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Staatsaufgaben und Teilhaberechte als Gegenstand der Verfassungspolitik | APuZ 49/1991 | bpb.de

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APuZ 49/1991 Artikel 1 Wie offen ist die Verfassungsfrage nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands? Die Chance der Verfassunggebung Staatsaufgaben und Teilhaberechte als Gegenstand der Verfassungspolitik Verfassungsreform des öffentlichen Dienstrechts? Grundgesetz und Menschenbild Anfragen zu Präambel und Artikel Vgl. O. Kimminich, Kirchen und Menschenrechte, in: G. Leibholz u. a. (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Ordnung, Festschrift für Wilh Geiger zum 65. Geburtstag, Tübingen 1974, S. 500. des Grundgesetzes

Staatsaufgaben und Teilhaberechte als Gegenstand der Verfassungspolitik

Peter Badura

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Integrations-und Aufbauziele, die mit der Wiedervereinigung Deutschlands gestellt sind, schließen die Frage einer Verfassungsreform ein. Vielgestaltige Bestrebungen und Programme, bestärkt durch die Empfehlungen in Art. 5 des Einigungsvertrages, haben eine breite verfassungspolitische Auseinandersetzung hervorgerufen. In dem durch Bundestag und Bundesrat eingesetzten „Gemeinsamen Verfassungsausschuß“ findet die Verfassungsdebatte ein organisatorisch wirkungsvolles Forum. Ein Hauptthema der Reformdiskussion sind die Staatsaufgaben und ihre verfassungsrechtliche „Verankerung“. Soziale und politische Rechte wollen der so ausgezeichneten Staatsaufgabe, zumindest den Worten nach, eine subjektive Rechtszuweisung hinzufügen, wie z. B. das alte Postulat eines „Rechts auf Arbeit“ oder das neue „Recht auf Mitbestimmung“. Staatszielbestimmungen dagegen wollen eine hauptsächlich den Gesetzgeber bindende Vorrangfixierung bestimmter Staatsaufgaben, wie z. B. eine Staatszielbestimmung „Umweltschutz“; die Aufgabennorm kann mit detaillierteren Gesetzgebungsaufträgen verbunden werden. Da auch soziale Rechte regelmäßig gesetzlicher Ausgestaltung bedürfen, sind sie letztlich verkappte Staatszielbestimmungen auf einem engeren Feld. Entgegen dem ersten Anschein ist die wesentliche verfassungspolitische Frage, die durch neue Staatszielbestimmungen aufgeworfen wird, nicht der konsensfähige materielle Inhalt der Norm -etwa die Wünschbarkeit eines wirksamen Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen -, sondern die Konsequenz, die eine solche Norm für die Funktion der gesetzgebenden Gewalt und für die Gewaltenteilung -insbes. für die Reichweite der Rechtsprechung -hätte.

I. Das Grundgesetz -die Verfassung des wiedervereinigten Deutschland

Die Ausgangstage Durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland (Art. 3 Satz 2 GG) und den Vertrag zwischen den beiden deutschen Staaten über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31. August 1990 ist das Grundgesetz am Oktober 1990 die Verfassung des wiedervereinigten Deutschland geworden 1). Die Hoffnung und der Auftrag der Präambel des Grundgesetzes, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung des gesamten Deutschen Volkes zu vollenden, sind zu ihrem Ziel gekommen. Es blieb allerdings die Frage, ob und in welcher Weise die außerordentliche Revisionsklausel des Art. 146 GG zum Zuge kommen müsse, wonach das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage verliert, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. Diese Klausel enthielt ein verfassungspolitisches Potential, das mit der Geltungserstreckung des Grundgesetzes auf das Gebiet der früheren DDR nicht erschöpft ist. Die Sozialdemokraten und die verschiedenen reform-sozialistischen, grünen und alternativen Parteien und Gruppen beriefen sich unter Zuhilfenahme des Art. 146 GG auf verfassungspolitische Gründe der nicht hinreichend bekräftigten Legitimität; insbesondere auf die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, um eine neue Entscheidung über die Verfassung, eine „Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur Verfassung für das geeinte Deutschland“ 2) einzufordem. Diese Bestrebungen sind mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen und Ideen zu inhaltlichen Änderungen des Grundgesetzes verbunden, die sich hauptsächlich auf neue Verfassungsnormen über Staats-aufgaben und auf die Schaffung neuer Rechte sozialer und politischer Teilhabe richten.

