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Zum Wohnungs-und Städtebau in den ostdeutschen Ländern | APuZ 29/1991 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 29/1991 Artikel 1 Integrieren statt zerstören. Für eine gemischtwirtschaftliche Strategie in den neuen Bundesländern Aktuelle Entwicklungen von Marktstrukturen in den neuen Bundesländern Zur Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern. Entwicklung und Perspektiven Zum Wohnungs-und Städtebau in den ostdeutschen Ländern Kann man mit DDR-Richtern einen Rechtsstaat machen?

Zum Wohnungs-und Städtebau in den ostdeutschen Ländern

Jürgen Rostock

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Architektur und Städtebau sind wesentliche materielle Ausprägungen der Kultur. Nach dem Verständnis des Autors ist auch der Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Gesellschaften ein wesentlich kultureller Vorgang; nur so verstanden, kann die Vereinigung gelingen. Es kann nachgewiesen werden, -daß die zerstörerische Baupolitik der DDR gegen vielfachen Widerstand von Planern und Architekten, aber auch von Künstlern und Schriftstellern gewaltsam durchgesetzt wurde, teilweise mit schlimmen Konsequenzen für die Oppositionellen. Deshalb dürfen Personen aus den ostdeutschen Ländern nicht -wie es jetzt häufig geschieht -pauschal ausgegrenzt werden; Differenzierung bei der Beurteilung von Personen und Sachverhalten tut not, sonst sind die machtbewußten Opportunisten wiederum in den Schlüsselstellungen. Eine pauschale Ausgrenzung der Planer und Architekten in den ostdeutschen Ländern ist auch deshalb gefährlich, weil gegenwärtig vielfach Grundstückspekulanten sich die Verfügung über ostdeutsche Grundstücke sichern und damit die ohnehin unterentwickelte Planung in den neuen Bundesländern weiter erschwert und behindert wird.

Ganz offenbar stößt das Zusammenleben der Deutschen auf unerwartete Schwierigkeiten. Waren sie aber wirklich so unerwartet? Was früher bei eher seltenen Treffen als exotisch und interessant galt, wird jetzt als fremd empfunden und abgewehrt. Wir müssen feststellen, daß sich die Kulturen auseinanderentwickelt haben. Kultur im umfassenden Sinn als die Art, wie in einer Gesellschaft die Menschen miteinander kommunizieren, welche Werte sie haben, wie sie produzieren oder wie sie ganz allgemein leben, sich selbst darstellen und andere sehen, ist unterschiedlich und nicht per Dekret gleichzuschalten. Wenn wir die Vereinigung als wesentlich kulturellen Vorgang, als Prozeß der kulturellen Akzeptanz und Annäherung verstehen und annehmen, wird der Vereinigungsprozeß für alle leichter zu überstehen sein. Vorausgesetzt, man akzeptiert einander, können Unterschiede ja durchaus produktiv sein.

Architektur und Städtebau sind eine wesentliche materielle Ausprägung der Kultur. Am Verfall der Städte hat sich in der DDR der Protest entzündet. Ein Verfall, der übrigens weniger wirtschaftlicher Ohnmacht entsprang als vielmehr politisches Programm war -Überwindung der alten Gesellschaft in ihrer Architektur durch neue sozialistische Wohngebiete. Stadt und Landschaft sind wesentlicher Bestandteil der Alltagskultur, gepflegte Städte bieten wirtschaftliches Stimulans. Gegenwärtig wird erwartet, daß in den neuen Bundesländern die Bauindustrie durch den Wiederaufbau der Städte und Industrien zum Motor und Index bei der Wiederbelebung des Arbeitsmarktes wird. Architektur und Städtebau sind daher exemplarisch für Probleme der kulturellen Vereinigung Deutschlands.

Nach Wilhelm von Humboldt hat keine Zukunft, wer die Geschichte nicht kennt. Geschichtsbewußtsein scheint gerade jetzt, am Wiederbeginn der gemeinsamen deutschen Geschichte, besonders vonnöten. Man traut sich ja kaum noch, Kritisches zur DDR-Vergangenheit aufzuschreiben.

Die einen, die sie durchlebt haben, wollen davon nichts mehr hören, sondern endlich mit dem „Leben anfangen“. Andere werden womöglich in pauschalen Vorbehalten gegenüber dem Osten bestärkt. Gerade aber die Baugeschichte der DDR, die Geschichte des Städteverfalls, beweist, daß man im Gegensatz zu den Behauptungen hochrangiger ehemaliger Blockparteien-Politiker durchaus bei der Beurteilung von Personen und Sachverhalten differenzieren muß. Zweifellos hat das DDR-Bauwesen ein Gutteil zum Scheitern des Systems beigetragen. Der erschreckende Zustand der Städte und Dörfer, der Infrastruktur und der Betriebe, der Wälder, Seen und Flüsse war ins allgemeine Bewußtsein gedrungen und hatte weit mehr Opposition erzeugt als etwa der Mangel an Konsumgü. tern. Gegen diesen Verfall der Umwelt -der städtischen wie der natürlichen -gab es schon früh Protest und Opposition. Ein historischer Exkurs ist notwendig, um heute zu adäquaten Beurteilungen von Personen und Sachverhalten zu kommen.

I. Zur DDR-Baugeschichte

Abb. 1: Entwicklung der durchschnittlichen Wohnfläche neugebauter Wohnungen in der DDR

Quelle: D. Bock/A. Gaube/M. Hahn/R. Hirsch/B. Hunger/P. Jacobs/G. Stiehler, Sozialräumliche Entwicklung der Städte und Siedlungen in der DDR nach 1990 aus soziologischer Sicht, Bauakademie der DDR, ISA, 1987.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, an die Architektur-Moderne der zwanziger Jahre anzuknüpfen, Hans Scharoun beispielsweise leitete den Wiederaufbau Berlins in den ersten Jahren. Es gab eine starke soziale Motivation -sonnige, komfortable, billige Wohnungen für alle. Dazu kam ein Überdruß am Bestand der alten Kultur bis hin zu den Gebäuden und führte zum Abriß von erhaltenswerter Bausubstanz -ein Überdruß gegenüber allen Formen aus dem Verlangen nach lange nicht stattgefundenem Neuen, aus der Abwendung von der gerade überstandenen Zeit des Krieges, der Unfreiheit und des Terrors. Soweit war es auch ein gesamteuropäisches Phänomen.

