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Gentechnik und Humangenetik | APuZ 6/1991 | bpb.de

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APuZ 6/1991 Gentechnik und Humangenetik Gesetzliche Regelungen von Fragen der Gentechnik und Humangenetik Ethische Aspekte der Humangenetik und Embryonenforschung Gentechnologie zwischen Biologie und Politik. Interdisziplinarität und didaktische Struktur Genetisierung und Verlust der Gestalt Folgen der Genetik für die Deutung des Menschen und der Gesamtwirklichkeit

Gentechnik und Humangenetik

Markus Müller-Neumann/Heike Langenbucher

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bio-und Gentechnik gehört als Schlflsseltechnik zu den zukunftsweisenden Arbeitsgebieten. Sie nutzt die biologische Syntheseleistung lebender Zellen zur Stoffumwandlung und zur Herstellung neuer Produkte. Zur Diagnose mancher Erkrankungen und zur Herstellung mancher Arzneimittel ist der Einsatz gentechnischer Methoden die Voraussetzung. Daneben zeichnen sich auch im Pflanzenbereich Möglichkeiten ab, durch gezielte Genübertragungen Pflanzen mit neuen Eigenschaften auszustatten. Einer der Gründe, warum die Gentechnik in der öffentlichen Diskussion oft auf Skepsis stößt, liegt darin, daß fälschlicherweise Problemfelder aus der Reproduktionsbiologie immer wieder der Gentechnik zugeordnet werden. Retortenbabies und Leihmutterschaft aber haben mit Gentechnik nichts zu tun. Bei der modernen Humangenetik werden immer mehr einzelne Gene und Gengruppen in ihrer Bedeutung fürden Organismus identifiziert. Hierbei steht die Suche nach genetischen Strukturfehlern und Steuerungsproblemen für die Verursachung von Krankheiten im Vordegrund. Die Kritik richtet sich gegen mögliche Mißbrauchsgefahren der neuen genetischen Informationsflut, aber auch gegen das zunehmende human-genetische Wissen ohne entsprechende Therapieaussichten. Kann beim Erwachsenen noch die Selbstbestimmung und die Einwilligungsfähigkeit vorausgesetzt werden, so fragt man sich nach den Kriterien, die für die vorgeburtliche Diagnostik gelten sollen. Ohne genetisches (Ge) Wissen werden weder Laien noch Experten den genetischen Fortschritt bewältigen können.

Teilbeitrag über Gentechnik wurde von Herrn Markus Müller-Neumann, der über Humangenetik von Frau Heike Langenbucher verfaßt.

I. Gentechnik

1. Einleitung Die Bio-und Gentechnik gehört wie die Mikroelektronik, die Lasertechnik oder die Herstellung von Hochleistungsverbundwerkstoffen zu den soge-nannten Schlüsseltechniken. Darunter versteht man innovative, zukunftsweisende Arbeitsgebiete, die für den Erfolg eines Landes im internationalen Wettbewerb entscheidend sind. Um hier bestehen zu können, bedarf es neuer Methoden und besserer Produkte. Der rasche Fortschritt und die weitgespannten Möglichkeiten erwecken dabei einerseits Hoffnungen und Erwartungen, andererseits können sie — bei ungenügender Aufklärung über Chancen und Risiken — auch Vorbehalte oder gar Ängste auslösen.

Die Chemie befaßt sich mit der Umwandlung von Stoffen in neue Substanzen. Mit chemischen Synthesen sind beispielsweise Arzneimittel, Kunst-oder Farbstoffe oder etwa Vitamine zugänglich. Auch die Biotechnik ist eine Methode zur Herstellung neuer Produkte. Sie nutzt die biologische Syntheseleistung lebender Zellen oder daraus hergestellter Enzyme zur Gewinnung oder Umwandlung von Stoffen. Dies gilt sowohl für die Hochschulforschung als auch für die industrielle Entwicklung und Produktion.

Jede technische Anwendung birgt möglicherweise gewisse Risiken, die mitbedacht werden müssen. Bei sachgemäßer Handhabung reduzieren sich diese Probleme jedoch auf ein beherrschbares Niveau. Neben einer Bewertung der Risiken müssen jedoch die vielgestaltigen Chancen und erwiesenen Nutzanwendungen gesehen werden, und jeder Kritiker muß sich auch der Frage stellen, ob der Verzicht auf eine Technik nicht das größere Risiko darstellt. Im Bereich der Mikroorganismen z. B. ergänzt die Gentechnik in vorhersehbarer, gezielter Weise die zeitraubenden Methoden der klassischen Biologie; zur Diagnose mancher Erkrankungen und zur Herstellung mancher Arzneimittel ist der Einsatz gentechnischer Methoden die Voraussetzung.

Der Mensch hat von Anbeginn seiner kulturellen Entwicklung die Eigenschaften von Mikroorganismen, z. B. von Hefe, zur Stoffumwandlung geDer nutzt. Beispiele sind die Herstellung von Lebensmitteln wie Wein, Käse, Brot und Bier. Auch Zitronensäur, Penicillin sowie verschiedene Vitamine werden mikrobiell hergestellt. Die Chancen der klassischen Biotechnik liegen darin begründet, daß es eine unüberschaubar große Zahl verschiedenster Mikroorganismen auf der Erde gibt, die ein großes Potential für unterschiedlichste Stoffumwandlungen darstellen. Nach der Isolierung eines bestimmten Mikroorganismus muß dieser in der Regel ein Mutations-und Selektionsprogramm durchlaufen, um höhere Syntheseleistungen zu erzielen, die ein wirtschaftliches Verfahren ermöglichen. Diese so-genannte Stammentwicklung erfolgt durch Eingriffe auf der Ebene der Erbinformation nach den Gesetzen des Zufalls. Diese Methoden bedingen einen beträchtlichen Zeitaufwand, um einen geeigneten Produktionsstamm zu entwickeln. So dauerte es beispielsweise beim Penicillin ca. 50 Jahre, bis man bei den heutigen Hochleistungsstämmen angelangt war, die über 10 000 Mal soviel Penicillin produzieren wie der ursprüngliche Wildtyp.

Heute kommt es zunehmend zu einer Konkurrenz zwischen chemischen Prozessen und biotechnischen Verfahren. Diese können umweltfreundlicher und kostengünstiger sein. Biotechnische Prozesse haben damit eine erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung gewonnen.

Die Gentechnik stellt nun Methoden zur Verfügung, mit denen man Mikroorganismen rascher und gezielter zu hohen Syntheseleistungen bringen kann. Mit Hilfe der Gentechnik ist es möglich, gezielt in die Erbinformation einzugreifen, was mit den Methoden der klassischen Mikrobiologie unmöglich ist.

