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Verordneter Antifaschismus und die Folgen. Das Dilemma antifaschistischer Erziehung am Ende der DDR | APuZ 9/1991 | bpb.de

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APuZ 9/1991 Verordneter Antifaschismus und die Folgen. Das Dilemma antifaschistischer Erziehung am Ende der DDR Antifaschismus und politische Kultur in Deutschland nach der Wiedervereinigung Wissenschaft und Politik im deutschen Einigungsprozeß Zur Ausgangslage der politischen Bildung in den neuen Bundesländern

Verordneter Antifaschismus und die Folgen. Das Dilemma antifaschistischer Erziehung am Ende der DDR

Wilfried Schubarth/Rorald Pschierer/Thomas Schmidt

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Zusammenfassung

Der Mythos von der DDR als „Hort des Antifaschismus“ ist mit dem gesellschaftlichen Wandel im Herbst 1989 endgültig zusammengebrochen; die Öffentlichkeit erweist sich als hilflos gegenüber zunehmenden rechtsextremistischen Aktivitäten vor allem von Jugendlichen. Ursachen für deren Anfälligkeit für nationalsozialistische Ideologiefragmente sind unter anderem in dem von Gesellschaft und Schule der ehemaligen DDR praktizierten Antifaschismus zu suchen. Die gesellschaftliche wie individuelle Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus wurde wesentlich durch den Mythos von den „Siegern der Geschichte“ bestimmt. Fragen nach den Ursachen für die Verführbarkeit großer Teile des deutschen Volkes, nach seiner Schuld und Mitschuld wurden auch im Geschichtsunterricht und in der Jugendarbeit bewußt in den Hintergrund gedrängt, während der Widerstandskampf einen immer größeren Platz einnahm. Kritische Wortmeldungen von Schriftstellern nahm man nicht ernst, rechtsextremistische und neonazistische Erscheinungen wurden verharmlost, sozialwissenschaftliche Untersuchungen dazu verboten bzw. verschwiegen. Eine solche Untersuchung war die Studie „Zum Geschichtsbewußtsein Jugendlicher“ vom Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig aus dem Jahre 1988, die hier vorgestellt wird. Sie enthält unter anderem detaillierte Aussagen zu Einstellungen Jugendlicher gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus und konstatiert ein nicht geringes Akzeptanz-bzw. Sympathiepotential für nationalsozialistische Ideologiefragmente. Mit der „Wende“ 1989 nahm die Verbreitung rechtsextremer und ausländerfeindlicher Orientierungsmuster unter ostdeutschen Jugendlichen spürbar zu. Neueste Untersuchungen signalisieren ein größeres autoritär-nationalistisches Einstellungspotential bei den Jugendlichen der ehemaligen DDR, als es in Westdeutschland nachweisbar ist.

An der Jahreswende 1989/90 schien die Deutschen in der DDR ihre Vergangenheit wieder einzuholen. Rechtsradikale Gruppierungen nutzten als Trittbrettfahrer die Kundgebungen gegen die SED, um sich eine größere Öffentlichkeit zu verschaffen. Nazistische Schmierereien tauchten an Gedenkstätten und auf Friedhöfen auf. In den folgenden Monaten trat in der DDR ein rechtsradikales Potential hervor, das sich bisher im Verborgenen entwickelt hatte. Die Gründung von Organisationen der Republikaner bzw.der Mitteldeutschen Nationaldemokraten fiel auf fruchtbaren Boden. Zugleich häuften sich Überfälle von Skinheads und Neofaschisten auf alternative Cafes und Clubs, auf linke Demonstranten und Ausländer.

Tabelle 5: Entwicklung historisch-politischer Einstellungen von Schülerinnen und Lehrlingen der DDR 1988-1990 (in Prozent)

Die Öffentlichkeit der als „Hort des Antifaschismus“ gepriesenen DDR erwies sich als weitgehend hilflos. Die von der SED inszenierte Großkundgebung am 3. Januar 1990 in Treptow spitzte die innenpolitische Polarisierung weiter zu. Nicht zu Unrecht fürchtete die demokratische Opposition ihre Vereinnahmung seitens der alten Staatspartei mittels der Losung „Einheitsfront gegen rechts“. Diese Aktion beschleunigte letztlich den Niedergang der SED. Bei verschiedenen anderen Demonstrationen reagierten Jugendliche auf Auftritte der Rechtsradikalen mit dem Ruf „Nazis raus!“. Zusammenstöße zwischen linken Autonomen und Rechtsradikalen in Berlin und Leipzig führten zu keiner Sensibilisierung der Öffentlichkeit, sondern bewirkten eher eine Selbstisolierung der Jugendszene. Ob der am 12. /13. Mai 1990 gegründete Bund der Antifaschisten eine wirkungsvolle Alternative darstellt, bleibt abzuwarten.

I. Die Entstehung des Mythos von den „Siegern der Geschichte“

Tabelle 1: Einstellungen von DDR-Jugendlichen zum deutschen Faschismus (1988, in Prozent)

Das Jahr 1945 wurde oft als „Stunde Null“ bezeichnet; dahinter verbarg sich der Glaube an einen völligen Neubeginn. Vielen schien eine Möglichkeit zur moralischen Selbstreinigung durch Sühne und Wiedergutmachung gegeben: „Die beispiellose Radikalität des Zusammenbruchs, die Ungeheuerlichkeit des verbrecherischen Unheils, das die Deut-Antifaschismus wurde immer als zentraler Bestandteil der Identität der DDR proklamiert. Der Amtsmißbrauch durch frühere antifaschistische Widerstandskämpfer aus den Reihen der „Staats-und Parteiführung“, aber auch die Enthüllungen über den stalinistischen Terror in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR haben diese Identifikationsmöglichkeit moralisch zutiefst erschüttert. Die Forschung muß die Frage erst noch klären, ob und unter welchen Voraussetzungen die Mehrheit der Deutschen in der DDR diese Identifikation früher überhaupt angenommen hatte.

Tabelle 6: Historisch-politische Einstellungen von Schülerinnen der DDR und der Bundesrepublik (1990, in Prozent)

Die Entwicklung in der Jugendszene auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zeigte bereits Jahre vor dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ gravierende Bewußtseinsänderungen auch in diesem Bereich an. So vermag es nicht zu verwundern, daß sich bei einer Befragung im Sommer 1990 zwei Prozent der fünfzehn-und sechzehnjährigen Großstadtschülerinnen in der DDR als zugehörig zu den Republikanern und Neofaschisten bekannten, weitere fünf Prozent als Sympathisanten dieser Gruppen -Die Ergebnisse der Landtagswahlen vom 14. Oktober 1990 und der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 scheinen dagegen die Mobilisierungsfähigkeit des politischen Rechtsradikalismus zu relativieren, erreichten doch die Republikaner in den neuen Bundesländern nur 0, 57 bzw. 1, 3 Prozent der Stimmen. Da sich die Jugendszene jedoch schon oft als Seismograph gesellschaftlicher Krisen-prozesse erwiesen hat, sind die von ihr ausgehenden Signale ernst zu nehmen. Ein Rückblick auf den in Gesellschaft und Schule der DDR praktizierten Antifaschismus kann dazu beitragen, heutige Bewußtseinslagen der Ostdeutschen aufzuhellen. schen über die Welt und sich selbst gebracht hatten — und an dem doch jeder von uns beteiligt gewesen war. auch der.der das Glück gehabt hatte, nicht* persönlich schuldig geworden zu sein —, die aus beidem folgende Riesendimension der Aufgaben, die vor denen lagen, die es nun anders und endlich besser machen wollten: all das begünstigte das einfache Denken in einigen, sehr absolut verstandenen Kategorien. Zum Großen Nein, das so unabweisbar nötig war, gehörte das Große Ja zur radikalen, Neubau von Grund auf versprechenden Alternative.“

Der Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945 enthielt ein eindeutiges Bekenntnis zur Schuld des deutschen Volkes. Auch die anderen Parteien in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) — SPD, LDPD und CDU — sahen die Aufgabe der Deutschen angesichts der Last der Vergangenheit darin, strukturelle Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu beseitigen, eine antifaschistisch-demokratische Ordnung zu errichten und der Pflicht zur Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus nachzukommen.

