das, was war, Was aus uns werden wollte . . . Die Pfleger machen Spaß, Ich bin die eingerollte Fahne aus Glück und Glas.

Die Erinnerung an das, „was aus uns werden wollte“, trägt den (pathetischen) Vorhalt in diesen Versen, daß man zum Pflegefall geworden ist, eine äußerste Konsequenz im Pathos der Verfolgung. Zumeist setzt das „vorher“ an und ein, bevor das Ich zur Strecke gebracht ist (was bei Rennert zum Glück auch nicht der Fall ist) — etwa mit Hilfe von historischen Miniaturen, die bezüglich genug gesetzt sind. So vergegenwärtigt ein großes Gedicht von Volker Braun die Situation Walter Benjamins in den Pyrenäen: „der Leib zwischen Rebstöcken/Schwer atmend, das Herz/Kämpft, der kritische Augenblick: /Wenn der Status quo zu dauern droht.“

Dasselbe Material, die Erinnerung an die Verfolgung der Exilanten in Südfrankreich 1940, hat Christoph Hein seinem Kammerspiel „Passage“ (1987) zugrunde gelegt. Es arbeitet, was den Gattungstitel rechtfertigt, mit leisen Tönen, verzichtet anscheinend auf das Pathos des Stoffs, das auch zu oft bemüht wurde, unwirksam geworden sein dürfte. Sein Schluß ist fast grotesk, übersteigt allen Trost-losen Realismus, überbietet ihn mit einem Bild, das beherzt aus den historischen Zusammenhängen aussteigt und ein ganz eigenes Pathos bei sich führt. Beim verfolgten jüdischen Offizier Hirschburg taucht im südfranzösischen Grenzort sein ehemaliger Fahrer mit einigen Gefährten auf: fünfzehn alte Juden „mit langen Kaftanen, mit schwarzen Hüten, mit Schläfenlocken“, die so unangefochten bis an die Grenze gekommen sind. Hirschburg bricht mit ihnen auf. Das Bild der sechzehn alten Juden appelliert an die altjüdische Fabel von den sechzehn Gerechten, auf denen die Rechtfertigung der Welt ruht. So ist auch deutlich: Sie werden über den Berg kommen. Das Pathos liegt in dieser Öffnung hin zu einer fast kosmischen Dimension, was Hein klug in eine Theaterszene zurückbindet: Die anderen warten an den offenen Fenstern, ob die sechzehn durchkommen. Kein Schuß fällt, kein Hund schlägt an. Heins Taktgefühl hält die Form intakt: Hohes Pathos verfällt, wo keine Aussicht eröffnet wird. Wichtig ist auch, zum Beispiel beim Benjamin-Stoff, daß die historische Dimension nicht eingezogen wird. Andererseits kann eine Provokation gerade von der Gleichsetzung mit jenen Zeiten der Verfolgung ausgehen. Lutz Rathenow arbeitet damit, wenn er die Mauer und den Schießbefehl als Ghetto-Situation abbildet:

Im Ghetto Als wir an die Mauer stießen, merkten wir wieder, wo wir waren. Nach drei Stunden ängstlichem Warten entschlossen wir uns und gingen einfach los. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und die ersten Kugeln der Pfosten trafen uns. Sofort.

Wichtig, damit das Pathos der Verfolgung „greift“, ist, daß die Überlagerung der Situationen stimmt, daß der Leser zustimmen kann. So hat Ralph Grüneberger 1989 ein lakonisches Gedicht geschrieben, das auf dem plötzlichen Abholen basiert, und ich zweifle, ob die (unterstellte) Gleichsetzung Gestapo-Stasi so spät noch aufgeht:

Stilleben Da liegt das Buch Auf dem Tisch Mit breiten Flügeln Das Buch Das er las Bevor sie ihn holten.

Die Verspätung ließe sich auch gegen Christoph Heins Roman „Der Tangospieler“ einwenden, sozusagen ein Böll-Roman der spätachtziger Jahre.

Und auch die Ironie des Zeilenbruchs tut dem Pathos Abbruch, etwa bei Volker Braun: „Ich bleib im Lande und nähre mich im Osten. /Mit meinen Sprüchen, die mich den Kragen kosten/In andrer Zeit: noch bin ich auf dem Posten.“ Die Verfolgung muß wirklich oder sympathetisch erlebt, zugefügt, ja spürbar sein, damit die Pathosrede uns anrührt. Eines der aktuellen Beispiele ist das Blutbad auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ (Tiananmen) in Peking 1989, wo sich Hunderttausende von Demonstranten versammelt hatten. Volker Brauns Gedicht „Tiananmen“ bezieht dieses Massaker auf entsprechende Möglichkeiten in der DDR, was 1989 genug Aktualität und Brisanz bot; in seinem Text heißt es: „Von den leeren Tischen/Erheben sich die offenen Fragen/Meine Zweifel sitzen im Panzerwagen/Und kreisen in meinem Fleisch Meine Angst/Hängt mich auf am Brückengeländer/JETZT BIST DU DRAN/Das Gehirn auf das Pflaster geschlagen/Lirum larum WER VIEL FRAGT/Bekommt viele Antworten . . . /DU WILLST ES WISSEN zerschlagener Leib.“

IV. „Das eigene Herz durchbohrt.“ Pathos der Untergänge

Zum pathetischen Sprechen ist, wie gesagt, erforderlich, daß noch einige Kraft erhalten geblieben ist; es gibt Beispiele, etwa in der rumäniendeutschen Literatur, in der Zerstörungen so weit gegangen sind (anrührender Fall: Anemone Latzina), daß ein widerstehendes Sprechen nicht mehr möglich -ist. Kann es das geben, ein pathetisches Sprechen aus Untergängen heraus?