Der Einigungsvertrag hat sich mit den „beitrittsbedingten“ Änderungen des Grundgesetzes begnügt und im übrigen eine Empfehlung der beiden Regierungen an Bundestag und Bundesrat aufgenommen, sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen (Art. 5 EinV). Zu den beitrittsbedingten Änderungen gehören eine Neufassung der Präambel und eine Ergänzung des Art. 146 GG durch die ausdrückliche Bekundung, daß das Grundgesetz nunmehr für das gesamte deutsche Volk gelte. Die verfassungspolitische Empfehlung betrifft u. a. Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz und die Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung. Die gesetzgebenden Körperschaften haben die Empfehlung aufgegriffen und im November 1991 einen „Gemeinsamen Verfassungsausschuß“ eingesetzt, der über Verfassungsänderungen berät, die dem Bundestag und dem Bundesrat vorgeschlagen werden sollen. Der Ausschuß soll sich insbesondere mit den in Art. 5 des Einigungsvertrages genannten Grundgesetzänderungen befassen sowie mit Änderungen, die mit der Verwirklichung der Europäischen Union erforderlich werden 3). Die bisher diffuse Diskussion über mögliche, wünschenswerte oder notwendige Verfassungsänderungen hat damit -orientiert an Art. 79 GG -einen institutioneilen Rahmen erhalten. Der eingeschlagene Weg wird mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Änderungen des Grundgesetzes führen, vielleicht auch zu einem Verfassungsreferendum 2. Bestrebungen und Projekte Programme und Projekte für verfassungspolitische Neuerungen werden von verschiedenen Stellen vorgebracht. Teils werden bekannte Postulate wiederholt, wie das „Recht auf Arbeit“ oder der Umweltschutz als verfassungsrechtlich verstärktes Staatsziel, teils werden umstrittene partei-oder gesellschaftspolitische Forderungen erneuert, wie das Verbot der Aussperrung oder die Einführung partizipationsdemokratischer Mitbestimmung auf allen Ebenen der politischen Willensbildung. Die durch die Wiedervereinigung Deutschlands gestellte Verfassungsfrage überschreitet ihren Anlaß und verwandelt sich in eine Grundsatzdebatte über eine Staats-und Verfassungsreform.

Ein zweites unmittelbar durch die Wiedervereinigung geschaffenes Feld, möglicherweise ein zusätzlicher Motor der deutschen Verfassungspolitik, sind die nun zu erlassenden Verfassungen der neuen Bundesländer. Staatszielbestimmungen, soziale und wirtschaftliche Rechte oder Garantien und plebiszitäre oder partizipatorische Elemente werden dort ein auffälliges Gewicht haben. Damit berührt sich dieser Vorgang der Landespolitik thematisch mit den Bestrebungen der Reformbewegung auf der Ebene des Bundes. Die Wechselwirkung der Neukonstituierung der Länder im Osten und der Verfassungsrevisionsdiskussion im Westen ist nicht zu übersehen. Der Entwurf des vormaligen Runden Tisches für eine „Neue Verfassung der DDR“ -ein rasch gescheitertes Vorhaben im Rahmen des Versuchs, die DDR als reformsozialistischen zweiten deutschen Staat zu erhalten -beeinflußt viele Vorschläge bei der Landesverfassungsdiskussion und hat auch als Material für einen im Juni 1991 veröffentlichten Verfassungsentwurf des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“ gedient.

Zur Veranschaulichung der beiden hier näher zu betrachtenden Themen der Verfassungspolitik, der Staatsaufgaben und der Teilhaberechte, eignen sich das Staatsziel Umweltschutz und das Recht auf Arbeit. Das Grundgesetz bezeichnet mit der Charakterisierung der Bundesrepublik als Rechts-und Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1. Satz 1 GG) die elementaren Aufgaben der staatlichen Gesellschaft und trifft in den Grundrechten eine Entscheidung über die zentralen Freiheiten und Schutzbedürfnisse des einzelnen. Damit sind Ziel und Richtung der Staatstätigkeit angegeben und der Rahmen abgesteckt, in dem durch das Gesetz und die Rechtsanwendung im Einzelfall das Gemeinwohl zu bestimmen und die soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen ist. Außerdem nennt die Verfassung einige Maximen staatlichen Handelns, wie die Rechts-und Wirtschaftseinheit (Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG), die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus (Art. 72 Abs. 2 Nr. 3, Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG), die Vermeidung einer Überbelastung der Steuerpflichtigen (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG) und die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, denen Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft Rechnung zu tragen haben (Art. 101 Abs. 2 GG). Den bundesstaatlichen Kompetenznormen lassen sich mittelbar Hinweise auf mögliche oder notwendige Staatsaufgaben entnehmen, z. B.der Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung in das Ausland (Art. 74 Nr. 5 GG), die Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung (Art. 74 Nr. 16 GG) und der Verfassungsschutz (Art. 5 Abs. 3, Art. 18, Art. 21 Abs. 2, Art. 73 Nr. 10 lit. b, Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG).

Obwohl das Grundgesetz eine Fülle von Direktiven und Anhaltspunkten für die staatliche Wirksamkeit enthält, ist es doch sehr zurückhaltend in der ausdrücklichen Fixierung von Programmen, Verheißungen und sonstigen Zielsetzungen. Darin unterscheidet es sich von der Weimarer Reichsverfassung, von den meisten Landesverfassungen und von vielen Verfassungen des Auslands. Häufig ist das als ein Charakteristikum des Grundgesetzes verstanden worden. Es ist Sache des demokratisch geordneten politischen Prozesses und der parlamentarischen Gesetzgebung, nach den Erfordernissen und Umständen der Zeit darüber zu entscheiden, welchen Aufgaben sich der Staat zuzuwenden hat und mit welchen Mitteln das für nötig Befundene geregelt und erledigt wird.

