Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Naturrechtliche Begründung der Umweltethik? | APuZ 33/1991 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 33/1991 Die Naturrechtsdiskussion in der Rechts-und Staatsphilosophie der Nachkriegszeit Naturrecht in der pluralistischen Demokratie? Zur Frage des Naturrechts im Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention Naturrechtliche Begründung der Umweltethik?

Naturrechtliche Begründung der Umweltethik?

Bernhard Irrgang

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Wiederentdeckung der Natur in den Umweltethiken brachte eine Wiederbelebung naturrechtlicher Konzeptionen mit sich. Dies ist nicht unproblematisch. Denn in der Philosophiegeschichte traten unterschiedliche, zum Teil methodisch fragwürdige Formen von Naturrecht auf. Viele von ihnen unterliegen dem Verdacht, naturalistische oder metaphysische Fehlschlüsse zu sein. Robert Spaemann vertritt eine naturrechtliche Konzeption naturalistischer und metaphysischer Art. Beat Sitter versucht, ein neues Naturrechtsdenken in die Umweltethik einzuführen, das ein Eigenrecht der Natur begründen soll. An diese These knüpft Meyer-Abichs Konzept einer „Rechtsgemeinschaft der Natur“ an. Entscheidend sei die naturgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier. Sie wird als Gleichheit in basalen Bedürfnissen ausgelegt. Aber die Konzeption von Eigenrechten der Natur läßt sich ethisch nicht begründen, auch wenn sie Behauptungen im Sinne eines neuen Naturrechtsdenkens aufstellt. Deutlich wird das methodische Defizit naturrechtlicher Behauptungen bei der Diskussion der Sein-Sollens-Unterscheidung David Humes und des naturalistischen wie metaphysischen Fehlschlusses bei George Edward Moore. Als klassischer Vertreter des Naturrechtes gilt Thomas von Aquin. Doch durch seine Identifikation der Vernunft mit der menschlichen Natur läuft seine Konzeption auf eine personale Ethik hinaus. Diese paßt sehr gut zu seiner häufig ignorierten handlüngstheoretisch begründeten Ethik. Allerdings liegen im Begriff der „inclinationes naturales“ (natürliche Veranlagungen) noch Ansatzpunkte für eine naturalistisch interpretierte Naturrechtskonzeption vor. Mit den Ansätzen Humes und Moores läßt sich jedoch bei Thomas interpretativ ein Ethik-Konzept entdecken, das auch Grundlage einer Umweltethik werden kann. Sie ist personalistisch-handlungstheoretischer Art und mündet in eine Ethik des Diskurses. In diesen gehen empirische Aussagen ein. Leitend für die Umweltethik wird ein abgestufter Gleichheitsgrundsatz als Gerechtigkeitsprinzip, nach dem als Betroffene von menschlichen Handlungen auch Tiere und die Natur berücksichtigt werden müssen.

Fragen des Lebens-und des Umweltschutzes rufen immer wieder Ethiken auf den Plan, die sich natur-rechtlichen Konzeptionen verpflichtet wissen. Da sie scheinbar absolut verpflichtende Normen aufstellen können, zu denen der Wert des Lebens gehört, finden sie viele Anhänger. Das stoische Diktum „gemäß der Natur leben“ kommt wieder in Mode. Verknüpft wird diese Maxime mit der in Krisensituationen üblichen Suche nach festen Vorgaben. Doch deckt bereits die systematische Entfaltung naturrechtlicher Argumentation Schwierigkeiten auf, die es als ratsam erscheinen lassen, in konkreten Fragestellungen auf dem Boden der modernen, empirisch-deskriptiv vorgehenden Naturwissenschaften auf das Naturrecht zu verzichten. Hierzu gehört die ökologische Ethik.

Um überprüfen zu können, ob naturrechtliche Argumentationen zur Begründung der Umweltethik herangezogen werden können, möchte ich im Anschluß an Arntz das Naturrecht in vier Arten einteilen. In der Geschichte des Naturrechtes lassen sich 1. eine Position der kosmischen Ordnung (Ulpian); 2. eine Argumentation mit dem metaphysischen Wesen des Menschen, die von All-Aussagen über den Menschen ausgehend sittliche Normen aufstellt (Vasquez); 3.der Ansatz des Thomas von Aquin, der die menschliche Natur mit der Vernunft gleichsetzt, und ’ 4.der Rückgriff auf die psychophysische Natur des Menschen unterscheiden

Das Problem der Positionen 1 und 4 liegt darin, daß von natürlichen Gesetzen oder Neigungen auf sittliche Normen geschlossen wird. In der Version 2 wird sittliche Erkenntnis von metaphysischer abhängig. Sittlichkeit ist gefährdet, wenn die metaphysische Erkenntnis bestritten wird. Also bleibt nur die Position des Thomas ein ernstzunehmender Gesprächspartner für die Ethik-Diskussion, weil er von der menschlichen Vernunftnatur ausgeht, diese aber mit einer personalistisch ausgerichteten Gewissens-und Handlungstheorie verknüpft. Unser Ziel ist ein humanes Zusammenleben in einer intakten Umwelt. Dieses kann uns nicht die Natur lehren, sondern sittliche Vernunft. Daher plädiere ich aufbauend auf einem Ethos ökologisch orientierter Humanität für eine personale Grundstruktur auch in der Umweltethik. In Zeiten ständigen Wandels führen feste Vorgaben zum Verfehlen des Zieles. Daher argumentiere ich gegen naturrechtliche Positionen in der Umweitoder Bioethik und für eine Handlungstheorie, die weder eine völlige Naturalisierung des Menschen noch eine völlige Instrumentalisierung der Natur zuläßt.