Die Situation in der DDR war nicht ganz der in Rumänien vergleichbar, die Stasi nicht mit der Securitate. Schwerer als die direkte Verfolgung wog wohl deren Einwirkung auf das Selbst. Davon handeln viele Texte, zuletzt auch Christa Wolfs umstrittene Erzählung „Was bleibt?“ Der Entschluß Christa Wolfs, einen „wüsten“ Tag der DDR-Vergangenheit von vor zehn Jahren, die sehr bald „unaufhaltbar im Strom des Vergessens abtreiben“ würde, zu vergegenwärtigen, schließt die Bereitschaft ein, das eigene, zeitlich gebrochene Erleben mit auszustellen. auch — und vielleicht gerade — wo es krude und unpoliert, unberaten, ja pathetisch (und von heute aus gesehen: übertrieben selbst-bezüglich) ist. So ließe sich das Ich, das da erzählt, als Fall betrachten, über den, wem es Spaß macht, zu Gericht sitzen darf: aber doch nur im Wissen, daß er die Autorin dabei neben sich findet, die das Verfolgten-Pathos aufruft, um sich von ihm verabschieden zu können.

Ein Gedicht von Jürgen Rennert geht darauf ein, was passiert, wenn jemand „durchs Tabu geht“, also die Grenze des Erlaubten überschreitet, und zugleich sich die damit gepaarte Angst, „den Kehrhauch der Begierde“, nicht zugibt. Rennerts Bilder sind hochpathetisch, getragen von der Erfahrung „vielfältiger“ Untergänge. Die zweite Strophe von „Ich ging“ lautet:

Wer durchs Tabu geht, ist die Nadel, Die ihm das eigne Herz durchbohrt. In flachen Und luftverglasten Kästen alle Arten Vielfältiger Falter. Die Entsetzensschreie, Perlmuttern schillernd, flattern ins Lautlose Schwarz umbauten Lochs. Wer durchs Tabu geht, ist der Staub, zu dem, nur zart Von Hauch und Hand berührt, zerfällt, Wer seine Angst, den Kehrhauch der Begierde, Hermetisch in den Schlaf verschloß. Die Erfahrung eines gebremsten Lebens, wie Volker Braun noch recht zurückhaltend formuliert, findet immer wieder zum pathetischen Ausdruck, der schließlich nur die Alternative kennt, „ins Dunkle zu fliehn" (Richard Pietraß „Tod im Meer“) oder „unter der Sonne der Folter“ zu leben (Heiner Müller, Volker Braun, nach einem Motiv von Antonia Artaud). Der Widerspruch erfolgt im Namen des offiziell behaupteten, gleichwohl ad acta gelegten Humanismus. Die Verzwergung des Menschen führt zum Pathos des Grotesken, das die Entgrenzung des Menschlichen denunzierend abbildet. Ein Meister grotesker Gedichte in diesem Sinne ist Richard Pietraß, man vergleiche etwa „Das Abendmahl“. Konsequent setzt er die „Zerfleischung“ als Folge von Gehorsam ein, aber die ironisch-satirische Sprechhaltung wird von Bitterkeit und Sarkasmus überlagert, der pathetische Ruf „Wer merkt mir noch den Menschen an?“ bestimmt vor allem die Lektüre des Texts:

Zerfleischung Wozu, Gott, mich den Hunden vorwerfen? Selber zerreiß ich mir Lippen, die Zunge, das Wangenfutter, wie Butter den Menschen-, den Schwanenhals, die Zehen mit Nägeln und alles, was mein ist. Die Zeigefinger: abgebissen. Die Füße: Flossen des Pantoffeltiers. Hurtig, hurtig schaffen wirs; im Fleischwolfdes Golfs ins Neckar-, ins Neandertal, die Leiter hinunter ins Diluvial. Wer merkt mir noch den Menschen an? Verzwergt! Hinab! zum Urozean! Selbst trag ich meine Scherblein herbei. Plustre dich, Urhenne, krache, Urei!

Auch das im Expressionismus beliebte Muster der Opheliade wird neu aufgenommen, den Verhältnissen angepaßt: „Ins Wasser ging, die man nicht gehen ließ“, beginnt das „Ophelia“ -Gedicht von Pietraß, mit der bösen Schlußzeile: „Es hielt sie, da sie reglos trieb, nichts auf.“

Unter dem Namen Peter Schöde hat Lorenc im Winter 1988/89 auf das Verbot der progressiven russischen Zeitschrift „Sputnik“ durch die DDR-Behörden reagiert. Er schrieb eine Folge von Gedichten, die alle „kaputt“ im Titel führten und privat recht weit verbreitet wurden. Eines davon, „kaputt VI“, lautet: bei uns nix personen kult nix massen repressalien nur ein person kult nur einzel repressalie immer nur ein per son ein zel Hier wird nicht das Russisch Gorbatschows, sondern das Russisch Stalins gesprochen. Daß es Gründe für eine so böse Lyrik gab, sprechen die Gedichte immer wieder an. Unter dem Titel „Sklavensprache“ etwa Elke Erb 1980:

Die Hände, die gestreichelt haben, kann man ruhig abhacken. Das ändert nichts, denn sie würden das Streicheln nicht lassen, und esführt zu nichts Gutem. Man kann sie aber auch fesseln, und die Person, der sie gehören, folgt ihnen nach bis in die finsterste Zelle.

Ein Gedicht mit ebenfalls pathetischen Groteskmotiven, etwa dem der abgehauenen Hand, das Sigmund Freud zufolge (der an Wilhelm Hauff erinnert) „etwas ungemein Unheimliches an sich“ hat. Streicheln steht hier für Kommunikation, Zuwendung, vielleicht sogar Schreiben, jedenfalls für ein unaufgebbares Humanum. Der Text widerspricht der Drohung mit dem einfachen „das ändert nichts“, ist nicht bereit, sich auf groteske Zumutungen, etwa Zerstückelungen des Subjekts, einzulassen, zieht das Gefängnis vor, hält (pathetisch) am aufklärerischen Versprechen des nicht-zerstückten Leibes fest.