Eine derartige Lösung der Verfassungsfrage, die den Hauptpunkt in der institutioneilen Organisation des Staates, der Gewaltenteilung und der Freiheitsrechte sieht, wurde schon in der ersten Zeit des Verfassungsstaates von den politischen Kräften als unzulänglich empfunden, die aus eigenem Interesse oder im Interesse der Allgemeinheit die staatlichen Gestaltungsaufgaben und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auch und gerade mit den Mitteln des Verfassungsrechts anstrebten. Bestrebungen, in die Verfassung ein „Recht auf Arbeit“ als besonderes soziales Grundrecht aufzunehmen, gehen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Daß jedermann von seiner Arbeit soll leben können, ist als moralische oder politische Maxime für die gerechte Ordnung eines Gemeinwesens ein Grundgedanke der Aufklärung Als ein verfassungsmäßiges Recht soll der Anspruch darauf verbürgt werden, daß der Staat jedermann bezahlte Arbeit zu verschaffen hat, der -aus welchen Gründen auch immer -selbst Arbeit nicht finden kann In verschiedener Formulierung hat der Gedanke Eingang in Verfassungen gefunden, z. B. in Art. 166 Abs. 2 BayVerf: „Jedermann hat das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen.“ Der Sache nach wird mit einer derartigen Verfassungsgarantie, soweit sie mehr sein will als die Abwehr von Diskriminierung und unverhältnismäßigen Behinderungen freier Erwerbstätigkeit, ein Programm staatlichen Handelns ausgesprochen, das einen Vorrang der Beschäftigungspolitik, gesetzliche Beschränkungen des Arbeitgebers und subsidiär Maßnahmen der Sozialpolitik einschließt. Anders als ein Freiheitsrecht, wie etwa der Schutz der Wohnung (Art. 13 GG), kommt dieses soziale Recht nicht durch Abwehr eines Eingriffs der öffentlichen Gewalt zum Ziel, sondern durch Gesetz, mit dem Schutz und Zuteilung von Rechten erst zu schaffen sind. Im eigentlichen Sinn begründet die Verfassung ein Recht mit dem bezeichneten Inhalt nicht, da ein definierter -individualisierbarer und konkretisierbarer -Zuweisungsgehalt für den Einzelfall aus der Norm nicht abgeleitet werden kann.

Ist ein soziales Recht auf Teilhabe an dem staatlich bestimmten gesellschaftlichen Prozeß der Umverteilung und Zuteilung -wie das „Recht auf Arbeit“ -im Kern die vorrangige Festlegung auf die Erfüllung einer bestimmten Staatsaufgabe, wenn auch in der Phraseologie des subjektiven Rechts, ist demgegenüber eine Staatszielbestimmung ausdrücklich und ausschließlich eine Verfassungsnorm über eine durch Gesetz zu verwirklichende Staats-aufgabe. Es wird von vornherein nicht der Anschein erweckt, daß allein durch die Verfassung und unmittelbar kraft der Verfassungsnorm ein durchsetzbares Recht des einzelnen auf Zuwendung eines Vorteils oder eine Handlungsmöglichkeit gegeben sei. Das Bestreben, eine Aufgabe durch eine Staatszielbestimmung auszuzeichnen, stellt sich naturgemäß für solche Bereiche möglichen staatlichen Wirkens ein, die durch neuere Entwicklungen und Bedürfnisse berührt werden und bisher nicht oder nicht hinreichend gestaltet sind. Dieser praktische Beweggrund der Verfassungspolitik wird regelmäßig durch die eher ideologische Vorstellung verstärkt, wenn nicht ganz überschattet, daß die wesentlichen Themen und Ziele der Politik von der Verfassung verlautbart werden müßten, um so auch der Verfassung Zustimmung und Lebenskraft zuzuführen. Die für den Sinn und die normative Bedeutung der neuen Verfassungsvorschrift maßgebliche Frage, welche Rechtsfolgen damit geschaffen oder ermöglicht werden, insbesondere, ob auf diese Weise auch ohne Gesetz oder neben dem Gesetz ein durch Verwaltung und Gerichte unmittelbar auszuführendes Gebot oder Verbot entstehen kann, tritt dabei gelegentlich zu sehr in den Hintergrund. Der Streit um einen dem Grundgesetz einzufügenden Umweltartikel geht nicht darum, ob die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter dem besonderen Schutz des Staates stehen, sondern ob die Rechtsklarheit es verlangt, daß ausdrücklich gesagt wird, daß Art und Maß des zu gewährleistenden Schutzes durch Gesetz zu bestimmen sind. Dahinter verbirgt sich die durch Verfassungsrecht nicht abstrakt zu behebende Meinungsverschiedenheit, in welcher Weise die ökologischen Erfordernisse mit anderen Gütern und Rechten, z. B.dem Energiebedarf oder der Wirtschaftsfreiheit, dem wissenschaftlichen Fortschritt oder dem Städtebau, abzustimmen und auszugleichen sind

