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Handlungsbedarf und Zielgruppenorientierung in der Entwicklungszusammenarbeit | APuZ 25-26/1991 | bpb.de

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APuZ 25-26/1991 Neues Feindbild Dritte Welt: Verschärft sich der Nord-Süd-Konflikt? Vom Wachstum zur dauerhaften Entwicklung Handlungsbedarf und Zielgruppenorientierung in der Entwicklungszusammenarbeit Menschenrechte und Nord-Süd-Konflikt Artikel 1

Handlungsbedarf und Zielgruppenorientierung in der Entwicklungszusammenarbeit

Frank Bliss

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Zusammenfassung

Obwohl Fundamentalkritiker den generellen Sinn von Entwicklungs-„Hilfe“ abstreiten, gibt es weltweit noch einen großen Bedarf an Solidarität mit den Armen und Unterprivilegierten, der sich in der Schaffung akzeptabler Rahmenbedingungen für „Entwicklung“ ebenso wie in Unterstützungsprogrammen äußern sollte. Aber nicht jedes entwicklungspolitische Vorhaben ist wünschenswert, vor allem aus der Sicht der betroffenen Bevölkerung. Es kommt darauf an, den tatsächlichen Bedarf nach den Kriterien der Menschen vor Ort festzustellen und aus dem Dialog mit ihnen adäquate Mittel zu entwickeln und einzusetzen. In der Praxis deutscher (und internationaler) Entwicklungsorganisationen gelingt dieses bisher nur unvollkommen, da den kulturellen Bedingungen der Entwicklung ebenso wie der Partizipation der betroffenen Bevölkerung methodisch in Planung, Durchführung und Bewertung von Hilfsprogrammen zu wenig Bedeutung eingeräumt wird. Über die Problematisierung des Handlungsbedarfs hinaus werden in diesem Beitrag einige Grundsätze und -bedingungen des entwicklungspolitischen Handelns skizziert, die auf eine bessere Kommunikation ausländischer Fachkräfte mit der von den Hilfsprogrammen angesprochenen Bevölkerung hinauslaufen können und dort, wo beide Seiten einen Handlungsbedarf erkannt haben, einen partnerschaftlichen Ablauf der Maßnahmen fördern sollen. Dabei werden einige ethische Prinzipien angesprochen, die für die Arbeit unserer in fremde Kulturen entsandten Fachkräfte bestimmend werden müßten, wenn es bei „Entwicklungshilfe“ wirklich um den Solidarbeitrag für die anderen geht, der in der Öffentlichkeit so sehr als Prinzip dieses Politiksektors herausgestellt wird.

Entwicklungshilfe muß trotz zahlreicher Fehlschläge nicht zwangsläufig „tödliche Hilfe“ sein. Solidarität mit den Armen und Unterprivilegierten ist an vielen Orten in der Welt notwendig. Damit sich aber diese Solidarität in konkreter Hilfe für die betroffenen Gruppen auswirken kann, bedarf es einer Reihe von Veränderungen im entwicklungspolitischen Instrumentarium, die in diesem Essay zumindest thematisiert werden sollen. Die Entwicklungsproblematik würde allerdings sehr gemildert werden, wenn die Protagonisten des „freien Welthandels“ ihre Grundsätze auch hinsichtlich der weiterhin bestehenden Handelshemmnisse (Zölle, Einfuhrquoten, Subventionen etc.) ernst nehmen würden. Eine Konkretisierung sowie die praktische Umsetzung der Inhalte ließe sich leicht mit dem finanziellen Aufwand eines einzigen durchschnittlichen staatlichen Entwicklungsvorhabens exemplarisch in die Wege leiten. Die Umsetzung wird Zeit und viel Initiative kosten. Damit sofort anzufangen, wäre für viele Entwicklungsvorhaben die einzige Rettung.

I. Probleme mit den „Zielgruppen

Nicht jedes entwicklungspolitische Vorhaben ist nach strenger Auslegung der offiziellen Grundlinien der Bundesregierung wünschenswert noch weniger Maßnahmen sind es aus der Perspektive der Betroffenen heraus. Daß es dennoch eine Vielzahl von Hilfsmaßnahmen dort geben muß, wo Menschen sich aus eigener Kraft und ohne externe Unterstützung nicht selbst helfen können, um aus wirtschaftlicher und sozialer Not herauszukommen, wird außer von ganz wenigen Fundamental-kritikern von kaum jemandem bestritten. Vor-auszusetzen ist dabei, daß nicht soziale Ungerechtigkeit, unfähige und korrupte Herrschaftseliten oder verfehlte Entwicklungsstrategien, sondern schlichtweg mangelnde Ressourcen für die Notsituation verantwortlich sind. Die Klärung der Frage, wo solche Notsituationen herrschen und was eine adäquate Maßnahme ist, dürfte dann aber bereits umstritten sein.

Selbst wenn unter Betroffenen und Helfern Einigkeit darüber bestünde, daß ein „Entwicklungs" -vorhaben, oder neutraler formuliert ein Hilfsprogramm, in einem speziellen Fall unbedingt notwendig ist, und auch über die einzusetzenden Mittel Konsens herrschte, wäre damit der Erfolg einer Intervention keineswegs sicher. Auch in diesen Fällen können falsche oder ungenaue Problemanalysen vorliegen. Dies belegen Quellen, denen übersteigerte Kritikfreudigkeit gegenüber der deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder gar Böswilligkeit gegenüber ihren politisch Verantwortlichen sicher kaum unterstellt werden kann. Darüber hinaus sind zuweilen die Zielbestimmung der Vorhaben und die Wahl der Mittel zur Zielerreichung falsch gewesen, da es in verschiedenen Fällen selbst bei erfolgter Problemanalyse keine oder nur eine unzureichende Partizipation der betroffenen Gruppe gab. Folglich fehlten nicht selten ausreichende Akzeptanzbedingungen für die eingesetzten Mittel

Im Mittelpunkt der Probleme steht meistens die „Zielgruppe“. Dieser Fachterminus meint jene soziale Gruppe, die Adressat der Hilfsmaßnahmen ist und die sich bei deren Abwicklung als ein besonderes Problem erweist. Eurozentrisch eingefärbte Unmutsäußerungen sind über den „Störfaktor Mensch“ wegen seiner kulturellen Tabus, seiner konservativen Weltanschauung, seiner für den nicht fachkundigen Betrachter weltfremden Rationalitäten und religiösen Irrationalitäten zu hören. Im Falle von Schwierigkeiten reichen die vertretenen Meinungen der beteiligten Experten von der gerade beschriebenen Position bis hin zum ernstgemeinten Bedauern, daß die bisherigen Methoden der Entwicklungszusammenarbeit leider nicht ausreichen, um die Persönlichkeit eines Fremden und das Fremde schlechthin voll erfassen zu können, um mit ihm als gleichberechtigtem Partner zu kommunizieren und seine Vorstellungen und Ziele in den Mittelpunkt der ausländischen Hilfe zu stellen.