Die Gentechnik ist ein junger Wissenschaftszweig. Erst Anfang der siebziger Jahre wurden die Methoden entwickelt, mit denen es möglich ist, Lebensvorgänge auf der Ebene der Moleküle zu entschlüsseln. Seit dieser Zeit erleben wir einen rasanten Erkenntnisfortschritt. Wir kennen heute den Aufbau der Erbinformation und verstehen, wie die Erbinformation die Lebensvorgänge steuert und wie man diese Erbinformation gezielt verändern kann. Die Gentechnik ist dabei nur ein Teilgebiet moderner Biologie. Im wissenschaftlichen Verbund stehen neben der Molekularbiologie die Zell-und Mikrobiologie, die Immunologie, die Fermentationstechnologie, die Proteinchemie und die Biophysik. 2. Grundlagen der Molekularbiologie Die genetische Information ist in einem besonderen Molekültyp verschlüsselt, der sogenannten Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA genannt. Diese DNA besteht bei Bakterien aus ca. drei Millionen Einzel-bausteinen, was etwa der Zahl der Schriftzeichen der Bibel entspricht. Bei höheren Lebewesen ist die Zahl ca. tausendmal größer. Die Gene tragen die Informationen für alle Stoffwechsel-Vorgänge in der Zelle. Der „genetische Code“, mit dem die Erbinformation in Eiweißbausteine übersetzt wird, ist seit 1966 bekannt.

Veränderungen des Erbguts (Mutationen) treten in der Natur häufig auf. Sie wirken sich oft negativ aus, da sie meist zum Ausfall eines Gens führen.

Einige Mutationen haben aber auch positive Effekte, wenn die neue Art einen Selektionsvorteil gegenüber der alten hat. Genetische Veränderungen ermöglichen also Evolution. Die Möglichkeit von Veränderungen darf aber nicht überschätzt werden; wie in einem Schrifttext muß auch hier ein sinnvoller Zusammenhang erhalten bleiben.

Wie nutzt die Molekularbiologie diese Erkenntnisse aus? Laborexperimente sind nichts grundsätzlich Neues; die künstliche Mutagenese ist nur die Übernahme natürlicher Vorgänge. Eine Besonderheit der Natur bietet dazu eine günstige Möglichkeit. Bakterien enthalten im Zellplasma kleine, separate Untereinheiten der Erbinformation in Form ringförmiger DNA-Moleküle, sogenannter Plasmide. Diese lassen sich relativ einfach isolieren. Mit speziellen Enzymen kann man die Plasmide an ganz bestimmten Stellen aufschneiden und in die Schnittstelle eine neue Erbinformation einfügen. Spezielle Methoden erlauben es, solche „rekombinanten“ Plasmide wieder in intakte Bakterien einzubringen und diese anschließend zu vermehren. Diese Methode wird als „Klonierung“ bezeichnet.

Da die Erbinformation aller Lebewesen in der gleichen Schrift codiert ist, kann die in das Erbgut des Mikroorganismus neu eingefügte genetische Information auch von anderen Lebewesen — beispielsweise Säugetieren oder Pflanzen — stammen. Die Plasmide werden so zu molekularen Vektoren, mit denen man fremdes Erbgut, d. h. Baupläne und Arbeitsanleitungen, in das Erbgut eines Bakteriums einschleusen kann. Dieses wird dadurch veranlaßt, Produkte herzustellen, die nicht zu seinem eigentlichen Lebensprogramm gehören. Die Produkte werden anschließend aufgereinigt und einer detaillierten Qualitätskontrolle unterzogen. Die Möglichkeit, den — auch in der Natur vorkommenden — Gentransfer über Artgrenzen hinweg gezielt auszunutzen, bedeutet einen dramatischen Durchbruch auf dem Gebiet der Biowissenschaften. 3. Gentechnik im Pharmabereich Gentechnische Methoden werden vorrangig für das Arbeitsgebiet Pharma, also zur Entwicklung von Medikamenten, genutzt. Neben Substanzen nämlich, die mit biotechnischen Methoden ökonomischer als mit den klassisch-chemischen hergestellt werden können, gibt es auch solche Produkte, die mit herkömmlichen Methoden gar nicht hergestellt werden könnten. Diese Aussage trifft für eine Reihe neuer Pharmawirkstoffe zu, die auf körpereigenen Proteinen basieren. Zu ihrer Herstellung ist der Einsatz gentechnischer Methoden die Voraussetzung. Dieser Bereich wird wahrscheinlich am stärksten von der Gentechnik profitieren.

Die Anwendung der Gentechnik hat eine Reihe neuer, überlegener Proteinwirkstoffe geliefert, die zur Therapie von Problemkrankheiten eingesetzt werden können. Von verschiedenen Firmen entwickelt, sind bis heute in unterschiedlichen Ländern ca. zwölf gentechnisch hergestellte Therapeutika im Handel. Hierzu gehören auf dem Herz-Kreislauf-Gebiet der Blutgerinnungsfaktor VIII und der Gewebe-Plasminogen-Aktivator zur Behandlung des Herzinfarkts. Hohe Erwartungen setzt man auch auf Fortschritte bei der Behandlung von Krebserkrankungen. Mit zunehmender Kenntnis der zellulären und molekularen Vorgänge bei der Entstehung dieser Krankheit wächst auch die Chance, gezielt in das Krankheitsgeschehen eingreifen zu können. Auch hier gewinnen körpereigene Proteine eine zunehmende Bedeutung. Diese Stoffe, die in unserem Körper oft nur in winzigen Spuren — im Bereich weniger milliardstel Gramm — vorkommen, können mit Hilfe gentechnisch veränderter Bakterien in ausreichenden Mengen und in großer Reinheit zugänglich gemacht werden. Beispiele hierfür sind das a-Interferon oder das Interleukin-2, beides Substanzen, die als biologische Mediatoren eine Rolle im Immunsystem spielen. Ein weiterer Schwerpunkt sind natürliche Hormone wie das humane Insulin zur Diabetes-Behandlung, das menschliche Wachstumshormon oder das Erythropoietin zur Behandlung der Anämie bei Nierenversagen. Hinzu kommen Impfstoffe wie eine biotechnisch hergestellte Vakzine gegen Hepatitis B.

Die Zahl der Projekte, die sich in präklinischer und klinischer Entwicklung befinden, liegt bei ca. hundert. Hierzu gehören Proteine, die die Blutgerinnung hemmen, Tumortherapeutika, Wachstums-und Stimulierungsfaktoren sowie hochspezifische Antikörper zum Einsatz in Diagnose und Therapie. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Virusinfektionen (darunter auch AIDS), rheumatische Erkrankungen und die Arteriosklerose.

Neben der Bedeutung der Gentechnik bei der Herstellung von Proteinwirkstoffen wird ihr im Pharmabereich in Zukunft eine weitere besondere Rolle zukommen: Die Methoden der Gentechnik machen es möglich, Lebensvorgänge besser zu verstehen und die molekularen Ursachen von Krankheiten aufzuklären. Der tiefe Einblick in die Mechanismen der Signalübertragung zwischen Zellen und die Rolle der Rezeptoren auf Zelloberflächen werden neue Diagnosewege und neuartige Therapiemöglichkeiten eröffnen.