II. Staatsaufgaben in der Verfassung

1. Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge Die ältere Staatsphilosophie sprach vom „Staatszweck“ und meinte damit den Grund und die Rechtfertigung für die staatliche Herrschaftsordnung und hoheitliche Zwangsgewalt, die dem einzelnen Pflichten auferlegt und Gehorsam abverlangt. Von daher fällt der Blick auf die Aufgaben des Staates, also auf die Wirksamkeit des Staates, die der einzelne zur Sicherung seines Lebens, seiner Rechte und Freiheiten, aber auch zur Gewährleistung von Frieden, Gerechtigkeit und Wohlfahrt erwartet oder verlangen kann. In der Demokratie, die den Interessen des einzelnen und der Gruppen nach egalitären Grundsätzen, d. h. ohne Privilegierung von Besitz und Bildung, mit den Mitteln der politischen Freiheit und der Gesetzgebung durch ein vom Volk gewähltes Parlament Geltung verschafft, hat die staatliche Gemeinschaft das Prinzip einer umfassenden Sozialverantwortung zum Leitstern erhoben und folgerichtig für den Staat eine gegenständlich unbegrenzte Sozialgestaltungsfunktion in Anspruch genommen. Die Demokratie ist kraft innerer Notwendigkeit ein Wohlfahrtsstaat. Charakteristisch für die Aufgaben des heutigen Staates ist die dem Prinzip nach umfassende Verantwortung des Staates für die materielle Wohlfahrt, die Wirtschaftsentwicklung und die soziale Sicherheit, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, ebenso aber auch für die Bildung und Ausbildung und die Entwicklung von Kultur und Wissenschaft. Die Erfüllung der Staatsaufgaben ist zuerst Sache der politischen Entscheidung des Gesetzgebers durch die Zumessung von Pflichten und Rechten und durch Umverteilung, vor allem im Wege der Besteuerung und der Disposition über die verfügbaren Finanzmittel. Sie ist auf dieser Grundlage dann Sache der die Gesetze ausführenden Verwaltung unter der Kontrolle der Gerichte. Die dem demokratischen Wohlfahrtsstaat abverlargten Aufgaben stellen sich durch die Gegebenheiten des politischen Prozesses, ohne daß es einer besonderen Normierung in der Verfassung bedürfte. Durch die Verfassung erhält der politische Prozeß jedoch Ordnung, Richtung und Werkzeuge; er wird rechtlicher Bindung und Bestimmung unterworfen. Durch Verfassungsnormen über die Ziele und Aufgaben des Staates kann, so scheint es, auch die Wirksamkeit des Staates auf bestimmte Ziele und Aufgaben bindend festgelegt werden. Diese „Verankerung“ kann dem Allgemeininteresse -wie im Fall des ökologischen Staatsziels aber auch Gruppeninteressen zugute kommen -wie häufig bei sozialpolitischen Programmnormen. In großer Vielfalt spielen demzufolge Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge in verfassungspolitischen Vorschlägen und Forderungen eine nahezu beherrschende Rolle Ihre Themen sind hauptsächlich: Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und soziale Sicherheit, Arbeitsbeschaffung („Recht auf Arbeit“) und Wirtschaftsentwicklung, soziale Wohnungspolitik („Recht auf angemessene Wohnung“) und Schutz der Gesundheit, Kulturstaatlichkeit (einschließlich eines „Rechts auf Bildung“) und Datenschutz.

Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben. Sie umreißen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit, insbesondere der Politik von Parlament und Regierung, und sind dadurch Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von Gesetzen. Staatszielbestimmungen können mit Gesetzgebungsaufträgen verbunden werden, d. h. mit Verfassungsnormen, die dem Gesetzgeber die Regelung oder die bestimmte Regelung einzelner Vorhaben oder in einzelnen Sachgebieten vorschreiben, sei es überhaupt, sei es mit Bindung auch in zeitlicher Hinsicht. 2. Weimarer Reichsverfassung und Bonner Grundgesetz Als Prototyp einer Staatszielbestimmung hatte sehr früh der Sozialstaatssatz die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ... sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG); die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „muß den Grundsätzen des... sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“ (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). An hervorgehobener Stelle der Verfassung und auf glei-ehern Fuße mit der Feststellung der Staatsform, der bundesstaatlichen Ordnung und der rechtlichen Bindung der öffentlichen Gewalt wird mit dieser Klausel Ziel und Richtung der Staatstätigkeit bestimmt. Das Grundgesetz -anders als die in dieser Hinsicht reiche Weimarer Reichsverfassung -hat sich, was die Staatsaufgaben betrifft, mit „der nur rechtsgrundsätzlichen Zielbestimmung des Sozialstaates“ begnügt

Angesichts der revolutionären Staatsumwälzung und der drängenden sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen und unter dem Eindruck des im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung vorgelegten „Versuches volksverständlicher Grundrechte“ blieb die Weimarer Reichsverfassung (WRV) nicht bei einer Aufnahme der klassischen Freiheitsrechte stehen. In einer grundsätzlichen Weiterentwicklung des liberalen Verfassungsgedankens verband sie die überkommenen Freiheiten und Garantien mit sozialreformerischen und sozialistischen Programmsätzen und Verheißungen wie auch mit teils fortschrittlichen, teils kompromißhaften Regelungen und Zielen der Kultur-und Gesellschaftspolitik. Der zweite Hauptteil: „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ (Art. 109 bis 165) bildete in seinen fünf Abschnitten -Die Einzelperson, Das Gemeinschaftsleben, Religion und Religionsgesellschaften, Bildung und Schule, Das Wirtschaftsleben -einen vielgestaltigen Katalog von Rechten, „Lebensordnungen“ und Staatsaufgaben.

Ein Teil der hier ausgesprochenen und verfassungsrechtlich „verankerten“ Vorstellungen und Postulaten für die Gestaltung des Soziallebens und der Wirtschaft erwies sich nach juristischer Prüfung vor Gerichten als bloßer Programmsatz, als Empfehlung für den Gesetzgeber ohne normative Kraft. So etwa die Grundsatznorm des Art. 151 Abs. 1 WRV: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“ Oder das Recht auf Arbeit in Art. 163 WRV: „Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgele-genheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. Das Nähere wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt.“ Das Grundgesetz ist diesen Weg nicht gegangen. Es hat sich dafür entschieden, die Gestaltung der Wirtschafts-und Sozialordnung dem Gesetzgeber zu überlassen und seine politische Gestaltungsfreiheit nur an die elementaren Freiheiten und Garantien der rechtsstaatlichen Tradition und der sozialen Gerechtigkeit zu binden, wie die Berufsfreiheit, das sozialverpflichtete Eigentum, die Koalitionsfreiheit und den Schutz der selbstbestimmten, Person Die unscheinbare Sozialstaatsklausel wurde anstelle jener Weimarer Programme und Lebensordnungen, aber auch zur Kennzeichnung der zentralen Staatsaufgabe der demokratischen Industriegesellschaft in die neue Verfassung aufgenommen Darin äußern sich nicht nur zeitbedingte Erwägungen kluger Zurückhaltung, sondern auch die aus der Weimarer Verfassungspraxis gewonnene Einsicht in die mögliche Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts.