Um letzteren Standpunkt geht es hier, wenn nach Wegen gesucht werden soll, die dazu beitragen können, jene Vorhaben effektiver zu gestalten und ihre Stetigkeit zu sichern, die prinzipiell zu begrüßen sind, aber bisher am mangelhaften Instrumentarium zu scheitern drohten. Dabei möchte dieser Beitrag auch an jene Debatte um die sozio-kulturellen Faktoren der Entwicklungszusammenarbeit anknüpfen, die das Für und Wider einer Reduktion der Kultur einer betroffenen Gruppe auf „dominante Faktoren“ beinhaltet

II. Der Handlungsbedarf in der Entwicklungszusammenarbeit oder: welches Vorhaben ist unterstützenswert?

Ausgehend von der Erfahrung, daß ein Großteil aller entwicklungspolitischen Vorhaben die von Armut und Unterdrückung Betroffenen nicht in der erwünschten Form erreicht ist es unumgänglich, die bestehenden Hilfsansätze und das dabei eingesetzte Instrumentarium in Frage zu stellen. Allerdings möchte ich hier Entwicklung ausschließlich im Sinne einer Verbesserung der Situation betroffener Gruppen gemäß ihren eigenen Kriterien und entsprechend die Entwicklungshilfe (der neuere Terminus Entwicklungszusammenarbeit wird in der Praxis synonym verwendet) als ein Mittel, in bestimmten Situationen zu einer Verbesserung in diesem Sinne beizutragen, verstehen

Dieser Entwicklungsbegriff schließt die Pflicht der Weltgemeinschaft zur Hilfe in Katastrophensituationen, die nicht nur in Staaten der sogenannten Dritten Welt geleistet wird, nicht ein. Katastrophenhilfe bewirkt allenfalls eine Wiedererreichung des vorherigen Zustandes, nicht aber die Verbesserung allgemeiner Lebensbedingungen. Ebenso-wenig wird in diesem Zusammenhang ein Ressourcentransfer als „Entwicklungshilfe“ akzeptiert, bei der staatliche und/oder private Financiers („Geber“) und unterstützter Staat oder öffentliche/private Unternehmen („Nehmer“), vielleicht in völligem Konsens agieren, bei der jedoch die Verbesserung der Lebensumstände von in Mangelsituationen lebenden Gruppen nicht im Vordergrund steht. Derartige Beziehungen mögen als Wirtschaftskooperation zu marktüblichen oder besonderen Konditionen gelten. Wer Kapitaltransfers in Industrieländer weiterhin als Investition, dagegen diejenigen in sogenannte Entwicklungsländer als „Entwicklungshilfe“ einstuft, beweist nicht nur seinen ausgeprägten Eurozentrismus, sondern er setzt sich auch dem Verdacht aus, Gewinnstreben als gemeinnützige Handlung auszugeben.

Als Entwicklungshilfe sollten eigentlich im Rahmen finanzieller oder technischer staatlicher oder nichtstaatlicher Initiative nur Vorhaben verstanden werden, die zum Ziel haben, die Verbesserung der Lebenssituation unterprivilegierter Menschen nach den oben genannten Maßstäben einzuleiten. Allein um dieses Spektrum geht es, wenn hier von verbesserungswürdiger und -fähiger Entwicklungshilfe die Rede ist.

Sinnvolle Entwicklungshilfe setzt einen Handlungsbedarf voraus. Dieser Handlungsbedarf ist teilweise schwer zu ermitteln. Wenn die potentiellen „Zielgruppen“ von Entwicklungshilfe im Rahmen des allgemeinen Mitteleinsatzes ungenügend erreicht werden, so kann dies mehrere Gründe haben. Zunächst könnten die eingesetzten Mittel bei erkanntem Handlungsbedarf nicht ausreichen. In der Praxis hören wir jedoch eher von Absorptionsschwierigkeiten der Nehmerländer bei der Aufnahme von Hilfsleistungen als von einem generellen Finanzmangel in den Entwicklungshilfe-etats

Wahrscheinlicher ist, daß erstens das Erkennen von strukturellen Fehlentwicklungen und das Entstehen von Notlagen auch und gerade in einer Welt „kurzer“ Kommunikationsstränge außerhalb der eingefahrenen Wege ein Problem darstellen und daß entsprechend nicht oder zu spät gehandelt wird. Zweitens gelingt es selbst bei der Einleitung von Maßnahmen als Reaktion auf vermeintlich erkannte Notlagen häufig nicht oder nur ungenügend, die richtigen Mittel einzusetzen, z. B. Weizenimport statt Ankauf von Hirse vor Ort; Einführung neuer Viehsorten und Nahrungsmittelpflanzen anstelle einer Verbesserung der bekannten Sorten; Umsiedlung der Menschen, aber keine gerechte Landverteilung in der Heimat. Der Handlungsbedarf wurde also zwar prinzipiell, nicht aber substantiell erkannt.

Während die Presse die Folgen eines nicht erkannten Handlungsbedarfs später in Form von Bildern aus Unruhe-und Hungergebieten zur Kenntnis bringt, wird im letzteren Fall eher fachöffentlich vom Scheitern eines Entwicklungsvorhabens aufgrund technischer Probleme oder gar mentaler Defizite der Betroffenen gesprochen, obwohl hier vielfach der substantiell richtige Handlungsbedarf nicht ermittelt wurde oder wegen falsch eingesetzter Ermittlungsverfahren nicht in Erfahrung gebracht werden konnte.