I. Ein neues Naturrechtsdenken für die Umweltethik?

Robert Spaemann gehört zu den Interpreten, die den Menschen und seine Stellung zur Natur natur-rechtlich verstehen. Seine Ethik der dreifachen Ehrfurcht vor dem, was über uns, was unseresgleichen und was unter uns ist zielt auf etwas Unverfügbares ab. Dieses wird auch bei Spaemann häufig aus der Natur abgelesen: „Solange Menschen nicht mit Affen gekreuzt werden können, ist die Frage, wer Träger von Menschenrechten ist, so, aber auch nur so zweifelsfrei entscheidbar.“ Diese Behauptung zählt zu einer naturalistischen Variante des Naturrechtes. Zur Rechtfertigung seiner Ehrfurchts-Ethik greift Spaemann auf Begriffe wie das „Wesen des Menschen“ oder „absolute Wertgesichtspunkte“ zurück und knüpft damit an die metaphysische Klasse des Naturrechtes an. Das ist methodisch gesehen problematisch. Da Werte und metaphysische Aussagen in recht unterschiedlicher Weise interpretiert werden können, reicht ein Intuitionismus oder die Behauptung unmittelbarer Werterfassung nicht aus, Verpflichtungen intersubjektiv als normativ auszuweisen. Die Gattungszugehörigkeit des Menschen ist nicht das einzige zweifelsfreie Kriterium seiner Personalität. Sie stellt allenfalls ein Argument dafür dar, die Entwicklung von Mensch und Tier nicht auf eine Ebene zu stellen

Spaemanns Vorgehensweise wird deutlicher dort, wo er den Begriff der „Strebung“ für seine Argumentation fruchtbar machen möchte. Für Spaemann unterläuft der Begriff des Triebes als Über-setzung der „Strebung/inclinatio“ das Sein-Sollen-Schema Zwar gesteht er zu, daß der Trieb erst vom Menschen interpretiert werden muß, der seinen Sinn auszulegen hat doch isoliere sich im Trieb ein Wesen vom Rest der Welt. Hier scheint Spaemann zu unterstellen, Triebe seien in sich sittlich. Dann wäre das Sein-Sollen-Schema unterlaufen. In diesem Falle wäre seine Position biologistisch, mit der Konsequenz, daß auch Aggression per se sittlich ist. Aber auch metaphysisch interpretierte natürliche Strebungen können konstruktiv oder destruktiv sein. Meist sieht man es ihnen selbst gar nicht an, sondern nur ihren Folgen. Weder auf biologistisch noch auf metaphysisch interpretierten natürlichen Strebungen wird sich eine Umweltethik aufbauen lassen.

Trotzdem versucht Beat Sitter, ein „neues Naturrechtsdenken“ zu begründen Er möchte in die modernen Gerechtigkeitskonzeptionen von Hob-bes bis Rawls neben Individuum und Gesellschaft noch die Natur einbringen Dazu argumentiert er biologistisch: „Natur ist Voraussetzung des Menschen und objektive, unverfügbare Einschränkung seiner Willkür zumal; was sie nicht gestattet, sollte der Mensch unterlassen. (...) Alle Würde des Menschen nimmt ihren Ursprung in der Würde der Natur.“ Da der Gedanke einer Würde der Natur nicht unproblematisch ist, muß nach dessen Quelle gefragt werden. Bei Sitter ist die „Macht der Natur über den Menschen“ der Grund für das Eigenrecht der Natur. Aber Macht rechtfertigt weder Recht noch Sittlichkeit. Hier scheint mir bei Sitter untergründig eine Verletzung der Sein-Sollen-Unterscheidung vorzuliegen.

Den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses möchte Sitter in einem weiteren Argument umgehen. Er geht hier von einem normativen Prinzip aus, nämlich dem Satz: Was einem nicht gehört, darf nicht beschädigt werden. Daraus folgert er: „Ökosysteme bestehen unabhängig von menschlicher Kreativität und menschlichem Willen. Menschen können sie weder ursprünglich schaffen noch besitzen.“ In dieser Fassung ist das normative Prinzip allerdings bereits in einer Weise apodiktisch bestimmt, daß es sehr leicht bestritten werden kann. Sinnvoller läßt es sich etwas anders formulieren und entspricht dann auch unserem Alltags-verständnis: Was einem nicht gehört, darf man nicht unbegründet beschädigen. Zur Rettung eines Menschen darf ich ein Auto aufschweißen. Auch Mundraub ist erlaubt. Der zweite Teil seines oben angeführten Argumentes bedarf ebenfalls der Präzisierung. Denn Menschen können in Ökosysteme schöpferisch eingreifen und diese verändern. So müßte Sitter zumindest ausführlicher rechtfertigen, warum Ökosysteme nicht menschliches Eigentum werden können. Denn es ist nicht a priori einsichtig, warum nicht Teilbereiche von Ökosystemen etwa durch menschliche Transformation Eigentumscharakter annehmen können. Aufgrund der langen Tradition menschlicher Eingriffe in die Natur läßt sich nämlich vermuten, daß es -abgesehen von begrenzten Regionen im tropischen Regenwald und im Biotop des Korallenriffs -kein funktionierendes Ökosystem mehr gibt, in das der Mensch nicht konstitutiv mit einbezogen ist.

Sitter versteht unter Natur alles, „was von selbst, das heißt ohne Zutun des Menschen existiert“ Er meint, daß wir Rechte der Natur, die ihr selbst zukommen, anerkennen müßten. Den Grund dafür sieht er in „der fundamentalen Gleichheit, die uns mit allem außermenschlichen Seienden verbindet, insofern wir selber wie dieses ein Teil der Natur sind“ Die behauptete Gleichheit des Menschen mit der Natur und die Unabhängigkeit der Natur von uns sind keine zwingende Herleitung seines Naturrechtsdenkens

Warum sollten wir die Idee der Subjektivität und Personalität von Menschen als Voraussetzung von Eigenrechten aufgeben? Die Subjektivierung der Natur als Quasi-Subjekt oder Quasi-Person ist mit Naturwissenschaft, auch mit der Ökologie inkompatibel und führt leicht zu einer Naturalisierung und Verdinglichung des Subjektes. Gegen Sitter ist einzuwenden, daß es gerade die Unabhängigkeit der Natur vom Menschen ist, die gegen die Rechts-fähigkeit der Natur von Natur aus spricht, es sei denn, wir billigen ihr Rechte aus bestimmten, einsichtigen Gründen zu. Ohne Rückgriff auf einen naturalistischen Fehlschluß ist Ökologie aus methodischen Gründen nicht in der Lage, Sitters neues naturrechtliches Denken zu begründen.