Es gibt viele weitere groteske Motive, die mit oft verqueren Bildern (Katachresen, Hyperbeln, Oxymora) emphatisch die Wirklichkeit denunzieren. Harald Gerlach z. B. arbeitet mit dem Bild der Flaschenpost und zunächst durchsichtiger Metaphorik: „Wir richteten uns ein/auf lange Fahrt in der verkorkten/Flasche: mit der knappen Luft, /der unruhigen Lage. Ab ging die Post.“ Die Einsicht wächst, daß es um Betrug ging: „Keine Küste, der wir zu-treiben. Kein/Schiff, dem wir begegnen. /Wer äußerte zuerst den Verdacht, wir/seien keine Botschaft mehr?“ Gerlach übertreibt die Möglichkeiten seines Bilds, um die Wahrheit anzudeuten: „das Glas kommt auf uns zu“. Zugleich hält er an der Information des Bildes fest, daß es keinen Subjekt-Akt der Befreiung mehr gibt: „In die Wüste geschickt/aus Wasser, wir fahnden/nach einer Klippe, daran/zu zerschellen.“ Das Bild des Zerscherbens bestimmt vielfach auch die Lyrik der Töpferin Christiane Grosz, doch anders als bei Peter Rühmkorf („Was klirren so muntere Scherben/in meiner Bessemer-Brust?!“) eher angstbesetzt Grotesk ist die Verwandlung in Puppen (man vergleiche E. T. A. Hoffmann und Freuds Bemerkungen dazu), vielleicht von der Mittelzeile her organisiert: „Wir wünschten aus unseren Nähten/Zu gehen“. Das Gedicht „Die alten Puppen“ bildet die erzwungene Unselbständigkeit ab, die Folgen der Bevormundung, die bis in den Körper reichen; es beginnt: „Es ist leicht einen Fehler zu machen. /Plötzlich fällt man vornüber. /Die Sägespäne im Bauch, eine eingenähte/Raschelnde Unruhe. /Wir müssen warten. /Bis man uns hebt. /Bis man uns setzt. /Bis man uns einen Bissen/Zum Munde reicht.“

Ähnlich redet Wolfgang Hilbigs Titelgedicht „abWesenheit“ vom „stolz der zerstörten“ was eine pathetische Formel ist in jenem genauen Sinne, daß die Ausdrucksform, die hohe Sprache, gegen die Mitteilung — „eine restlos zerbrochne spräche“ — gehalten werden kann und dieser hinzugedacht werden muß. Die erste Strophe schon entwickelt widersprüchliche Sprachgesten, wie sie zum Pathos des Untergangs gehören: „wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet/keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind/wie wir in uns selbst verkrochen sind/in unsere schwärze“. Eine groteske, zugleich sehr genau treffende Formel baut das Gedicht auf: der eigenen Abwesenheit nachlaufen. Ein anrührender Schluß begrenzt auch das Pathos: Die Kraft reicht sozusagen nur mehr zu jenem Nachlaufen, was immerhin gestisch gegen die Selbstaufgabe steht, aber wie depraviert schließlich: „so wie uns am abend/verjagte hunde nachlaufen mit kranken/unbegreiflichen äugen“.

Vielleicht müßte man auch die Form der Elegie mitnennen, die in der DDR-Lyrik seit Anfang eine große Rolle spielt, bei Bertolt Brecht und Stephan Hermlin, Wulf Kirsten, Karl Mickel, Heinz Czechowski bis hin zu den Jüngeren. Den Ton gibt vielleicht Czechowski an, in seinem Gedicht „Ich und die Folgen“, das Trauer und Pathos exemplarisch verbindet: „Ich/Bin verschont geblieben, aber/Ich bin gebrandmarkt: /Mein bärtiges Kindergesicht/Verleugnet die Weisheit/Der toten Geschlechter.“ Czechowskis große Elegie „Auf eine im Feuer versunkene Stadt“ ist Titelgedicht eines eigenen großen, mit Zeichnungen von Claus Weidensdorfer ausgestatteten Bandes geworden Auch die Elegie weiß sich dem Untergang zugehörig, redet von ihm, steht vor ihm, überläßt sich dem Pathos des letzten Worts, etwa bei Uwe Kolbe: „Ein letztes Gedicht“, das beredt die fehlende Sprache beschwört, in Formeln, die das zugleich belegen wie widerlegen, um fürs Pathos, das Lebenwollen, die paradoxe Lösung anzubieten: „muß bloß noch/die Sprache gebären, darin er dann lebt“

V. „Ich will sichtbar sein.“ Das Pathos des Ich

Bei Wulf Kirsten, Wilhelm Bartsch und Richard Pietraß findet sich ein Gedichttypus, der auf derselben grammatischen Figur aufgebaut ist (die Gedichte lassen sich als Intertexte verstehen): der Verselbständigung von Infinitiven, dem Verschwinden des Subjekts aus der Grammatik, keiner ist, der die Tätigkeiten noch flektieren könnte. Das Titelgedicht „Spielball“ von Richard Pietraß beginnt: „Die Andengletscher mit Ruß einstauben/Ihr Schmelz-wasserin die Wüste schnauben/Ins Auge des Sturmes Splitter säen/Dem Meer eine Ölhaut überziehen/Silbernadeln in Hagelwolken spießen/Blitze hindern niederzuschießen . . >“ Die Verselbständigung der Tätigkeiten gegen ihre Urheber, die nicht mehr als Subjekte, allenfalls instrumental vorkommen, das ist gewiß ein kulturkritisches Motiv. In der DDR gewinnt es eine zusätzliche Schärfe, war Subjektivität doch verpönt, höchstens als „Faktor“ zugelassen, war dem Ich doch aufgegeben, sich ins Wir aufzuheben, ließ sich etwa eine abweichende, kesse (Taugenichts-) Haltung nur von einem toten Edgar Wibeau mit Stimme aus dem Jenseits vertreten.