Die Kenntnis der räumlichen Struktur der Rezeptoren für Arzneimittel ermöglicht es, Substanzen zu entwerfen, die optimal auf ihren Wirkort zugeschnitten sind. Das Ziel, Pharmaka mit hoher spezifischer Wirkung bei möglichst geringer Nebenwirkung quasi maßzuschneidern, kann so Wirklichkeit werden. Die Erarbeitung von Strukturdaten über die Rezeptoren ermöglicht also einen direkten Zugang zu neuen Wirkstoffen. Dies ist nur unter Einsatz moderner Computertechnik möglich. Diese Vorgehensweise wird als „rational drug design“ bezeichnet. Ein weiteres Gebiet, in dem die Methoden der Gentechnik zunehmende Bedeutung für die Pharmakologie erlangen werden, sind transgene Tiere. Solche Tiere können als Modell zum Studium humaner Erkrankungen, z. B.des Bluthochdrucks, dienen. Solche Modelle bei der Entwicklung von Arzneimitteln werden derzeit in der wissenschaftlichen Hochschulforschung intensiv diskutiert und in den USA in der Pharmaforschung bereits eingesetzt. Unter ethischen Gesichtspunkten ist dabei im Hinblick auf die Mitgeschöpflichkeit des Tieres ein besonderes Maß an Verantwortung geboten. 4. Gentechnik im Pflanzenbereich Neben der Anwendung gentechnischer Verfahren im Pharmabereich zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, durch den gezielten Transfer von Genen Pflanzen mit neuen Eigenschaften auszustatten. Ziele sind hier, Pflanzen resistenter gegen Schädlingsbefall zu machen und damit Pflanzenschutzmittel einzusparen, ihre Ertragskraft zu steigern oder sie an andere Klima-oder Bodenbedingungen anzupassen. In vielen wissenschaftlichen Instituten in der Welt und so auch im Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung in Köln werden seit über 30 Jahren immer leistungsfähigere Methoden zur Erzeugung neuer Kulturpflanzensorten angewandt. Getreide, Kartoffeln, Sonnenblumen, Kohl, Tomaten und Reis gehören dazu. Ein neuer Ansatz kann dabei die Gentechnik sein. Neben zahlreichen Versuchen im geschlossenen Labor wurden dabei in der Bundesrepublik zum ersten Mal gentechnisch veränderte Petunien vom Labor ins Freiland gesetzt. Ziel des Experiments war es, sogenannte „springende Gene“ im Erbgut zu finden. Dies ist zunächst reine Grundlagenforschung. Die Pflanzenzüchter sehen jedoch durch die Entschlüsselung des Erbgutes eine Chance, „wertvolle“ Gene aufzufinden und deren günstige Eigenschaften auf Nutzpflanzen zu übertragen. So wollen die Forscher Erbanlagen in Gerste einbauen, die sie vor dem Befall von Pilzen und Viren schützen. Kartoffeln und Weizen sollen eiweißreicher werden, indem Gene für bestimmte Proteine im Erbgut künstlich vervielfacht werden. Andere Pflanzen sollen mit einem höheren Gehalt an essentiellen Aminosäuren ausgestattet werden, z. B. das Mais-Protein mit mehr Lysin. Andere Pflanzen sollen die Eigenschaft von Knöllchenbakterien erhalten, Stickstoff direkt aus der Luft statt durch Dünger zu beziehen. Reis, Sojabohnen und Getreide ollen genetisch so verändert werden, daß sie auch auf sauren oder salzigen Böden gedeihen. 29 verschiedene Pflanzenarten sind bisher weltweit mit den Methoden der Gentechnik verändert worden; in über 100 Experimenten wurden die transgenen Pflanzen ins Freiland gebracht.

Eine Sorge der Kritiker der Gentechnik ist, daß gentechnisch veränderte Pflanzen plötzlich als gefährliche Unkräuter die Felder überwuchern. Unsere Kulturpflanzen sind jedoch schon durch die klassische Züchtung so sehr verändert worden, daß sie ohne die menschliche Pflege in der Wildnis nicht überleben könnten. Es wird ferner befürchtet, daß neue, genetisch veränderte Pflanzen den Natur-haushalt aus der Balance bringen. Dies gilt natürlich für jede Einführung fremder Pflanzen an einen neuen Standort. Diesem Gesichtspunkt folgend, hätte man weder den Mais noch die Kartoffel nach Mitteleuropa bringen dürfen.

Die neugezüchteten Arten werden außerdem zuerst im Labor, anschließend im Gewächshaus und erst im dritten Stadium in einem kontrollierten Versuchsfeld im Freiland getestet. Die Zusammenar-. beit von Biologen, Ökologen und Landwirten ist dabei besonders wichtig, um etwaige Risiken möglichst gering zu halten. Allerdings sind auch hier keine größeren Risiken als bei der klassischen Züchtung zu erwarten. Der Einsatz der Gentechnik kann jedoch schneller zu hochwertigeren Pflanzen führen.

Was aber, wenn den Pflanzen Eigenschaften verliehen werden, die sie resistenter gegen Pflanzenschutzmittel machen? Manche behaupten, dies nütze allein der chemischen Industrie, die diese Mittel verkaufen wolle. Wahrscheinlicher ist, daß es gelingt, Herbizide zu entwickeln, die bei niedrigen Einsatzmengen und gezielter Ausbringung ihre Wirkung entfalten, so daß letztlich weniger Substanz ausgebracht werden muß, um die Nutzpflanzen vor Unkräutern zu schützen.

Der Hunger in vielen Entwicklungsländern stellt unverändert das größte Problem dar. Angesichts der landwirtschaftlichen Überschußprobleme mag dies — gerade in den hochentwickelten Industrie-ländern — lediglich als ein Verteilungsproblem erscheinen. Daher wird bisweilen die kritische Frage nach dem Sinn solcher gentechnischen Optimierun5 gen gestellt. Wir müssen jedoch im Auge behalten, daß nicht alle Länder klimatisch begünstigt sind, und daß die Zahl der Menschen auf der Erde ständig weiterwächst. Das Welthungerproblem muß durch den Einsatz aller verfügbaren Möglichkeiten, einschließlich der Gentechnik, gelöst werden. 5. Kritik an der Gentechnik Neben den bereits erwähnten speziellen Kritikpunkten wird auch allgemeine Kritik an gentechnischen Arbeiten vorgebracht. So wird die Gentechnik von einigen gesellschaftlichen Gruppen als gefährlich angesehen. Die Kritiker behaupten, deren Nutzung sei mit großen Risiken für die Umwelt und für unsere Lebensgrundlagen verbunden. Andererseits bestehe der Nutzen der Gentechnik zunächst nur aus Hoffnungen. Konkrete Produkte, die diese Hoffnungen erfüllen könnten, seien noch nicht vorhanden. Das ökologische Risiko, speziell bei Frei-setzungen, sei grundsätzlich nicht zu bewerten; dies könne nur im Rahmen einer umfassenden Technik-Folgen-Abschätzung geschehen. Eine weitere Sorge ist, daß Arbeitnehmer im Zusammenhang mit gentechnischer Produktion leichtfertig einem Risiko ausgesetzt werden könnten, ohne daß entsprechende Schutzvorkehrungen getroffen wurden. Die Forderung nach einer Umweltverträglichkeitsprüfung sowie ein Vergleich mit alternativen Problemlösungen wird erhoben. Neue Anwendungsmöglichkeiten der Gentechnik, die mit ethischen Fragestellungen verbunden sind, wie z. B.der Gen-therapie oder ein möglicher Mißbrauch der Gentechnik, werden ebenfalls diskutiert.