II. Rechtsgemeinschaft der Natur

Eine zweite Version des Naturrechtes artikuliert sich als These von der Rechtsgemeinschaft der Natur. Der derzeit wohl prononzierteste Vertreter der Idee einer Rechtsgemeinschaft der Natur ist Meyer-Abich. Zu ihrer Rechtfertigung schlägt er eine naturgeschichtliche Begründung des Eigenwertes der Natur vor. Sie geht von der Tatsache aus, daß die Menschheit naturgeschichtlich entstanden ist. Daher begründet die Naturgeschichte für Meyer-Abich ein Gleichheitsprinzip als Gerechtigkeitsgrundsatz

Der methodisch entscheidende Gesichtspunkt ist die Bewertung des Gerechtigkeitsgrundsatzes. Meyer-Abich formuliert ihn folgendermaßen: „Das Gleichheitsprinzip, daß zweierlei gemäß seiner Gleichheit gleich und gemäß seiner Verschiedenheit verschieden behandelt werden soll, ist wohl der elementarste Grundsatz der Gerechtigkeit.“ Meyer-Abich glaubt, daß Menschen im Lebenswillen oder in der Schmerzempfindlichkeit weiten Bereichen der Natur gleich seien. Ich leugne nicht, daß im Lebenswillen oder in der Schmerzempfindung Ähnlichkeiten zwischen Mensehen und zumindest Säugetieren vorliegen können, bestreite jedoch die behauptete Gleichheit. Denn menschliches Leben ist nicht Leben im Sinne des physischen Existierens, sondern ein bewußter Entwurf, ein von Freiheit durchgriffenes Leben-wollen. Der Begriff des Lebens bei Tier und Mensch ist eine bloße Äquivokation (Wortgleichheit bei sachlicher Verschiedenheit), in der die vorliegenden Unterschiede ignoriert werden.

Der Natur kommt qua Natur kein Eigenrecht zu, denn ihr kann begründet weder Sittlichkeit noch Personalität in einem menschlichen Sinn zugesprochen werden. Sie vermag uns darum auch nicht durch sich selbst einzufordern oder zu verpflichten. Der Mensch ist zwar berechtigt, aus guten Gründen der Natur oder Teilen von ihr Schutzrechte einzuräumen, zuzusprechen oder zuzuerkennen. Aber die Natur besitzt diese Rechte nicht von sich aus, während der Mensch kraft seiner Personalität durch Menschenwürde grundsätzlich charakterisiert ist. Diese können wir ihm nur unberechtigterweise vorenthalten. Sittlich argumentierend können wir nicht Menschenwürde oder die Selbstzwecklichkeit des Menschen aufheben, ohne uns in einen Selbstwiderspruch zu begeben. Bei der Natur ist dies anders. Solange diese nicht sittlich handelt, sind wir nicht verpflichtet, ihr Selbstzwecklichkeit zuzuschreiben. Eine sittliche Würde kommt daher der Natur nicht kraft ihres Natur-seins zu, kann also nicht mit derselben Rechtfertigungsstrategie auf den nichtmenschlichen Bereich ausgedehnt werden. Auch die Konzeption der „Eigenrechte der Natur“ ist also keine methodisch tragfähige Grundlage für eine Umweltethik.

III. Naturalistische und metaphysische Fehlschlüsse

Die gegenwärtige Umweltethik-Diskussion führt zur Wiederbelebung metaphysischer und biologistischer Varianten des Naturrechtes. Beide Formen unterliegen dem Verdacht, naturalistische oder metaphysische Fehlschlüsse zu sein. Hier unterscheidet die Philosophie zwei Argumentationsstrategien. Neben den „Fehlschlüssen“ gibt es die methodisch schwächere Formulierung der Sein-Sollen-Unterscheidung, die auf David Hume zurückgeht. Sie entstand auf dem Boden der neuzeitlichen Wissenschaftspraxis, die das „Naturgesetz“ -bei Thomas von Aquin sowohl deskriptiv als auch normativ verstanden -eindeutig auf die Tatsachenebene beschränkt. Zudem dient die Sein-Sollen-Unterscheidung einer Trennung von Wissenschaft und wertend-politischer Praxis, wie sie etwa dem Postulat der Werturteilsfreiheit der exakten Wissenschaften bei Max Weber zugrunde liegt.

Hume führt die Sein-Sollen-Unterscheidung folgendermaßen ein: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgeht, das Dasein Gottes feststellt oder Betrachtungen über menschliche Dinge vorbringt. Plötzlich werde ich damit überrascht, daß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit „ist“ und „ist nicht“ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein „sollte“ oder „sollte nicht“ sich fände. Dieser Wechsel vollzieht sich unmerklich; aber er ist von großer Wichtigkeit. Dieses „sollte“ oder „sollte nicht“ drückt eine neue Beziehung oder Behauptung aus, muß also notwendigerweise beachtet und erklärt werden. Gleichzeitig muß ein Grund angegeben werden für etwas, das sonst ganz unbegreiflich scheint, nämlich dafür, wie diese neue Beziehung zurückgeführt werden kann auf andere, die von ihr ganz verschieden sind.“ David Hume übt hier in doppelter Weise Kritik. Zunächst stellt er im Blick auf die Begründung von Ethik den Rationalismus seiner Zeit, der mit dem Gottesbegriff argumentiert, auf eine Ebene mit dem ethischen Naturalismus, der als Basis für seine Aussagen die empirisch erfaßbare menschliche Natur wählt. Nach Hume müßte für den vom Rationalismus und Naturalismus bloß behaupteten Übergang vom „Ist“ zum „Soll“ ein Grund angegeben werden.