So ist es durchaus eine oppositionelle Geste, laut-hals , Ich‘ zu sagen, Uwe Kolbe ist dafür das spre-chendste Beispiel. In seinem Band „Hineingeboren“ steht das Gedicht mit dem programmatischen Titel , Daß ich so bin 4 und der kessen Widmung: „allen mir ehemals Vorgesetzten/zu freundlicher Erläuterung“ Das „ehemals“ kündigt prometheisch allen Gehorsam auf, wie auch die ersten Strophen auf die Gestalt des unbotmäßigen Kulturbringers verweisen (können):

Ich wölbe mir den Himmel Mehr schlecht als blau Ich warte Meine Ruhe währt Einige Jahrtausende schon Ich schöpfe Poesie Ich finde mich in die Welt Wie sie nicht ist Mit Gesang Eigentlich deutet sich hier eine Haltung an, die übers Pathos hinaus ist, und die neueren Texte Kolbes realisieren diese Sprechweise auch kaum noch. Gleichwohl ist die betonte Ich-Setzung noch als emphatische Geste zu verstehen, die zentralen Zeilen lauten: „Ich rufe nicht/Ich folge nicht“. Der Verzicht auf eine Botschaft ist die Begründung für die Unfolgsamkeit. Mit Brecht ließe sich sagen: kein Führer, keine Angeführten. Das große Gedicht „und nichts geschieht“ aus dem gleichen Band läßt sich freilich gehen. Die ersten Zeilen lauten: „meine nerven sind angespannt wie saiten die falschen/am falschen ort“. Die Nötigung, stets wieder mit dem Modell einer listigen Lyrik arbeiten zu müssen, Wünsche und Regungen nur der Form übertragen zu können, führt zu einer Explosion.

Am Anfang heißt es noch: „ich geh in die brüche ein inmitten der gedichte ja klar/hier ist es wieder so zwischen der zeile und/der ich will nicht in der Sprachlosigkeit den wichtigsten/gedanken wissen.“

Dann beginnt eine anaphorische Reihung von etwa 100 Mal „ich will“, mit Versen wie „ich will sichtbar sein in diesem glashaus/ich will nicht/ich will daß alle wollen/ich will kampf/ich will uns schützen vor uns selbst/ich will zu hassen vermögen/ich will zu lieben vermögen.“ Die angestrengte Geste zeigt, wie sehr sich das Ich in dieses (fast besoffen machende) Sprechen finden muß, zugleich, wie kindlich-entschieden es diesen Fund festhält und nicht preiszugeben bereit ist.

Diesen „emfatischen“ Ansatz hat Kolbe auch in seinen „lässigeren“ Texten nie ganz aufgegeben und verweist in seinem „Gedicht, worum es mir geht 4 (in „Bornholm II“) auf den Widerstand des Gedichts gegenüber „den beiden deutschen Übersprachen“. Auch leistet er sich darin das Pathos der Kontrafaktur, etwa der Internationale („Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt“). Die Mittelstrophe bei Kolbe lautet:

Inmitten des Eunuchenpacks Bescheidener, der Selbstaufgeber, dieses blauen Volks, die Heimat predigen: Gewissen, mit Namen brüderliches Zweifeln, das schwarze, glänzende Blatt, das aufweht als Hinsehn, Sprechen, Lachen derer, die stets man noch zum Kühlschrankfüllen zwingt.

Die Entschiedenheit, mit der in der DDR-Lyrik der achtziger Jahre das Ich hervorgekehrt wird, hat politisch-gesellschaftliche Gründe genug, kann sich „listig auf das berufen, zugleich “ Erbe-Theorem schließt an die Sturm-und-Drang-Hymnik des jungen Goethe und die vor zweihundert Jahren schon einmal aktuelle Selbsthelfer-Pose an. Volker Brauns Gedichtband mit dem pathetischen Titel „Training des aufrechten Gangs“ (1981) wird mit dem Text „Statut meiner Dauer“ eröffnet, das in Ton und Aussage auf Goethes Prometheus-Hymne zurückgreift. Es beginnt provokativ genug:

Endlich gehe ich daran Mir eine Satzung zu geben Um meine Irrtümer zu begründen. Meine Organisation ist öffentlich Und gedenkt nicht unterzutauchen.

Gegen Schluß heißt es:

Ich kenne kein Protokoll und keine Chefs Ich nehme keine Befehle entgegen ich folge dem gemeinsamen Ratschluß meiner Glieder. Selbst ein Text wie „Das gebremste Leben“, der schon viel mehr auf die Ohnmachtserfahrungen des einzelnen zu sprechen kommt, redet doch keß von einer Flucht „in die bessere Steinzeit“ und arbeitet mit provokanten Zeilenbrüchen, die Mehrfachlesungen erlauben bzw. nahelegen:

Geh deiner Wege Weil du es kannst.

Ich weise mich selber aus An der Grenze Unseres Witzes Mit meinem Gelächter Meiner sträflichen Liebe Meiner frischen Tat. Auch Heinz Czechowskis Rückzug auf das Ich ist emphatisch-oppositionell gemeint und gibt dies gleichfalls durch den Bezug auf Goethes Prometheus-Hymne zu erkennen. Sein großes Gedicht „Was mich betrifft“ (in „An Freund und Feind“) endet mit den Versen:

Daß ich nicht kriechen kann Und meine Farbe nicht wechseln Je nach Belieben, Ist auch eine Gnade, für die ich Niemand zu danken habe, Außer mir selbst.

Auch Czechowskis Geste des Widerrufs (vgl. „Widerruf“) geht vom pathetischen Ansatz aus, bis zum letzten Atemzug sich treu bleiben zu wollen/zu können: „So widerruf ich, vergeblich. /Doch noch das Vergebliche/Will ich widerrufen. /Denn ich kann nichts tun außer tun.“ Gabi Kachold, die nur „irgendeine Ungehaltenheit" zu Papier bringen möchte, hebt dann doch die Bedingungen hervor, damit „wir uns selbst gebären“ können, u. a. Handlungs-. Denk-und Redefreiheit: „zur redefreiheit gehört die tatkraft sich den gängigen Sätzen zu entziehen“ Pathosbegründend wiederum das Bekenntnis zu „unserer potenten kraft“, mit dem wichtigen Zusatz freilich, daß es einem Mißbrauch gleichkäme, diese in Protest und Widerstand zu verschleißen. Zu solcher Haltung haben sich freilich die DDR-Autoren nicht freiwillig entschlossen.