Generell ist in der bundesdeutschen, aber auch in der internationalen Entwicklungshilfe und natürlich bei den Bürokratien der „Nehmer“ -Länder ein überzogener Glaube an einen Handlungsbedarf festzustellen, zumindest, was ausländische und materielle Hilfe betrifft. Bewußte und/oder latent vorhandene Vorstellungen von den technisch-kulturellen „Errungenschaften“ der eigenen Gesellschäft erwecken, wenn diese „Zivilisationsgüter“ in einem Land der Dritten Welt fehlen, bei uns leider immer noch zu häufig das Bedürfnis, hier schnell Abhilfe leisten zu müssen. So werden Lehmhäuser durch Betonbauten ersetzt, Göpelwerke weichen der Motorpumpe, diversifizierter, einfacher Gartenbau wird durch die Hochleistungs(mono) kultur verdrängt, oder gewohnheitsrechtliche Normenkataloge, z. B. bei der Feldbewässerung, werden durch schriftliche Betriebsanleitungen in Frage gestellt.

Im Zweifelsfall müssen nach Ansicht mancher Experten und Verwaltungsfachleute Tabus, antiquierte „sozio-kulturelle Dispositionen“, religiöse Hemmnisse usw. durch „Aufgeschlossenheit“, . „Motivation“ und „Arbeitswillen“ beseitigt werden, um den Weg für „echte Entwicklung“ freizumachen. Mancher projektbeglückte marokkanische oder philippinische Bauer wundert sich am Ende selbst, was ihm bisher an materiellen Gütern und an Bewußtsein fehlte und wie er es so lange ohne diese Güter (und den entsprechenden Entwicklungsstand) ausgehalten hat.

Die Reaktion auf dieses falsche Verständnis vom Handlungsbedarf kann nur in eine Auseinandersetzung mit der Frage münden, ob wir im Einzelfall wirklich etwas tun, sprich Entwicklungshilfe leisten müssen, welches die Voraussetzungen für die Einleitung von Maßnahmen sind, und welche Ziele hiermit verbunden werden sollen. Entwicklungshilfe, wenn sie Geschenkcharakter hat, ist schließlich etwas von allen sonstigen inter-und intragesellschaftlichen Beziehungen Abweichendes. Geschenke sind fast prinzipiell und nahezu universell außerhalb traditioneller Austauschpraktiken unvorstellbar. Das gilt auch in unserer Gesellschaft; selbst Werbegeschenke sind natürlich nicht selbstlos, und sogar zu Weihnachten wird ein Geschenk in der Regel immer mit einem Gegengeschenk beantwortet: Schenken und beschenkt werden sind universelle reziproke, gruppenstabilisierende Phänomene Folglich muß ein „Geschenk“, auch im Rahmen gutgemeinter Entwicklungshilfe, zumindest unterhalb der Ebene der nationalen Eliten Mißtrauen erwecken.

Auch auf Seiten der Empfängerregierungen, die prinzipiell weniger etwas gegen „Geschenke“ haben, können in manchen Fällen Befürchtungen hinsichtlich der mit der Leistung verbundenen Auflagen und späteren „Gegengaben“, und sei es nur ein spezifisches Verhalten bei einer UN-Abstimmung, entstehen. Nur die persönlichen Vorteile der politisch-ökonomischen Elite mögen in zahlreichen Fällen hierüber hinwegtrösten, da gerade bereitwillig akzeptierte Auflagen, die meist die armen Schichten treffen, im Gefolge von Fresh Money nicht selten eine wundersame Profitvermehrung auf beiden Seiten zu bewirken vermag.

Da ein generelles Mißtrauen dem Geschenk gegenüber in zahlreichen Fällen nicht zu leugnende Realität ist, sollte in der Entwicklungspraxis sorgfältig geprüft werden, in welchen Fällen Hilfe (als Geschenk) überhaupt notwendig ist. Es müssen Maßstäbe gefunden werden, die sich an den Standards der betroffenen Gesellschaften orientieren, die von diesen mit eigenen Mitteln möglicherweise nur in Ausnahmesituationen, z. B. großräumige ökologische Veränderungen, nicht erreicht werden können.

Berücksichtigt werden müssen auch die (ungerechten) sozio-ökonomischen und politischen Strukturen, die als Hindernis für die Eigenentwicklung anzusehen sind und Grund für eine Intervention (Entwicklungsmaßnahme) darstellen können. Auf die Schwierigkeit, hier wegen der dominierenden staatlichen Kooperation in der Entwicklungshilfe irgendwelche Veränderungen zu erreichen, sei an dieser Stelle zumindest hingewiesen. Sicher kann es aber nicht Aufgabe von Entwicklungshilfe sein, der Masse der Bevölkerung kontinuierlich das zu ersetzen, was ihr die Herrschenden weggenommen haben.

In jedem Fall ist die Schaffung eines interkulturellen Verständnisses von induzierter Hilfe notwendig, bei der sich alle Akteure unabhängig von der Definition der endgültigen Mittel und Wege über den Bedarf, den Nutzen und auch die Grenzen bei der Durchführbarkeit im klaren sind. Mit anderen Worten: „Geber“ und Unterstützte, und nicht die Regierung als „Nehmer“, müssen Konsens darüber erzielt haben, daß und wie etwas getan werden muß, und sie müssen sicher sein, daß beide auch das Gleiche meinen. Letzteres ist eines der zentralen Gebote der Entwicklungshilfe, das nur mit Hilfe eines kulturzentrierten Planungs-und Implementierungsansatzes eingelöst werden kann.