Für den einzelnen Bürger wurde das Abtragen von Mitschuld vor allem als Wahmehmen von. Mitverantwortung für den „neuen Weg“ angestrebt. Zugleich führte man in der SBZ eine personelle Säuberung der Verwaltungen und der Wirtschaft durch, die alle Profiteure und Funktionseliten der NS-Herrschaft treffen sollte. In die gleiche Richtung zielte die Enteignung der Nazi-und Kriegsverbrecher vom Juni 1946. Damit entstand jedoch das Problem, daß einerseits ein Bekenntnis zum Antifaschismus als glaubwürdige Abkehr vom Nationalsozialismus gelten konnte, andererseits der Grad persönlicher Belastung nicht differenziert genug berücksichtigt wurde. Oft war die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht entscheidender als das individuelle Verhalten im faschistischen Deutschland Im Verständnis der die ostdeutsche Gesellschaft bald dominierenden SED trugen Großindustrielle, Junker und Militärs die Hauptverantwortung für den Nationalsozialismus. Mit deren Enteignung sollten die „Wurzeln von Nazismus und Chauvinismus“ ausgerottet und zugleich die Weichen für eine neue sozialökonomische Ordnung gestellt werden.

Die kommunistische Faschismusinterpretation fand unter neuen Rahmenbedingungen statt. War sie in den dreißiger Jahren durchaus den Bemühungen um eine tragfähige politische Strategie zur Selbstbe-freiung der Deutschen geschuldet, so reduzierte sich ihre Funktion zunehmend auf die historische Legitimierung eines Führungsanspruchs der SED. Der Widerstand der alten Eliten (Verschwörung des 20. Juli 1944) geriet sehr bald in ein negatives Licht

Angehörige der mittelständischen Schichten wurden in den Darstellungen der SED meist als Mitläufer des Nationalsozialismus eingestuft. Dazu dienten vor allem Wahlanalysen der Weimarer Zeit, in denen man die Wählerwanderung von den bürgerlichen Parteien zur NSDAP nachwies. Zugleich galt die Warnung: „Die politischen Instinkte, die der Mittelstand der jetzigen Nachkriegszeit in sich trägt, unterscheiden sich vorläufig nur wenig von denen der gleichen Bevölkerungsschicht in den zwanziger Jahren.“

Die Arbeiterklasse erhielt dagegen von Anfang an einen antifaschistischen Mythos zugesprochen, der ihre politische Führungsrolle in der SBZ untermauern sollte. Besonders nach der Gründung der SED fanden Darstellungen Verbreitung, in denen der Arbeiterschaft durchgängig Immunität und prinzipielle Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus bescheinigt wurde. Nur ihre politische Spaltung in Kommunisten und Sozialdemokraten habe ihre Kräfte gelähmt und die anderen Schichten des deutschen Volkes „führerlos“ gemacht -Die Arbeiterklasse erschien so als der Träger eines „sozialistischen Widerstandes“ aus dem „Lager des konsequenten Marxismus“, später des „kommunistischen Widerstandes“, den Alexander Abusch als „das Licht in der deutschen Düsternis“ beschwor Dennoch überwogen in den ersten Jahren die zurückhaltenden, nachdenklichen Töne in den Selbst-darstellungen der SED. Erst die Übernahme des stalinistischen Gesellschaftsmodells in den Jahren 1948— 1950 führte zu nachhaltigeren Modifikationen in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Deutschen in der SBZ/DDR. Die internationale Polarisierung infolge des „Kalten Krieges“ begünstigte in beiden deutschen Staaten die Verdrängung sowie Schuld-zuweisungen an den jeweils anderen

Das Glückwunschtelegramm Stalins zur Gründung der DDR verstärkte die revisionistischen Tendenzen im ideologischen Selbstverständnis der SED. Der entscheidende, später vielzitierte Satz lautete: „Die Bildung der friedliebenden Deutschen Demokratischen Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas.“ Damit wurde das Trauma der deutschen Kommunisten aufgehoben, bei den entscheidenden Zäsuren 1918, 1933 und 1939 — im Gegensatz zur sowjetischen Bruderpartei — versagt zu haben. Es ist erstaunlich, wie nachhaltig das Stalin-Telegramm in der Presse der jungen DDR behandelt wurde. Die Stalinsche Formel vom „Wendepunkt“ ging in das Schulbucharsenal dieser Republik ein, auch wenn die Propagandisten den geistigen Vater bald vergaßen.

Diese Formel nährte aber nicht nur die heroischen Illusionen der ostdeutschen Kommunisten, sie öffnete auch den Weg zur Verdrängung für die anderen Bürger dieses Landes. Das CDU-Blatt „Neue Zeit“ hob anläßlich des Telegrammes hervor, daß sich der herzliche Tonfall des Generalissimus nicht nur auf die Kommunisten, sondern auf das ganze deutsche Volk bezogen habe Der Verdrängungsprozeß korrespondierte mit der Gründung der Nationalen Front in der DDR. In der Entschließung des Parteivorstandes der SED vom 4. Oktober 1949 wurde nochmals an die Mitschuld des deutschen Volkes erinnert, denn es habe das Naziregime geduldet, die Verbrechen nicht bekämpft und in seiner überwiegenden Mehrheit sogar die Kriegs-politik aktiv unterstützt. Der Parteivorstand stellte fest, daß diese Schuld ihre historische Sühne bereits gefunden habe. Allerdings seien noch nicht überall die Hauptschuldigen — die Nazi-und Kriegsverbrecher — ihrer gerechten Strafe zugeführt, der Ungeist des Nazismus und Militarismus keineswegs schon ausgerottet und überwunden Antikommunistische und antisowjetische Vorbehalte, die Ablehnung eines sozialistischen Weges der DDR, wurden zunehmend mit einem Fortwirken der faschistischen Ideologie gleichgesetzt. Eine solche Wortwahl begann mit der Denunziation Jugoslawiens als „faschistisches Tito-Regime“, setzte sich mit dem Vorwurf eines „faschistischen Terrors der Bonner Regierung“ fort, gipfelte schließlich in der Bewertung des 17. Juni 1953 als „faschistischer Putsch“. Folgerichtig wurde die Mauer als „antifaschistischer Schutzwall" bezeichnet. Damit wurden die Begriffe „Faschismus“ und „Antifaschismus“ zunehmend zu Worthülsen der Propaganda.

Der III. Parteitag der SED im Juli 1950 traf die Feststellung, daß in der DDR „die Wurzeln des Faschismus ausgerottet worden“ seien Die Orientierung auf die Entwicklung eines „demokratischen Nationalbewußtseins“ in der deutschen Arbeiterklasse korrespondierte mit der Suche nach der historischen Legitimation der Herrschaft der SED. Die unter Walter Ulbricht vollzogene Hin-wendung zur breiten Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung schloß die Legendenbildung über den antifaschistischen Widerstand ein. Mitte der fünfziger Jahre war die Vereinnahmung dieser Tradition abgeschlossen. Man verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Verschwörung des 20. Juli 1944 habe das Ziel verfolgt, eine revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse und patriotischer Offiziere gegen das NS-Regime zu verhindern. Erst durch die Verluste, die die Arbeiterklasse im Gefolge des 20. Juli erlitt, sei sie zum Sturz Hitlers aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage gewesen In den sechziger Jahren setzten sich die Versuche fort, die DDR als Gegenstück zur Bundesrepublik, als Verwirklichung der antifaschistischen Traditionen zu betrachten. 1960 sprach Walter Ulbricht bereits von der „großen und starken Gemeinschaft der Werktätigen, die den Faschismus radikal ausrottete“ Aufgrund der Reduzierung des Faschismus auf ein Produkt von Kapitalismus und Imperialismus wurde für die Bundesrepublik und Berlin (West) eine noch ausstehende Abrechnung mit dem deutschen Faschismus eingeklagt. Bei der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrages mit der Sowjetunion am 12. Juni 1964 in Moskau fiel folgerichtig der Satz Walter Ulbrichts: „Wer mit der Sowjetunion und den anderen Ländern geht, der befindet sich auf der historisch erprobten Straße des sicheren Sieges.“ Dieser Spruch wurde in den Folgejahren geringfügig verändert: „Wer mit der Sowjetunion im Bunde ist, der wird immer zu den Siegern gehören — der marschiert mit der Vorhut der Menschheit.“ Noch einige Jahre vergingen, bis sich am 5. Mai 1975 der Traum Erich Honeckers erfüllte: „Der 30. Jahrestag der Befreiung sieht uns alle ... bei den Siegern der Geschichte.“ Noch Anfang 1989 bemühte sich die offizielle Geschichtsschreibung in der DDR, diese Formel von den „Siegern der Geschichte“ zu rechtfertigen und zu interpretieren