Danach begann in den osteuropäischen Ländern die zentrale Steuerung von Wirtschaft, Kultur und Politik. Sowjetische Formen der Kunst und Architektur wurden den „Volksdemokratien“ aufgezwungen. Die Vereinheitlichung und Industrialisierung des Bauens begann um das Jahr 1950 mit der Auflösung aller privaten Architektenbüros, Das kommunistische Informationsbüro für Koordinierung der Politik hatte schon im Juli 1948 kategorisch erklärt, daß es für die einzelnen Länder in Politik und Kultur keinen eigenen Weg geben könne. In den betroffenen Ländern begann damals eine großangelegte Kampagne gegen moderne Kunst und Architektur. In der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands eröffnete der gerade aus der Sowjetunion zurückgekehrte Architekt Kurt Liebknecht den ideologischen Feldzug: „Funktionalismus, Konstruktivismus, die Neue Sachlichkeit oder auch Bauhausstil genannt..., hat nichts mit wirklicher Kunst zu tun“, so im „Neuen Deutschland“ vom 13. Februar 1951; Lieb-knecht forderte „das Studium des Marxismus-Leninismus als Voraussetzung des Kampfes um eine neue Architektur“. Es wurde widersprochen. Der Schriftsteller Ludwig Renn im „Neuen Deutschland“ vom 14. März 1951: „Am anregendsten ist die Periode des Bauhauses. Wir können doch nicht diese vielleicht wichtigste Periode unserer deutschen Architekturgeschichte, die einzige Periode, in der Deutschland einen eigenen Stil schuf, einfach totschweigen.“

Der politische Druck setzte schließlich den „Sozialistischen Realismus“ in der Architektur durch. Selbst ursprünglich von der klassischen Moderne überzeugte, aber opportunistische und ehrgeizige Architekten wie Hermann Henselmann wurden zu Protagonisten der stalinistischen Architektur. Das bedeutete zunächst den Import des sowjetischen „Zuckerbäckerstils“ auch in die DDR. Dieser geriet nach dem Tode Stalins in Verruf und verschwand schließlich Mitte der fünfziger Jahre.

Nach einer Zwischenperiode des Experimentierens wurde mit der technologischen Monokultur „Plattenbau“ die Industrialisierung durchgesetzt; sie prägte ihre eigenen Erscheinungsformen. In der DDR, aber auch in anderen mittel-und osteuropäischen Ländern wurden landesweit einheitliche Plattenbausysteme verwendet; allerdings in der DDR mit bekannter deutscher Gründlichkeit: 95 Prozent des Wohnungsbaus sind Plattenbauten. Importiert wurden ebenso große wie primitive Plattenwerke, Baubetriebe wurden zu übergroßen Baukombinaten zusammengeschlossen. Die Parteikontrolle richtete sich allein auf Quantitäten; Qualitätsforderungen und der Einfluß der Architekten wurden mehr und mehr zurückgedrängt. Den populistischen Rahmen stellte das von Honnecker 1973 verkündete „Wohnungsbauprogramm der DDR" dar.

Der Wohnungsbau in den 15 DDR-Bezirken wurde in Kombinaten konzentriert und in einer Form industrialisiert, die im wesentlichen nur die Produktion gleichförmiger Gebäude -der „Erzeugnisse“ der Kombinate -zuließ. Die Plattenwerke produzierten, scheinbar unaufhaltsam, bis zur politischen Wende Ende 1989. Die technologische Monokultur Plattenbau entwickelte eine Eigendynamik, die keine alternative Technologie aufkommen ließ. Mit der Plattenbautechnologie wurden in allen Groß-und Mittelstädten der DDR randstädtische Wohngebiete gebaut, Schlafstädte ohne Kneipen, Geschäfte, Schwimmbäder, Kinos. Die Kapazität für die Reparatur älterer Gebäude war völlig unzureichend. Es fehlten und fehlen ausgebildeten Bauhandwerker, weil ganze Ausbildungsrichtungen wegrationalisiert wurden. Die Baukapazität war in den plattenverarbeitenden Betrieben gebunden; es gab Betonfacharbeiter, aber zu wenig Maurer, Zimmerleute, Dachdecker. Die meisten Ziegeleien waren stillgelegt. Die Substanz der älteren Wohngebäude verfiel. Sobald der Plattenbau in die Innenstädte kam, wirkte er sich noch zusätzlich verheerend aus: Die Baukombinate hatten das Bestreben und wurden, muß man gerechterweise hinzufügen, vom Ministerium auch dazu genötigt, nach Flächenabrissen ihre Erzeugnisse weiterzuproduzieren, mit zerstörerischen Konsequenzen für die gewachsenen Stadtstrukturen. Dies kann man sich leicht vorstellen, wenn man bedenkt, daß z. B. mit „Erzeugnissen“ gearbeitet wurde, die etwa 40 Meter lang und völlig ungegliedert waren.

Als man nach vielen Jahren wieder nach West-Berlin konnte, fiel am meisten der gepflegte Zustand auch der älteren Wohnhäuser auf. Welche Qualität des Wohnens, auch im Hinterhof! Welcher Kontrast zu unseren vernachlässigten, vielfach leerstehenden, zum Abriß vorbereiteten Altbauten. Die 1570 etwa sechs Millionen Wohnungen in der DDR stellten einen Wert von Hunderten von Milliarden Mark dar -und was bedeutet es, ökonomisch wie kulturell, solche Werte einfäch verfallen zu lassen: Es ist ganz schlicht ruinös.

Am Anfang, als die große, das Land überdeckende und Wohngebiete ausheckende Maschine installiert wurde, gab es wenig Spielraum für eine Opposition gegen diese Baupolitik. Es waren die Jahre nach dem Mauerbau; es herrschte aggressive Hexenjagdatmosphäre. In den Jahren 1962 bis 1964 wurden Schlüsselstellungen im Bauwesen mit verläßlichen Parteikadern besetzt, die ausnahmslos bis zur Wende 1989 in diesen Ämtern blieben: Wolfgang Junker als Minister, Gerhard Trölitzsch als Verantwortlicher im ZK der SED, Hubert Scholz im Bund der Architekten der DDR, Alfred Hoffmann als Leiter der Abteilung Theorie und Geschichte im Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie, Gerhard Krenz als Chefredakteur der einzigen Architekturzeitschrift der DDR. Architekten und Stadtplaner 'arbeiteten ausnahmslos in großen Büros der Kommunen und der Kombinate oder in der Bauakademie, unterstanden damit dem Ministerium für Bauwesen. Alles, was gedacht, geforscht, geplant und publiziert wurde, war unter Kontrolle. Dazu kam die technologische Zwangsjacke, die ohnehin kaum Varianten für das Bauen offenließ. Es ist deshalb müßig, nach den nichtrealisierten genialen Entwürfen und Planungen aus dieser Zeit zu suchen. Nicht nur die Bauausführung, sondern auch Planung und Entwurf unterlagen der Zensur. In der Öffentlichkeit wurde nur Affirmatives geduldet.