Zur Vorsicht beim Mitteltransfer sollten auch die zahlreichen Beispiele mahnen, bei denen die Folgekosten eines zunächst kostenlosen oder preisgünstigen Vorhabens vom Empfängerland nicht zu bezahlen sind. Für manche Geber ist dieses Problem völlig uninteressant, war der Entwicklungshilfeeinsatz doch nur ein Mittel der Exportförderung, zumal mit einem Teilgeschenk häufig Nach-folgeaufträge zu mobilisieren sind. Eine verantwortungsvolle Hilfe wird hier jedoch abwägen müssen und gegebenenfalls Kompromisse zwischen einem Bedarf und seiner angestrebten Dekkung eingehen. Dieses gilt in besonderem Maße auch für scheinbar kleine und preiswerte Vorhaben, die im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe durchgeführt werden. Für Wasseranlagen, Ackerbaugeräte und Wohnhäuser, die später von den Betroffenen nicht zu unterhalten sind, kann es eigentlich keinen „Bedarf“ geben.

Bei der Suche nach Kriterien für einen Handlungsbedarf gibt es noch einige weitere Stolpersteine, die deutlich oder weniger deutlich die bisherige Projektgeschichte beeinflußt haben. So läßt sich zum Beispiel häufig eine lautstark reklamierte Allwissenheit der Entwicklungshilfe beobachten, die nach dem Prinzip, „nenne mir nur ein Problem, und ich erarbeite Dir eine Lösung“, auf jede denkbare Situation angewendet wird. Dabei wäre es ehrlicher festzustellen, daß in manchen Fällen auch mit reichlicher externer Hilfe bei einem Mindestmaß an Realitätssinn der verwüstete Lebensraum nicht wieder zurückzugewinnen ist oder der gesunkene Grundwasserspiegel für Mensch und Tier einfach nicht mehr nutzbar gemacht werden kann.

Nicht weit von diesem Prinzip der Allwissenheit entfernt ist die Bereitschaft zum Experiment. Entwicklungshilfe als relativ neuer Politiksektor, bei dem man folglich auch einmal Versuche machen und Fehlschläge in Kauf nehmen kann, ist mit dem sich langsam verbreitenden Gedanken, daß auch die Ärmsten und Elendesten auf der Erde ihre Menschenwürde haben, immer weniger zu vereinbaren. Wenn in einzelnen Problemfällen also Lösungsansätze nicht erkennbar sind, dann sollte man dies offen und ehrlich zugeben.

Vorsicht muß schließlich immer dann herrschen, wenn ein Handlungsbedarf erkennbar nur von jenen festgestellt wird, die doch gerade die Verantwortung für den bedauernswerten Status quo in ihren Ländern tragen. Das Antragsprinzip in der deutschen Entwicklungshilfe trägt zwar dem Souveränitätsanspruch der Partnerstaaten Rechnung, nur verhalten sich die Partnerregierungen ihren Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht immer im ethischen Sinne souverän. Die Bewertung eines Handlungsbedarfs gewinnt umgekehrt folglich vor allem dann an Gewicht, wenn die tatsächlich Betroffenen bei der Feststellung dieses Bedarfs aktiv und initiativ mitgewirkt haben.

III. Grundsätze und -bedingungen des entwicklungspolitischen Handelns in der Projektpraxis

Die hier vorgenommene Relativierung des Handlungsbedarfs in der Entwicklungshilfe bedeutet nicht, daß es nicht genügend Anlässe und Gründe für Interventionen gäbe -im Gegenteil. Aus dem anfangs genannten Entwicklungshilfeverständnis, das diesem Aufsatz zugrunde liegt, lassen sich für diese Interventionen aber einige zwingende Grundsätze und eine Reihe von konkreten Handlungsanweisungen ableiten: Bestrebungen zur Verbesserung der Erfolgsbedingungen von Entwicklungsvorhaben sollten zunächst auf dem Leitgedanken basieren, daß Entwicklungsziele nicht aus den Maßstäben der eigenen Gesellschaft abgeleitet werden dürfen und daß es bei den angewandten Verfahren und Methoden nicht darum gehen kann, stellvertretend für die betroffenen Gruppen zu handeln. Vielmehr geht es um die Stimulierung und Entfaltung vorhandener menschlicher Potentiale (Know-how und Kreativität) gemäß den Kriterien der jeweiligen Gruppe.

Ein zweiter Grundsatz sollte sein, daß jede soziale Gruppe in ihrer „Gruppenindividualität“ akzeptiert wird. Die Besonderheit der menschlichen Kultur beruht wesentlich auf der Verschiedenheit, worauf auch immer diese begründet sein mag. Die menschlichen Gesellschaften differieren sowohl im Raum, d. h. als verschiedene Ethnien, Völker, Glaubens-oder Wirtschaftsgemeinschaften, Interessenverbände, als auch in der Zeit, d. h. im sozialen und ökonomischen Wandel. Schließlich ist innerhalb der sozialen Gruppen das Individuum in verschiedene Strukturen eingebunden, in denen es unterschiedliche Rollen ausübt und dabei jeweils voneinander abweichende Interessen (Positionen) vertreten kann. Dieser Hintergrund ist auch und gerade für induzierte Prozesse wie die Entwicklungshilfe bestimmend, die sich folglich auf das spezifische Umfeld eines möglichen Vorhabens individuell einstellen muß, auch wenn ihr dies größte Mühe und viel Aufwand bereiten mag.

Um wie auch immer definierte Bedürfnisse und Interessen bei den „Zielgruppen“ der Entwicklungshilfe auszumachen, muß die Entwicklungshilfe Wege der Interaktion mit den Betroffenen erarbeiten, die an die kulturelle Verschiedenheit angepaßt sind. Es kann also nicht darum gehen, eine endgültige Vorgehensweise zu finden, die in jeder Situation anwendbar ist sondern darum, Metho-den zu erarbeiten, die es erlauben, jede Situation für sich und adäquat zu den spezifischen Erfordernissen erfassen zu können.