Wie schwer es ist, bei seinem Ich zu bleiben, es semantisch, grammatisch als Subjekt zu erhalten, zeigt ein Text von Stefan Stein, der das Theorem vom exemplarischen Ich auf-und angreift. Wiederum leistet er das durch einen formalen Hinweis.

Wenn Volker Braun und Heinz Czechowski noch kritisch-gläubig auf die Hymnik des Sturm-und-Drang zurückgriffen, so stellt Stein nun die Balance-Schwierigkeiten des anaphorisch gesetzten Ich aus. Die Anapher schreibt das gleiche Wort in den Zeilenanfängen vor (man vergleiche das Kolbe-Gedicht). Stein zeigt nun, was das Ich alles dafür übrig hat, um sich in seiner Anfang-Stellung zu behaupten. Das Gedicht ist in Anlehnung an einen Aktivisten mit einem sprechenden Personennamen „Anton Zacksack“ benannt; es beginnt:

Ich stimme dagegen.

Ich stimme dafür. Ich nicke beifällig. Ich stimme an. Ich stimme ein.

Ich stimme.

Ich stimme ab und zu.

Das Gedicht stellt im folgenden die Sprachgesten aus, die gleitende Übergänge für die Umorientierung des Ich ermöglichen, es also vom Dagegensein zum Dazugehören führen können. Aus anstimmen, einstimmen, abstimmen, zustimmen wird die ambivalente Haltung erbaut: „ich stimme ab und zu“. Aus ähnlichen „Verwechslungen“ wird der Schluß vorbereitet; da heißt es: „ich klatsche minutenlang stark. /ich bin stark.“ Oder: „ich bin bewegt, ich bewege mich.“ Am Schluß heißt es sarkastisch: „ich höre nicht auf. ich höre zu. /ich gehöre dazu“ Richard Pietraß, Christa Wolf und vor allem der Volksmund haben diese Haltung als „Wendehals“ charakterisiert. Doch das Gedicht geht über die moralische Wertung entschieden hinaus und hebt damit hervor, wieviel Kraft dazu gehört, sich in einer verwüstenden Sprachlandschaft das (lutherisch trotzige) Ich — auch mit Hilfe der Einsinnigkeit des Pathos — zu erhalten.

VI. „Das schreiende Amt.“ Pathos der Dichtung

Es leuchtet ein. daß „bei dergestalten Sachen“ die Dichter ihr Amt hoch einzuschätzen geneigt sind. Hierfür gibt es eine alte Tradition, die bis auf die Prophetenrolle im Alten Testament oder das Raunen der delphischen Pythia zurückreicht: Dichtung als Wahrspruch. Die Expressionisten haben sich dieser Auffassung ebenso gern bedient („Wir sind die verheißnen Erhellten/Von Messiaskronen das Haupthaar umzackt“) wie Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthai, auch Stefan George und die Seinen. In Sammlungen junger Lyrik begegnet uns diese hohe Meinung bis heute. Zu einem erheblichen Teil ist sie als eine Reaktionsbildung auf die gesellschaftliche Marginalisierung von Dichtung im Laufe des 19. Jahrhunderts zu beschreiben. In der DDR hat die pathetische Auffassung von der Dichtung und dem Amt des Dichters einen bedeutsamen Halt in dem Gewicht, das dem Gegenwort, dem Widerspruch, Einspruch, Zuspruch des Dichters zukommt. Auch hat die Tradition dieser Art Verkündungspoetik seit den dreißiger Jahren (man denke an den Kreis um „die Kolonne“) dort kaum einen Bruch erfahren, blieb die poetische Moderne weitgehend ausgesperrt. Das alles trug dazu bei, daß es immer wieder zu pathetischen Selbstbestimmungen kam und kommt, die — das ist unsere tragende These — so konkret und vielfältig historisch-ideologisch fundiert sind, daß sie nun, nach 1989, vermutlich reformuliert oder gar aufgegeben wer-den müßten. (Bert Papenfuß-Gorek drückt sich weniger gewunden aus: „das wort soll lottern.“

Pathetische Sprechweise also setzt dagegen (was Papenfuß zitierend beibringt): Das Wort soll lodern. Sei es auch an taube Geschlechter gerichtet (Peter Hüchel, Elke Erb), es muß seine Wahrheit (die unterstellt wird) ausschreien. (Es ist deutlich, daß längst nicht alle zitierten Autoren diese pathetische Auffassung mitmachen, man denke an Kolbes Absagen.) Ein Gedicht, in dem alle Elemente pathetischer Poetik versammelt sind, stammt von Wolfgang Hilbig: bewußtsein im namen meiner haut namen machart im meiner im namen dieses lands wo die sorge sich sorglos mästet im namen welches zerrissnen namens den sich heimlich die liebespaare zuflüstern im namen welcher unerlaubten schmerzen die Verwirrung in worte zu kleiden hab ich das schreiende amt übernommen.

Das stellvertretende Reden, das geheime Wissen, die Pose des Schmerzensmannes und die Vollmacht zu gültiger, rücksichtsloser Rede sind zentrale Motive der Dichter-Pathetik. Die Einziehung der ästhetischen Distanz gehört gleichfalls dazu, die (romantische) Illusion — vor allem in der Naturlyrik bis heute gepflegt —, unmittelbar mit Poesie auf die Wirklichkeit einwirken zu können. Hilbigs Gedicht „die namen“ beginnt: schreiben bei gewitterlicht und träum im halbdunkel die schlecht erkannten Wörter entfesseln sich wollen hinaus in die nässe wie regen die erde verändern Vorsichtiger ist das Bekenntnis zur Dichterrolle dort ausgesprochen, wo ihr weniger zugetraut, also weniger zugemutet wird. Pathetisch kann eine entsprechende Poetik dennoch heißen, wenn sie traditionelle Motive nachbuchstabiert. Richard Pietraß trägt in sein Gedicht „Gesang“ zunächst kaum distanzierende Motive ein (sie folgen gleichwohl am Schluß des Gedichts); es beginnt:

Nicht wie der Buffo, im Bretterstaub stehend Sondern wie die Lerche im Aufflug, im Niedergehen. Kein Papagei sein, der in Medien prahlt Sondern die Stunde verkünden, unbezahlt.