Es besteht kein Zweifel, daß die Gentechnik weitreichende Veränderungen in der Industrie und Gesellschaft zur Folge haben wird. Daher müssen auch Fragen der Sicherheit und eventueller Risiken intensiv diskutiert werden. Diese Diskussion wurde sehr früh von den Wissenschaftlern selbst ausgelöst. Bereits 1975 kam es zu der berühmten Konferenz in Asilomar in Kalifornien. Die Wissenschaftler warnten damals vor denkbaren Gefahren, die von gentechnisch veränderten Organismen ausgehen könnten. Heute wissen wir, daß diese Befürchtungen weit überschätzt wurden. Technologie-spezifische Gefahren wurden nicht entdeckt. Millionen gentechnischer Experimente in weltweit über 10 000 Labors in den letzten 15 Jahren belegen, daß gentechnische Veränderungen durchweg mit einem Verlust an Überlebensfähigkeit der so veränderten Organismen gekoppelt waren. Im Konkurrenzkampf mit ihren natürlichen Artgenossen sind diese Organismen hoffnungslos unterlegen. In den Laboratorien und technischen Anlagen ist es vielmehr das weitaus größere Problem, die gentechnisch veränderten Bakterienzellkulturen vor Infektionen durch Wildstämme von außen zu schützen.

In Rheinland-Pfalz hat sich eine aus Wissenschaftlern. Juristen. Theologen, Ethikern und Vertretern der Wirtschaft zusammengesetzte „Bioethik-Kommission“ über mehrere Jahre mit dem Thema beschäftigt. Ihr Abschlußbericht kommt zu dem Ergebnis, daß Gentechnik für die Forschung und wirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar ist, daß aber auch Grenzen einzuhalten sind.

Auch die Bundesregierung hat ihre Forschungsstrategie in diesem Bereich festgelegt. Das Programm „Biotechnologie 2 000“ soll insbesondere die wissenschaftliche Grundlagenforschung und die industrielle Forschung in den Bereichen Pharma, Landwirtschaft und Umwelt fördern. Besondere Bedeutung mißt man dabei den vier Genzentren als Naht-stelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft bei. Entsprechende Programme auf europäischer Ebene („BRIDGE“) existieren ebenfalls. 6. Gentechnik-Leitlinien Die Gentechnik trifft in der öffentlichen Diskussion oft auf Skepsis. Einer der Gründe dafür liegt darin, daß fälschlicherweise Problemfelder aus der Reproduktionsbiologie immer wieder der Gentechnik zugeordnet werden. Die Gentechnik hat aber mit Retortenbabies und Leihmutterschaft nichts zu tun. Klar abgegrenzt werden müssen auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Die chemische Industrie arbeitet nicht auf diesen Gebieten und lehnt derartige Eingriffe auch entschieden ab.

Die Gentechnik kann zur Erforschung und Behandlung von Krankheiten, zur Verbesserung der Ernährungsgrundlagen sowie für umweltfreundliche Produktionsverfahren eingesetzt werden.

Dabei steht in Forschung, Entwicklung und Produktion die Sicherheit für Mitarbeiter und Umwelt im Vordergrund. Die Verantwortung des Wissenschaftlers ist dabei vielgestaltig, denn er muß nach bestem Wissen und Gewissen handeln, zusätzlich aber auch die Folgen seiner Arbeit bedenken. Dazu sind eine sorgsame Analyse und eine vorausschauende Position notwendig, wobei die kritische Beurteilung vom konkreten Experiment ausgehen muß. Für die Anwendung der Gentechnik gelten Grenzen. die sich aus den ethischen Wertvorstellungen, insbesondere dem Respekt vor dem Leben und der Würde des Menschen ergeben. Es ist die Aufgabe, die neuen Erkenntnisse im Dialog mit der Öffentlichkeit zu erörtern.

II. Humangenetik

1. Aufbau und Funktion der Erbanlage des Menschen Die Erbanlagen aller Lebewesen sind in ihrer Grundstruktur identisch. Sie sind vergleichbar mit Buchstaben, die zu Sinneinheiten, „Wörtern“, zusammengefügt werden, um dann in einer eigenen Sprache „reden“ zu können. Je nach Art und Gattung unterscheidet sich die „Sprache des Lebens“ durch Anzahl, Anordnung und Reihenfolge ihrer DNA-Bausteine. Davon hängen einerseits die art-spezifische Ausprägung und andererseits die individuelle Schwankungsbreite von vererbbaren Merkmalen innerhalb einer Spezies wie Augen-, Haut-und Haarfarbe ab. Das Gen als Sinneinheit der Erbanlage hat eine Schlüsselstellung für die genetisch festgelegte Steuerung von Lebewesen. Jeweils ein Gen erteilt im Rahmen des genetisch festgelegten Programms des Individiums Aufträge zur Bildung eines bestimmten komplexen Eiweißstoffes (Protein). Die Zellen im Körper nehmen diese „Befehle“ entgegen; sie sind vergleichbar mit winzigen Fabriken, die die jeweils erforderlichen Stoffe zum Lebenserhalt, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Funktion des Körpers bereitstellen. Gewebe-und Organzellen sind darauf spezialisiert, bestimmte Produktionsaufgaben wahrzunehmen, die einerseits der Erneuerung und Erhaltung körpereigener Strukturen dienen, z. B. Zellerneuerung durch Zellteilung; andererseits leisten sie damit einen Beitrag zur Gesamtfunktion des Organismus. Als stoffliche Grundsubstanz dieser Lebensvorgänge können die aus Aminosäuren zusammengesetzten komplexen Proteine angesehen werden, die zum Aufbau von Hormonen, Enzymen, Muskel-baustoffen, um nur einige wenige aus der Vielzahl zu nennen, gebraucht werden. Die richtige Kombination der DNA-Folge auf dem fadenförmigen Erbmolekül entscheidet also darüber, ob in jeder Zelle das richtige Produkt in der richtigen Menge zum richtigen Zeitpunkt hergestellt wird, damit der Körper ungestört wachsen und „funktionieren“ kann. Regulationsgene organisieren das erforderliche Zusammenwirken im Gesamtorganismus. An den komplexen Lebensaufgaben sind zumeist mehrere Gene beteiligt.