Individuell ansetzende Entwicklungsvorhaben bedürfen von der Problemdiagnose bis zum Abschluß dreier konstituierender Voraussetzungen: a) Sicherzustellen ist ein angemessener zeitlicher Rahmen, der es erlaubt, die immer wieder neue Situation der betroffenen Bevölkerung umfassend, u. a. durch den anhaltenden Dialog mit der betroffenen Gruppe zu erkennen, ihre Veränderung durch etwaig einzuleitende Maßnahmen zu beobachten, die eintretenden Wirkungen zu analysieren und gegebenenfalls wieder als Resultat des Dialogs, zu korrigieren (Suivi/Monitoring) und am Ende unter Aneignung der Perspektive der Betroffenen die Maßnahmen zu bewerten (Evaluierung). Es kann nicht angehen, daß auch in der Zukunft, wie bisher in vielen Vorhaben üblich, innerhalb von zwei Wochen die „sozio-kulturellen“ Aspekte eines Vorhabens in einer zumeist noch relativ unvorbereiteten Mission bearbeitet und dann noch innerhalb weniger Tage in definitive Schlußfolgerungen gekleidet werden. Für das Stichwort „Kultur“ müssen in jedem Fall ganz andere Bedingungen gelten als z. B. für die Auswahl einer bestimmten Pumpanlage oder die Nachberechnung technischer Vorgaben. b) Es bedarf einer sprachlichen Kommunikationsfähigkeit der Akteure, wobei es hier im wesentlichen um die Fähigkeit des externen Partners geht, ohne „sprachlichen Filter“ mit den betroffenen Gruppen zu verhandeln. „Sprachliche Filter“ sind hier die Counterparts, Regierungsvertreter, im Extremfall sogar Agenten der Geheimpolizei, die einerseits, statt sich auf die reine Übersetzung zu beschränken, Fragen und Antworten bereits interpretieren, andererseits durch ihre bloße Anwesenheit bewirken, daß die eigentlichen Gesprächspartner ihre Meinung nicht offen und ehrlich äußern. c) Unerläßlich ist ferner die „kulturelle Kommunikationsfähigkeit“, d. h. die Sicherstellung des Verständnisses von Phänomenen aus der Kultur des einheimischen Partners und dem Erfahrungsbereich der externen Helfer. Hierzu gehört, daß die „Gäste“, d. h. Gutachter oder Entwicklungsfachkräfte, von der Art ihres Verhaltens her den Dialog in einer Weise führen, der von ihren „Gastgebern“ anerkannt wird. Kulturelle Kommunikationsfähigkeit meint auch, daß die „Gäste“ über hinreichende Erfahrungen verfügen, um Begriffe aus der Gastgeberkultur, wie z. B. Verwandte, Eigentum oder Verpflichtung, richtig verstehen und damit anstelle mechanischen Übersetzens Begriffen einen Sinngehalt geben zu können.

Neben diesen grundlegenden und eigentlich nicht verhandelbaren Voraussetzungen für Interventionen bedarf es sicher auch neuer Arbeitsprinzipien. Wenn vermieden werden soll, daß Maßnahmen stellvertretend für eine betroffene Gruppe geplant und durchgeführt werden, ist eine grundlegende Umkehr der Arbeitsperspektive einzufordern. Statt des Bildes, das sich der externe Beobachter von einer Situation macht, muß die Perspektive der Betroffenen als Bezugsrahmen für eventuelle Maßnahmen gewählt werden. Dabei gilt es zu prüfen, ob unsere Diagnostik und Lösungsmodelle mit jenen der Partner übereinstimmen, wo es Differenzen gibt und wie gegebenenfalls eine Synthese zustande kommen kann. Besteht keine Überein-stimmung, so darf ein Vorhaben zumindest nicht aus der Sichtweise des fremden „Experten“ durchgeführt werden Im Einzelfall kann eine für beide Seiten akzeptable Alternative gefunden werden. Nicht ausgeschlossen ist konsequenterweise, daß bei anhaltenden Differenzen auch ein zunächst als notwendig erachtetes Vorhaben nicht durchgeführt wird.

Grundsätzlich ist jede Planung daran zu messen, inwieweit es ihr gelingt, alle für die Abwicklung eines Vorhabens relevanten Positionen respektive Interessen als Arbeitsgrundlage zu nehmen und die beteiligten Gruppen und Individuen nach dem Grad ihrer Betroffenheit von Anbeginn an einzubeziehen. Daß hierbei eine sorgfältige Analyse der artikulierten Interessen und Wünsche notwendig ist und dieses auch keinen Eingriff in die Autonomie der Beteiligten darstellt, darf natürlich nicht verschwiegen werden. Schließlich läuft nicht jede von einflußreichen Persönlichkeiten geforderte Intervention automatisch auf den breitestmöglichen Nutzen aller Beteiligten hinaus.

Die Einbeziehung der Partner bei der Umsetzung von Entwicklungsprogrammen wird in der Praxis zumeist unter den Begriff der „Berücksichtigung sozio-kultureller Faktoren“ subsumiert. Seit einigen Jahren wird im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und in den beteiligten Durchführungsinstitutionen überlegt, wie diese Faktoren in der Praxis berücksichtigt werden können. Dabei gibt man einer Option den Vorzug, die lediglich auf eine Erweiterung der bisherigen Terms of Reference (ToR = Bezugspunkte, Fragestellungen etc.) für Planung, Implementierung und Evaluierung hinausläuft, ohne an den Verfahren selbst oder am Kreis der Beteiligten etwas zu ändern

In einem Rahmenkonzept des BMZ wurden drei „dominante sozio-kulturelle Faktoren“ definiert und durch eine Reihe von Unterpunkten konkretisiert. Die Institutionen der staatlichen technischen und finanziellen Zusammenarbeit haben das Rahmenkonzept an ihren spezifischen Bedarf angepaßt. Es ist nicht Aufgabe dieses Beitrages, die Diskussion um die sozio-kulturellen Faktoren detailliert fortzusetzen und jüngere Erfahrungen mit dem Ansatz erschöpfend zu analysieren. In der Praxis wurde jedoch offenkundig, daß das Rahmenkonzept zwar inhaltlich eine Reihe von Vorteilen gegenüber der früheren unsystematischen Erforschung oder gar der völligen Vernachlässigung der Kultur der Betroffenen zu bringen vermag, aber auch einer Reihe der oben genannten Anforderungen nicht entspricht.