In der späteren Fachdiskussion wurde bei George Edward Moore im Rahmen einer intuitionistischen

Position aus Humes Unterscheidung das Verbot des „naturalistischen Fehlschlusses“. Dieses richtete sich gegen jeden Versuch, logisch von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. Als Beispiel verweist Moore vor allem auf die Verwendung des Prädikates „gut“ im Sinne von „funktionstüchtig“, das dann häufig zugleich als „sittlich wertvoll“ verstanden werde Der Übergang vom Funktionstüchtigen zum sittlich Guten mache nun den naturalistischen Fehlschluß aus Für Moore ist dieser Übergang auf Grund seiner wertintuitionistischen Voraussetzungen immer verboten. Bei Hume gilt er als unerlaubt ohne zusätzliche Begründung oder Rechtfertigung.

Neben dem „naturalistischen Fehlschluß“ und seiner evolutionär-genetischen wie psychologischen Variante behandelt Moore die Metaphysik. Auch sie könne keinen Einfluß auf die Beantwortung der Frage haben, was „gut“ sei. Die einzige Rolle, die Moore der Metaphysik zubilligt, ist eine psychologische. Sie könne auf Dinge hinweisen, die wertvoll sein mögen. Von der Begründung eines Wertes durch sein Gewolltwerden könne im spezifischen Sinne nicht die Rede sein.

Nach Frankena ist es nicht völlig eindeutig, welchen Status der naturalistische Fehlschluß in einer intuitionistischen Polemik gegen andere Theorien besitze und ob es sich überhaupt um einen logischen Fehlschluß handele Allerdings besteht nahezu Einhelligkeit, daß das Humesche Gesetz beachtet werden müsse. Daher gehe ich für meine weiteren Überlegungen von einer methodisch strengen Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Aussagen aus. Das heißt nun nicht, daß Ethik ohne Rückgriffe auf Erfahrungen auskommen müßte. Denn mit zusätzlichen Begründungen ist auch nach Hume ein Überschritt von der deskriptiven zur normativen Ebene möglich. Normative Aussagen müssen durch Erfahrung begründet und durch Argumentationen diskursiv gerechtfertigt werden Werturteile beruhen auf Werterfahrungen, aber nicht alles Werter-leben führt zu objektiven Werturteilen

IV. Naturrecht und Handlungstheorie bei Thomas von Aquin

Geht nun das klassische Naturrecht so vor wie von Sitter oder Spaemann interpretiert? Zur Beantwortung dieser Frage ist eine Rekonstruktion der Naturrechtskonzeption des Thomas von Aquin hilfreich. Die zentralen Aussagen zum Naturrecht enthält die Summa Theologiae (1266-73). Hier vertritt Thomas eine Konzeption, in der Naturrecht und eine auf Vernunft begründete Sittlichkeit konvergieren. Der Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die gemäß der göttlichen Schöpfungsordnung bestimmte Vernunftnatur des Menschen (I-II, 91, 6) Aus ihr lassen sich Normen und Werte ableiten, weil sie die Prinzipien theoretischer und praktischer Vernunft bereits in sich schließt. Sie ist aber nicht identisch mit der biologisch verstandenen Natur des Menschen. Hier kann ein Sein-Sollen-Fehlschluß nicht vorliegen, weil das Sein des Menschen als vernünftig und darum werthaft ausgelegt wird.

So kann Thomas sagen: „Sprechen wir nun von tugendhaften Handlungen, soweit sie tugendhaft sind, so gehören sie in den Bereich des Gesetzes der Natur. Bereits oben wurde nämlich gesagt, daß alles das zum natürlichen Gesetz gehört, wozu der Mensch von seiner Natur aus neigt. (...) Da die Vernunftseele die eigentümliche Form des Menschen ist, so wohnt jedem beliebigen Menschen die naturhafte Neigung inne, daß er gemäß der Vernunft handelt. Und dies heißt gemäß der Tugend handeln“ (I-II, 94, 3). Allerdings gibt es bei Thomas auch „inclinationes naturales“, die spezieller sind als die universalen Gesetzmäßigkeiten von Vernunft und Freiheit. Sie betreffen z. B. die Sexualität, den Selbsterhaltungstrieb des Menschen sowie Hunger und Durst, die er mit anderen Geschöpfen teilt (I-II, 94, 2). Hier deutet sich ein Widerspruch der Sichtweise Thomas’ gegen das spätere Humesche Gesetz an.

Ausdrücklich werden bei Thomas von Aquin die natürlichen Neigungen des Menschen und seine naturhafte Anlage zu Vernunft und Tugend als Explikationen der Schöpfungsordnung verstanden. Natur und Sittlichkeit sind keine Gegensätze, sondern von der einen Schöpfungsordnung umgriffen. Und so plädiert Thomas an dieser Stelle für eine Modifikation der natürlichen Neigungen durch die Sittlichkeit. Um aber feststellen zu können, was das Gute ist, bedarf es der sittlichen Vernunft und des praktischen Urteils gemäß dem obersten Prinzip der Sittlichkeit. Da das Gute für die Vernunft anziehend ist, schließt die Vernunft: es ist zu handeln. Damit haben wir die Basisstruktur aller praktischen Urteile. So werden die „inclinationes naturales“ durch die Vernunft reguliert.