Die Besonderheit der Literatur in der DDR (eingeschränkte Distribution, eingeschränkte Rezeption, mithin kontrollierte Produktion) verleitet gewiß zum Rückgriff auf ungleichzeitige poetologische Konzepte. Jürgen Rennert hat sein Dichten als „seltsames Singen“ gefaßt. „Nie besser als /Mit dem Messer an der Kehle, /Nie freier als /Mit gefesselten Händen und Füßen . . .“ Das leitet schon zur grotesken Fassung von Widersprüchlichkeiten hinüber, womit der prophetische Ton freilich verlassen wird.

VII. Pathos: Anwalt des Lebens?

Der pathetische Ton gehört zu den Äußerungsformen von Jugend, Kraft, Widerständigkeit, Mitteilungswillen, ein gewisser Überschwang, die Verbindung mit Körpergesten, die Bereitschaft, für seine Worte einzustehen, das alles prädestiniert die emphatische Redeform für jugendliche Bekenntnis-rede. Das trifft die Liebe und die Natur, die Freundschaft, das Denken, Singen, Spielen, Dichten, kurz: das Leben. Ein sehr charakteristisches Beispiel: das frühe Gedicht „Anspruch“ von Volker Braun darin heißt es:

Kommt uns nicht mit Fertigem. Wir brauchen Halb-fabrikate. Weg mit dem Rehbraten — her mit dem Wald und dem Messer. Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine. Hier schreit eure Wünsche aus: Empfang beim Leben.

Mit diesen Sprachgesten wird (Ende der sechziger Jahre) das aufmüpfige Lebensgefühl einer jungen Generation angedeutet, die sich durch das grundsätzliche Einverständnis mit dem Sozialismus gesichert meint, an eine Evolution des Systems glaubt, Ungleichzeitig ist der Text in mehrfacher Hinsicht: Erstellt, literaturhistorisch gesehen, ein Einholmanöver der Literaturrevolution um 1910 dar, den Versuch, an die „Weltsprache der modernen Poesie“ anzuschließen, was in der DDR obsolet war. Zweitens überrascht die Blauäugigkeit, mit der keß behauptet wird, man könne seine Wünsche aus-schreien, die Vorstellung, der einzelne könne seine Bedürfnisse mit Aussicht auf Erfolg anmelden: „Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel angeschnitten — /Hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit.“ Das immerhin zu ei-37 nem Zeitpunkt, da die „Ankunftsliteratur“ (Ankunft im sozialistischen Alltag) schon längst problematisiert war, in vielen Erzählungen und Dramen Widersprüche voll sichtbar wurden. Den frohgemut pathetischen Ton werden wir wohl der Jugendlichkeit der Sprecher zugute halten müssen. Das gilt bis heute. In den „Gedichten junger Leute“, etwa der Sammlung „Offene Fenster 8“ geht das Liebesgedicht einer Siebzehnjährigen von dem bekannten Witz aus „Da muß doch noch was sein“; es beginnt: „Meiner Haarwurzeln Finsternis flüstert: Liebe. /Meiner Hüfte Zucker schreit: Liebe! /In die Windungen der Zentrale ist graviert: LIEBE“ (Gundula Sell). In diesem Zusammenhang wird man keine originalen Tonlagen erwarten — das Gefühl weiß sich so wichtig, daß es seinen Ausdruck keiner besonderen Kontrolle unterstellt. Da kommt es, auch bei berühmten Dichtern, solange sie ganz jung sind, zu wehen Trostversen:

Lob mit Narzissen deine Kraft Ende bin ich deines Flüchtens Und Bruder jeder Einsamkeit.

Ein Ende solcher zu einem guten Teil selbstverliebten Rhythmen kommt in Sicht, in denen die pathetische Geste als Geste gewußt und ausgestellt ist, Uwe Kolbe: „Wieder flüchte ich hin/In zarte Arme, gehalten zu sein/Leugne dies grobe Gespaltensein, /Nehm einen Menschen zum Sinn.“

Pathos begründet sich gelegentlich auch als Selbst-anrede, als Zuruf an die Neigung, sich fallen zu lassen; etwa in die Verlorenheit des gleichgeschlechtlichen Eros. Das Titelgedicht von Thomas Böhme „Die schamlose Vergeudung des Dunkels“ setzt in dieser Weise pathetische, d. h.selbst-konstitutive Redeweisen ein: wieder und wieder fühlst du dich fallen und aufgefangen wie du dich selber umarmst. . . da ist doch die schützende milde der nacht, die dich aushält in deiner maskierten Verlorenheit, da ist doch das dunkel der büsche und bögen.

Vermutlich kommt keine Generation ohne Pathos aus, ohne die Setzung des eigenen Werts und Maßstabs, ohne die Aufkündigung des Generationen-vertrags, ohne den direkten auf Gefühl das von Lebensstärke und entsprechend vollmundiges Reden. In der DDR hat das eine besondere (politische) Kriminali Bedeutung erlangt, weil die -sierung von oppositionellen Gesten, Reden, Haltungen sehr weit ging, die Sanktionen besonders scharf waren. So hat Gabriele Kachold viele Jahre im Gefängnis zubringen müssen, weil sie zum Einlenken auf offizielle Doktrinen und Redeformen nicht bereit war. Ihr Text „an die 40jährigen“ ist in diesem Sinne pathetisch, läßt sich nichts abdingen, greift zum hohen Ton der Verkündigung, des Manifests, nimmt die Sprecherrolle ein, fast die Haltung des Weissagens; er schließt: „wir sind die generation zwischen einer generation, wir stehen zwischen Zeiten, regeln, empfindungen. wir sind die zwitter-generation, wir sind ein Zwittergeschlecht, wir sind unser eigenes geschlecht, in jedem geschlecht begegnen wir uns selbst, die lust ist unser faden. Uns bindet keine moral, keine mündigkeit, uns trennen nur wir selbst, wir befruchten uns selbst, wir kastrieren uns selbst, wir treiben uns selbst zum Orgasmus. wir brauchen euch nicht, denn ihr lebt ohne uns, wir sind die fruchtlos, sinnlos nachgeborenen, aber, übersehen könnt ihr uns nicht, überleben könnt ihr uns nicht, vernichten könnt ihr uns nicht und: vergessen könnt ihr uns nicht, denn wir sind euch eine andere form von hoffnung.“