Aus Äußerungen von einigen Intellektuellen der DDR läßt sich jedoch auch eine gewisse kritische Distanz zu diesem Begriff ablesen: „Man ernannte sich selbst zum Sieger der Geschichte. Diese Formel breitete sich sofort aus, wie Kreise in einem Wasser, in das man einen Stein geworfen hat, jeder Bürger der DDR konnte sich nun als Sieger der Geschichte fühlen. Dadurch, daß man dem Volk diese Schmeichelei sagte und es entlastete, war es dann auch leichter zu regieren.“ „Die , Sieger der Geschichte hörten auf, sich mit ihrer wirklichen Vergangenheit, der der Mitläufer, der Verführten, der Gläubigen in der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Ihren Kindern erzählten sie meistens wenig oder nichts von ihrer eigenen Kindheit und Jugend.“

Es ist für die sechziger und siebziger Jahre nicht auszuschließen, daß ein größerer Teil der Bevölkerung mit Stolz die NS-Vergangenheit für die DDR als „bewältigt“ betrachtete bzw. sich diesen Fragen überhaupt nicht mehr stellte. Die offiziellen Mythen und Propaganda-Formeln stießen dagegen bei der heranwachsenden Generation in den achtziger Jahren zunehmend auf Skepsis und Ablehnung. Umfragen des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig ergaben dafür folgendes Bild: Der Aussage „Die Gründung der DDR ist ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes“ stimmten 1978 87 Prozent der befragten Schülerinnen und 94 Prozent der Studentinnen vorbehaltlos zu. Im Jahre 1988 waren es dagegen nur noch 46 Prozent der Schülerinnen und 78 Prozent der Studentinnen

II. Antifaschismus als Pflicht in Schule und Gesellschaft

Tabelle 2: Auffassungen Jugendlicher zum deutschen Faschismus (1988, in Prozent)

Antifaschistische Erziehung wurde zu einem Grundpfeiler der Volksbildung in der DDR gezählt. Pflege, Aneignung und weitere Erschließung der Traditionen des Widerstandes waren feste Bestandteile der Arbeit der Schule, der Kinder-und Jugendorganisationen sowie der Medien. Zusammenkünfte mit ehemaligen antifaschistischen Widerstandskämpfern, Besuche nationaler Mahn-und Gedenkstätten, Kundgebungen sowie „Namensträgerbewegungen“ von Schülerkollektiven, Jugend-brigaden, Freier Deutscher Jugend (FDJ) und der vormilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik (GST) bildeten die hauptsächlichen Formen des Umgangs mit der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945. Das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR mit seinen verschiedenen territorialen Gliederungen und die Kommissionen „Traditionsarbeit“ bei den Bezirks-und Kreisleitungen der SED führten allein im Jahre 1988 36 000 Veranstaltungen mit weit mehr als 1, 6 Millionen Teilnehmerinnen durch. Diese „Erfolgsbilanz“ wurde anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR in der vom ZK der SED herausgegebenen Zeitschrift „Einheit“ im Oktober 1989 veröffentlicht

In den alljährlich stattfindenden thematischen Mitgliederversammlungen der FDJ, die 1989 unter dem Motto „Die DDR — mein sozialistisches Vaterland“ standen, ging es vornehmlich um das Ver-mächtnis der antifaschistischen Widerstandskämpfer. Besuche und Gesprächsrunden mit Veteranen waren jedoch reine Pflichtübungen, die man oftmals einzig deshalb zelebrierte, weil es der Lehrplan oder der Kalender vorsah. Auch wurden die „Geschichten durch die Häufigkeit ihrer Reproduktion nicht frischer“ Fragwürdig blieb oft der angestrebte erzieherische Effekt. Auf dem Historikerkongreß der DDR im Februar 1989 schilderte der Journalist Frank Schumann Beobachtungen bei Besuchen Jugendlicher in Gedenkstätten. „Zu dieser Generation gehört leider auch ein dummer Junge, den ich in Sachsenhausen von einem Krematoriumsschieber zerren mußte, auf den er sich — unter dem Gelächter seiner Klassenkameraden — zum , Probeliegen‘ niedergelassen hatte.“

Immer wieder setzten sich Künstler mit Wirkungen des offiziell propagierten Antifaschismus auf die DDR-Jugend auseinander. Nach ihrer Meinung sollte die antifaschistische Erziehung jeweils an sich wandelnde Bedingungen und Verhältnisse angepaßt werden Im Jahre 1975 resümierte Christa Wolf, „daß wir über die Zeit, über die wir schon so ungeheuer viel geschrieben haben, im Grunde immer noch sehr wenig wissen — ich meine die Zeit des Faschismus in Deutschland — und daß die Frage , Wie war es möglich, und wie war es wirklich? 4 im Grunde nicht beantwortet ist.“

Alle Lehrbücher in der DDR seit 1951 hatten die Rollen der Faschisten als „Handlanger und Agenten“ und des Großkapitals als „Auftraggeber und Profiteure“ festgeschrieben. Die Schülerinnen erfuhren vom Terror und von der Demagogie der Nationalsozialisten, von der kontinuierlichen Kriegsvorbereitung Deutschlands, vom rassistisch begründeten Terror und der Ausplünderung fremder Völker. Als Alternative wurden die KPD mit ihrem Widerstandskampf sowie die Sowjetunion mit ihrer Außenpolitik und ihren Leistungen im Krieg herausgestellt. Dagegen fehlten Informationen über das Alltagsleben der Deutschen unter dem Nationalsozialismus, über das Sichanpassen der Bürger an die Diktatur, über die Erfahrungswelt der Wehrmachtsangehörigen. Die von sehr vielen wahrgenommenen Aufstiegschancen in die NS-Eliten sowie wirtschaftliche und technische Leistungen der deutschen Industrie wurden kaum berührt. Die Gestalten der NS-Prominenz verkamen zu Karikaturen. Die Probleme des Führerkultes und der Verführbarkeit der Massen wurden den Schülerinnen weder emotional noch rational nahegebracht.

In den Schulen der DDR wurden die Fragen nach Schuld und Mitschuld aller Deutschen immer weniger diskutiert. Am Anfang der fünfziger Jahre thematisierte man dieses Problem zumindest noch im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Sowjetunion, aber kaum in Verbindung mit dem Holocaust. Später liefen die Lehrbuchdarstellungen mehr darauf hinaus, das deutsche Volk als die „Belogenen“ und „Verführten“ zu betrachten. Anfang der siebziger Jahre stellte man sogar fest, daß das deutsche Volk neben der Sowjetunion und Polen selbst die größten Opfer bringen mußte. Im letzten Geschichtslehrbuch der DDR war das Problem auf das „Schuldenkonto des Imperialismus“ reduziert.

Der antifaschistische Widerstandskampf nahm dagegen einen immer größeren Platz im Lehrstoff der Schulen ein. Im Verhältnis zum gesamten Textumfang für die Zeit 1933 — 1945 erhöhte sich der Anteil der Darstellung des deutschen Widerstandes von 14 Prozent 1951 auf 23 Prozent 1957 und 30 Prozent 1970. Dabei wurde fast ausschließlich der Kampf der KPD behandelt, Sozialdemokraten und christliche Kreise nur summarisch genannt. Bis in die achtziger Jahre definierten die Lehrbücher den antifaschistischen Widerstand als „Klassenkampf der Arbeiterklasse sowie der anderen Werktätigen gegen die Monopolbourgeoisie und ihre Machtorgane“ Folgerichtig blieb der Verschwörung des 20. Juli 1944 bis in die achtziger Jahre die Anerkennung als Widerstand im Lehrwerk der DDR-Schulen verwehrt. Zunächst wurden diese Ereignisse negativ als „Versuch zur Rettung der Grundlagen des deutschen Imperialismus“ gewertet. 1984 führte man die Sprachregelung „antinazistische Tat“ ein, bis man sich 1988 zu der Erklärung durchrang: „Das Attentat war eine mutige antifaschistische Tat.“

Alle zwischen 1951 und 1988 erschienenen Geschichtslehrbücher folgten der 1935 aus der Faschismusdefinition von Georgi Dimitroff abgeleiteten Interpretation des Nationalsozialismus. Sie besagt, der Faschismus sei die „offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen den Lehrbuchausgaben, die eine wachsende Tendenz zur Schematisierung und Stigmati-sierung historischer Erscheinungen erkennen lassen. Das von Heinz Siegel und Herbert Mühlstädt 1957 verfaßte Lehrbuch kam dem Anspruch am nächsten, die Schülerinnen zu einer eigenen und kritischen Urteilsfindung zu befähigen. Dazu trug wesentlich ein Dokumentenanhang mit weniger verbreiteten Quellen (Ermächtigungsgesetz, SD-Bericht über die „Reichskristallnacht“, Kommissarbefehl u. a.) bei. Das Lehrbuch bot auch die ausführlichste Darstellung des Juni 1934, des Tages des sogenannten Röhm-Putsches (der seit 1970 verschwiegen wurde), und verwies auf die gleichgeschalteten Wahlen der NS-Zeit 30).