Immerhin gab man anfangs vor, die Regulationen eines Baumarktes, den es ja nicht mehr gab, und die Vielfalt kleiner Baubetriebe, die nicht mehr existierte, durch eine wissenschaftlich fundierte Bautechnologie in größen, zentralen Kombinaten zu ersetzen. In den Jahren 1969/70 wurde im Institut für Wohnungs-und Gesellschaftsbau der Bau-akademie im Auftrag des Ministeriums für Bauwesen eine „Wissenschaftlich-technische Konzeption für Geschoßbauten des Wohnungs-und Gesellschaftsbaus“ erarbeitet. In dieser Studie ließen es die Bearbeiter nicht bei Kostenvergleichen bewenden, sondern bezogen auch Qualitätskriterien -hinsichtlich der potentiellen Möglichkeiten der Bauweisen, Erfordernissen der Nutzung und der städtebaulichen Anwendung zu genügen -in die Bewertung ein. Schon nach den Kosten und erst recht nach den Qualitätsmaßstäben wurde damals die Großplattenbauweise im Vergleich mit anderen Bauweisen schlecht beurteilt. Immerhin war das die intensivste und umfangreichste Untersuchung -mehr als 40 Bearbeiter nennt der Abschlußbericht -, die zu diesem Thema vorgenommen wurde. Um so erstaunlicher ist es -und um so mehr zeigt sich die verächtliche Haltung der Parteipolitiker gegenüber jeglicher wissenschaftlicher, geistiger Arbeit -, daß das Ganze offensichtlich schon als Flop angelegt war. In der Einleitung des Abschlußberichtes der „Wissenschaftlichtechnischen Konzeption“, die ja immerhin die Unhaltbarkeit der Plattenbauweise belegt, schreibt eine ministerielle Vertrauensperson im geschwollenen Funktionärsstil: „Bei Beachtung der Zielstellung des 14. Plenums des ZK der SED... wird deutlich, daß im Perspektivzeitraum die derzeitigen Kennziffern zu verbessern sind. Damit wird im Wohnungsbau der 5-bis 11-geschoßhohe Bereich im Perspektivplanzeitraum und danach nahezu ausschließlich auf der Basis des WBS 70 (Code für die übliche Plattenbauserie, d. V.) zu lösen sein.“

Die vorgefaßte Baupolitik war nicht zu beeinflussen und hat Architektur und Städtebau in der DDR geprägt. Mit der Entscheidung für diese Baupolitik war alles programmiert: Die seelen-losen Trabantenstädte und der Städteverfall. Stadtplaner und Architekten hatten keinen Handlungsspielraum. Die Situation wurde verschärft durch strikte zentrale Festlegungen von Wohnungsgrößen, Ausstattung, Materialverbrauch und Kosten, die keine Variation in den einzelnen Städten zuließen. Ich erinnere mich an unsere Freunde aus dem West-Berliner Bund Deutscher Architekten (BDA), die Anfang der siebziger Jahre nach Dresden kamen und sich bei der Gelegenheit in einen gerade laufenden Architekturwettbewerb einmischen wollten, aber schnell davon Abstand nahmen, als sie merkten, welche Bindungen das Plattenbausystem mit sich bringt und wie wenig Möglichkeiten beim Entwurf übrig bleiben.

Diese Baupolitik hatte ihre schwerwiegenden ökonomischen und sozialen Konsequenzen. Die Charakterisierung des landesüblichen Wohnungsbaus als „sicher, warm und trocken“ war nicht ganz zutreffend, weil die Wärme bei schlechter Fugen-dichtung und unzureichender Wärmedämmung mit einem viel zu hohen Heizenergieverbrauch und damit mit erheblichen Umweltbelastungen bezahlt werden muß; aber „sicher, warm und trocken“ zu sein sind ja auch keine hinreichenden Eigenschaften von Wohngebäuden. Wesentliche Probleme liegen im Mangel an funktioneller Qualität, in zu geringen Wohnungsgrößen, in mangelhafter Ausstattung mit gesellschaftlichen Einrichtungen, im Fehlen architektonischen Ausdrucks, in unzulänglichem Städtebau. Die durchschnittliche Größe der neugebauten Wohnungen ist kontinuierlich vermindert worden (Abb. 1). Die Räume sind häufig so klein, daß sie nur in vorgegebener Weise möbliert werden können. Solche Wohnungen -und tendenziell hätte der Plattenbau das zur vorherrschenden, wenn nicht ausschließlichen Wohnform in der DDR gemacht -, in denen man wegen der mangelnden Bewegungsfreiheit nur fernsehen und schlafen kann, unterstützen die Tendenz, die Menschen zu entpersonifizieren. Der Mangel an sozialer Mannigfaltigkeit hat verheerende Wirkungen auf Kreativität, Individualität und humanistische Bildung der Gesellschaft.

Es gab Widerstand gegen die Baupolitik. Schon die lange Liste der Aussteiger unter den Architekten ist hierfür ein Zeichen. In dem DEFA-Film „Die Architekten“ von Peter Kahane und Thomas Knauf wird das so gezeigt: Als ein Architekt durch einen Glücksumstand etwas entwerfen und bauen soll, fährt er zu seinen ehemaligen Kommilitonen und findet Kellner, Archivare, Schäfer, Fotografen -jedenfalls kaum Architekten.

Die berufliche Katastrophe führte bei sensiblen oder depressiven Persönlichkeiten zu Suiziden. Hier soll des jungen Dresdener Architekten Michael Wiesenhütter (1960/1987) und des marxistischen Philosophen Lothar Kühne (1931/1985) gedacht werden. Kühne setzte sich in seinen letzten Lebensjahren vorwiegend mit dem Bauen und der Architektur philosophisch auseinander. Er schrieb in seinem letzten Buch: „... in der ästhetischen Bewältigung des industriellen Bauens und in der architektonischen Raumordnung zeigen sich ungelöste Probleme. Das Beklagen von Monotonie innerhalb unserer Architektur ist im Grunde nur eine sich ihres Inhalts nicht voll bewußte Äußerung von Unbehagen, dessen Ursachen weder durch die Künste des Malermeisters noch durch die friseurkünstlerischen des Architekten zu beheben sind. Architektur ist als Aufgabe gestellt. Und zugleich ist es gut, zu begreifen, daß bestimmte architektonische Lösungen von gesellschaftlichen Determinanten abhängen, die durch den Architekten allein nicht unmittelbar zu beeinflussen sind.“ Wiesenhütter und Kühne sind offenbar beide nicht mit den für sie existentiellen beruflichen Problemen fertiggeworden.