Der Mensch ist aber nicht nur in der naturhaften Ordnung eingebettet, sondern zudem dadurch ausgezeichnet, daß er „gemäß dem Ebenbilde Gottes geschaffen wurde“. Bei Thomas wird dieser Ebenbildcharakter ausgelegt durch Verstand, Willensfreiheit und Selbstmächtigkeit, wodurch der Mensch „selbst das Prinzip seiner Taten ist“ (I-II, Prolog). Hier liegt der Ansatzpunkt dafür, daß das thomistische Naturrecht neuzeitlich als Menschenrechtsethos und als Bedingung der Möglichkeit sittlichen Subjektseins ausgelegt werden kann.

Der neuzeitlich geschärfte Blick für den Unterschied von deskriptiven und präskriptiven Aussagen macht eine genauere Lektüre des Textes erforderlich. Karl-Wilhelm Merks hat in sehr pointierter Weise diese Aufgabe einer Neu-Buchstabierung für den Begriff der „inclinationes naturales“ unternommen. Sein Fazit lautet: Die naturhaften Strebungen sind nicht normativ, sie setzen den Spruch der Vernunft bereits voraus. Das Streben der „inclinationes“ werde in eine Vernunft rückvermittelt, die die Strebungen eigens zu legitimieren habe Die „inclinationes“ seien Erfahrungsort der „bona“ (Güter), das grundlegende „bonum“ (Gut) sei aber Rationalität selbst

Das Naturrecht des Thomas ist trotzdem nicht frei von naturalistischen Fehlschlüssen. Denn es unternimmt den Versuch, zwei unterschiedliche Konzeptionen von Naturrecht zu vereinigen, die bis zum 12. Jahrhundert vorlagen. Die eine beschränkt sich auf die allgemeinen Wesenszüge menschlicher Personalität, nämlich Verstand und Wille Demgemäß sind Teile des Naturrechtes im strengen Sinne nur die unmittelbar einsichtigen Urteile im Sinne des Grundsatzes: „Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden!“ Die sittlichen Prinzipien stünden fest, gehörten zur Natur des Menschen, die Schlußfolgerungen hingegen seien mit einigen Unsicherheiten belastet. Aus heutiger Sicht ermöglichten sie nicht nur, sondern erforderten geradezu einen Raum für die Gewissensent-Scheidung. Diese Position ist mit einer neuzeitlichen Ethik kompatibel und wird in Konzeptionen auf der Basis der Menschenwürde und der sittlichen Autonomie weitergeführt. Die andere Konzeption, das Naturrecht Ulpianscher Prägung, spielt ab der mittleren Schaffensphase nur noch eine untergeordnete Rolle, ist aber immer noch präsent.

Mit dieser Interpretation des Naturrechts kompatibel ist die handlungstheoretische Ausdeutung der Ethik des Thomas von Aquin. Sie wird normalerweise in der Thomas-Interpretation übergangen. Die für die Ethik maßgebliche Tugend und ihr Ausgangspunkt ist die Klugheit. Ohne sie ist ein sittliches Urteil, die Anwendung der sittlichen Grundsätze auf die Einzelfälle, nicht möglich (I-II, 58, 5). Den Begriff der Klugheit differenziert Thomas vor dem Hintergrund der Unterscheidung von spekulativem und praktischem Vernunftgebrauch (I-II, 57, 1). Er grenzt im Anschluß an Aristoteles’ Nikomachische Ethik „Klugheit“ von „Kunst/Technik“ ab (I-II, 57, 3). Kunst bzw. Technik ist die „richtige Vernunft“ des Machbaren und Herstellbaren, Klugheit die richtige Vernunft des Handelns

Die Klugheit ermöglicht eine praktische Überlegung und wendet sie auf die Handlung an. Der Kluge erkennt sowohl die universalen Prinzipien der Vernunft wie die Einzelfälle (II-II, 47, 3). Die praktische Vernunft kennt die Prinzipien, die von Natur aus bekannt sind, und die Ziele der moralischen Tugenden. Dabei geht die praktische Vernunft mittels Konklusionen, Schlußfolgerungen vor. Die Klugheit ist die Anwendung der universellen Prinzipien auf die Einzelhandlungen durch Schlußfolgerungen im Sinne des praktischen Syllogismus (II-II, 47, 6)

Trotz der Ausrichtung der thomistischen Handlungstheorie an der Vernunft impliziert diese auch eine Aufwertung des Willens. Zwar sei das vernünftige Streben eine Eigentümlichkeit des Menschen (I-II, 6, 1), aber auch Tiere hätten eine, wenn auch unvollkommene, weil instinktmäßige, „Vernunft“. Aber sie kennen, anders als der Mensch, in einer freiwilligen Handlung kein Ziel. Vernunft ist an dieser Stelle bei der Beschreibung der Tiere nur in einem analogen, minderen Sinn gebraucht. Tiere haben zwar ein Ziel, sie erfassen es sogar, aber sie erkennen es nicht als Ziel. So gebe es auch bei Tieren ein Streben (I-II, 57, 2). Thomas unterscheidet Natur und Willen dadurch, daß die Natur das Prinzip ihrer Ruhe und Bewegung in sich habe, während der Wille das Prinzip der Ruhe und Bewegung wissentlich in sich habe (I-II, 6, 1). Natur wird somit als defizienter Modus der menschlichen Handlung und allein aus ihrem Horizont heraus gedeutet.

Die Zurechenbarkeit einer Handlung hängt von ihrer Freiwilligkeit ab. Dem Willen kann keine Gewalt angetan werden. Auch Gott vermag ihn nicht zu erzwingen (I-II, 6, 3). Konsequent unterscheidet Thomas den Willen, der sich auf etwas richtet, von der Freiwilligkeit als dem Willen, der sich auf sich selbst bezieht und daher zu wollen anhebt.