So ändert das Rahmenkonzept absolut nichts am ungenügenden zeitlichen Rahmen für kulturorientierte Forschungen, der mit zwei bis höchstens drei Wochen vor Ort bereits zuweilen als „großzügig“ bemessen dargestellt wird. Ganz unberücksichtigt bleibt schließlich die Frage nach dem Einsatz eines adäquaten Personals und dessen Kommunikationsfähigkeit. Im Zweifelsfall bleiben Kultur-oder Sozialwissenschaftler von Planungsmissionen oder Projektfortschrittskontrollen doch ausgeschlossen, wenn angeblich beschränkte Mittel zu Einsparungen bei der Teamzusammenstellung führen. Die kulturbezogenen und damit schwierigsten Fragestellungen werden von den übrigen Fachkräften, zumeist Ökonomen und Techniker, nebenbei mit-bearbeitet.

Dabei bietet das Rahmenkonzept selbst auf der Grundlage seiner Aufbereitung für die Praxis absolut keinen Leitfaden für die nicht-kulturwissenschaftliche Fachkraft, wie dieses vom BMZ ursprünglich angestrebt wurde. Denn komplexe Fragen, z. B. „Welche Auswirkungen auf das Vorhaben und die Gesellschaft des Nehmerlandes sind im kulturell heterogenen Milieu durch die Wahl von Standort, Sektor und Träger zu erwarten?“ sind selbst für den regionalkundigen und befragungserfahrenen Ethnologen nur mit größtem Aufwand zu bearbeiten.

Eine erste Abhilfe wäre eine neue Qualifikationsbeschreibung für die entwicklungsbezogenen Fachkräfte. Ihre methodischen Kenntnisse, ihre regionalen Erfahrungen, die sprachlichen Fertigkeiten usw. wären dabei festzulegen. Je mehr die Fachkräfte den Anforderungen nach nicht nur sprachlicher Kommunikationsfähigkeit mit den „Zielgruppen“ entsprechen, desto wahrscheinlicher ist, daß sie die richtigen Informationen erfahren und daraus Schlüsse ziehen können. Es wäre kein Fehler, wenn auf diese Weise auch einheimisches Personal aus den betroffenen Ländern oder aus ihren Nachbarstaaten verstärkt zum Zuge käme.

Leitfäden, die Hinweise für eine bessere Kooperation zwischen den auf lange Zeit sicher ebenfalls benötigten ausländischen Fachkräften und der einheimischen Bevölkerung geben, sollten auch die Zugangsformen und Verhaltenserwartungen gegenüber der fremden Kultur thematisieren. Der Zugang in eine fremde Gesellschaft kann nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn er keine Furcht vor Ausnutzung oder Bevormundung durch den Ausländer aufkommen läßt. Empfehlungen der zumeist weit von den Interessen der Bevölkerung entfernt agierenden Regierung des Gastlandes sind oft schon eine erste Barriere, Begleitpersonen und Dolmetscher aus der zuweilen sogar verhaßten Hauptstadtkultur ein weiterer Filter, der oft jede Aussage der Betroffenen unbrauchbar und die Bildung von Vertrauen unmöglich macht. Auch im Bereich zwischenstaatlicher Kooperation muß dieser Gesichtspunkt berücksichtigt werden. Bekenntnisse wie: „Wir kommen aber nicht an einer engen Involvierung staatlicher Stellen vorbei“, können bereits die Erfolgsaussichten eines Hilfsprogramms erheblich in Frage stellen.

Der Zugang zu einer fremden Gesellschaft muß unter Bedingungen erfolgen, die den dort gültigen Verhaltenserwartungen entsprechen. Sogar Geschlecht und Alter der externen Fachkräfte können dabei eine wesentliche Rolle spielen. Beachtet werden müssen Kommunikationsregeln, die möglicherweise zunächst die persönliche Beziehung zu ordnen trachten und erst danach die Sache an sich zur Behandlung zulassen. Unter Zeitdruck stehende Interviewer werden schnell als unhöflich, grob und sogar sittenlos angesehen.

Geeignete empirische Methoden wie die teilnehmende/mobile Beobachtung, Tiefen-und Gruppeninterviews sind an anderer Stelle ausführlich dargestellt Gleichwohl sollten auch diese Methoden stärker an die genannten Arbeitsprinzipien und an die individuelle Situation angepaßt werden. Dieses gilt vor allem auch für die Datengewichtung. Unter Berücksichtigung der individuellen Interessenlage sollten alle gesammelten Daten einer Erhebung nach einem Raster ausgewertet werden, das die Rahmenumstände der Befragung/Aussage erfaßt, ob z. B. die Aussage in einer Situation individueller Entscheidungsfreiheit getroffen wurde, ob der Interviewpartner als Mitglied einer Funktionsgruppe, einer politischen, ökonomischen oder sozialen Gemeinschaft, z. B. afrikanischer Geheimbund, Dorfrat, Kaufmannsbund, einer beschränkten oder erweiterten, realen oder ideologischen Verwandtschaftsgruppe antwortete, ob die Aussage unter Gruppenzwang oder als Ergebnis einer Gruppenentscheidung erfolgte. Bekannt wurde einmal ein Fall aus Ostafrika, bei der ein Minister, der in der Hauptstadt höchstes Prestige genoß, in seinem Heimatdorf als relativ junger Mann, der dort geringeres Prestige genoß, Sachfragen völlig konträr zu seiner vormals als Minister vertretenen Meinung beantwortete.