Die verfassungsintegrative und appellative Bedeutung des Sozialstaatssatzes geht weit über seine in Rechtsfolgen umsetzbare Wirkung hinaus Die Rechtsidee der sozialen Gerechtigkeit und die soziale Staatsaufgabe lassen sich durch Verfassungsrecht nicht abschließend normieren. Als Verfassungsnorm ist das Sozialstaatsprinzip in hohem Maße der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürftig und fähig; es ist „Ermächtigung und Auftrag zur Gestaltung der Sozialordnung“, gerichtet auf „Herstellung und Wahrung sozialer Gerechtigkeit und auf Abhilfe sozialer Bedürftigkeit“ Der Sozialstaatssatz ist als selbständige und alleinige Grundlage für subjektive Rechte des einzelnen nicht geeignet. Angesichts seiner Weite und Unbestimmtheit läßt sich aus dieser Norm regelmäßig kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren. Zwin-gend ist lediglich, daß der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft

Im Unterschied zum Grundgesetz sind die Landes-verfassungen vielfach dem Muster der Weimarer Reichsverfassung gefolgt und haben Aufgabennormen und auch Kataloge von sozialen und wirtschaftlichen Rechten und Pflichten aufgenommen Mehrere Landesverfassungen haben in neuerer Zeit den Bestrebungen Raum gegeben, Staatsaufgaben betont auszusprechen. So heißt es in Art. 3 Abs. 2 BayVerf „Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung“ und Art. 4 Abs. 2 VerfNW bestimmt „Jeder hat Anspruch auf Schutz seiner personenbezogenen Daten. Eingriffe sind nur in überwiegendem Interesse der Allgemeinheit aufgrund eines Gesetzes zulässig.“ Die rechtliche Tragweite landesverfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen ist allerdings begrenzt Denn der Bund verfügt in den hier interessierenden Materien, abgesehen von den kulturstaatlichen Aufgaben, über bin nahezu umfassendes Gesetzgebungsrecht, und die Vorschriften des Landesverfassungsrechts sind unanwendbar, soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch macht (Art. 31 GG).

Die allseitig unterstützten Bestrebungen, eine Staatszielbestimmung über den Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen, waren bisher trotz verschiedener Anläufe nicht erfolgreich. Die Auffassungen über die Notwendigkeit eines ausdrücklichen Vorbehalts einer näheren Regelung durch Gesetz, wie er sich etwa in der Vorlage des Bundesrates aus der 11. Legislaturperiode fand, konnten nicht zusammengeführt werden. Der Entwurf des Bundesrates für die Einfügung eines Art. 20a in das Grundgesetz hatte die folgende Fassung: „Artikel 20a (1) Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates. (2) Bund und Länder regeln das Nähere in Gesetzen unter Abwägung mit anderen Rechtsgütern und Staatsaufgaben.“

Die Entwürfe der GRÜNEN traten weitergehend für die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes als Grundrecht ein, was in der zuletzt eingebrachten Version in der Weise geschehen sollte, daß in Art. 2 Abs. 2 GG an den bisherigen Satz der Halbsatz angefügt werden sollte:

die Erhaltung seiner natürlichen Lebensgrundlagen und den Schutz vor erheblichen Beeinträchtigungen seiner natürlichen Umwelt“. Der so zu schaffende verfassungsunmittelbare Schutzanspruch würde unabhängig von weiteren gesetzlichen Regelungen jedermann einen verwaltungsgerichtlich verfolgbaren Abwehranspruch gegen jegliche „umweltrelevante“ Behördenentscheidung einräumen und damit eine umweltrechtliche Popularklage eröffnen

Die Wiedervereinigung hat eine Fülle neuer Erfordernisse für die staatliche Wirksamkeit entstehen lassen. Die schrittweise und sozial verträgliche Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ist die zentrale Aufgabe. Der Einigungsvertrag, in dieser Hinsicht materiell ein Akt der Verfassungspolitik, hat in einer Reihe von Bestimmungen Staatsaufgaben und Gesetzgebungsaufträge normiert, so zu den Themen Arbeit und Soziales (Art. 30), Familie und Frauen (Art. 31), Umweltschutz (Art. 34) und Kultur (Art. 35). Die lange debattierte Staatszielbestimmung Umweltschutz beispielsweise ist nunmehr vertragsgeschaffenes Bundesrecht: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, „die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, Verursacher-und Kooperationsprinzips zu schützen und die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem in der Bundesrepublik Deutschland erreichten Niveau zu fördern“ (Art. 34 Abs. 1 EinV). 3. Funktion und Leistungsfähigkeit der Verfassung Auch wenn die Verfassung Staatsaufgaben regelt oder sich Staatszielbestimmungen aus der Verfassung entnehmen lassen, bleiben Art und Weise, Finanzierung und Zeitmaß der Aufgabenerfüllung Sache der politischen Entscheidung. Die Verfas- sung nimmt die notwendige Abwägung und Regelung nicht vorweg und liefert keine bereitliegenden Lösungen für eine gerechte und wirksame Rechtsordnung. Die mit derartigen Aufgaben-und Programmnormen verbundenen Erwartungen stehen im Mißverhältnis zu dem rechtlich greifbaren Erfolg, der -ohne nähere gesetzliche Regelung -zu gewinnen wäre. Entgegen dem ersten Anschein ist die wesentliche verfassungspolitische Frage, die durch neue Staatszielbestimmungen aufgeworfen wird, nicht der konsensfähige materielle Inhalt der Norm, sondern die Konsequenz, die eine solche Norm für die Funktion der gesetzgebenden Gewalt und für die Gewaltenteilung hätte.