Um eine konkrete Verpflichtung als Vorschrift für eine Entscheidung eruieren zu können, entwirft Thomas von Aquin zumindest im Umriß die Konzeption eines praktischen Syllogismus in Parallelität zu dem in der Zweiten Analytik des Aristoteles entwickelten logischen Schlußverfahren (I-II, 8, 2) Die erste Prämisse des praktischen Syllogismus enthält die Zielbestimmung, die zweite eine Mittelbewertung. Die Conclusio ergibt dann ein sittliches Urteil, das eine Handlungsverpflichtung konstatiert. Ziele werden nach ihrer Sittlichkeit beurteilt, Mittel nach ihrer Nützlichkeit.

Der erste Schritt zur Bestimmung des Ziels ist die Beratung. Die Beratung begründet sich aus der diskursiven Vernunft, denn Handeln selbst bewegt sich im Raum des Kontingent-Zufälligen. Hinter dem Prozeß der Zielbestimmung steht das Modell des praktischen Syllogismus, der eher an ein empirisches Urteil erinnert und keine deduktive Schlußfolgerung impliziert. Thomas propagiert keine Deduktionsmoral, auch kein analytisches Vorgehen in Sachen Ethikbegründung. Im praktischen Syllogismus ist viel Unsicheres enthalten. Das Beraten als Akt der Vernunft bezieht sich auf die Mittel, die zu einem Ziel führen. Hilfestellung bietet dabei die Wissenschaft mit ihren Schlußfolgerungen aus der Erörterung der Wirkungen und Ursachen (I-II, 14, 1).

Die Umstände sind nicht leicht zu erfassen. Darum ist -modern gesprochen -der Diskurs nützlich, um die Mittel zu erfassen und das Ziel zu erreichen. Man kann sich beraten über alles, was imZweifel steht. Dabei weisen manche Künste sichere Wege des Handelns. Es gibt allerdings auch Handlungen, die so sicher sind, daß es einer Beratung nicht bedarf (I-II, 14, 4). Der Beratungsprozeß muß zu einem Ziel kommen. Das Unendliche zu durchschreiten ist unmöglich. Daher endet die Beratschlagung mit der letzten Schlußfolgerung (I-II, 14, 6). Thomas entwickelt an dieser Stelle eine Art Diskurslogik, die empirische Aussagen über die Natur des Menschen und der menschlichen Handlungen einschließt. Diese Diskurslogik enthält 1. ein formales Prinzip („Das Gute ist zu tun!“), 2. materiale Voraussetzungen (die Strebungen des Menschen), 3. normative Vorgaben, 4. wissenschaftliche Urteile und 5. faktische Urteile.

Der Diskurs ist abschließbar, jedoch nicht mit Gewißheit. Ihn richtig zu beenden ist Sache der Klugheit und Gegenstand der Diskurs-Logik.

Thomas’ Klugheitsethik und Konzeption des praktischen Syllogismus ist noch eindeutiger der Ebene sittlicher Rationalität zuzuordnen als die Konzeption der „inclinationes naturales“. Seine Klugheitsethik verdient daher den Vorzug vor dem Naturrecht im Rahmen einer Grundlegung der Ethik. Angesichts der Naturalisierungsbestrebungen in der gegenwärtigen Diskussion um eine ökologisch orientierte Ethik müßten heute über Thomas hinausgehend sowohl die Gemeinsamkeiten der drei Ebenen im Begriff der „inclinationes naturales“ betont wie ihre Unterschiede deutlich herausgearbeitet werden. Im Begriff der „inclinationes naturales“ denkt Thomas die Natur im Hinblick auf die Wirkung eines Aktes nach Art einer Handlung. Für die moderne Naturwissenschaft ist Leben und seine Evolution ein biochemisch gesteuerter Prozeß. Er wird verändert durch gerichtete Selektion im Sinne von Rüokkoppelungsprozessen, in der aber durch die Mutation der Zufall eingebaut ist. Das artspezifische Ziel der natürlichen Neigungen ist nicht mehr eindeutig, zumindest im Übergangsfeld der Entstehung neuer Arten. Einer Teleologie der Natur im Sinne des Thomas von Aquin kann die Evolutionstheorie nicht zustimmen. Denn auch Emergenz -gebündelt auftretende überlebensrelevante Mutationen, die zu einer Weiterentwicklung führen -ist nicht im Sinne einer Zielursache zu interpretieren. Dies ist ein Postulat der Objektivität der naturwissenschaftlichen Methode, die Experiment und Gesetzeswissen miteinander verknüpft. Woher aber kommt dann das menschliche Wissen um die Zielgerichtetheit natürlicher Strebungen? Aus der Selbsterfahrung des Menschen. Wenn der Mensch sich selbst als naturales Wesen erlebt, dann stellt dies -anders als naturwissenschaftlich garantierte Objektivität -einen unmittelbaren und darum stets durch Subjektivismen gefährdeten Zugang zur Natur dar. Beide Wege sind selbstkritisch zur Konvergenz und zur Korrespondenz zu bringen. Das Naturrecht glaubt, hier einen Schritt überspringen zu können.

Eine Natur beschrieben in den Kategorien empirisch vorgehender Naturwissenschaft kann keine Sinnvorgaben entwickeln. Anders ist das mit der Selbsterfährung des Menschen. Doch hier ist Vorsicht geboten. Nach der Konzeption der „inclinationes naturales“ ist wertvoll nur, was naturwüchsig erstrebt wird. Und dies gilt zumindest beim Menschen nur für die vollkommene Natur, nicht für die „natura corrupta“ nach dem Sündenfall. Um aber bestimmen zu können, wann eine Natur intakt oder verdorben ist, brauchten wir ein Wissen um die Totalität aller Zusammenhänge in der Natur. Diese Erkenntnis haben wir nicht. Und solange dies gilt -es wird wohl kaum außer Kraft gesetzt werden können -, können wir absolute Werte weder aus der Natur noch aus der Selbsterfahrung der Natur in uns ableiten.