Diese Ansätze zur Befähigung der Schülerinnen zu einem historisch-kritischen Denken waren offenbar den Umständen der kurzen Tauwetterperiode der „Entstalinisierung" geschuldet. Sie wurden von den folgenden, unter der Leitung von Hans Joachim Gensch (1961), Walter Nimtz (1970) und Wolfgang Bleyer (1984, 1988) verfaßten Lehrbüchern wieder aufgegeben. Historische Erscheinungen, die den Grundschemata des Lehrstoffes widersprachen, fanden keine Berücksichtigung mehr. Dies betraf eine kritische Sicht der ultralinken KPD-Politik 1933/34, die Bewertung der Haltung der SPD zu Beginn der NS-Diktatur und die Einschätzung von internen Auseinandersetzungen innerhalb der faschistischen Bewegung. Nicht einmal der Selbstmord der NS-Prominenz zu Kriegsende fand mehr Erwähnung.

In die Lehr-und Erziehungsinhalte der DDR-Schulen fanden differenzierte wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus nur schwer Eingang bzw. wurden wieder verdrängt. Dazu zählten zum Beispiel die 1981 von Heinz Bergschicker herausgegebene „Deutsche Chronik 1933 — 1945. Bilder, Daten, Dokumente“, einzelne Dokumentarfilme des DDR-Fernsehens über die Verschwörung des 20. Juli 1944, literarische Arbeiten von Franz Fühmann, Hermann Kant, Erich Loest, Ruth Werner, Christa Wolf u. a. Einige Historiker, z. B. Kurt Gossweiler, stellten bereits Anfang der achtziger Jahre die Reduzierung des Widerstandskampfes auf Klassenkampf in Frage.

Neue Herangehensweisen an die Aufarbeitung der Vergangenheit wurden von offizieller Seite stets mit Argwohn betrachtet. Christa Wolf warf man beispielsweise vor, in ihrem Buch „Kindheitsmuster“ die Auseinandersetzung mit „Oberflächenerscheinungen eines „gewöhnlichen’ Faschismus, die vornehmlich einzelne Verhaltensweisen zu betreffen scheint“, geführt zu haben

Die offiziell gehegte Angst, man dürfe keine falschen Fragen in die Jugend hineintragen, hat das Verstehen zwischen den Generationen in der DDR zusätzlich belastet. Das führte letztlich dazu, daß die Schule ihren Schülerinnen eine echte Fragestellung gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus abgewöhnt hat Junge Menschen erhielten kaum Auskunft von jenen Zeitzeugen, die dem nationalsozialistischen System nicht widerstanden hatten. Die Fixierung auf die Antipoden — hier Widerstandskämpfer, dort faschistische Schergen — war zwangsläufig mit einer Vereinfachung des Geschichtsbildes verbunden. Es gab keinen Platz für die Millionen Menschen, die das Regime ge-und erduldet bzw. mitgetragen hatten.

In den achtziger Jahren verwiesen Intellektuelle auf eine Art „pauschaler Bewußtseinsverschiebung“, die darauf hinauslief, sich selbst und seine Vorfahren von vornherein außerhalb der Verantwortung im Hinblick auf den Krieg zu empfinden. Nach den Worten Stephan Hermlins lebten manche „in der stillschweigenden Annahme, etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung sei in den Jahren der Nazi-herrschaft antifaschistisch gewesen“

Die trügerische Annahme, daß aus Millionen Menschen — quasi über Nacht — aktive Erbauer des Sozialismus geworden seien, führte schließlich zu Bestürzung, Fassungslosigkeit und Naivität im Umgang mit rechtsextremistischen, nationalistischen und neofaschistischen Erscheinungen in der DDR. Nahezu hilflos muteten erste Veröffentlichungen in der Presse (meist nur in Lokalzeitungen) über das Anwachsen rechtsradikaler Aktivitäten an. Skinheads wurden als eine „vom Habitus und Wesen her besonders widerliche Erscheinung der krisenhaften gesellschaftlichen Situation in kapitalistischen Ländern“, als „Ausfluß des vergeblichen Versuchs, die Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher zu überwinden“ dargestellt Sie seien „verirrte Geister, bei denen alle Bemühungen der Gesellschaft, sie über Ursachen, Wesen und Folgen des Faschismus zu unterrichten, nicht zu dem Geschichtsbewußtsein führten, das immun macht gegen solche , modischen* Einflüsse von außen“ Die öffentliche Reaktion auf rechtsextreme Gruppierungen blieb stehen beim Konstatieren von äußeren Einflüssen, von Äußerlichkeiten und ihren zumeist brutalen Auftritten, die von antisemitischen und rassistischen Ausfällen, von Alkoholexzessen und Gewalttätigkeiten begleitet wurden.

Ende der siebziger Jahre vermutete man hinter Hakenkreuzschmierereien und Hitlergruß „Unkenntnis“, „Leichtsinn“ und „Rowdytum“ Zehn Jahre später wurden neofaschistische Äußerungen in ein „Halbdunkel“ aus „mangelhafter Bildung, pubertärem Geltungsdrang, emotionaler Unausgefülltheit und angestauten Aggressionen“ gerückt Offiziell hatte der Faschismus in der DDR keinen „gesellschaftlichen Boden“. „Nährboden für Faschismus“ gab es nur „jenseits der mit vollem geschichtlichen Recht so wohlbeschützten Grenzen“

Die rechtsextreme Szene ist ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR. Auch der verordnete Antifaschismus spielte dabei eine Rolle, denn junge Leute, die sich mit rechten Weltbildern befaßten, taten dies auch aus Protest gegen das vorherrschende System. „Indem sie den zur Schau getragenen Antifaschismus angriffen, haben sie die Gesellschaft an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen. Schließlich war dieser Antifaschismus ein ganz wesentlicher Teil des Selbstverständnisses und der Identität der Mächtigen.“

III. Wirkungen antifaschistischer Erziehung in der DDR

Tabelle 3: Merkmale des deutschen Faschismus im Urteil DDR-Jugendlicher (1988)

Es ist ein außerordentlich schwieriges Unterfangen, die Wirkungen des beschriebenen verordneten Antifaschismus und die Ausprägung antifaschistischer Haltungen bei verschiedenen Generationen von DDR-Bürgerinnen im Laufe der 41jährigen Existenz dieses Staates feststellen zu wollen. Während in der Bundesrepublik mindestens seit den fünfziger Jahren unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen regelmäßig empirische Daten zum historisch-politischen Bewußtsein, darunter auch zur Einstellung gegenüber der NS-Vergangenheit, erhoben wurden waren soziologische Untersuchungen zu diesen — wie zu allen anderen ideologisch relevanten — Fragen in der DDR verboten bzw. unterlagen strengster Geheimhaltung. So nimmt es nicht wunder, daß bis Ende der achtziger Jahre keine ernsthaften soziologischen Analysen zum genannten Themenkreis vorgenommen wurden Diese hätten möglicherweise schon früher das heile Bild von der „im antifaschistischen Geist erzogenen“ DDR-Bevölkerung zerschlagen.

Eine der ersten ausführlicheren Arbeiten, die sich der Probleme neofaschistischer Tendenzen unter Jugendlichen annahm, war die Studie von Konrad Weiß „Die alte neue Gefahr“ Allerdings enthält sie kein empirisches Datenmaterial und wurde erst nach der Wende einer größeren Öffentlichkeit zugänglich. Ähnlich erging es der Studie „Zum Geschichtsbewußtsein Jugendlicher“, die im Jahre 1988 vom Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig durchgeführt wurde 1. Zum Bewußtseinszustand Jugendlicher 1988

Diese Untersuchung ergab, daß neben einer zunehmenden Ablehnung des offiziell vermittelten Bildes von der Geschichte der DDR und einer wenig aus-geprägten Identifikation mit ihr ein nicht geringes Akzeptanz-bzw. Sympathiepotential gegenüber dem deutschen Faschismus vor allem unter Schülerinnen und Lehrlingen anzutreffen war

Es zeigte sich hier, daß das von der SED-Führung propagierte Bild von einer „geschichtsbewußten Jugend“, der das „Wissen um die revolutionären Traditionen unseres Kampfes . . . Stolz auf das von uns in harten Klassenauseinandersetzungen und unter Anstrengungen Erreichte (vermittelt) und (ihr) Kraft und Zuversicht für die Lösung der vor uns stehenden Aufgaben gibt“ eine Fiktion war. Vielmehr waren die Kenntnisse gerade zur jüngsten Geschichte mehr als mangelhaft, und das Interesse für die Geschichte der DDR und ihrer Traditionen sank rapide, während das Interesse für die Geschichte der Bundesrepublik und für sogenannte „weiße Flecken“ in der DDR-Geschichtsschreibung deutlich anstieg.