Auch Bernd Gronwald ging in den Freitod. Er war Vizepräsident der Bauakademie und Direktor des Instituts für Städtebau und Architektur -ein Mann, von dem ich den Eindruck hatte, daß er die DDR-Baupolitik grundsätzlich reformieren wollte, daß er aber auch auf tragische Art in den Apparat verstrickt war, die letztendlich zur Ohnmacht führte, trotz seiner nach außen einflußreich und mächtig erscheinenden Position. Im Herbst 1989 sollte eine Plenartagung der Bauakademie unter der Regie seines Institutes stattfinden, die er zur Plattform für eine Erneuerung der Baupolitik machen wollte. Nach sehr gründlichen und umfassenden Vorbereitungen wurde diese Veranstaltung durch den Minister abgesagt. Es war nicht möglich, die Erneuerung der Baupolitik -wie man jetzt weiß, in letzter Minute -einzuleiten, die Macht war zu borniert. Unerträglich für ihn muß es wohl auch gewesen sein, daß seine Gegenspieler und Feinde im Apparat, daß Exponenten der „Plattenbaumafia“ sich sehr wendig in der neuen politischen Landschaft zu „positionieren“ verstanden. Das Schicksal Bernd Gronwalds ist in all seiner Tragik sehr lehrreich, auch für den menschlichen Umgang im vereinigten Deutschland: Schematische, undifferenzierte Haltungen gegenüber Personen und Sachverhalten sind nicht sachdienlich, sondern u. U. zerstörerisch. Immer wieder wurde Kritik an der Baupolitik geübt. So auch von dem Architekten Christoph Weinhold im Fachblatt des Bundes der Architekten der DDR (BdA), Rostock: „Der Zustand der historischen Innenstädte von z. B. Görlitz, Bautzen, Güstrow, aber auch Stralsund, Greifswald und unserer (der Rostocker, d. V.) östlichen Altstadt macht mich betroffen. Das sind zwar nur Städte, die mir ans Herz gewachsen sind, doch sie sind symptomatisch... Es hat mich sehr verunsichert, daß ich wiederum von skandinavischen Architekten gefragt wurde, ob in der DDR Architekten ausgebildet werden. Zunächst wollte ich es als Arroganz abtun -aber man fahre ebenfalls mit der Bahn und zähle gestaltete Bauten, gleich welcher Art.“ Zur selben Zeit tönten Minister und Staatsrat: „... daß sich das Antlitz unserer Städte und Dörfer, besonders seit Beginn der achtziger Jahre, so tiefgreifend und dauerhaft zum Guten gewandelt hat.“

Hier wurde ein Widerspruch sichtbar, der in einer Diktatur niemals so geduldet wird. Das bekamen die beiden jungen Architekten Christian Enzmann und Bernd Ettel aus dem Institut für Städtebau und Architektur der Bauakademie zu spüren, die ausschließlich wegen eines -und das ist beispiellos -Architektur-Wettbewerbsentwurfs 1985 verhaftet, zu zwei bzw. drei Jahren Gefängnis verurteilt und anschließend „aus der Staatsbürgerschaft entlassen“ und aus dem Land gejagt wurden. Enzmann und Ettel gehören zu der jungen Generation, die auch im künstlerischen Bereich den repressiven Staat überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nahm bzw. ihn frontal anging. Ihre eigene Beschreibung eines Entwurfs zum städtebaulichen Wettbewerb Bersarinplatz in Ost-Berlin (1984) -die damals selbstverständlich so nicht abgeliefert wurde, sondern durch die Planunterlagen und Zeichnungen impliziert war und trotzdem schließlich zum Anlaß ihrer Verhaftung wurde -ist in diesem Zusammenhang von erheblichem Interesse und soll deshalb hier ausführlich zitiert werden:

„Der Entwurf legt in anschaulicher Weise den Konflikt zwischen dem Herrschaftsanspruch des Staates, einer Partei, der Diktatur einer Parteibürokratie einerseits, und der Unterdrückung des Individuums, politisch, geistig, kulturell und wirtschaftlich, andererseits auf mehreren Ebenen offen. Die vorgesehene Platzanlage wird geteilt. Entlang der Bersarinstraße entsteht ein repräsentativer Straßenraum. Die straßenbegleitende Bebauung wird mit Normaltypen aus dem Großplattenbausortiment unter Berücksichtigung höchster Ökonomie erstellt, um die fatalen Konsequenzen sozialistischer Baupolitik, die Stadtzerstörung bewirken, darzustellen. Da die schematisierten und genormten Fassaden keinen Bezug zur Ortstypik zulassen (Gründerzeitbebauung), wird eine Kulissenfassade, die im Abstand zu den Fassaden montiert werden soll, vorgeschlagen. Somit suggerieren die Potemkinschen Fassaden einen Ortsbezug, der real nicht vorhanden ist. Der Stadtraum wird als Kulisse, als Straße der Repräsentation und Demonstration des Machtapparates vorgeführt. Hier finden offizielle Aufmärsche, bestellte Demonstrationen, Maiparaden statt. Es wird ein Gefühl der Geschlossenheit, ein verordneter kollektiver Frieden interpretiert. Fahnenmonumente am Anfang und Ende des Aufmarschraumes unterschreichen und Überhöhen den angestrebten Charakter. Hinter dem Straßenraum eröffnet eine halbkreisförmige Erweiterung die Möglichkeit, individuellen Gruppen die Chance zu geben, ihre Vorstellung von innerem und individuellem Frieden abseits des Repräsentationsraums zu äußern. Die Verfasser schlagen vor, den desolaten Zustand der Bausubstanz als realen Bestand zu konservieren, die Brandfassaden abzunehmen und die sich in den Freiraum öffnenden Zellen kritischen Künstlern für Äußerungen zum Thema Individueller Frieden zur Verfügung zu stellen. Aufschüttungen, Mauerreste und Elemente der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts, aufgestellt in den zulaufenden Straßenachsen, vermitteln den vernachlässigten Zustand abseits von den Repräsentationsachsen. Höhepunkt bildet ein Kunstobjekt Ikarus-Aug, eine Inszenierung für individuellen und persönlichen Frieden und Selbstbestimmung in der DDR, den die Staatsdoktrin und der kontrollierende Machtapparat autonomen Gruppen verweigert. Von einer Plattform aus kann jeder seinen Flug in die Freiheit versuchen. Am großen Tor, das zu durchfliegen ist, trifft ihn die staatliche Gewalt, symbolisiert durch Laserkanonen. Der Flugapparat wird zerstört, der Flug in die Freiheit verhindert, das Subjekt stürzt in die Tiefe, taucht in einen geschlossenen Zylinder und somit wird der Zusammenbruch dem Auge des Betrachters entzogen. Auf umliegend errichteten Tribünen kann dieses Schauspiel täglich von jedermann verfolgt werden. Ein Wassergraben zwischen Tribüne und Zylinder verhindert ein persönliches Eingreifen in den Vorgang. Die persönliche Freiheit und Entfaltung war in der DDR einer zentralen Überwachung, eineranonymen Kollektivität, dem erzwungenen Beitritt zu gesellschaftlichen Organisationen ausgesetzt, um den verordneten Grad der Unterwürfigkeit zu garantieren. Am Beispiel der Freiflächen haben wir schematisierte Regeln einer anonymen Städtebauforschung stellvertretend zum Anlaß genommen, diesen Überwachungsstaat als Diktatur zu benennen. Jeder hat das Recht, per Gesetz seine individuelle Freiheit auf einer zugesicherten Fläche in Anspruch zu nehmen. Diese scheinbare Individualität des einzelnen wird aber sofort eingemauert, reglementiert, überwacht und bei Gefahr zerstört. Das ganze Areal ist in ein System von Hierarchien gegliedert. Die Mauerquadrate werden in Gruppen zusammengefaßt. An den Kreuzungspunkten der Gruppen stehen Türme als Symbole des Überwachungsapparates. Überwachungsstaat total. Eingriffe in die Individualität, allgegenwärtig, täglich, überall. Imaginäre Mauerquadrate begleiten uns auf unserem Lebensweg. 50 Meter vor der realen Mauer wurden wir verhaftet.“