Die verfassungspolitischen Kriterien, nach denen sich Nutzen und Schaden neuer Staatszielbestimmungen beurteilen lassen, können wie folgt zusammengefaßt werden. Staatszielbestimmungen entsprechen zwar der zukunftsgerichteten Funktion der Verfassung -Verfassung als „Plan“ -, lösen aber die Aufgabenerfüllung und ggf. die Rechts-zuweisung von der praktischen Bedingung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Finanzkraft der öffentlichen Hand. Sie vermischen normative und appellative Verfassungsfunktionen, verwischen den Unterschied von Staatsaufgaben und Rechten und Pflichten des einzelnen, durchbrechen das Gewaltenteilungsprinzip, soweit sie unmittelbar für richterlich auszusprechende Rechtsfolgen in Anspruch genommen werden, und beschränken die politische Entscheidungsvollmacht der parlamentarischen Volksvertretung.

Die verfassungspolitische Beurteilung wird naturgemäß auch davon abhängen, welches Maß an Spannweite und Regelungsdichte eine Aufgaben-klausel hat, ob sie etwa nur eine allgemeine Ziel-weisung festlegt -wie der Sozialstaatssatz -oder eine spezielle Politik vorschreibt und -wie bei dem Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 in Verb, mit Art. 117 Abs. 1 GG) -einen klaren Gesetzgebungsauftrag einschließt. Unter den Bedingungen der vollen Justitiabilität des Verfassungsrechts, die ein Wesenszug der deutschen Staats-und Rechtspraxis ist, muß der Berechenbarkeit der Rechtsfolgen neuer Verfassungsnormen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der Verfassungsentwurf von 1977 der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung verdient in dieser Hinsicht Beachtung. Er unterscheidet klar zwischen Grundrechten, Grundsätzen staatlichen Handelns und staatsleitenden Grundsätzen für die Sozialordnung, die Eigentums-, die Wirtschafts-und die Kulturpolitik.

III. Freiheit und Teilhabe

1. Vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat Die liberale Verfassungsbewegung, geleitet von der naturrechtlichen Vorstellung einer ursprünglichen, „vorstaatlichen“ Freiheit des Individuums, suchte in der Verfassung Schutz des einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt. Die Grundrechte sollten dem einzelnen einen „staatsfreien“ Raum individueller Entscheidung und Betätigung gewährleisten. Diese klassische Funktion der Grundrechte als „Abwehrrechte“ ist bis heute nicht überholt; sie hat angesichts der gesteigerten Schutzbedürftigkeit des einzelnen im Wohlfahrtsstaat mit nahezu unbegrenzten Gestaltungs-und Interventionsaufgaben eine zusätzliche Bedeutung gewonnen

Die Entwicklung der Wirtschafts-und Industriegesellschaft hat in der Staatsphilosophie, später in der Arbeiterbewegung und dann in der sozial-und gesellschaftspolitischen Programmatik der politischen Parteien Bestrebungen hervorgerufen, die neuen sozialen Staatsaufgaben auch durch die Verfassung zur Geltung zu bringen, sie -in Parallele zu den Freiheitsrechten -als soziale Rechte und Garantien auszuformen Dieser Gedanke für eine effektive Ausstattung des sozialen Rechtsstaates hat seit dem ersten Weltkrieg vielfältig Eingang in die europäischen und außereuropäischen Verfassungen gefunden und nach dem zweiten Welt- krieg sich bei der Ausbildung international garantierter Menschenrechte als erfolgreich erwiesen

Soziale Rechte zielen auf die Gewährleistung materieller Lebensbedingungen und der Möglichkeit persönlicher und kultureller Entfaltung. Das „Recht auf Arbeit“, das „Recht auf Gesundheit“, das „Recht auf Bildung“ wurzeln in dem Grundprinzip, daß die staatliche Gemeinschaft und äußerstenfalls die Weltgesellschaft jedem Menschen die elementaren Bedingungen des Lebens und der persönlichen Selbstbestimmung zu gewährleisten habe. Dazu gehört die Unterlassung willkürlicher und unverhältnismäßiger Eingriffe seitens der öffentlichen Gewalt, im Hauptpunkt aber ein Tätigwerden des Staates, um Hindernisse und Ungleichheit zu beseitigen, Leistungen und Vorteile zum Ausgleich von Schwäche und Not zu gewähren und im ganzen die Gesellschaftsordnung im Sinne der persönlichen Selbstbestimmung und des sozialen Schutzes zu gestalten.