Die Tonart ist sozusagen dem Expressionismus entlehnt, die Sätze sind aber viel radikaler, konkreter, deutlich auf Verweigerung gestellt, in die Situation einer zum Untergang verurteilten DDR gesprochen. Vermutlich könnten sie so jetzt nicht mehr wiederholt werden. Und vielleicht muß man zur Bestimmung der pathetischen Redeweise die Bindung an den Moment hinnehmen, von welchem gelöst sie nurmehr als Zitat und letztlich hohl erscheint. Das gilt auch für die gern pathetisch eingesetzten Hoffnungszeichen wie Jugend, Natur, Gesang, Aufbruch, Poesie usw.: Ihr Pathos ist an den Kontext gebunden, der gerade in der DDR-Situation mit großem Takt gehandhabt werden mußte — die Marge für dergleichen Zeichensetzung war ja sehr schmal geworden. Dafür abschließend einige Beispiele.

Ein Meister des Zitats erhabener (barocker) Bild-traditionen ist Thomas Rosenlöcher, und der Über-gang zu einem pathetischen Stil ist schnell erreicht. Etwa wenn in seinem letzten Lyrikband, „Schneebier“ ein gestufter Himmel in über zwölf Zeilen aufgebaut wird, mit „Zackenrändern“, „Strahlenbündeln“ über mehrere „Himmelsetagen“, „Posaunen“, „ein Riesenaufstand“ („Die Landschaft mit der kahlen Stange“). Aber vorher gab es die kahle Stange in der Landschaft, die ungestalte Röhre: „Das war der Beitrag meiner Zeit. /Was sollten da der Bilder Zeichen?“ Das Fetzchen Blau, das dann ein Umdenken einleitet, tritt als ein Stück Wirklichkeit syntaktisch ins Gedicht, breitet sich darin aus, bis hin zur versuchsweisen Nachgiebigkeit des melancholischen Ich: „daß ich meine Arme, /hoffen zu dürfen können glaubend, hob, /ein Komma winkend zwischen Horizonten.“ Die Weise, wie sich hier das lyrische Ich als Interpunktion in wirklich wahrgenommene Horizonte einträgt, ist so vorsichtig, daß sie das Pathos der Himmelswahmehmung austariert.

In seinen neueren Blütenbaum-Gedichten geht Rosenlöcher noch weiter. Im Gedicht „Das Schrekkensbild" führt der Spaziergang über mehrere zehnzeilige Strophen hinweg durch eine verwüstete Landschaft, nur das Gehen selber gilt noch als Indiz dafür, „daß sich alles fände“. Der Kirschbaum, der plötzlich auftaucht, wird mit allen Mitteln pathetisch-hoher Lyrik vergegenwärtigt; einige Zeilen:

Denn vor mir stieg, mein rundes Staunen füllend, ein Chaos auf, ein wildgehäuftes Duften, gleichviel vom Sog des aufgeschmolznen Himmels und Erdfeld angezogen: Schwerelos.

Und sonder Zwischenraum, indes doch Bienen ins schneebedeckte Innere einflogen, da sich das Weiß ins Weiß hob ohne Laut, und oben aus dem Blütengletscher noch ein Zweig aufragte, seltsam bittend (...)

Die Ästhetik bzw. Symbolik der Erhabenheit (Hegel) wird von Rosenlöcher noch weiterhin ins Spiel gebracht, wenn er die Wirkungsabsicht des Erhabenen strikt durchführt: Nach dem Muster der hebräischen Poesie ist das Prächtigste selbst negativ zu setzen, weil dafür kein adäquater und affirmativ zureichender Ausdruck zu finden möglich ist Entsprechend ist unsere Wahrnehmung nicht mehr, so die Pointe des Gedichts, auf einen blühenden Kirschbaum eingestellt. Das Ich in Rosenlöchers Gedicht begibt sich auf die Flucht: „beständig hinter mir/das Schreckensbild des Kirschbaums, der da blüht“.

Das Formmotiv Pathos ist hier mit als Ausdrucks-träger aufgenommen. Und so wird man auch den pathetisch orientierten Schluß von Volker Brauns preisgekröntem Text „Bodenloser Satz“ (1990) nehmen müssen, mindestens nehmen können Der Titel schon gibt den Widerspruch an, der diesen Text aufbaut: Das Sprechen in Sätzen geht vom Vertrauen aus, daß ein Grund für Verständigung gefunden werden kann. Die scheint nun bodenlos geworden. Braun hat seinem „Satz“ ein Selbstzitat aus „Material V: Burghammer“ vorangestellt: „Der Weg voran führt einmal auf den Grund.“

Dieses nur zitatweise vergegenwärtigte Zutrauen ist nun in eine wütige Grabebewegung umgesetzt, die alles aufgräbt, nichts annimmt, nichts gelten läßt, nach den Fundamenten fragt und auch nach den Grabeaktivitäten, sozusagen ein letzter Versuch, den Sinnversprechen, die das menschliche Tun begleitet haben, nachzufragen — mit dem Risiko, sie notfalls zu begraben. Braun problematisiert dabei zunehmend diese Bewegung selber, das Abräumen der Landschaft und aller Lebensmöglichkeiten in der Moderne ist diesem Gestus geschuldet, den sein Satz mitgeht: „der harte Weg in die Tiefe, die eine Bewegung, die den Boden zerreißt“. Der Schluß ist auf einigen Widerrufen aufgebaut, die das hohe Pathos des Textes mittragen helfen: einer endlich „grundlosen“ Liebe; der Unmöglichkeit, die Natur ganz zum Erliegen zu bringen („Gräser mühsam blühend auf der Asche“); das Aufsprengen des Satzes, des syntaktischen Zwangs zur Einheit, zu einer Reihe von Parataxen. Zentral für den Schluß aber ist die sozusagen unwiderlegliche Geste: das liebende Paar, das durch ein ernstes Wortspiel und den Chorus mysticus von Goethe verstärkt wird. Klara geht auf Karl zu, „alle Härte war von ihr gewichen, und umarmte ihn endlich ganz ohne Grund“. So wäre die Liebe als Modell eines grundlosen Handelns der Halt der Bodenlosigkeiten, die der Text in pathetischer Dekonstitution vorträgt?