Solches real existierende Widersprechen hatte kaum Chancen, die Öffentlichkeit zu erreichen, zumal der Fachbereich des Ministeriums für Bau-wesen exemplarisch repressiv, besonders kontrolliert und dogmatisch ausgebildet war. Moderater, aber von der Macht doch als erhebliche Störung empfunden, waren kritische Äußerungen in einer begrenzten Fachöffentlichkeit. In der Zeitschrift „Architektur der DDR“ stand unter dem Titel „ 12 Thesen zum innerstädtischen Bauen“ ein Aufruf des Architekturtheoretikers Olaf Weber, nun wenigstens beim Bauen in den Innenstädten den „Maßstab des Menschen" zu achten: „Der Begriff . Maßstab’ bezieht sich aber weniger auf ein Größenverhältnis als auf eine strukturelle Qualität, in der die Verhältnisse von Einheit und Vielfalt... enthalten sind. Mit diesen Struktureigenschaften versehen, kann sich moderne Architektur inmitten der alten Städte sehr selbstbewußt entwickeln. Sie erlaubt es dem Architekten, seine Ideen und Ausdrucksweisen in ihr unterzubringen, so daß sie ihrerseits dem Publikum gegenüber Prägnanz und Ausstrahlung besitzt. Ihre Ähnlichkeit mit der historischen Architektur gründet sich nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf die gleicherweise intensiven Korrelationen zu den jeweiligen Lebensprozessen, es ist eine Ähnlichkeit im Lebendigen.“ Dem sehr hellhörigen DDR-Leser blieb es Vorbehalten, das Gebaute an Webers Thesen zu messen, und heute ist schon nicht mehr glaubhaft, daß dieser Aufsatz im Ministerium Wutausbrüche hervorgerufen hat.

Ein anderer Architekturkritiker, Bruno Flierl, wurde 1964 als Chefredakteur der „Deutschen Architektur“ abgelöst und reglementiert. Nach langer Tätigkeit an der Bauakademie wurde er von dort vergrault und 1982 auch seiner Stellung als Leiter der Arbeitsgruppe „Architektur und Bildende Kunst“ des Verbandes Bildender Künstler und des Bundes der Architekten der DDR enthoben. Auf dem 13. Seminar dieser Arbeitsgruppe im November 1981 hielt er das Hauptreferat über „Architektur im Prozeß komplexer Umweltgestaltung -Raumangebot und Informationsgehalt.“ In diesem Vortrag, der in kleiner Auflage publiziert wurde ist eine Beurteilung der architektonischen Qualität des industriellen Wohnungsbaus der DDR enthalten: „Nun erleben wir seit zwei Jahrzehnten, wie außerordentlich schwer es ist, der Architektur unter den Bedingungen des industriellen Bauens im Zustand archaischer Frühzeit und unter dem Primat ökonomischer Effektivität im Zustand des Mangels kulturvolle Qualität des Ausdrucks und der Widerspiegelung zu verleihen. Wie in anderen Ländern wächst auch bei uns der Überdruß an Produkten ästhetischer Selbstdarstellung von Technik und Ökonomie, die dem Menschen wenig Heimat schaffen helfen. Da kann die bildende Kunst nicht ersetzen, was die Architektur nicht selbst anbietet. Man kann nicht bildkünstlerisch reden, wenn die Steine schweigen! Wir wissen, daß wir die von uns angestrebte Beheimatung des Menschen in der gebauten Umwelt sowohl aus Gründen noch unzureichender Reife gesellschaftlicher Lebensprozesse, gesellschaftlicher Verhältnisse und Verhaltensweisen der Menschen nicht so verwirklichen könnnen, wie wir das gerne möchten. Aber deshalb dürfen wir meiner Auffassung nach den gegenwärtigen Stand nicht einfach akzeptieren und nur schöner machen wollen -also den Status quo aufhübschen und bekunsten -anstatt darüber zu streiten, wie und wann wir ihn verändern wollen, um zu entwickelteren Zuständen zu gelangen.“ In einer Expertise „Zum innerstädtischen Bauen im Bezirk Leipzig“ vom Bund der Architekten, Bezirksgruppe Leipzig, ist von guten Beispielen die Rede: Greifswalder Innenstadt, Halle Brunoswarte, Gera-Stadtzentrum, Teile der Rostocker Innenstadt. Hier heißt es: „Die Mehrzahl der guten Beispiele verdanken ihre Existenz kaum der vorhandenen Organisationsstruktur unseres Bau-wesens. Sie sind zu stark von Zufällen und persönlichen Verquickungen einzeln wirkender Autoritäten abhängig. Insgesamt gesehen lassen sich die guten Beispiele nicht verallgemeinern. Bezogen auf den Durchschnitt der Gesamtbauproduktion sind die positiven Beispiele nicht repräsentativ, denn: Alle Städte in der DDR bewältigen die Reproduktion ihrer baulichen Substanz nicht. Ortsspezifika werden durch Erzeugnisse verwischt. Klein-und Mittelstädte sind dadurch besonders gefährdet. Die Arbeit der Architekten spielt letztlich eine untergeordnete Rolle.“ Die Expertise kommt zu dem Schluß, „daß Änderungen in der Organisationsstruktur und den Verantwortungsbereichen die hauptsächlichen Bedingungen sind, um eine gesteigerte soziale Qualität des Bauens zu erzielen.“