Es liegt auf der Hand, daß die Sicherung solcher Teilhabe durch Rechte des einzelnen einer anderen Form bedarf und eine andere Dogmatik hervorruft als der unmittelbar aus der Verfassung ableitbare Schutz individueller Freiheit und Betätigung gegen Eingriffe hoheitlicher Gewalt. „Soziale Rechte“ drücken typischerweise Staatsaufgaben in der Sprache subjektiver Handlungsmöglichkeiten aus, ohne damit unmittelbar durch die Verfassungsnorm eine definierte und abgeschlossene Rechtszuweisung einzuräumen. In Richtung gegen den Staat geben sie eine vervollständigungsbedürftige Zusage der Teilhabe an Vorteilen, Leistungen und sonstigem Interessenschutz, unter dem Vorbehalt der politischen Entscheidung durch Gesetz und haushaltswirtschaftliche Mittelbereitstellung. In Richtung gegen Dritte kann die Verfassungsnorm eine Sozialbindung privater Rechte bewirken, wie beim Eigentum und den anderen Wirtschaftsfreiheiten, aber nicht für sich allein einen Anspruch, etwa auf Abschluß eines Arbeits-oder Mietvertrages, begründen. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verbietet es, unmittelbar aus der Verfassung Ermächtigungen für Verwaltungshandeln abzuleiten, so daß ein soziales Recht der Exekutive keine Befugnis für Anordnungen gegen Dritte gibt, mit denen der Schutzgehalt dieses Rechts im Einzelfall ohne gesetzliche Grundlage durchgesetzt werden könnte. 2. Politische Freiheit und Partizipationsdemokratie Wahlrecht und Gründungsfreiheit der Parteien, Meinungsfreiheit, Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und Rundfunkfreiheit sind Grundrechte der politischen Freiheit, die dem einzelnen und den Gruppen eine gesicherte Mitwirkung an der freien politischen Meinungs-und Willensbildung ermöglichen. Die in neuerer Zeit hervorgetretenen Vorschläge und Forderungen einer verstärkten „Partizipation“ gehen darüber hinaus und wollen die demokratische Selbstbestimmung wirksamer gegenüber der parlamentarischen Parteiendemokratie zur Geltung bringen. In dieser Stoßrichtung stimmen sie mit den Projekten einer Ergänzung der parlamentarischen Gesetzgebung durch plebiszitäre Verfahren der „Volksgesetzgebung“ überein. Genau besehen haben Partizipation und Plebiszit aber eine gegenläufige Tendenz. Denn kein Entscheidungsverfahren negiert den individuellen Anteil an der politischen Willensbildung so sehr wie die Abstimmung über eine Sachfrage, mit der das „Volk“ nach dem Willen der Initianten dazu gerufen wird, eine aus dem Zusammenhang des politischen Prozesses herausgelöste, isolierte Frage mit Ja oder Nein zu beantworten.

Die basisdemokratische Programmatik politischer Mitwirkung beschränkt sich nicht auf die Gestaltung der Gesetzgebung. Die verschiedenen Projekte der Partizipation an Verwaltungsentscheidungen wollen die Ausführung der Gesetze durch die Exekutive mit Hilfe von Verfahren der „Bürgerbeteiligung“ modifizieren Die begehrte Beteiligung basiert nicht auf einer individuellen Rechts-betroffenheit des einzelnen, sondern auf einem diffusen demokratischen Interesse der Mitsprache in Angelegenheiten von öffentlichem Gewicht. Das Pathos der „Basis“, der Unmittelbarkeit, -der fundamentaldemokratischen Entscheidungsfindung wendet sich gegen die Institutionen politischen und administrativen Handelns, gegen Politik und Bürokratie, aber auch gegen die als verfestigt empfundenen politischen Parteien und die etablierten Organisationsformen der Interessen. Ver- meintlich vorhandene Vollzugsdefizite werden auf eine „Partizipations-Lücke“ zurückgeführt. Das von den GRÜNEN angestrebte Umweltgrundrecht hat im Kern diese partizipationsdemokratische Funktion.

Die Partizipationsdemokratie stößt rasch aüf die institutionellen Voraussetzungen und Funktionsbedingungen der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive sichern einen Verantwortungszusammenhang, der sich nur in begrenzten Feldern, etwa bei der raumbezogenen Planung, für Spielräume mitbestimmender Beteiligung öffnet. Der Partizipationsgedanke schiebt dem Prinzip nach die auf dem Gewaltenteilungsprinzip beruhende Unterscheidung von Gesetzgebung und verantwortlicher Ausführung des Gesetzes beiseite. Nicht überall, doch in zahlreichen Erscheinungsformen geht die eingeforderte politische Selbstbestimmung über in die altbekannte pluralistische Mitwirkung sozialer und wirtschaftlicher Interessen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. K. Stem/B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag, 1990.

  2. So der Antrag der Fraktion der SPD auf Einsetzung eines Verfassungsrates, BTagDrucks. 12/415.

  3. Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, BTag-Drucks. 12/567; Beschlußempfehlung des Ältestenrates, BTagDrucks. 12/787. Siehe auch die weitergehenden Anträge der Fraktion der SPD, BTagDrucks. 12/415, und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, BTagDrucks. 12/563.

  4. Zu Unrecht wird von verschiedenen Interpreten des Art. 146 GG behauptet, ein Referendum sei geboten, vgl. z. B. U. Storost, in: Der Staat, 29 (1990), S. 321, und ihm folgend R. Wahl, Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 468. Die Frage kann hier nicht vertieft werden; siehe P. Badura, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), 115 (1990), S. 314.