Da ein wesentliches biologisches Prinzip des Lebens Ordnung herstellen und erhalten ist, schwimmen die beim Menschen vermuteten 50 000 bis 100 000 Gene nicht regellos im Zellkern umher, sondern sind in chromosomaler Weise aufgeteilt, fadenförmig aneinandergereiht und zum Platzsparen aufgeknäuelt. Mit lichtmikroskopischen Untersuchungen lassen sich diese in jeder kernhaltigen Körperzelle auf 46 Chromosomen verteilten Erbanlagen in ihrer Grobstruktur beschreiben. Es ist auch schon länger bekannt, daß es 22 identische Chromosomenpaare (= Autosomen) gibt. Jedes der von eins bis 22 durchnumerierten Chromosomen kommt in doppelter Ausführung vor; jeweils vom Vater und von der Mutter vererbt. Hinzu kommen in jeder Körperzelle zwei Geschlechtschromosomen (= Genosomen), entweder zwei X-Chromosomen mit dem genetischen „Fahrplan“ für das weibliche Geschlecht oder ein X-und ein Y-Chromosom, welches die genetische Botschaft für ein männliches Individium vermittelt. Für Keimzellen gilt der Sonderfall der halben Chromosomenzahl. In Ei-und Samenzellen halbiert sich während der Reifeteilung die ursprünglich vorhandene Zahl von 46 Chromosomen. Bei der Befruchtung wird dann mütterliches und väterliches Erbe zu gleichen Teilen gleichberechtigt an die Nachkommen weitergegeben und die zwei halben Chromosomensätze zu einem „neuen“ Ganzen. Die das Geschlecht bestimmende Erbinformation wird über die Weitergabe der Geschlechtschromosomen an die Nachkommen geregelt. Die Mutter kann immer nur ein X-Chromosom vererben. Es sind also die Samenzellen, die nach der vorbereitenden Reifeteilung unterschiedliche Geschlechtschromosomen enthalten und somit entweder ein X-oder ein Y-Chromosom bei der Befruchtung in die Eizelle einbringen und damit das Geschlecht des Kindes festlegen. Jedes Individium ist einzigartig und doch gleichartig!

Genetisch einzigartig durch die jeweils zur Hälfte vom Vater und der Mutter stammenden Erbanlagen. Da nur eineiige Zwillinge genetisch gleich sind, nicht aber sonstige Geschwister, geschieht bei jeder Reifeteilung, bevor ein befruchtungsfähiges Ei bzw. eine Samenzelle entsteht, mehr als die einfache Aufteilung der Chromosomen. Außer der Reduktion von Erbmaterial werden zwischen den Partnerchromosomen identische Teilstücke der Erbinformation ausgetauscht. So gelangen immer neue Kombinationen des großen Erbmoleküls in die fertigen befruchtungsfähigen Ei-und Samenzellen. Es gibt keine befruchtungsfähigen Keimzellen, die genetisch identisch sind. Es gleicht also weder ein Ei dem anderen noch gibt es zwei genetisch gleiche Samenzellen.

Genetisch gleichartig sind Menschen hinsichtlich des anatomischen Aufbaus ihrer Gewebe und Organe sowie der Körperfunktionen. Mit kleinen Variationen „funktionieren“ gesunde Körper alle gleich. So sind z. B. die Stoffwechselvorgänge in den großen Körperdrüsen wie auch der Verlauf von Blut-und Nervenbahnen innerhalb geringer Schwankungsbreiten identisch. Andernfalls wäre jede Operation ein unkalkulierbares Risiko. 2. Wenn Gene krank machen So einfach wie hier dargestellt, läuft der „Genbetrieb“ im Körper jedoch nicht immer ab. Ungeord-B nete, im genetischen Bauplan nicht vorgesehene Abweichungen in der genau definierten Reihenfolge einer bestimmten Anzahl der DNA-Grundeinheiten (Triplets, genetischer Code) eines Organismus können zu krankhaften Symptomen, sichtbaren Behinderungen oder aber zu versteckten Krankheitsanlagen führen.

Es gibt also kleine und große Strukturveränderungen in der Erbanlage mit kleinen und großen Auswirkungen auf den Organismus. Chromosomale Fehlverteilungen und chromosomale Strukturfehler: Durch Störungen bei der Reifeteilung kommt es vor, daß ganze Chromosomen oder Chromosomen-bruchstücke zuviel oder zuwenig in den Keimzellen zur Vererbung kommen. Die klinische Erfahrung zeigt, daß dieses Risiko bei Frauen im vierten Lebensjahrzehnt deutlich zunimmt.

Defekte in der Genstruktur: Ist nur ein einziges Gen auf dem Erbmolekül betroffen, wird das daraus resultierende Merkmal mit monogen bezeichnet. Sitzt dieser kleine Defekt an einer wichtigen Stelle im Gen, kann das die Ursache für eine schwerwiegende Erbkrankheit sein. Polygen bedeutet, daß eine ganze Gruppe von Genen, verteilt über die gesamte Erbanlage, einbezogen ist. Es gibt viel mehr polygen beeinflußte Merkmale und Funktionen beim Menschen als monogengesteuerte Vorgänge. So sind z. B. die chronischen Krankheiten des Erwachsenenalters vorwiegend polygen (mit) -verursacht.

Da wir jedoch nicht nur von unseren Genen regiert werden, sondern weitreichende „Mitbestimmungsrechte“ für unseren Lebensstil und Lebensverlauf haben, muß auch der Faktor Umwelt und Lebensweise Berücksichtigung finden. Die überwältigende Anzahl von Merkmalen und chronischen Krankheiten des Menschen sind multifaktoriell bedingt, d. h. eine genetische Anlage prägt sich entsprechend der lebensumweltlichen und lebenszeitlichen Bedingungen aus. Dazu gehören so komplexe Erscheinungen wie die Intelligenz und die Gefühlslage eines Menschen, aber auch fast alle chronischen Krankheitszustände, angefangen von den Herz-Kreislauf-Erkrankungen über Stoffwechselerkrankungen und Verschleiß des Stützapparates. 3. Vererbt wird nach Regeln Von den monogenen Defekten, die „klassische“ Erbkrankheiten hervorrufen, ist bereits seit den Mendelschen Vererbungsgesetzen bekannt, mit welcher statistischen Wahrscheinlichkeit der Weitergabe zu rechnen ist und unter welchen Bedingungen es zum Ausbruch der Krankheit kommt bzw. ob nur eine vererbbare Merkmalträgerschaft ohne Krankheitssymptome besteht. Grundlage dieser Vererbungsregeln ist die Tatsache, daß in Körper-zellen jedes Gen zweimal vorkommt, jeweils einmal auf jedem der paarig angelegten Chromosomen.