Volker Braun setzt hier einen Punkt hinter seinen Satz, beruft sich sozusagen auf die Unhintergehbarkeit der liebenden Geste und bleibt bei dieser Auskunft, die ja in der Tat noch nirgends als Grund einer anderen Politik erprobt wurde. Sie ist, als grundlos, ohne Pathos gesetzt, und vielleicht bricht ja nun in der Nach-DDR-Literatur das Zeitalter grundloser Dichtungen an, was den pathetischen Ton zum Sonderfall (nicht mehr zur Regel) werden ließe. Es würde auf freundlichere Verhältnisse deuten. Die lassen sich auf jeden Fall wünschen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Heiner Müller. Rotwelsch. Berlin 1982. S. 78.

  2. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Ästhetik. Berlin 1955. S. 1082 f.

  3. Rainer Kirsch. Kunst in Mark Brandenburg. Gedichte. Rostock 1988 und München 1989. S. 24f.

  4. Gabriele Kachold, zügel los. Prosatexte, (Außer der Reihe, hrsg. von Gerhard Wolf), Berlin-Weimar 1989, S. 57 ff.

  5. Jürgen Rennert, Hoher Mond. Gedichte, Berlin 1983, S. 62.

  6. Volker Braun. Benjamin in den Pyrenäen, in: Der Stoff zum Leben 1— 3. Frankfurt 1990, S. 73f.

  7. Lutz Rathenow. Zangengeburt. Gedichte, München 1982. S. 46.

  8. Ralph Grüneberger. Stadt Name Land. Gedichte, Halle-Leipzig 1989. S. 45.

  9. Volker Braun, Das Leben, in: Langsamer knirschender Morgen. Halle-Leipzig 1987. S. 46.

  10. J. Rennert (Anm. 5). S. 75.

  11. Richard Pietraß, Spielball. Gedichte, Berlin-Weimar 1987, S. 17; auch in: ders., Was mir zum Glück fehlt, Frankfurt 1989, S. 76 f.

  12. Richard Pietraß, Freiheitsmuseum. Gedichte, Berlin-Weimar 1982, S. 66.

  13. Elke Erb, Vexierbild, Berlin-Weimar 1983, S. 57.

  14. Sigmund Freud, Das Unheimliche. Studienausgabe, Bd. IV, Frankfurt 1970. S. 266.

  15. Harald Gerlach, Nachricht aus Grimmelshausen. Gedichte, Berlin-Weimar 1984, S. 79; vgl. auch Wolfgang Hilbigs Gedicht „gleichnis’ in: ders., abwesenheit. gedichte, Frankfurt 1979, S. 42.

  16. Vgl. Christiane Grosz, Scherben. Gedichte, Berlin-Weimar 1982.

  17. Christiane Grosz, Blatt vor dem Mund. Gedichte, Berlin-Weimar 1983. S. 46.

  18. Vgl. W. Hilbig (Anm. 15). S. 49.

  19. Heinz Czechowski. An Freund und Feind. Gedichte, München 1983. S. 108 f.

  20. Ebd.. S. 20f.; ders.. Auf eine im Feuer versunkene Stadt. Gedichte und Prosa 1958— 1988. Auswahl und Nach-wort von Wulf Kirsten. Halle-Leipzig 1990.

  21. Uwe Kolbe. Bornholm II. Gedichte. Berlin-Weimar 1986. S. 78 f.

  22. Richard Pietraß. Spielball. Gedichte, Berlin-Weimar 1987, S. 79 f.

  23. Uwe Kolbe, Hineingeboren. Gedichte 1975 — 1979, Frankfurt 1982 und Berlin-Weimar 1980, S. 34 f.

  24. V. Braun, Langsamer knirschender Morgen (Anm. 9) S. 42 f.

  25. G. Kachold (Anm. 4). S. 114.

  26. Stefan Stein, Baukasten. Gedichte, Halle-Leipzig 1983, S. 25.

  27. Bert Papenfuß-Gorek, dreizehntanz, Berlin-Weimar 1988 S 183

  28. W. Hilbig, abwesenheit (Anm. 15), S. 37.

  29. Ders., die Versprengung. S. 32.

  30. R. Pietraß (Anm. 22), S. 26.

  31. J. Rennert (Anm. 5), S. 9.

  32. Volker Braun, Gedichte, Frankfurt 1979, S. 7.

  33. Offene Fenster 8. Gedichte junger Leute. Berlin 1985, S. 42.

  34. Uwe Kolbe, Abschiede und andere Liebesgedichte, Frankfurt 1983 und Berlin-Weimar 1981. S. 77.

  35. Thomas Böhme, Die schamlose Vergeudung des Dunkels. Gedichte, Berlin-Weimar 1985, S. 83.

  36. G. Kachold (Anm. 4), S. 81.

  37. Thomas Rosenlöcher, Schneebier. Gedichte, Halle-Leipzig 1988, S. 9f„ 31 f.

  38. Vgl. G. W. F. Hegel (Anm. 2), S. 328.

  39. Volker Braun, Bodenloser Satz, Frankfurt 1990.

Weitere Inhalte

Alexander von Bormann, Dr. phil., geb. 1936; Studium der Germanistik, Philosophie, klass. Philologie in Tübingen, Göttingen und Berlin; seit 1971 Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität von Amsterdam. Veröffentlichungen u. a.: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff, Tübingen 1968; zahlreiche Beiträge zur Literatur des 16. bis 20. Jahrhunderts.