  5. Vgl. p. Häberle, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 39 (1990), S. 319.

  6. Fichte erschließt aus dem Zweck des Staates, Leben, Sicherheit und wirtschaftliche Existenz des einzelnen zu gewährleisten, ein Recht des einzelnen auf Arbeit und Lebensunterhalt und ein zur rechtlichen Verfassung gehörendes Interventionsrecht des Staates zur Sicherung dieses Rechts (Grundlage des Naturrechts, 1796, § 18 über den Geist des Zivil-oder Eigentumsvertrages). Der Sozialismus organisiert den Staat als einen vergemeinschafteten Produktions-und Arbeitsprozeß, um das Recht auf Arbeit für jedermann zu verwirklichen.

  7. Vgl. M. Rath, Die Garantie des Rechts auf Arbeit, 1974; R. Scholz, in: E. -W. Böckenförde/J. Jekewitz/Th. Ramm, Soziale Grundrechte, 1980, S. 75; R. Wank, Das Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht und im Arbeitsrecht, 1980; P. Badura, Staatsrecht, 1986, C 89.

  8. Vgl. E. Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstände verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, in: AöR, 109 (1984), S. 532; H. H. Rupp, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Vorschrift über den Umweltschutz?, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVB 1.), (1985), S. 990; M. Kloepfer, Umweltschutz und Verfassungsrecht, in: DVB 1., (1988), S. 305; H. H. Klein, Staatsziele im Verfassungsgesetz -Empfiehlt es sich, ein Staatsziel Umweltschutz in das Grundgesetz aufzunehmen?, in: DVB 1., (1991), S. 730.

  9. Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge, Bericht der Sachverständigenkommission, hrsg. vom Bundesminister des Innern und dem Bundesminister der Justiz, Bonn 1983; P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, in: AöR, 90 (1965), S. 341; U. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Emst Forsthoff, 1972, S. 325; J. Lücke, Soziale Grundrechte als Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge, in: AöR, 107 (1982), S. 15; P. Badura (Anm. 7), S. 194ff.; H. -Chr. Link/G. Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat -nach 40 Jahren Grundgesetz, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer (VVDStRL), 48 (1990), S. 7, 56; H. H. Klein (Anm. 8), S. 733ff.

  10. H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 17.

  11. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1197£f.

  12. Zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes, das den Staat nicht auf die Verwirklichung einer bestimmten Wirtschaftsverfassung festlegt vgl. BVerfGE 4, II 17; 7, 377/400; 50, 290/338; R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 1990, S. 66ff.

  13. Vgl. W. Weber, Die verfassungsrechtlichen Grenzen sozialstaatlicher Forderungen, in: ders., Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 19703, S. 249ff.

  14. Vgl. H. F. Zacher, Was können wir über das Sozialstaatsprinzip wissen?, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 207; J. Isensee, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise, in: Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 365; N. Blüm/H. Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, 1989.

  15. BVerfGE 18, 257/273; 59, 231/263; 65, 182/193; Bundessozialgericht (BSGE) 6, 213/219.

  16. Vgl. BVerfGE 82, 60/80, 85.

  17. Siehe z. B. Art. 3, Art. 124ff. BayVerf.; Art. 21ff. Brem-Verf.; Art. 27ff. HessVerf.; Art. 23ff. VerfRhPfalz.

  18. Siehe außerdem Art. 141 BayVerf.

  19. Vergleichbar Art. 86 BadWürttVerf.

  20. W. Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, in: VVDStRL, 46 (1988), S. 7.

  21. Gesetzentwurf der Fraktion DIE GRÜNEN, BTag-Drucks. 10/990; Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BTag-Drucks. 10/1502; Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BTagDrucks. 10/4636; BTag. StenBer. über die 187. Sitzung am 16. 1. 1986, Plenarprotokoll 10/187, S. 14254ff.; Gesetzentwurf der Fraktion der SPD, BTag-Drucks. 11/10; Gesetzentwürfe der Fraktion DIE GRÜNEN, BTagDrucks. 11/604 und 11/663; Gesetzentwurf des Bundesrates, BTagDrucks. 11/885.

  22. Vgl. D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987; ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991; B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr -Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, in: Europäische Grundrechts-Zeitschrift, (1984), S. 457.

  23. Vgl. H. F. Zacher, Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1968; K. H. Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions-und Leistungsstaat, in: DVB 1., (1971), S. 674; P. Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, in: Staat, 14 (1975), S. 17; ders., Grundfreiheiten der Arbeit, in: Festschrift für Friedrich Berber, 1973, S. 11; E. -W. Böckenförde/J. Jekewitz/Th. Ramm (Anm. 7).

  24. Europäische Sozialcharta vom 18. 10. 1961; Internationale Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. 12. 1966, in: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1991; Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, in: B. Simma/U. Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte. Ihr Internationaler Schutz, München 19852.

  25. Vgl. R. Walter/W. Schmitt-Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, in: WDStRL, 31 (1973), S. 147, 179; R. Breuer, Selbstverwaltung und Mitverwaltung Beteiligter im Widerstreit verfassungsrechtlicher Postulate, in: Staat, 16 (1977), S. 1; G. F. Schuppert, Bürgerinitiative als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, in: AöR, 102 (1977), S. 369; P. Badura (Anm. 7), D 14.

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Peter Badura, Dr. jur., geb. 1934; Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Berlin; Ordinarius für Öffentliches Recht in München. Veröffentlichungen auf dem Gebiet des Staats-und Verwaltungsrechts.