Wichtig, aber bislang selten durchgeführt, ist, daß die Ergebnisse einer Erhebung den Befragten in ihrer Eigenschaft als einer vom geplanten Projekt tangierten Gruppe vorgelegt werden. Es ist völlig offen, ob die Interpretation der Daten durch die ausländischen Fachkräfte wirklich das zum Ausdruck bringt, was die Betroffenen mit ihren Aussagen gemeint haben. Die häufig praktizierte soge-nannte „Zielorientierte Projektplanung“ (ZOPP) ist in dieser Hinsicht ein völlig ungenügendes Mittel, weil nur selten Vertreter der betroffenen Bevölkerung unmittelbar an den Workshops teilnehmen. Es wird einiger Anstrengungen bedürfen, das unter Zugrundelegung der hier skizzierten Arbeitsprinzipien gesammelte Material in Entscheidungsvorlagen und Projektberichte umzuarbeiten. Prinzipiell stellt sich die Frage, ob die hier vor allem für die Planungsphase beschriebenen Interaktionsprinzipien zwischen ausländischen Fachleuten und betroffenen Gruppen und ihre Ergebnisse über-haupt in dem starren Schema von Durchführbarkeitsstudien, Aktionsplänen, Zwischenberichten und Prüfungspapieren untergebracht werden können, oder ob diese traditionell phasenbezogenen Dokumente nicht einer stärker prozeßorientierten Dokumentation weichen müssen. Konkret könnte das vielleicht bedeuten: Anstelle von dicken Be-richten, die jeweils nach langen Fristen, oft nach Jahren, vorgelegt werden, gibt es zumindest mit Aufnahme der Entwicklungsmaßnahme lediglich Protokolle, die laufend die Resultate der ständigen Kommunikation der Projektmitarbeiter mit der betroffenen Bevölkerung und ihren Repräsentanten wiedergeben.

IV. Ethische Prinzipien in der Praxis

Eine Entwicklungshilfe, die stärker auf die Partizipation der Betroffenen setzt, wird während jeder ihrer Interventionsphasen ethische Grundsätze beachten müssen. Bisher fehlen diese Grundsätze in verbindlicher Formulierung nahezu bei allen einschlägigen staatlichen wie privaten Institutionen völlig. Bedenkenswert sind daher Anregungen, die zunächst von Ethnologen für ihre eigene Beteiligung im Entwicklungsbereich aufgestellt wurden die mit einigem Recht jedoch auch für das gesamte Entwicklungshilfe-„Gewerbe" einzufordern sind und hier entsprechend generalisiert in Auszügen vorgestellt werden sollen.

Danach besteht die höchste Verantwortung einer jeden Entwicklungsfachkraft gegenüber den betroffenen Gruppen und nicht gegenüber dem Auftraggeber bei uns, wie es bisher sogar zumeist vertraglich bestimmt ist. Die selbstgewählten Lebensformen der Betroffenen sind zu respektieren und zu unterstützen. Ihre Rechte und Interessen, ihre Würde sowie ihre Privatsphäre sind zu wahren. Die betroffene Bevölkerung ist als Informant sorgfältig zu schützen, aus Datenbeschaffung und -Verwendung dürfen ihr keine Nachteile entstehen. Dieser Informantenschutz mag bei den staatlichen Partnern vielleicht zu Mißstimmungen führen. Je stärker diese jedoch sind, desto berechtigter dürfte der Ruf nach dem Schutz sein.

Für die betroffenen Gruppen muß wirkliche Partizipation in allen Phasen des Vorhabens gewährleistet sein. Darüber hinaus müssen ihnen von Anbeginn an alle absehbaren Konsequenzen eines etwaigen Vorhabens vermittelt werden. Lehnt dann eine Gruppe ein Vorhaben ab, so sollte von dem verantwortungsbewußten Experten auf Abänderung oder Einstellung hingewirkt werden. Das, was schon heute, aber leider nur formal, jeder Vertrag für den Auslandseinsatz von Fachkräften vorsieht, wird zur sittlichen Verpflichtung. Um die möglichen Konsequenzen eines Vorhabens absehen zu können, muß der Experte/Gutachter den gesamten gesellschaftlichen Kontext der Region, in der er arbeitet, in seine Untersuchungen einbeziehen. Die ebenfalls heute zumeist vertraglich gebotene Schweigepflicht des entsandten Experten darf nicht so interpretiert werden, daß erkannte Mißstände verschwiegen werden.

Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörungen etc. sollten in jedem Fall öffentlich gemacht werden, und ein verantwortungsbewußter Auftraggeber dürfte dies eigentlich nur unterstützen.

Wenn durch ein geplantes Entwicklungsvorhaben andere Gruppen in nicht vertretbarer Weise geschädigt werden und Alternativen nicht erarbeitet werden können, sollte die Mitarbeit an einem Vorhaben kategorisch verweigert werden. In letzter Konsequenz sollte sich jeder, der im Entwicklungsbereich tätig ist oder dies werden will, bewußt machen, daß berufliches und auch wissenschaftliches Weiterkommen eine Mißachtung derartiger ethischer Grundsätze nicht rechtfertigen darf.

V. Schlußfolgerungen

Die vielfach an den betroffenen Gruppen vorbeigehende Entwicklungshilfearbeit ist überall dort reformierbar, wo lediglich Fehler in der Methode und nicht andersgeartete politische und ökonomische Geberinteressen für mangelhafte Akzeptanz verantwortlich sind. Der Verfasser sieht als Kulturanthropologe die methodischen Mängel vor allem in den Kommunikationsdefiziten zwischen externen Helfern, den betroffenen Gruppen und dem institutioneilen Rahmen, innerhalb dessen sich die jeweilige Begegnung abspielt. Wenn unter Berücksichtigung einiger fundamentaler ethischer Grundsätze die Interaktion mit diesen Zielgruppen der Entwicklungshilfe verbessert werden könnte, so würde sich eine erhöhte Legitimation für eine Intervention und eine Akzeptanz der Mittel ergeben, die der Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände dieser Gruppen dienen können.

Im Hinblick vor allem auf die Planungsphase von Entwicklungsvorhaben sieht der Verfasser einen an den Erfordernissen orientierten Zeitrahmen sowie die sprachliche und kulturelle Kommunikationsfähigkeit der externen Helfer als Grundbedingung für die Anpassung einer neuen Methode. Auch die Umkehr der Perspektive von der externen Sichtweise zur Problemsicht der betroffenen Gruppen ist dafür unabdingbar. Ferner ist die Frage nach der tatsächlichen Notwendigkeit eines Vorhabens in jedem Einzelfall kritischer zu stellen.