Unter allen Gruppen Jugendlicher war ein ausgesprochen großes Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges zu verzeichnen: Mehr als die Hälfte interessierte sich für diesen Zeitabschnitt stark bzw.sehr stark. Damit nahmen diese Themenbereiche unter den Geschichtsinteressen Jugendlicher mit Abstand die vordersten Ränge ein. Allerdings gab es auch einen Teil desinteressierter Jugendlicher (ca. 20 Prozent) und einen größeren Teil, der Gleichgültigkeit und Übersättigung vor allem als Folge der bisherigen Darstellung und Vermittlung dieser Zeit artikulierte. Besonders deutlich wurde dies in der Bewertung solcher Aussagen wie „Die Zeit des Faschismus hat mir nichts mehr zu sagen“, der 1988 jeder dritte Lehrling und jede/r vierte Schülerin zustimmten (vgl. Tabelle 1).

Typische Antworten von Schülerinnen und Lehrlingen auf die Frage, was sie empfinden, wenn sie an die Zeit des Nationalsozialismus denken, waren u. a. folgende: „Ich denke zuerst an die Konzentrationslager. Selbst empfinde ich nicht viel, weil ich zu dieser Zeit noch nicht gelebt habe und mir es schwer fällt, mich in diese Zeit hineinzuversetzen . . .“ „Wenn ich an die Zeit des Faschismus denke, kann ich mir eigentlich gar nichts groß darunter vorstellen. Ich kann nur das sagen, was ich höre und was mir andere sagen. Ich will nicht in der Zeit leben, das weiß ich, sie war bestimmt grausam. Was ich dabei empfinde, wenn ich die Wahrheit sagen soll, nichts. Ich habe nicht in der Zeit gelebt . . .“

Schon damals gab es aber auch vereinzelt solche Äußerungen: „Die Zeit des Hitlerfaschismus war eine Sternstunde in der deutschen Geschichte, jedenfalls auf die Ziele Hitlers bezogen. Die Art und Weise der Durchsetzung dabei war aber nicht so gut."

Mangelnde Sensibilität und Betroffenheit, fehlendes Mitgefühl mit den Opfern und Abgestumpftheit gingen einher mit moralisch haltlosen, tendenziell rechtsextremen Sichtweisen auf die Zeit des Faschismus. So waren schon 1988 Tendenzen einer Verharmlosung dieser Zeit und nationalistische Ansichten unter einem nicht unbeträchtlichen Teil von Jugendlichen anzutreffen (vgl. Tabelle 2).

Zumindest unter Schülerinnen und Lehrlingen war ein bestimmtes Akzeptanz-bzw. Sympathiepotential für nationalsozialistische Ideologiefragmente von 10 bis 15 Prozent zu registrieren. Diese Tendenzen spiegelten sich auch im Faschismusbild der DDR-Jugendlichen wider. Eine quantitative Auswertung positiver wie negativer Merkmale des deut-sehen Faschismus, wie sie von einer kleineren Gruppe von Schülerinnen und Lehrlingen genannt wurden, zeigt Tabelle 3.

Wie aus der Übersicht hervorgeht, dominierten insgesamt zwar die negativen Bewertungen, doch beziehen sich diese vor allem auf markante Erscheinungsformen des Nationalsozialismus, während wesentliche konstitutive Merkmale wie Diktatur, Manipulation, Gleichschaltung, Unterdrückung und Vernichtung Andersdenkender kaum bzw, überhaupt nicht genannt wurden. Die im Geschichtsunterricht häufig überstrapazierte sozialökonomische Deutung des Faschismus spielte im Meinungsbild der Schülerinnen keine Rolle. Die in der vorliegenden Studie erfaßten Jugendlichen leugneten die Verbrechen der Nationalsozialisten zwar nicht, relativierten und verharmlosten sie aber durch Verweise auf positive Seiten des Systems, beispielsweise: „Meine Meinung dazu wäre, daß diese Zeit viel Schlechtes beinhaltete, aber auch in vielen Dingen Gutes einschloß. Dieses Schlechte ist ja schon zur Genüge bekannt (z. B. KZ, Judenverfolgung usw.), und ich möchte darüber nichts mehr schreiben. Das Gute an dieser Sache war wiederum, daß es z. B. nur wenige Arbeitslose gab.“

Die Jugendlichen äußerten sich kaum über Verantwortung und Beteiligung großer Teile der Bevölkerung. Dafür wurden die außergewöhnlichen Umstände zur Entschuldigung menschlichen Verhaltens Menschen der herangezogen die damaligen ausnahmslos als fast Opfer gesehen: „Es sind ja sehr viele Hitler gefolgt. Viele waren sich nicht bewußt, was sie taten. Damals hieß es: entweder du bist auf Seiten der Faschisten oder das KZ wartet. Das war keine große Auswahl.“ „Die Leute, die damals Hitler gefolgt sind, kann man in gewissem Sinne verstehen, denn Hitler hat ja allen alles versprochen. Bevor Hitler an die Macht kam, gab es Arbeitslose, Hunger, Armut usw. Ich bin der Meinung, Hitler war damals so etwas wie der Retter in der Not. und deshalb kann man es den Leuten nicht verübeln.“

Insgesamt überwog ein pragmatischer, distanziert-beobachtender Standpunkt, wie er z. B. in folgenden Antworten auf die Frage „Angenommen, Ihr Opa wäre Mitglied der NSDAP gewesen, wie würden Sie heute darüber urteilen?“ zum Ausdruck kommt:

„Ich weiß es nicht. Es kommt darauf an, ob er nur zahlendes Mitglied oder aktiv in dieser Partei gewesen wäre. Man müßte wohl herausfinden, welche Stellung er heute dazu bezieht. Wenn er aus Unwissenheit eingetreten ist, so ist das, finde ich, zu verzeihen. Wenn er aber sein Handeln auch heute noch als richtig empfindet, so finde ich es verurteilungswert.“ „Ich würde ihn nicht verachten deswegen. Ich bin auch der Meinung, daß man eigentlich keinen Anhänger der NSDAP oder anderer faschistischer Gruppierungen nur deswegen verachten oder gar an dem ganzen Unheil, das der Faschismus angerichtet hat, Schuld geben kann. Diese Menschen haben vielleicht in diesen Vereinigungen ihre Ideale verwirklicht gesehen.“

Viele Äußerungen der Jugendlichen machten Unsicherheiten in der persönlichen Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus sowie Berührungsängste und Verdrängungsprozesse sichtbar. Die gezogenen Parallelen zum „realen Sozialismus“ verdeutlichten eine wachsende Entfremdung und Distanz der Jugendlichen zum gesellschaftlichen System der DDR, dessen propagandistische Selbstdarstellung sie zunehmend durchschauten und ablehnten: „In dieser Zeit war die NSDAP eine Partei wie die heutigen Parteien. Keiner empfand es als schlecht, Mitglied dort zu sein. Es gab Arbeit, etwas zu essen und auch kulturelle Erlebnisse.“

„Wenn er aus Überzeugung eingetreten wäre (nicht wie bei der FDJ), und auch dazu gestanden hätte bis zum Schluß, wäre ich stolz auf ihn.“

„Es liegt u. a. an den typischen Merkmalen der Deutschen, die zwar ein Volk der Dichter und Denker sind, aber meistens viel zuwenig Zivilcourage haben. Auch sind die Deutschen heute noch typische Mitläufer. Es gibt sehr viele, die in die FDJ und SED eintreten, dabei gar nicht von der Sache überzeugt sind, aber sich dadurch Vorteile erhoffen.“

Hinzu kommt, daß die Jugendlichen über wesentliche Seiten des Nationalsozialismus, insbesondere über das Alltagsleben, nur wenig erfuhren. Ebenso wurden Fragen nach den Ursachen und Mechanismen der Verführbarkeit großer Teile des deutschen Volkes, nach der Masse der Schweigenden und Mitläufer nahezu ausgeblendet. Eine Studentin schrieb dazu 1988 in einem Aufsatz:

„Ich frage mich immer . . ., warum konnten Millionen Menschen ihre Augen geschlossen halten. Vielleicht können wir das heute nicht mehr einschätzen, haben wir auch nicht das Recht, über die damalige , allgemeine Masse 1 zu richten, denn sie war sich sicherlich nicht bewußt, was auf sie zukommen würde. Über diese Ereignisse fühle ich mich noch zu wenig informiert. Filme, die diese Zeit darstellen, sind oft zu einseitig. Sie zeigen die Positionen der Gegner des Faschismus, aber nie wird richtig dargestellt, wie der faschistische Apparat so viele Menschen zum Narren halten konnte.“ 2. Empirische Befunde während und nach der „Wende“

Im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch seit dem Herbst 1989 vollzogen und vollziehen sich unter den Jugendlichen der DDR gravierende Veränderungen im politischen und historischen Denken. Der bereits Mitte der achtziger Jahre einsetzende Verfall „sozialistischen Bewußtseins“ beschleunigte sich, was sich besonders in einem Einstellungswandel gegenüber der SED, der DDR und ihrer Geschichte bemerkbar machte. Wie eine Wiederholungsbefragung bei einer identischen Schülerpopulation im Oktober und Dezember 1989 zeigte, kam es in diesem Zeitraum bei den Schülerinnen zu einer spürbaren Zunahme profaschistischen Akzeptanzpotentials sowie rechtsextremer und ausländerfeindlicher Orientierungsmuster Zugleich wurde, ähnlich wie bei anderen bisher als unumstößlich geltenden Werten, der antifaschistische Charakter der DDR von immer mehr Jugendlichen in Zweifel gezogen (vgl. Tab. 4).