Heterozygot bedeutet, daß es nur auf einem der beiden Partnerchromosomen eine genetische Veränderung gibt. Ob es bei Vorliegen eines einzigen Gendefektes bereits mit der Geburt zum Auftreten von Behinderungen und Krankheitserscheinungen kommt bzw. diese mit Sicherheit zu einem späteren Zeitpunkt im Leben manifest werden, oder ob es gar nicht zum Krankheitsausbruch kommt bzw. nur beim Zusammenwirken mit äußeren Einflüssen, ist unterschiedlich.

Dominant werden jene Erbkrankheiten genannt, bei denen bereits ein einziger betroffener Genort krankheitsauslösend ist. Die Krankheit bricht entweder sofort oder später aus (z. B. Chorea Huntington mit ca. 40 Jahren). Rezessive Erbleiden sind solche, bei denen das unverändert gebliebene Gen auf dem Partnerchromosom den Krankheitsausbruch verhindert. Erst wenn beide identischen Gen-orte mit dem spezifischen krankmachenden Gen besetzt wären, käme es zur Krankheit. Bei rezessiven Erbkrankheiten könnte das einzelne veränderte Gen unentdeckt bleiben, da lebenslang keine Beschwerden auftreten. Wird dieses Merkmal jedoch von zwei unerkannten Merkmalsträgern weitervererbt, erkranken die Kinder solcher Eltern. Rezessive Erbkrankheiten, die auf einer Strukturänderung auf dem X-Chromosom beruhen, können unerkannt von der Mutter weitergereicht werden und führen dann bei den männlichen Nachkommen bereits bei nur einem Gendefekt auf einem Genort zu Krankheitserscheinungen. Es gibt bei der männlichen Chromosomenkonstellation XY keinen Chromosomenpartner, der das falsche genetische Programm auf dem X-Chromosom kompensieren könnte (z. B. Hämophilie A [Blutkrankheit], Duchennsche Muskeldystrophie).

Eine genaue statistische Vorhersage des Erbgangs von polygenen und multifaktoriell verursachten Krankheiten kann nicht gegeben werden. Empirisch wird davon ausgegangen, daß das Risiko für Nachkommen lediglich zwischen fünf und zehn Prozent liegt. Der Informationsgewinn geht also kaum über die bereits bekannte familiäre Häufung bestimmter Krankheiten hinaus. 4. Dem Genom auf der Spur Kaum ein Tag vergeht, ohne daß mehr oder weniger reißerisch in einer Zeitungsmeldung berichtet wird, es sei der Verdacht aufgetaucht bzw.der wissenschaftliche Nachweis erbracht, daß für eine der vielen Krankheiten mehr eine genetische Ursache gefunden sei, ja daß man jetzt sogar genau wisse, auf welchem Chromosom welcher Gendefekt dafür verantwortlich zu machen sei.

Das große wissenschaftliche und medizinische Interesse an der Analyse des menschlichen Genoms und die Arbeit an der Entwicklung gentechnischer Therapieeingriffe bei genetisch bedingten Krank-heiten und Behinderungen stützt sich ganz wesentlich auf das Gesundheitsargument.

In ihrem Selbstverständnis ist die Medizin und die medizinische Forschung davon geprägt, zu heilen und zu lindern. Diesem Ziel dient die Forschung zur Aufdeckung von Krankheitsursachen und die Entwicklung neuer, früh erkennender Diagnoseverfahren. Aus diesen Erkenntnissen leiten sich Vorsorgekonzepte und neue Behandlungsverfahren ab. Es fragt sich aber, inwieweit der legitime Anspruch der Medizin: Gesundheit zu bewahren, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, nicht heilbare Krankheiten zu lindern und Betroffene beim Umgang mit Krankheit und Behinderung zu unterstützen, für die Genomanalyse und Gentherapie zum heutigen Zeitpunkt schon gilt oder in der Zukunft gelten könnte.

Eine Antwort auf diese Frage ist um so wichtiger, als davon auszugehen ist, daß nach einer heißen genetischen Forschungsphase eine Fülle von genetischen Serviceleistungen und Anwendungsangeboten erfolgen wird. Da ist es gut zu wissen, daß erblich nicht gleich erblich ist und eine genetische Diagnose eine höchst unterschiedliche Bedeutung haben kann.

Werdende Eltern, „frisch gebackene“ Eltern und solche, die gerne Eltern werden wollen, müssen sich mit der Fragestellung, welche Erbanlagen sie bei ihren Kindern aufgedeckt haben wollen bzw. für welche ihrer eigenen vererbbaren Anlagen sie Probleme für ihre Kinder sehen, ganz anders auseinandersetzen, als Erwachsene, die für sich selbst entscheiden, ob sie zur spezifischen Krankheitsvorsorge mehr über ihre Gene wissen wollen. (Ungeborene) Kinder können nicht gefragt werden, welche Hypothek an genetischem Wissen sie bereit sind, mit in ihr späteres Leben zu nehmen. Das Ja zur vorgeburtlichen Untersuchung will also gut überlegt sein. 5. Genetische Untersuchungsmethoden Unter einer genetischen Analyse sind alle Verfahren zu verstehen, die Aussagen über die Struktur und Funktionsfähigkeit der Gene zulassen.

Phänotyp Wenn ein Phänomen als typisch für ein erbliches Merkmal oder ein krankhaftes Symptom bekannt ist, ermöglicht bereits der geübte klinische Blick eine genetische Diagnose. So wurden über lange Zeit einige der mittlerweile ca. 5 000 bekannten monogenen Erbkrankheiten erst mit Ausbruch der Krankheit selbst auf der Phänotyp-Ebene diagnostiziert (z. B.der sogenannte Veitstanz, Chorea Huntington). Inzwischen hat sich diese Anschauungsebene auf die Zeit vor der Geburt ausgedehnt. Durch den mittels Ultraschallwellen ermöglichten Blick durch die Bauchdecken einer Schwangeren hindurch können seit ca. zwei Jahrzehnten bereits vorgeburtlich Anomalien festgestellt werden, von denen einige erblich sind.