Kritische Kunst und Literatur hatten sich stellvertretend für die Architekten der Architektur und der Baupolitik angenommen -sehr zum Ärger des Apparates. Künstler und Schriftsteller haben den Stadtverfall als kulturellen Verfall erkannt und thematisiert; so Brigitte Reimann in ihrem Architekten-Roman „Franziska Linkerhand“: „Was Sie hier sehen, meine junge Freundin, ist die Bankrotterklärung der Architektur. Häuser werden nicht mehr gebaut, sondern produziert wie beliebige Ware, und an die Stelle des Architekten ist der Ingenieur getreten.“ Sarkastisch der Schriftsteller Lutz Rathenow im Sommer 1989: „Ansonsten ist für alles gesorgt. Fertigteilhäuser, standardisierte Spielplätze, Dienstleistungseinrichtungen, Gaststätten. Bevölkerungs-Intensivhaltung. Nur Leichencontainer fehlen, der praktische Friedhof im Keller, um Energie beim Abtransport zu sparen. Ob es für Neubauten konzipierte Friedhöfe geben wird? Ich kenne zwei, die hierherzogen. Einer will weg und einem gefällt es. Ich sehe im Adreßbuch nach, viermal frage ich nach ihren Straßen. Dann frage ich nicht mehr. Der vierte antwortete lachend: , Bin froh, wenn ich selbst nach Hause finde. *“

Auch viele bildende Künstler und Fotografen haben sich des Themas angenommen. Um nur einige zu nennen: Manfred Butzmann, Andreas Dress, Konstanze Göbel, Harald Hauswald, Martin Hoffmann, Joseph W. Huber, Konrad Knebel, Eva Mahn, Helga Paris, Manfred Paul, Uwe Pfeifer, Günther Starke, Claus Weidensdorfer, Werner Wittig, Franz Zadnicek. Ihre Bilder zeigen einerseits die Schönheit der verfallenden alten Stadtteile, andererseits die Konfrontation mit der neu-gebauten Öde. Künstler haben den Stadtverfall als kulturellen Verfall erkannt, in Kunstwerken thematisiert und daraus Kraft und Legitimation geschöpft. Das bedeutete unter den politischen Bedingungen der DDR auch: Das Thema in die Öffentlichkeit tragen, Bewußtmachen, Politisieren, Konfrontation mit der Staatsmacht. Ausstellungseröffnungen oder Lesungen in den siebziger und achtziger Jahren in Dresden, Leipzig, Karl-Marx-Stadt und Ost-Berlin waren mit ihrer fiebrigen Atmosphäre, ihrem Gedränge, der gespannten Aufmerksamkeit, dem Gefühl der Solidarität und Bedrohung immer auch politische Ereignisse -in keiner Weise verwandt den modischen Vernissagen des westlichen Kunstmarktes.

Die Fehlentwicklungen im ostdeutschen Bauwesen sind gegen den Widerstand der Gesellschaft und auch der Fachwelt durchgesetzt worden. Gab es genug Widerstand? In einem offenen Brief schrieb der Architektur-Professor Harald Linke aus Dresden 1990: „In unzulässiger Weise hat ein inkompetenter Minister über einen willfährigen Präsidenten den BdA zum willenlosen Instrument seiner selbstherrlichen Politik gegen Qualität und für Quantität im Bauwesen degradiert -die Folgen sind in unseren Städten sichtbar und auch wir Architekten haben daran Schuld: Wir haben uns nicht energisch genug widersetzt.“

II. Zur Situation in den neuen Bundesländern

Abb. 2: Städtebaulicher Wettbewerb für das Zentrum Berlin-Hellersdorf. Entwurfvon Prof. Rainer Emst und B. Multhaup: Konzentrierte Dichte im Zentrum der Plattenbau-Siedlung erzeugt Urbanität

Jetzt geht es darum, die entstandene Misere zu überwinden -die Wende in den ostdeutschen Städ-ten herbeizuführen, die historische Bausubstanz zu retten, die Städte und Regionen wiederzubeleben. Die gesetzlichen Grundlagen, insbesondere das Baugesetzbuch, gelten ab 3. Oktober 1990 auch in den neuen Bundesländern. Diese umfangreichen Gesetzeswerke anzunehmen und anzuwenden kann erst allmählich gelingen, auch in den alten Bundesländern war das ein jahrelanger Prozeß. Vor allem im Baugesetzbuch sind die Regeln der demokratischen Entscheidungen im Planungsprozeß, die Beteiligung der Bürger und der Vertreter öffentlicher Belange, niedergelegt. Diese Aspekte der Baugesetzgebung werden aber häufig aus Unkenntnis oder aber aus vermeintlich beschäftigungspolitischen Notwendigkeiten übersehen. Die Notwendigkeit eines Planungsvorlaufs wird häufig nicht zur Kenntnis genommen, so daß der erforderliche Aufwand und die Zeiträume für eine geordnete bauliche Entwicklung der Kommunen nicht eingeräumt werden.

Immer wieder kommen von Kollegen aus den alten Bundesländern Warnungen, die Planungsfehler, die im Westen gemacht wurden und werden, im Osten nicht zu wiederholen: Zu viel Individualverkehr, zu wenig Ökologie, das Überwiegen des Einflusses von finanzkräftigen Investoren gegenüber den Planungsinstanzen. Im Juli 1990 fand in Dresden ein west-östlicher Architekten-Workshop statt. Der Initiator, der Hamburger Architekt Prof. Meinhard von Gerkan, sagte in einem Interview: „Die Hoffnung, die sich in Ostdeutschland an den Begriff der freien Marktwirtschaft bindet, ist in bezug auf Städtebau und Architektur völlig fehlgeleitet. Dort glaubt man nämlich, man braucht nur die Investoren aus dem Westen und die lösen alle Probleme gut und richtig, ohne die Profitinteressen dahinter auch nur zu erahnen. Die Maximierung der Grundstücksausnutzungen wird zu einem Kriegsschauplatz ohne städtebauliche Regeln entarten, gerade weil eine vorgeschaltete Stadtplanung bisher administrativ gar nicht existiert. Der Mangel an qualifizierten Leuten, die das leisten könnten, aber auch die Undeutlichkeit der politischen Ziele überhaupt wird dem Mechanismus aus Grundstückserwerb und Grundstücks-verwertung nicht standhalten können. Daraus entwickelt sich eine gewaltige Divergenz von Anspruch und Realität.“ Allerdings haben Spitzenpolitiker das Ihre dazu beigetragen, blinden Glauben an das Allheilmittel des freien Marktes zu verbreiten, ohne die Notwendigkeit von starken Planungsinstanzen als Gegenspieler in den Kommunen auch nur zu erwähnen. Die „Windhunde“ haben also leichtes Spiel.