Die zum Teil deutlichen Veränderungen in den Einstellungen junger Menschen lassen sich nur aus der konkret-historischen Situation des Herbstes 1989 erklären. Wut und Zorn über Amtsanmaßung und Korruption, Machenschaften der Staatssicherheit und Mißbrauch der Ideale führten bei vielen zu einer psycho-sozialen Kränkung, die sich oftmals in pauschalen Schuldzuweisungen oder aggressivem Verhalten entlud. Aus diesem Grunde ist auch eine Labilisierung antifaschistischer Haltungen unter Teilen der Jugendlichen erklärbar. Ob sie nur zeitweiliger Natur oder dauerhaft ist, werden die kommenden Monate beweisen müssen.

Einen ersten Aufschluß über längerfristige Entwicklungstrends in dieser Hinsicht erbrachte eine Studie unter Jugendlichen, die Mitte 1990 — also etwa ein halbes Jahr nach den Herbstereignissen — durchgeführt wurde und deren Ergebnisse mit der Studie zum Geschichtsbewußtsein von 1988 vergleichbar sind Wie diese Studie ergab, hat das Interesse Jugendlicher an der Geschichte des Nationalsozialismus in den letzten beiden Jahren nicht abgenommen, sondern ist eher noch gestiegen. Nach wie vor interessiert sich weit über die Hälfte der Jugendlichen stark für diese Zeit, etwa jeder fünfte sogar sehr stark. Gleichzeitig ist auch die Angst vor einer Wiederkehr des Faschismus deutlich angewachsen — rund zwei Drittel der Jugendlichen verspüren mittlerweile diesbezüglich große Angst.

Im Vergleichszeitraum 1988 — 1990 kam es zwar nicht zu einer eindeutigen Zunahme positiver Bewertungen des deutschen Faschismus und kaum zu einem Anstieg des Anteils Jugendlicher mit einer indifferenten Haltung ihm gegenüber, dennoch muß man davon ausgehen, daß faschistoides Gedankengut stärkere Verbreitung gefunden hat. Nationalistische Sichtweisen sind weitaus häufiger anzutreffen: Unter Schülerinnen ist z. B.der Anteil derer, die die Ansicht von einer besonderen Rolle der Deutschen vertreten, in den zwei Jahren auf etwa das Doppelte gestiegen (vgl. Tab. 5). In der Untersuchung von 1990 wurde erstmals auch die Einstellung zu Adolf Hitler erfragt. Es zeigte sich, daß er von einem Teil der DDR-Jugendlichen verehrt wird: 7 Prozent der Schülerinnen und Lehrlinge Sym ihm - empfinden gegenüber Achtung pathie; unter sind den Großstadtschülerinnen es sogar 11 Prozent und der Anteil steigt bis auf 15 Prozent, wenn man nur männliche Schüler und Lehrlinge in Betracht zieht. Zwischen der Bewertung der Zeit des Nationalsozialismus bzw.der Person Hitlers und der politischen Orientierung ist ein enger Zusammenhang nachweisbar: Je mehr sich Jugendliche dem rechten politischen Spektrum zuordnen, desto mehr tolerieren und akzeptieren sie nationalsozialistische Ideologiefragmente. Jugendliche, die ganz rechts stehen, z. B. Anhängerinnen der Republikaner, sympathisieren mehrheitlich mit Hitler und dem Nationalsozialismus. Allerdings gibt es unter ihnen auch einen kleineren Teil, der dem Nationalsozialismus ablehnend gegenübersteht. Es liegt die Schlußfolgerung nahe, daß das Akzeptanz-bzw. Sympathiepotential für den Nationalsozialismus unter Jugendlichen relativ konstant zu sein scheint und sich bei Schülerinnen und Lehrlingen um die 15 Prozent bewegt, bei männlichen Jugendlichen z. T. noch deutlich darüber. Es kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, daß es im Zusammenhang mit einer weiteren Verbreitung nationalistischer Sichtweisen und einer zunehmenden Enttabuisierung deutscher Geschichte anwächst.

Die Vergleiche zwischen dem Nationalsozialismus und dem „realen Sozialismus“ fielen bei DDR-Jugendlichen 1990 noch drastischer aus:

„Ich finde, die alte DDR-Regierung hat uns genauso behandelt, wie die Regierung des Faschismus. Sie hat uns aber das Leben gelassen.“ „Sozialismus und Faschismus können als Unterteilung des Kapitalismus gelten. Beide wollten Weltherrschaft, und beide waren Fehltritte.“ „Wir regen uns über die Vergangenheit auf, die Gegenwart des Sozialismus war schlimmer.“

Schon der Begriff des Antifaschismus ist bei Jugendfichen stark diskreditiert. Der Antifaschismus wird von vielen als das Werk der Alten abgetan, andererseits mit Linksextremismus und linksradikalem Terror in Verbindung gebracht:

„Der Begriff Antifaschismus wird heute ziemlich übertrieben. Viele Antifaschisten sind genau solche Chaoten wie die Reps, Skins usw.“

„Momentan sehe ich zwischen den Antifaschisten und den rechten Kräften keinen Unterschied. Die Linksextremen schlagen doch auch Leute zusammen, die anderer politischer Ansicht sind.“

Eine mangelnde Kultur des politischen Streits und die Radikalisierung der Auseinandersetzungen unter jugendlichen Gruppen lassen sich ebenfalls dokumentieren: „Rechtsextremismus muß bekämpft werden, und ich würde mir mit Skinheads und Reps neben großen Debatten auch noch gewaltige Stra-B Benschlachten liefern. Wie man so oft den Satz hört: . Gewalt muß mit Gewalt bekämpft werden/Wenn vernünftige Menschen nicht . . . liberal zu stimmen sind. Natürlich versuche ich vorher jeden umzustimmen . . . Wenn sich gegenseitig Linke und Rechte töten, bleiben die Liberalen . . 3. Ergebnisse einer deutsch-deutschen Schülerinnenbefragung Interessant ist ein Vergleich des Bildes vom Nationalsozialismus bei Jugendlichen aus Ost-und Westdeutschland. In Auswertung einer deutsch-deutschen Schülerinnenbefragung unter fünfzehn-und sechzehnjährigen Großstadtschülerinnen von Mitte 1990 sind dazu erste Aussagen möglich

So ist das Geschichtsinteresse von ost-und westdeutschen Schülerinnen trotz gewisser Differenzierungen ähnlich strukturiert. Bei beiden Vergleichs-gruppen steht die Geschichte des Nationalsozialismus mit an vorderster Stelle der Interessenskala. Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede lassen auch die Befragungsergebnisse hinsichtlich der Einstellungen gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus erkennen. Es dominiert dabei eine negative Bewertung dieser Zeit, doch tendiert sowohl bei ost-als auch bei westdeutschen Schülerinnen eine nicht geringe Minderheit (11 bzw. 13 Prozent) zu der Auffassung, daß der deutsche Faschismus im Grunde eine gute Idee war, die nur schlecht ausgeführt wurde. Ebenso unterscheidet sich der Anteil der Anhängerinnen und Bewundererinnen Hitlers in beiden Gruppen nur geringfügig: 11 Prozent bei den ostdeutschen stehen 8 Prozent bei den westdeutschen Großstadtschülerinnen gegenüber.