Chromosomenanalyse Zweifellos ist auch die seit vielen Jahren angewandte Chromosomenanalyse Teil der Genomanalyse. Sie gibt z. B. Aufschluß über die Anzahl der Chromosomen und ob eventuell größere Chromosomenstücke fehlgn. Aus ihr läßt sich auch das „Kerngeschlecht“ ablesen. Es gibt Fälle, wo die Geschlechtsmerkmale so ausgeprägt sind, daß nicht zweifelsfrei zu erkennen ist, welchem Geschlecht der/die Betroffene zuzuordnen ist. An der Sonder-frage „Kerngeschlecht“ wird deutlich, daß bei der Chromosomenuntersuchung im Gegensatz zur Phänotypbestimmung kernhaltiges Zellmaterial vorhanden sein muß. Hierfür werden zumeist weiße Blutkörperchen oder oberflächliche Schleimhautzellen von der Wangenschleimhaut herangezogen. (Verhornte, abgestoßene Hornschüppchen eignen sich nicht für eine genetische Untersuchung, sie enthalten keine Zellkerne mehr.) Zur genetischen Untersuchung ungeborener Kinder eignen sich abgeschilferte kernhaltige Zellen, die sich im Fruchtwasser befinden. Zur Vermehrung dieses wenigen genetischen „Materials“ muß eine Zellkultur angelegt werden. So vergehen vom Eingriff (Amniozentese! Fruchtwasseruntersuchung) bis zur Chromosomen-diagnose einige Wochen. Schneller geht es, wenn ein anderer, auch bereits seit einigen Jahren praktizierter Zugangsweg zu fetalen Zellen gewählt wird, die Gewebsentnahme aus dem Mutterkuchen (Chorionzottenbiopsie). Das ist möglich, weil das Chorion entwicklungsbiologisch gesehen Teil der Fruchtanlage ist und somit auch Auskunft über die genetische Ausstattung des Embryos geben kann.

Mit einer Chromosomenanalyse können z. B. so schwerwiegende Diagnosen wie Trisomie 21 (Downsyndrom), bei dem das Chromosom 21 dreimal anstatt zweimal in der Zelle vorliegt, festgestellt werden. Ebenso lassen sich Fehlverteilungen der Geschlechtschromosomen erkennen, z. B. XO beim Turner-Syndrom und XXY beim Klinefelter-Syndrom. Alle Syndrome führen zu typischen Symptomen, die die Medizin schon lange kennt.

Genprodukt Ebenfalls herkömmlich und noch dazu weitverbreitet sind biochemische Nachweisverfahren für Gen-produkte. Z. B. kann im Blut gemessen werden, was ein Gen verursacht, wenn es falsche Befehle an die Zellen ausgesandt hat und diese — blind gehorchend — das falsche Hormon produzierten, den falschen Stoffwechselbeitrag leisteten. Die erblichen Stoffwechselkrankheiten Phenykentonurie und der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel sind auf der Genproduktebene nachweisbar. Beides sind positive Beispiele für eine sinnvolle Früherkennung genetischer Variationen. Die Untersuchung auf Phenylketonurie gehört zum Neugeborenen-Screening. Mit einer speziellen Diät lassen sich die sonst durch den Stoffwechseldefekt bedingten geistigen Entwicklungsstörungen beim Kind vermeiden. Bei rechtzeitiger Kenntnis eines Glukose-6-Phosphat Dehydrogenase Mangels können die bekannten auslösenden Faktoren, z. B. bestimmte Medikamente und der Verzehr von „Saubohnen“, vermieden und somit ein sonst auftretender Zerfall von roten Blutkörperchen verhütet werden. Genanalyse Im Verhältnis zur Chromosomen-Analyse, die nur 46 Teilstücke betrachten und bewerten kann, „verspricht“ die Analyse der 50 000— 100 000 Einzel-gene, die Feinstruktur des Genoms einschließlich aller regulierenden Querverbindungen aufzudekken. In diesem gigantischen Unternehmen nimmt sich die Aufdeckung der Genorte und der Gen-struktur monogener Merkmale und monogener Krankheiten fast anspruchslos aus. Sie sind aber sozusagen die ersten Zentimeter auf einer Zielgeraden, die sich die Analyse des gesamten menschlichen Genoms — mit und ohne Krankheitswert — zum Ziel gemacht hat.

Mehr noch als die Frage, wie das Wesen in den Genen gentechnisch funktioniert, ist von Bedeutung, wie wir, die „Gesellschaft“, die Betroffenen, die medizinischen Fachleute und die Wissenschaftler mit der zunehmenden Fülle an Einzelinformationen genetischer Fakten umgehen wollen. Das besondere Augenmerk der Kritik richtet sich auf diejenigen Laien, die spezifische Interessen an der Kenntnis der genetischen Ausstattung anderer Menschen haben könnten, wie z. B. Versicherer, Arbeitgeber, strafverfolgende Behörden und Justizvollzug. Für die Medizin stellt sich vor allen Dingen die Frage, ob sie einen humanen medizinisch-therapeutischen Rahmen für die vielen genetischen Diagnosen finden kann.

Es ist also nicht damit getan, mit immer mehr enzymatischen genetischen „Schneideinstrumenten“, Restriktionsenzyme genannt, immer mehr spezifische Teilstücke des langfädigen Erbmoleküls abzutrennen und der Länge nach zu ordnen, um damit die DNA-Abfolgen bestimmter Abschnitte zu sortieren und zu vergleichen. Es ist für Nicht-Fachleute auch nicht so furchtbar wichtig zu wissen, daß die doppelsträngige Erbinformation dafür längsgespalten werden muß und daß Gensonden „nachgebaute“ Genabschnitte sind. Es ist eher von wissenschaftlichem Interesse, daß sich diese Gensonden mit bestimmten Teilstücken im Erbmaterial der „Kernprobe“ verbinden und diese markieren können. Damit dieses elegante Verfahren funktionieren kann, muß der zu untersuchende Genabschnitt allerdings in seinem Strukturaufbau bekannt sein.

Da das derzeit noch nicht so häufig der Fall ist, gibt es neben diesem direkten Nachweisverfahren von Genen mit bekannter Struktur und bekanntem Genort noch indirekte Möglichkeiten, die sich zunutze machen, daß bekannt ist, daß der informationstragende Teil des Erbmaterials durch große genetische „Leerzeilen“ unterbrochen wird. Rein empirisch wurde ermittelt, daß „leere“, aber optisch unterscheidbare genetische Marker in der Nähe von informationstragenden Merkmalsabschnitten liegen. Diese im Rahmen von Familienuntersuchungen festzustellen, führt auf die richtige Spur zum merkmaistragenden gesuchten Genabschnitt (gekoppelter DNA-Marker, Polymorphismus). Wenn man der Frage nachgehen will, was sich aus dem beschriebenen „neuen“ Verfahren der Gen-analyse gegenüber der herkömmlichen Genomanalyse mit Chromosomenzählung, Genproduktmessung und Phänotypeinordnung ergibt, muß man unbedingt auch die Erfindung der Vervielfältigung von genetischem Material erwähnen. Mit der PCR (Polymerase Chain Reaction) läßt sich ein zu untersuchender Genabschnitt in kürzester Zeit vervielfältigen. Voraussetzung dafür ist, daß der Gen-abschnitt, der den vermuteten Gendefekt trägt, bekannt ist. Mit der Möglichkeit der Genkopierung entfallen Verzögerungszeiten im Untersuchungsgang, die bisher durch die Notwendigkeit der biologischen Vermehrung von genetischem Material durch Zellkulturen eintraten. Mit der PCR wird ganz gezielt nur der Teil vermehrt, der genetisch untersucht werden soll. Das derzeit wichtigste Problem ist ein einprogrammierter Fehler, der sich beim „Suchauftrag“ einschleicht. Kontrollen müssen sicherstellen, daß auch wirklich der Genabschnitt vervielfacht wird, der untersucht werden soll. Routinemäßig wird dieses Verfahren noch nicht eingesetzt.