In der „Zeit“ wurde einiges dazu aus Brandenburg und Halle dokumentiert Vielleicht mit Ausnahme von Bitterfeld und Espenhain ist das überall in den neuen Ländern so. Wenn man sich zum Beispiel auf Rügen -der größten deutschen Insel, ein Natur-und Ferienparadies -umsieht, stößt man auf allerlei Ungereimtheiten. Ein Steuerberater aus der Gegend von Köln baut sich im Natur-schutzgebiet ein Haus und geht dann in seiner eigenen Rügen-Zeitung sehr hemdsärmlich gegen ein Mitglied des Landesparlaments vor, als dieses einen Baustopp erwirkt hatte. Allein Genehmigungen für 38 Golfplätze auf Rügen wurden beantragt. Immer wieder geht es auch um Bodenspekulationen. Die Geschichte der DDR hatte zu einer gelassenen Haltung der Leute zum Eigentum an Boden geführt. Diese Tatsache wird nun teilweise ausgenutzt. Ein anderes Beispiel: In Holland hatte die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg massenhaft Grundstücke enteignet. Die Holländer nutzten nach dem Krieg den Status quo und überführten den enteigneten Grundbesitz in Gemeindeeigentum -offenbar ließ sich darüber ein Konsens herstellen -und haben damit aus der Not eine Tugend gemacht; Stadtplanung wird sehr erleichtert, wenn man sich nicht mit Besitzverhältnissen herumschlagen muß.

In den ostdeutschen Ländern existiert eine gravierende Unterbesetzung bei den Stadtplanungsämtern; sie macht nur ca. ein Viertel des in den alten Bundesländern eingesetzten Personals aus. Durch diesen Personalmangel und das Fehlen einer tradierten Planungskultur können Spekulanten immer mehr durch Druck in den kleinen Gemeinden die Entwicklung der Kommunen beeinflussen und prägen -nicht immer zum Vorteil der Kommunen und des Landes.

Der beklagten Unterbesetzung, dem Mangel an Fachleuten, steht eine völlig undifferenzierte Ausgrenzung von Fachleuten aus dem Osten gegenüber. Pauschalurteile lassen sie allesamt als unfähig und nicht mehr einsetzbar erscheinen. Ein sehr viel differenzierteres Herangehen bei der Beurteilung von Personen und Sachverhalten wäre erforderlich. Die gegenwärtig zu beobachtende pauschale Handhabung ist letztendlich ein wesentliches kulturelles Problem der Vereinigung. Ein ostdeutscher Bischof schrieb dazu dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt: „Es wird uns zugemutet, dauernd nur zuzuhören. Dauernd wird uns suggeriert, wir könnten nichts und hätten alles falsch gemacht. Ausschließlich wir seien es, die etwas zu lernen haben; denn alle unsere Erfahrungen gehörten auf den Müllhaufen. Es lohnt sich offenbar nicht hinzuhören, wenn auch wir etwas sagen. Aber wir können diese permanente Besserwisserei und die demütigende Behandlung als unmündige Versager nicht verkraften.“ Es gibt einen erheblichen Bedarf an kommunaler und regionaler Planung in den ostdeutschen Ländern. Es wird notwendig sein, regionale Entwicklungsgesellschaften zu gründen und mit Planungskompetenz auszustatten, nicht um die kommunalen Entscheidungsbefugnisse einzuschränken, sondern um ein Gegengewicht zu den divergierenden „ 100000-Kirchturmentscheidungen“ zu schaffen und den Planungsbedarf der Regionen zu berücksichtigen. Der Planungsbedarf ist gewaltig, und es entstehen viele neuartige und schwierige Probleme -ganz besonders im Großraum Berlin, wo die beiden Systeme ganz direkt und hautnah aufeinandertreffen.

Die Stadtplanerin Helga Fassbinder hat dazu bei einem Seminar in der Berliner Französischen Friedrichstadtkirche im September 1990 in ihrem Vortrag „Demokratisch Planen -Aufgaben und Erfahrungen“ einen fruchtbaren Anstoß gegeben. Sie sprach über das holländische Modell der Problembewältigung; Holland hat bekanntlich eine lange Erfahrung in demokratischen Entscheidungsprozessen. Seit fast tausend Jahren gab es wegen der Bedrohung durch das Meer und durch Eroberer die Notwendigkeit, sich zu verständigen und freiwillig etwas gemeinsam zu machen. Diese Erfahrungen führten über die Jahrhunderte zu einer politischen Kultur, in der „Herstellung von Konsens und Kompromiß als höchste soziale Kunst“ gelten. Die parlamentarische Demokratie funktioniert wie in Deutschland. Daneben gibt es aber, so Frau Fassbinder, „eine wichtige Feinstruktur“ der Demokratie, nämlich „eine Vielzahl von Kommissionen und Beiräten, die zum Teil als feste, zum Teil als zeitweilige Einrichtungen für alle Bereiche und für alle anstehenden größeren Aufgaben bestehen.“ Die Beiräte beraten die Regierung oder andere Entscheidungsträger und sind paritätisch besetzt mit Interessengruppen, Betroffenen und Beteiligten. Der Vorsitzende ist jeweils eine Person, die -selbst nicht stimmberechtigt -die Fähigkeit besitzt, auszugleichen, Konsens zu stiften, zusammenzufassen. Die Empfehlungen sind deshalb sehr ausgewogen und werden von den Entscheidungsträgern in der Regel akzeptiert. „Auf diese Weise werden praktisch alle wichtigen oder konfliktträchtigen Entscheidungen ausführlich gesellschaftlich abgestimmt.“

Diese Anregung wurde aufgegriffen: Eine Gruppe von Berliner Planern hat sie zusammen mit Frau Fassbinder an Berliner Politiker herangetragen.

Senator Volker Hassemer hat daraufhin das Berliner Stadtforum begründet, das ca. 60 Fachleute und vom Berliner Planungsgeschehen exemplarisch Betroffene zu einem Gremium zusammengefaßt, das immer mehr an Bedeutung für die Planungen in Berlin und auch im Land Brandenburg gewinnt. Ich meine, daß das ein prägnantes Beispiel für eine demokratische und europäische Denk-und Handlungsweise ist.