Ängste und Befürchtungen der Schülerinnen vor einer möglichen Wiederkehr des Nationalsozialismus sind ähnlich stark ausgeprägt. Gleiches gilt für die Beantwortung der Frage, ob sich Jugendliche für den deutschen Faschismus noch schämen sollten. Größere Unterschiede gibt es dagegen bei der Forderung nach einem starken Führer an der Spitze Deutschlands. Eine solche Forderung wird von DDR-Schülerinnen, insbesondere von männlichen, viel stärker befürwortet als von den Schülerinnen der Bundesrepublik: 16 Prozent der ostdeutschen im Vergleich zu 7 Prozent der westdeutschen Schülerinnen. Von den DDR-Schülerinnen unterstützt sogar mehr als jede/r fünfte den Ruf nach einem starken Mann. Auch hinsichtlich der Rolle der Deutschen in der Geschichte gibt es deutlich unterschiedliche Bewertungen (vgl. Tab. 6).

Bei aller gebotenen Vorsicht in der Interpretation sprechen die Untersuchungsergebnisse doch dafür, daß sich trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwicklungsbedingungen und Erziehungssysteme die Einstellungen gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus nur unwesentlich unterscheiden. So ist das Akzeptanz-bzw. Sympathiepotential für den Nationalsozialismus und Hitler etwa gleich groß. Weiterführende, über die Einstellungsebene hin-Tabelle ausgehende Untersuchungen könnten Klarheit darüber erbringen, ob dies mit gleichen oder ähnlichen Kenntnissen, Erfahrungen und Verhaltensmustern verbunden ist. Von besonderem Interesse ist darüber hinaus die Frage, welche Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten es in den Mechanismen zur Herausbildung und Entwicklung historisch-politischen Bewußtseins in beiden Systemen gab — eine Frage, die nur im Rahmen einer vergleichenden Sozialisationsforschung beantwortet werden kann.

Das autoritär-nationalistische Einstellungspotential unter Schülerinnen der ehemaligen DDR scheint z. T. beträchtlich größer zu sein als unter den Schülerinnen der alten Bundesrepublik. Die Ursachen dafür müssen vor allem in den bisherigen Gesellschaftsstrukturen, insbesondere im autoritär-indoktrinären Erziehungssystem, sowie im massenhaften Verlust an Identität und Selbstwertgefühl im Gefolge des gesellschaftlichen Umbruchs gesucht werden.

IV. Schlußbemerkungen

Tabelle 4: Entwicklung politisch-historischer Einstellungen bei Schülerinnen im Herbst 1989 (in Prozent)

Der Mythos von der DDR als „Hort des Antifaschismus“ ist mit dem gesellschaftlichen Wandel vom Herbst 1989 endgültig zusammengebrochen. Indem man von Anfang an die Zeit des Nationalsozialismus der Bundesrepublik als Erblast zuteilte und dafür die Legende von den „Siegern der Geschichte“ und der „Stunde Null“ erfand — sich gewissermaßen den Antifaschismus a priori verlieh —, entzog man sich, bis auf wenige Ausnahmen etwa unter den Künstlern und Schriftstellern, der mühsamen und schmerzlichen, aber notwendigen Trauerarbeit und damit einer ehrlichen und tiefgehenden individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Schwer wiegt auch die Instrumentalisierung des Antifaschismus, sein Mißbrauch zur Legitimation des politischen Systems der DDR. „Fackelzüge und gymnastische Massendressuren“ zeigten ein „geistiges Vakuum“ an und vergrößerten es. Sie waren nicht geeignet, „jene Bindungen zu erzeugen, die nur in tätiger Mit-verantwortungfür die Gesellschaft wachsen können“

Ein Teil der durch autoritäre Erziehung geprägten Jugendlichen der ehemaligen DDR sucht offenbar einen Ausweg aus der Wertekrise in der Anlehnung an neue autoritäre Strukturen bzw. in der Auffindung einer eigenen Autorität auf der Grundlage traditioneller Orientierungen des Nationalismus und Chauvinismus. Empirische Befunde sprechen z. T. für ähnliche Tendenzen unter westdeutschen Jugendlichen, die in ihrem Bildungs-und Erziehungssystem völlig andere Erfahrungen mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gemacht haben. Dies sollte Anlaß genug sein, gemeinsam mit allen demokratischen Kräften in Ost und West darüber nachzudenken, welchen Platz historische Traditionen des Antifaschismus in einer humanistischen Bildung und Erziehung einnehmen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das ergaben mehrere vom Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU) Leipzig im Jahre 1990 durchgeführte Befragungen.

  2. Fritz Klein, Laßt uns die Wahrheit sagen, in: Die Welt-bühne, Nr. 44 vom 31. Oktober 1989.

  3. Der am 18. Juli 1990 vom Deutschen Fernsehfunk I gesendete Film „Auch er wollte Hitler stürzen“ dokumentierte beispielsweise die Weigerung der DDR-Behörden, Carl-Hans Graf von Hardenberg postum als Widerständler des 20. Juli anzuerkennen. Das von seinen Vorfahren gegründete Dorf „Neuhardenberg“ wurde nach 1945 in „Marxwalde“ umbenannt und erhielt erst kürzlich auf Wunsch der Einwohner den früheren Namen zurück.

  4. Am 21. Juli 1944 hatte Anton Ackermann, Mitglied des Politbüros der KPD, im Sender „Freies Deutschland“ erklärt: „Wir wissen nicht, wer die Männer alle gewesen sind, die gegen Hitler gehandelt haben. Aber wir fragen auch nicht danach. Wer gegen Hitler kämpft, wer diesen schlimmsten Feind der Nation stürzen will, dem gehört die aktive Unterstützung aller ehrlichen Deutschen, aller Generale, Offiziere und Soldaten, die Unterstützung des ganzen Volkes.“ (Zit. nach Kurt Finker/Annerose Busse, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, Berlin 1984, S. 278). Bereits drei Jahre später sah sich der gleiche Autor zu einer grundsätzlichen Revision dieses Urteils veranlaßt: „Die Stunde hätte einen kompromißlosen Kampf für die sofortige Beendigung des Krieges durch den Sturz der Hitlerdiktatur erfordert. Keiner der Generale erwies sich zu einem solchen Kampf im Interesse von Volk und Vaterland fähig. Die eine Art der reaktionären Diktatur sollte nur von einer anderen abgelöst werden, und dieser Kreis war durchaus bereit, selbst den Krieg fortzusetzen.“ (Anton Ackermann, Legende und Wahrheit über den 20. Juli 1944, in: Einheit. 2 [1947] 12, S. 1182).

  5. Bernhard Kockel, Mittelstand und Nationalsozialismus, in: ebd., 2 (1947) 2, S. 181.

  6. Vgl. Wilhelm Pieck, Der deutsche Imperialismus — Die Lehren aus seiner Entwicklung, in: ebd., 1 (1946) 1, S. 69-70.

  7. Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation, Berlin 1946, S. 260.

  8. Vgl. Dietrich Staritz, Die „Sieger der Geschichte“ oder die „Gnade der späten Geburt“. Vom Umgang mit der gemeinsamen Erblast in Ost-und Westdeutschland, in: German Studies. Aston University 1989, S. 2— 6.

  9. Telegramm des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, J. W. Stalin, in: Neues Deutschland vom 14. Oktober 1949. Extra-Ausgabe, S. 1.

  10. Vgl. Neues Deutschland vom 16. Oktober 1949. S. 2.

  11. Vgl. Die Nationale Front des demokratischen Deutschland und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Entschließung des Parteivorstandes vom 4. Oktober 1949, in: Dokumente der SED. Bd. II. Berlin 1952. S. 352— 353.

  12. Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: ebd., Bd. III. Berlin 1952. S. 97.

  13. Vgl. Walter Ulbricht, Zehn Jahre Kampf um ein einiges, friedliebendes, demokratisches Deutschland, in: Neues Deutschland vom 7. Mai 1955. S. 3.

  14. Ders.. Die DDR ist ihres Sieges gewiß. Ansprache auf der Festveranstaltung, in: ebd. vom 8. Mai 1960. S. 4.

  15. Ders., Sicherung des Friedens ist für unser Volk eine Frage von Sein oder Nichtsein. Rede auf der Freundschaftskundgebung im Kongreßpalast des Kreml, in: ebd. vom 13. Juni 1964, S. 4.

  16. Georg Ewald, Freundschaft zur UdSSR - Kraftquell unseres Volkes. Ansprache auf der Festveranstaltung aus Anlaß des 22. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus, in: ebd. vom 6. Mai 1967, S. 3.