V. Handeln nach sittlichen Prinzipien im Hinblick auf Umwelt und Menschen

Als Hauptverursacher unserer Umweltkrise gelten die moderne Technologie und die Wirtschaft. Angesichts des anwachsenden Potentials der Schlüsseltechnologien ist eine gesellschaftliche Entscheidung über ihren weiteren Einsatz und ihre Gestaltung erforderlich. Zu diesem Zwecke ist zumindest ein gewisser Grad an gesellschaftli-chem Konsens zu erzielen. Aufgabe der Ethik ist, dafür Sorge zu tragen, daß er nicht unverantwortlich ausfällt. Naturrechtliche Argumente sind nicht in der Lage, vorbereitend an einem derartigen Konsens mitzuarbeiten, denn sie sind häufig methodisch fragwürdig oder werden nicht akzeptiert. Daher plädiere ich auf diesem Gebiet dafür, daß die sittliche Bewertung sich. an Zielen und den vorhersehbaren Folgen eines Eingriffs orientiert. Die entscheidenden Fragen lauten: Sind die vorhersehbaren Folgen eines Eingriffs lebensgerecht und sozialverträglich, oder bevorzugen bzw. benachteiligen sie bestimmte Menschen, Bevölkerungsgruppen oder auch Lebewesen in ungerechtfertigter Weise? Dies impliziert noch nicht einen Standpunkt, der von Eigenrechten der Natur ausgeht und in der Forderung nach einer Gleichbehandlung aller Lebewesen gipfelt. Denn gerecht wäre eine derartige Gleichbehandlung nur bei vergleichbaren Bedürfnissen. Und hinsichtlich der Vergleichbarkeit von Mensch und Tier -etwa bei Bewußtsein und Schmerzempfindlichkeit -bestehen größere, kaum eindeutig zu klärende Meinungsverschiedenheiten.

An der Intention des Naturrechtes, nämlich an der Begründungspflicht für sittliche Forderungen, ist festzuhalten. Dennoch gibt es „Unwandelbares“ nicht bei „in sich“ schlechten Handlungen oder Eingriffen, sondern nur im Bereich der formalen Prinzipien wie Vernunft und Freiheit als Grundlagen der Menschenwürde und der sittlichen Bewertung.

So nimmt die Verpflichtung zur gemeinsamen Suche nach dem Lebens-Gerechten auch für zukünftige Generationen und Arten nach dem abgestuften Dringlichkeitskriterium, also eine an sittlichen Prinzipien wie Gerechtigkeit und Personen-würde orientierte handlungstheoretisch ausgerichtete Ethik, das berechtigte Anliegen des Naturrechtsdenkens in Fragen der Technikethik auf und führt dieses weiter. Weitgehend frei von metaphysischen und naturalistischen Fehlschlüssen kann somit eine konkrete Umwelt-Ethik zugrunde gelegt werden, die eine ausweisbare Entscheidungshilfe darstellt.

Sittliche Prinzipien im Rahmen einer handlungstheoretisch begründeten Ethik sind die Überparteilichkeit (der Verallgemeinerungsgrundsatz), die Gerechtigkeit (Grundsatz der Gleichbehandlung unter vergleichbaren Umständen), die Respektierung der Personwürde, die Verpflichtung zur weit-möglichen Hilfe im Sinne der Solidarität (oder zumindest die Verpflichtung, nicht zu schaden), nach dem abgestuften Dringlichkeitskriterium auch auf Tiere und die Umwelt anzuwenden, und die Rücksicht auf zukünftige Generationen

Naturrechtliche Argumentationen sind aus zwei Gründen für konkrete Entscheidungshilfen unzureichend. Nicht minder problematisch als die Gefahr naturalistischer Fehlschlüsse erscheint die häufige Verknüpfung des Naturrechtes mit einem idealorientierten Pflichtenkonzept zu einer fundamentalistischen Position. An der Folgenbewertung und am Gewissen orientierten Ethiken wird häufig vorgeworfen, sie seien ein „moralisches Entlastungskonzept“, eine Beschaffungsinstanz für ein „gutes Gewissen“ Doch dies ist kein zulässiges Argument gegen teleologische Ethiken, denn diese Behauptung trifft auf Pflichtenkonzepte ebenso zu. Wenn ich nur meine Pflicht erfülle, ohne mich um die Folgen zu kümmern, habe ich ein gutes Gewissen, selbst wenn ich Grauenhaftes anrichte.

Daher plädiere ich für eine Ethik der Folgenbewertung nach sittlichen Grundsätzen, bei Fragen der Umweltethik insbesondere nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit (Gleichbehandlung, Sachgerechtigkeit, Rücksicht auf Benachteiligte und intergenerationeile Gerechtigkeit). Für Fragen der Ethik der Energiegewinnung der Gentechnik der Wirtschaftsethik und der Umwelt-ethik sollten die gleichen Maßstäbe gelten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Josef Th. C. Arntz, Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, in: Franz Böckle (Hrsg.), Das Naturrecht im Disput, Düsseldorf 1966, S. 116f.

  2. Vgl. Bernhard Irrgang, Solidarität mit der Natur? Eine Ortsbestimmung umweltethischen Denkens, in: Jörg Klawitter/Reiner Kümmel/Gerhard Maier-Rigaud (Hrsg.), Natur und Industriegesellschaft, Berlin u. a. 1990, S. 91-111.

  3. Vgl.ders., Naturrecht als Entscheidungshilfe? Am Beispiel der Bewertung gentechnischer Verfahren aus ethisch-theologischer Perspektive; in: Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Naturrecht im ethischen Diskurs, Münster 1990, S. 67-98.

  4. Vgl. Robert Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: Dieter Birnbacher (Hrsg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, S. 198.