Das Gerede vom übermäßigen Aufwand, vor allem den Kosten, wenn man alle diese detaillierten Arbeitsschritte in die Praxis umsetzen wollte, verkennt den eigentlichen Sinn von Entwicklungsvorhaben. Es geht bei der Masse der Programme nicht um die flächendeckende Übernahme von Sozial-aufgaben, die eigentlich dem Staat obliegen, sondern es geht entweder um das Beisteuern von einzelnen Komponenten dort, wo ohne diese Hilfe existentielle Probleme nicht gelöst werden können, oder um die Durchführung modellhafter Problemlösungsansätze, die danach möglichst ohne ausländische Hilfe vielerorts im betroffenen Land übernommen werden können. Jede andere Variante ist selbst bei Erfüllung eines 0, 7 oder 1, 0 BSP-Prozentzieles durch die internationalen „Geber“ utopisch und sicher nicht einmal wünschenswert. Unter diesen Voraussetzungen ist das Gesagte nicht als ultimo ratio und nicht einmal als vollständiger Katalog des Notwendigsten aufzufassen. Es ist vielmehr ein erster Ansatz, der um zahlreiche weitere Aspekte, die praktisch Handlungsanweisungen für das richtige Fachpersonal bedeuten, zu erweitern und je nach lokalem Bedarf zu modifizieren ist. Wer in der Entwicklungszusammenarbeit dann noch kulturelle Phänomene und Problemstellungen, die nicht in gängigen „Gutachterrichtlinien“ erfaßt und von den Terms of Reference abgedeckt sind, als unwichtig abtut, sollte sich einem anderen Aufgabenbereich zuwenden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die berechtigte Kritik an Details der alten (1980) wie der neuen (1986) Grundlinien darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre strengere Berücksichtigung vielen lediglich außenpolitisch oder wirtschaftspolitisch motivierten Vorhaben den sofortigen Garaus machen würde.

  2. Vgl. Lord Bauer, Entwicklungshilfe: Was steht auf dem Spiel?, in: Kieler Vorträge, gehalten im Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, NF 97, Tübingen 1982; Brigitte Erler, Tödliche Hilfe. Bericht von meiner letzten Dienstreise in Sachen Entwicklungshilfe, Freiburg 1985; Graham Hancock, Händler der Armut, München 1989.

  3. Vgl. z. B. die veröffentlichten regierungsoffiziellen Analysen von Projektprüfungen: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Hrsg.), „Aus Fehlern lernen“. Neun Jahre Erfolgskontrolle der Projektwirklichkeit, Bonn 1986 (jährliche Fortschreibung).

  4. Vgl. Uwe Simson, Kultur und Entwicklung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/86; Frank Bliss, Die kulturelle Dimension von Entwicklung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35/86; s. a. die grundlegende Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff bei Michael Schönhuth, Entwicklungsethnologie und der Kulturbegriff, in: Frank Bliss/Michael Schönhuth, Ethnologische Beiträge zur Entwicklungspolitik 2 (= Beiträge zur Kulturkunde 14), Bonn 1990, S. 13-31.

  5. Vgl. Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Anm. 3); Toni Hagen, Wege und Irrwege der Entwicklungshilfe, Zürich 1988; Graham Hancock, Händler der Armut, München 1989; sektorbezogen zur Umwelt z. B.: J. Bandyopadhyay/V. Shiva, Umweltschutzbewegungen und das herrschende Entwicklungsmodell, in: Jose Punnamparambil (Hrsg.), Umarme den Baum..., Unkel 1990, S. 21-52; Reinhard Behrend/Werner Paczian, Raubmord am Regenwald, Reinbek 1990, S. 104-122.

  6. Vgl. „Entwicklungsbegriff“, (Manuskript der) Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungsethnologie in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, 1988/89.

  7. Die von der Nord-Süd-Kommission immer wieder postulierten Aufstockungen der Etats der Entwicklungshilfe und die geforderte Erreichung des geradezu magischen 0, 7 Prozent-Zieles am Bruttosozialprodukt verkennen, daß Entwicklung im Sinne unserer Definition in den meisten Ländern eher ein Problem der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen als der Kapitalausstattung ist.

  8. Die Gabe und die Verpflichtung, sie zu erwidern, sind nach Ansicht von Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie II, Frankfurt 1978, S. 9-144, wesentliche Elemente auch der europäischen Gegenwartsgesellschaft.

  9. Vgl. ähnliche Schlußfolgerungen des Ethnologen Claus Euler für Nepal, zit. in: Frank Bliss, Zum Beispiel Entwicklungsprojekte, Göttingen 1990, S. 81-84.

  10. Die Ethnologie hat in der Vergangenheit möglicherweise zu häufig der alleinigen Position der betroffenen Gruppe Bedeutung beigemessen. Es existieren jedoch auch „globale Notwendigkeiten“ z. B.der Ökologie oder hinsichtlich der Wahrung essentieller Menschenrechte, die diese Positionen gegebenenfalls für die „Geber“ -Seite unakzeptabel machen.

  11. Vgl. Uwe Simson und die Gegenposition des Verfassers (Anm. 4).

  12. BMZ-Rahmenkonzept (Entwurf), Sozio-kulturelle Kriterien für Vorhaben der Entwicklungszusammenarbeit, Bonn 1988.

  13. Vgl. Rene König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1973, vor allem Bde. 2-4 der Taschenbuchausgabe.

  14. „Ethische Grundsätze“, (Manuskript der) Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungsethnologie in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, 1988/89.

Weitere Inhalte

Frank Bliss, Dr. phil. habil., geb. 1956; Studium der Ethnologie, Soziologie, Islamwissenschaften und des Völkerrechts; mehrjährige Feldforschung in Ägypten; zur Zeit freier Gutachter im Entwicklungsbereich und Privatdozent für Ethnologie am Seminar für Völkerkunde in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Zur Rolle der Frau in Nordafrika. Islamische Theorie und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bad Honnef 1986; The Cultural Dimension in West German Development Policy and the Contribution of Ethnology, in: Current Anthropology, 28 (1988) 6; (zus. mit J. M. Werobel-LaRochelle) Einfälle statt Abfälle. Recycling-Handwerk in Afrika und Asien, Bonn 1989.