Insbesondere zwei große Aufgaben stehen vor den Architekten, Planern und der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern: Die Rekonstruktion und Revitalisierung der alten Stadtgebiete und gleichermaßen die Umgestaltung der Neubauwohngebiete. Für die Förderung der Rekonstruktion der alten Städte erscheint eine entsprechende Stiftung eine geeignete Rechtsform zu sein. Eine solche Stiftung hatte zum Beispiel Bundesminister Möllemann im September 1990 in Leipzig öffentlich vorgeschlagen. Planer und Architekten aus den neuen Bundesländern hatten eine solche Stiftung in Erwartung von zugesagten Projekt-Mitteln des letzten DDR-Bauministeriums noch im gleichen Monat angemeldet. Bedauerlicherweise wird die erwartete Finanzierung durch das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau bis heute blockiert und die angemeldete Stiftung auch sonst nicht arbeitsfähig gemacht. Zu häufig werden die vorgeblich erwarteten Initiativen aus den neuen Ländern bürokratisch be-und verhindert. Die Umgestaltung der Platten-Neubau-Wohngebiete, die überall in den Großstädten der ostdeutschen Länder zu finden sind, wird sicher geraume Zeit in Anspruch nehmen. Insbesondere die soziale Aufwertung ist notwendig, ähnlich wie es auch im Märkischen Viertel West-Berlins erfolgte. Den Beginn dieses Prozesses stellte der Architektur-wettbewerb zum Zentrum Berlin-Hellersdorf dar. Hellersdorf, das östlichste Berliner Wohngebiet für bisher 110000 Einwohner hat gegenwärtig eine zu geringe Ausstattung mit Einrichtungen des Handels, der Gastronomie und der Kultur. Eine 20 Hektar große Fläche wurde für das Stadtzentrum freigehalten. Besonders interessant erscheint mir der mit dem 5. Preis bedachte Entwurf (Prof. Rainer Ernst, B. Multhaup), der einen starken Kontrast in Dichte, Orientierung und Struktur zu der im Wohngebiet vorhandenen Bebauung aufweist (Abb. 2).

Persönlichkeiten aus den alten Bundesländern drückten ihre Erwartung aus, daß im Zusammenhang mit dem Neubeginn in den neuen Ländern wesentliche gesellschaftliche, rechtliche, vielleicht auch moralische Nonnen im geeinten Deutschland verbessert werden könnten -eine Entwicklung neuer kultureller Paradigmen, komplexer, ökologischer und sozialer. Diese Hoffnungen scheinen zu scheitern, weil eine vornehmlich an Wahltaktik und Parteienkonkurrenz orientierte Politik dafür nicht geeignet ist.

Notwendig ist eine im weiten Sinn kulturelle Orientierung der Politik; Verwaltungsakte und Routine greifen in dieser Situation nicht mehr. Werden wir dazu fähig sein? Auch die Menschen der östlichen Bundesländer müssen darauf Einfluß nehmen können, müssen gleichberechtigte Partner bei der Formung der gemeinsamen deutschen Zukunft sein.

Die Schwierigkeiten des Städtebaus in den ostdeutschen Ländern sind im Grunde dieselben, die auch in anderen Bereichen des Vereinigungsprozesses auftreten. Die Situation lockt weniger seriöse Investoren als vielmehr windige Geschäftemacher an, und das sind einfach keine guten Referenzen für eine freiheitliche, demokratische Gesellschaft. Die Situation ist auch so neuartig, daß Gesetze und Verwaltungsfachleute, die in den westdeutschen Ländern durchaus effizient sein können, in den ostdeutschen Bundesländern nicht wirksam werden. Das Hauptproblem scheint mir aber im Psychologischen zu liegen. Nur eine Annäherung, ein Aufeinanderzugehen von beiden Seiten, nur eine im weitesten Sinn kulturorientierte Politik bietet die Chance einer kulturellen, geistigen und emotionalen Integration der beiden Teile unseres Volkes.

Fussnoten

Fußnoten

  1. WTK Leichte Bauweisen für Geschoßbauten des Wohnungs-und Gesellschaftsbaus, Deutsche Bauakademie, Institut für Wohnungs-und Gesellschaftsbau, Februar 1971, S. 3.

  2. Lothar Kühne, Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden 1985, S. 15.

  3. Christoph Weinhold, Quo vadis BdA Rostock?, in: Informationsblatt des Bundes der Architekten der DDR, Bezirks-gruppe Rostock, (1988) 23, S. 5.

  4. Erich Honnecker, Mit dem Blick auf den XII. Parteitag die Aufgaben der Gegenwart lösen, in: Neues Deutschland vom 2. 12. 1988.

  5. Christian Enzmann/Bemd Ettel, Bersarinplatz, Ostberlin, Städtebaulicher Wettbewerb, in: ARCH+, (1990) 103, S. 64f.

  6. Olaf Weber, 12 Thesen zum innerstädtischen Bauen, in: Architektur der DDR, 34 (1985) 8, S. 493.

  7. Vgl. Bruno Flierl, Architektur im Prozeß komplexer Umweltgestaltung -Raumangebot und Informationsgehalt, in: Architektur und Bildende Kunst, (1981), 4, S. 16.

  8. Steffen Greiner/Stefan Homilius/Stephan Riedel, Expertise zum innerstädtischen Bauen im Bezirk Leipzig, BdA, Bezirksgruppe Leipzig, November 1987, S. 3.

  9. Lutz Rathenow, Stadtgestaltung in Ostberlin, in: Der Architekt, (1989) 10, S. 510.

  10. Harald Linke, Offener Brief, in: Architektur der DDR, 39(1990) 2, S. 2.

  11. Ostdeutschland: Architektur im Aufbruch?, in: Deutsche Bauzeitschrift, (1990) 11, S. 1539.

  12. Kuno Kruse/Reiner Scholz, Die Absahner, in: Die Zeit, vom 24. 5. 1991, S. 11-14.

  13. Helmut Schmidt, Uns Deutsche kann der Teufel holen, in: Die Zeit vom 17. 5. 1991, S. 3.

  14. Helga Fassbinder, Demokratisch Planen -Aufgaben und Erfahrungen, unveröffentlichtes Manuskript, 1990.

Weitere Inhalte

Jürgen Rostock: Dr. ing., geb. 1936; 1968 bis 1990 wiss. Mitarbeiter am Institut für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie, später „Bauakademie der DDR“. Veröffentlichungen u. a.: Stadtgestaltung und Computer, Dresden 1985; Demokratische Planung für Berlin, in: Forum für ökologischen Stadtumbau, (1990) 7.