  5. Ebd., S. 188.

  6. Vgl. Alberto Bondolfi, Tier-„Rechte“ und Tierversuche, in: Concilium, 25 (1989), S. 270; Bernhard Irrgang, Sittliche Bewertungs-Kriterien der Human-Gentechnik, in: Stimmen der Zeit, 209 (1991), S. 239-253.

  7. Vgl. Robert Spaemann, Sind „natürlich“ und „unnatürlich“ moralisch relevante Begriffe?, in: Venanz Schubert (Hrsg.), Was lehrt uns die Natur? Die Natur in den Künsten und Wissenschaften, St. Ottilien 1989, S. 265.

  8. Vgl. ebd., S. 264.

  9. Vgl. Beat Sitter, Wie läßt sich ökologische Gerechtigkeit denken?, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 31 (1987), S. 271-294.

  10. Vgl. ebd., S. 274.

  11. Ebd., S. 278.

  12. Ebd., S. 277.

  13. Ebd., S. 281.

  14. Beat Sitter, Plädoyer für das Naturrechtsdenken. Zur Anerkennung von Eigenrechten in der Natur, Basel 1984,

  15. Ebd., S. 38.

  16. Vgl. Bernhard Irrgang, Hat die Natur ein Eigenrecht auf Existenz? Anmerkungen zur Umweltethik-Diskussion, in: Philosophisches Jahrbuch, 97 (1990), S. 327-339.

  17. Vgl. Klaus Michael Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur. Praktische Naturphilosophie für die Umweltpolitik, München-Wien 1984, S. 175.

  18. Ders., Das Recht der Tiere. Grundlage für ein neues Verhältnis zur natürlichen Mitwelt, in: Ursula M. Händel (Hrsg.), Tierschutz. Testfall unserer Menschlichkeit, Frankfurt/M. 1984, S. 27.

  19. David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur (1739/40), hrsg. von R. Brandt, Bd. 2, Hamburg 1973, S. 211.

  20. Vgl. Friedo Ricken, Allgemeine Ethik, Stuttgart u. a. 1983, S. 47.

  21. Vgl. George Edward Moore, Principia Ethica (1903), Stuttgart 19842, S. 76.

  22. Vgl. W. K. Frankena, Der naturalistische Fehlschluß, in:

  23. Vgl. Franz von Kutschera, Grundlagen der Ethik, Berlin-New York 1982, S. 228.

  24. Vgl. ebd., S. 229.

  25. Summa Theologiae des Thomas von Aquin (im folgenden abgekürzt STh), Lies: I. Buch, II. Teil, Quaestio 91, Articulus 6.

  26. Vgl. Karl-Wilhelm Merks, Grundlegung der sittlichen Autonomie, Düsseldorf 1978, S. 293.

  27. Vgl. ebd., S. 297.

  28. Vgl. Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 19802, S. 96.

  29. Vgl. ebd.

  30. Vgl. Aristoteles, Ethika Nikomacheia, VI, 5, 3 (1140 b 2) und VI, 5, 7 (1140 b 21).

  31. Zur Konzeption des praktischen Syllogismus vgl. Ludger Honnefeider, Wahrheit und Sittlichkeit. Zur Bedeutung der Wahrheit in der Ethik, in: Emerich Coreth (Hrsg.), Wahrheit in Einheit und Vielheit. Beiträge zur Theologie und Religionswissenschaft, Düsseldorf 1987, S. 147-169.

  32. Vgl. Anselm W. Müller, Praktisches Folgern und Selbst-gestaltung nach Aristoteles, Freiburg-München 1982; Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg-München 1990.

  33. Vgl. B. Irrgang (Anm. 6), S. 240-242; ders., Leitlinien einer Ethik der Gentechnik. Vorüberlegungen zu einer Ethik der Biotechnologie, in: Naturwissenschaften, 77 (1990), S. 571f.

  34. Vgl. Gotthard M. Teutsch, Lexikon der Tierschutzethik, Göttingen 1987, S. 247.

  35. Vgl. Bernhard Irrgang, Ethische Implikationen globaler Energieversorgung, in: Stimmen der Zeit, 207 (1989), S. 607-620.

  36. Vgl.ders., Sittliche Fragestellungen und Grenzziehungen bei der Anwendung der Biotechnologie in der Tierproduktion, in: Züchtungskunde. 63 (1991) 3, S. 247-257; ders.. Zum Ansatz einer Forschungs-und Standesethik für die Gentechnik, in: Hans Lenk/Matthias Maring (Hrsg.), Technikverantwortung. Güterabwägung, Risikobewertung, Verhaltenskodizes, Frankfurt am Main-New York 1991, S. 263-284.

  37. Vgl.ders., Das Konzept eines Regelkonsequentialismus als Grundlegung einer Wirtschaftsethik, in: Michael Wörz/Paul Dingwerth/Rainer Öhlschläger (Hrsg.), Moral als Kapital. Perspektiven des Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik, Stuttgart 1990, S. 235-252; ders., Grundlagen der Wirtschaftsethik, in: M. Lutz-Bachmann/B. Schlegelberger (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung -

  38. Vgl.ders., Einführung in die christliche Umweltethik (i. E.).

Weitere Inhalte

Bernhard Irrgang, Dr. phil., Dr. theol., geb. 1953; seit 1986 Akademischer Rat a. Z. am Institut für Moraltheologie der Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Skepsis in der Aufklärung, Frankfurt 1982; (zus. mit Hans Michael Baumgartner) Am Ende der Neuzeit? Die Forderung eines fundamentalen Wertwandels und ihre Probleme, Würzburg 1985; (zus. mit Matthias Lutz-Bachmann) Begründung von Ethik, Würzburg 1990; (zus. mit Jörg Klawitter/Joachim Schmidt) Denken und Denkenlassen. Problemfeld Künstliche Intelligenz, Berlin 1991.