Die Technisierung der Analyseschritte mit dem Ziel, früher, schneller und genauer genetische Informationen zu erhalten, ohne in adäquatem Umfang therapeutische Konsequenzen ziehen zu können, ist neben einer allgemeinen Diskussion zu den Gefahren der mißbräuchlichen Anwendung der Ergebnisse und ethischer Bedenken grundsätzlicher Art, das konkretere Problem. Während eine breite Anwendung sinnvoller und damit ungefährlicher gentherapeutischer Eingriffe in weiter Ferne zu liegen scheint und Fortschritte auf diesem Gebiet nur mühsam gemacht werden können, klafft die Schere zur Diagnostik zunehmend weiter auseinander. Nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen können sich vom Mutterkuchen einzelne Zellen lösen und in den mütterlichen Blutkreislauf eingeschwemmt werden. Zur Erinnerung: Die Zellen des Mutterkuchens enthalten das Erbmaterial des Kindes. Diese „Nadeln im Heuhaufen“ lassen sich of-fensichtlich durch moderne Verfahren herausfinden und genetisch untersuchen. Zumindest der Nachweis der Geschlechtschromosomen des Kindes ist auf diese Weise im Jahr 1990 gelungen. Für diese zukunftsweisende Pränataldiagnostik ohne invasive Eingriffe, wie Amniozentese und Chorionzottenbiobsie sie doch darstellen, wird sicherlich die Risikominderung dieses neuen genetischen Suchverfahrens ins Feld geführt werden. Um so mehr müssen die weitreichenden Konsequenzen aus solch einem „kleinen Eingriff“ vorher überlegt werden. Präimplantationsdiagnostik.

Im Prinzip ist heutzutage bereits vor der Einnistung des Embryos in der Gebärmutter eine Diagnose-stellung möglich. Sie kann entweder im Zusammenhang mit einer Retortenbefruchtung vorgenommen werden oder wenn der Embryo nach natürlicher Befruchtung auf seinem Weg vom Befruchtungsort im Eileiter zur Gebärmutter ausgespült wird. Theoretisch reicht zur Untersuchung der Erbanlagen die Abspaltung einer einzelnen Zelle (Embryo oder Nährgewebe). 6. Von der Analyse zur Therapie?

Es ist gar nicht so einfach, das vage Gefühl der Beklommenheit angesichts großartiger Fortschritte in der Wissenschaft zu formulieren. Doch solange es keine wirksame Therapie als Antwort auf vorgeburtliche Untersuchungsergebnisse gibt, bleiben die gewonnenen Erkenntnisse über genetische Defekte bitter. Das gleiche gilt für die Aufdeckung heterozygoter Merkmalsträger, die ohne Krankheitszeichen und ohne Krankheitsbewußtsein leben. Wird eines Tages die „verantwortete Elternschaft“ zum Zwang? Ist es irgendwann ein ungeschriebenes Gesetz, den Gencode abzurufen, der die Verträglichkeit im Hinblick auf mögliche Nachkommen prüft, bevor überhaupt Gefühle von Liebe und sexuellem Begehren auftauchen können?

Auch der „Vorzug“, in Zukunft genetisches Wissen von Krankheitsanlagen für die eigene Gesunderhaltung vermehrt nutzen zu können, ist nicht unproblematisch. Wer hält sich denn heutzutage trotz bekannter Risikofaktoren und gesundheitlicher Aufklärung an gute Gesundheitsratschläge? Angst ist ein schlechter Ratgeber für gesundes Leben. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

Somatische Gentherapie Wirkliche Fortschritte in der Medizin könnte die Gentechnik bei der Behandlung von bestimmten genetischen Defekten im blutbildenden System bringen. Hier sind weltweit die ersten Therapieversuche an Menschen begonnen worden. Mit bislang allerdings wenig Erfolg. Der theoretische Hintergrund dieser somatischen Gentherapie (nur Eingriffe in Körperzellen, keine Weitergabe der neuen Erbinformation an die Nachkommen) ist das Einbringen von gentechnisch veränderten Körperzellen, die zum Beispiel ein fehlendes Stoffwechsel-produkt herstellen sollen. Ein technisch anderer Ansatz, „genchirurgisch“ einzugreifen und Gen-stücke herauszuoperieren und neu einzupassen, ist derzeit nur experimentell denkbar und (noch) nicht anwendbar am Menschen. Die heutzutage vorstellbare somatische Genbehandlung ist nur in wenigen Bereichen möglich. Alle „festen“ Organe sind nicht auf diese Weise zu therapieren.

Eine große Erwartung an die Gentechnik besteht hinsichtlich möglicher Fortschritte bei der Ursachenforschung, Diagnostik und Therapie bösartiger Krebserkrankungen. Hier werden die Forschungsergebnisse der nächsten Jahre abzuwarten sein, ob sich diese Hoffnung erfüllen kann.

Während die somatische Gentherapie umschriebener kleiner Gendefekte immerhin denkbar ist, bleibt ein gentherapeutisches Vorgehen bei multifaktoriell und polygenbedingten genetischen Regelungsstörungen Spekulation.

Keimbahntherapie Einer genetischen Veränderung, die sich auch auf die Keimzellen (Samen-und Eizellen) auswirken würde und dem entsprechend an die nächste Generation weitergegeben werden könnte, stehen nicht „nur“ technische Probleme entgegen. Die grundsätzlichen ethischen Bedenken haben zu einem gesetzlichen Verbot manipulativer Eingriffe in die Keimbahn geführt (Embryonenschutzgesetz). Die kontroverse Diskussion im Genzeitalter ist jedoch erst eröffnet worden. Sie wird sich intensivieren müssen, und alle sollten sich daran beteiligen. Es gibt keine Nichtbetroffenen mehr.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Markus Müller-Neumann, Dr. rer. nat., geb. 1956; Studium der Biologie und Promotion an der Universität zu Köln; seit 1989 bei der Knoll AG Leiter der Projektkoordination Pharmaproteine. Veröffentlichungen im Bereich Molekularbiologie. Heike Langenbucher, Dr. med., geb. 1947; Studium der Pädagogik, Psychologie und Medizin in Kiel; Ärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe; seit 1987 Leiterin des Referates „Frau und Gesundheit, Frauen im Strafvollzug“ im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Veröffentlichungen zu Fragen der Reproduktionsmedizin, Empfängnisverhütung, Schwangerschaft, Geburt, AIDS sowie zu speziellen Frauengesundheitsproblemen.