  17. Erich Honecker, Siegeszug des Sozialismus prägt Gang der Geschichte. Ansprache, in: ebd. vom 6. Mai 1975, S. 3.

  18. Vgl. Rolf Richtcr/Erich Geier/Rolf Leonhardt/Helmut Maier (Hrsg.). Bewährte Strategie - Erfolgreiche Praxis. Beiträge zur Geschichte der SED und der DDR in den siebziger und achtziger Jahren, Berlin 1989 (Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED), S. 44.

  19. Stephan Hermlin, Äußerungen 1944— 1982, Berlin-Weimar 1982. S. 399.

  20. Christa Wolf, Das haben wir nicht gelernt, in: dies., Reden im Herbst. Berlin-Weimar 1990, S. 96.

  21. Nach Befragungen des ZU Leipzig aus den Jahren 1978 und 1988 (Projektleitcr: Peter Förster bzw. Günter Lange).

  22. Vgl. Siegfried Vietzke, Antifaschismus prägt unseren Weg, unsere Macht, in: Einheit, 44 (1989) 9— 10, S. 940.

  23. Rolf Richter/Hermann Simon/Frank Schumann/Manfrcd Weißbecker, Antifaschismus in der DDR. Traditionswurzeln, geschichtliche Leistungen, neue Anforderungen, in: Rolf Richter u. a. (Anm. 18). S. 54.

  24. Ebd.. S. 53.

  25. Vgl. Konrad Wolf im Dialog. Berlin 1985. S. 358-359. 375.

  26. Christa Wolf. Erfahrungsmuster. Diskussion zu „Kindheitsmuster“. in: dies.. Die Dimensionen des Autors. Bd. II. Berlin-Weimar 1986. S. 350.

  27. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9. Berlin 1988, S. 200.

  28. Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9. Berlin 1984. S. 123.

  29. Geschichte (Anm. 27). S. 190.

  30. Vgl. Lehrbuch für den Geschichtsunterricht der Oberschule. Neueste Zeit. Teil II. Berlin 1957.

  31. Vgl. Christel Berger. Gewissensfrage Antifaschismus. Analysen — Interpretationen — Interviews. Berlin 1990.

  32. Hans Koch. Kunst und realer Sozialismus, in: Neues Deutschland vom 15. /16. April 1978. S. 4.

  33. Vgl. Chr. Wolf (Anm. 26). S. 361.

  34. Zit. nach Klaus Höpcke. Wider gewisse Vergeßlichkeit, in: Die Wcltbühne. Nr. 42 vom 18. Oktober 1988. S. 1316.

  35. Helmut Vogt. Unweit von Sachsenhausen, in: ebd.. Nr. 21 vom 24. Mai 1988. S. 646.

  36. Ebd.

  37. K. Wolf (Anm. 25). S. 350-351.

  38. Regina Scheer, Der gelbe Fleck, in: Die Weltbühne, Nr. 41 vom 11. Oktober 1988, S. 1286.

  39. K. Wolf (Anm. 25), S. 350.

  40. Die rechtsradikale Szene hat Zulauf. Gespräch mit Bernd Wagner, Zentrales Kriminalamt beim Innenministerium, in: Leipziger Volkszeitung vom 12. September 1990. S. 3.

  41. Vgl. Bodo von Borries, Erinnerung, Beschwörung, Verdrängung. Zum Umgang mit dem 30. Januar 1933 seit dem 8. Mai 1945, in: 1933 in Gesellschaft und Wissenschaft, Teil I, Hamburg (Pressestelle der Universität) 1983, S. 7— 36; Sibylle Hübner-Funk, Nationale Identität — Neubeginn und Kontinuität, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Immer diese Jugend! Ein zeitgeschichtliches Mosaik — 1945 bis heute, München 1985, S. 494— 508; Jürgen Zinnecker, Politik, Parteien, Nationalsozialismus, in: Jugendliche und Erwachsene ‘ 85. Generationen im Vergleich, Bd. 3: Jugend der fünfziger Jahre — heute, Opladen 1985, S. 322— 408; Peter Dudek, Jugendliche Rechtsextremisten. Zwischen Hakenkreuz und Odalsrune 1945 bis heute, Köln 1985; Werner Weidenfeld (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein der Deutschen, Köln 1987; Gerhard Paul (Hrsg.), Hitlers Schatten verblaßt. Die Normalisierung des Rechtsextremismus, Bonn 1989; Wolfgang Benz (Hrsg.), Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Voraussetzungen, Zusammenhänge, Wirkungen, Frankfurt a. M. 1989; Felix Ph. Lutz, Empirisches Datenmaterial zum historisch-politischen Bewußtsein, in: Bundesrepublik Deutschland. Geschichte, Bewußtsein, Bonn (Bundeszentrale für politische Bildung) 1989. S. 150— 169; Hanns-Fred Rathenow/Norbert H. Weber (Hrsg.), Erziehung nach Auschwitz. Pfaffenweiler 1990; Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 19902.

  42. Auch die beiden von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in der Reihe „Thematische Informationen und Dokumente“ zum Thema „Sozialistisches Geschichtsbewußtsein“ herausgegebenen Hefte 9/1978 und 53/1986 bieten diesbezüglich keine Anhaltspunkte.

  43. Konrad Weiß, Die alte neue Gefahr. Junge Faschisten in der DDR, in: Kontext. Beiträge aus Kirche. Gesellschaft & Kultur (nur für den innerkirchlichen Gebrauch). Berlin-Treptow, Nr. 5 vom März 1989.

  44. Im Rahmen der Untersuchung zum Geschichtsbewußtsein Jugendlicher im Jahre 1988 (Forschungsleiter Günter Lange) wurden ca. 2 000 Jugendliche, darunter 325 Schülerinnen und 444 Lehrlinge befragt.

  45. Vgl. Wilfried Schubarth, Einstellungen Jugendlicher zum Faschismus, in: Geschichte und Staatsbürgerkunde, 32 (1990) 4, S. 328— 331; ders., Zur Wirksamkeit des Geschichtsunterrichts. Ergebnisse einer soziologischen Befragung. in: ebd., 32 (1990) 1. S. 35— 39; ders., Geschichtskult contra Geschichtsbewußtsein, in: deutsche jugend. Zeitschrift für Jugendarbeit, 38 (1990) 10. S. 449— 453.

  46. 6. Tagung des Zentralkomitees der SED. 9. — 10. Juni 1988. Aus dem Bericht des Politbüros an das Zentralkomitee der SED. Berichterstatter; Genosse Kurt Hager, Berlin 1988. S. 79.

  47. Hierbei handelt es sich um eine Befragung von rund 350 Schülern der 8. Klasse aus verschiedenen Städten der DDR, die im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1989 dreimal befragt wurden, vor dem Besuch der Mahn-und Gedenkstätte Buchenwald, unmittelbar danach und etwa vier Wochen später. Zu den Ergebnissen vgl. Wilfried Schubarth. Gedenkstättenarbeit — eine Analyse, in: antiFA. (1990) 9. S. 2-5.

  48. In diese Studie des ZU Leipzig von 1990 (Forschungsleiter: Günter Lange) wurden ca. 1 000 Jugendliche, darunter 350 Schüler und 307 Lehrlinge, einbezogen.

  49. Die deutsch-deutsche Schülerinnenbefragung, die im Juni/Juli 1990 vom ZU Leipzig und dem Deutschen Jugend-institut München durchgeführt wurde, erfaßte jeweils über 1 000 Schüler der 9. Klasse aus Großstädten der DDR (Berlin-Ost, Leipzig. Magdeburg) und der Bundesrepublik (Berlin-West. Köln. München).

  50. Vgl. Anm. 49.

  51. Chr. Wolf (Anm. 20), S. 96.

Weitere Inhalte

Wilfried Schubarth, Dr. phil., geb. 1955; Diplom-Pädagoge; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugendinstitut München, Außenstelle Leipzig (ehemaliges Zentralinstitut für Jugendforschung). Veröffentlichungen u. a.: Geschichtslose DDR-Jugend?, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 18 (1990) 3— 4; Zu Veränderungen im politischen Denken von DDR-Jugendlichen, in: Geschichte Erziehung Politik, 1 (1990) 4; Rechtsextremes Einstellungspotential unter Jugendlichen heute, in: Informationen zur soziologischen Forschung in der DDR, 26 (1990) 1; Fremde als Sündenböcke, in: Spiegel Spezial, (1991) 1. Ronald Pschierer, Dr. phil., geb. 1956; Diplom-Historiker; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig. Forschungen zur Entwicklung der Kulturschaffenden in den siebziger Jahren in der DDR. Thomas Schmidt, Dr. sc. phil., geb. 1959; Diplom-Historiker; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a. zur Ideengeschichte des deutschen Kommunismus sowie zur Geschichte der Faschismus-theorien und -interpretationen.