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„Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.“ Zum 50. Jahrestag der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942 | APuZ 1-2/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 1-2/1992 Zur deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert „Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.“ Zum 50. Jahrestag der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942 Artikel 1 Reaktionen auf die Verfolgung der Juden und den Holocaust in Deutschland vor und nach 1945 Die Folgen des Holocaust für die israelische Gesellschaft „Vergangenheitsbewältigung“ Zur Problematik eines umstrittenen Begriffs

„Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.“ Zum 50. Jahrestag der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942

Kurt Pätzold

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Von den Aussagen der Historiker nahezu unbeeinflußt behauptet sich nach wie vor die falsche Vorstellung, während der „Staatssekretär-Beratung“, die am Standrand Berlins unter dem Vorsitz des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, stattfand, sei der Beschluß über die Ermordung der europäischen Judenheit gefaßt worden. Neuerdings ist auch zu lesen, die Teilnehmer der Sitzung hätten „Ausführungsbestimmungen“ zu einem schon ergangenen Befehl erörtert und verabschiedet. Der Aufsatz geht nach einer Darstellung und kritischen Wertung der Quellen den Fragen nach, mit welchen Absichten Heydrich die Zusammenkunft einberief und welchen Platz sie in der Geschichte des Massenmords an den Juden Europas einnimmt, der unmittelbar nach dem Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 mit den Massakern an den Juden im Baltikum, in Weißrußland und in der Ukraine begann. Es waren drei Grundsatzfragen, in denen Heydrich auf der von ihm einberufenen „Wannsee-Konferenz“ nach seinen eigenen Worten „Klarheit“ schaffen wollte: Erstens ging es ihm um die Verdeutlichung seiner eigenen Rolle und der des von ihm geleiteten Hauptamtes, um die Betonung also von deren Kompetenz und Machtbefugnissen. Zweitens wollte der RSHA-Chef jeden eventuell noch existierenden Zweifel darüber ausräumen, daß ausnahmslos alle Juden, die im nazistischen Machtbereich lebten oder noch in ihn geraten würden, getötet werden sollten, mithin Zurückstellungen von Juden von Deportation oder Ermordung immer nur zeitweiligen, von Kriegsnotwendigkeiten diktierten Charakter besaßen. Drittens wünschte Heydrich -und dies betraf die einzige Frage, die diese Kennzeichnung verdiente -die Trennlinie zwischen den Juden, die umgebracht werden sollten, und jenen „Nichtariern" neu und scharf gezogen wissen, denen von den Machthabern zwar noch ein Lebensrecht zugestanden wurde, die aber durch Zwangssterilisation daran gehindert werden sollten, Nachkommen zu zeugen. Die eigentlichen Entscheidungen über die Vernichtung der deutschen und europäischen Judenheit waren schon vor der „Wannsee-Konferenz“ getroffen worden, vor allem in der Phase vor dem Überfall auf die UdSSR.

I.

Im Jahre 1947 waren in Deutschland Spezialisten-gruppen aus den Vereinigten Staaten damit beschäftigt, eine noch nicht bestimmte Anzahl von Prozessen gegen Personen vorzubereiten, die im NS-Staat planend, vorbereitend, organisierend und ausführend an jenen ungezählten Verbrechen beteiligt waren, die sich durch die Geschichte des „Dritten Reiches“ ziehen. Robert M. W. Kempner, der in der Anklage-Behörde der USA bereits beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozeß mitgewirkt und Erfahrungen gesammelt hatte, kehrte mit dem Auftrag nach Deutschland zurück, das Beweismaterial gegen führende Personen des Regimes zusammentragen und sichten zu helfen und es zu Anklageschriften zu verdichten. Mit dieser Arbeit beschäftigt, drängte sich ihm anhand der Dokumente, die bereits aufgefunden worden waren, wie durch seine eigenen Überlegungen über die Funktionsweise der Diktatur der Gedanke auf, daß sich auch in den Akten des einstigen Auswärtigen Amtes Beweise auffinden lassen müßten, welche die Mitwirkung von Beamten an der Vernichtung der europäischen Juden belegten.

Es war diese Vermutung, die Kempner die in Berlin tätigen, das schriftliche Beutegut sichtenden Mitarbeiter seiner Dienststelle antreiben ließ, gerade in dieser Richtung nach Spuren zu suchen. Sie wurden fündig. Und als Kempner telefonisch die Mitteilung erhalten hatte, daß ihnen ein Schriftstück von besonderem Rang in die Hände geraten war, ließ er es sich augenblicklich per Flugzeug nach Nürnberg bringen Kempner hielt alsbald jenes „Besprechungsprotokoll" in Händen, das von einer Zusammenkunft Zeugnis ablegte, die am 20. Januar 1942 unter dem Vorsitz des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, auf dessen Einladung in Berlin stattgefunden hat. Das Schriftstück war in einem Hefter aufbewahrt worden, der einmal in der zum Auswärtigen Amt gehörenden Abteilung D (D für Deutschland) gestanden hatte. Er enthielt auch das Einladungsschreiben, das Heydrich an die Teilnehmer gerichtet hatte. Daraus ging hervor, daß die Besprechung in der im Berliner Stadtrandbezirk Zehlendorf gelegenen Straße Am Großen Wannsee stattfand. Das Gebäude erwies sich als eine geräumige Villa, die einst dem Sicherheitsdienst (SD) der SS gehört hatte, in der Heydrich also der Hausherr war Das Gelände grenzte unmittelbar an den Wannsee. So lag es nahe, daß die Fahnder und Juristen der einfacheren Verständigung halber der Zusammenkunft den Namen „Wannsee-Konferenz“ gaben. Von ihren Teilnehmern selbst hatte sie die anonyme Bezeichnung „Staatssekretär-Besprechung“ erhalten, in Dokumenten scheint auch der Name „Staatssekretär-Sitzung“ auf.

Für die weitere Tätigkeit der amerikanischen Fachleute, welche die Anklagen vorbereiteten, war am wichtigsten, daß das aufgefundene „Besprechungsprotokoll“ eingangs eine vollständige Liste der Teilnehmer enthielt, die Heydrich um sich versammelt hatte. Es waren insgesamt 14 Personen gewesen. Um den Platz dieser Beratung und die Verantwortlichkeit der Teilnehmer genau zu bestimmen, lag es nahe, nach deren Verbleib zu fahnden. 1947 war eine Anzahl von ihnen bereits nicht mehr am Leben, was aber nicht in jedem Falle besagte, daß ihr Tod mit Sicherheit festgestellt und bekannt war. Gewiß war der Tod folgen-der Teilnehmer: Reinhard Heydrich war bei einem Attentat tschechischer Widerstandskämpfer in den Straßen Prags schwer verwundet worden, wenige Tage später verstorben und mit einem spektakulären Staatsbegräbnis in Berlin beigesetzt worden. Dr. Roland Freisler, Staatssekretär im Reichsministerium der Justiz, starb während eines Luftangriffs gegen Kriegsende in den Ruinen der Reichshauptstadt. Dr. Rudolf Lange, SS-Sturmbannführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalbezirk Lettland, war während der Kämpfe in der zur Festung erklärten Stadt Posen umgekommen. Martin Luther, Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, in dessen bürokratischer Hinterlassenschaft sich die 16. Ausfertigung des Besprechungsprotokolls (insgesamt hatten 30 Exemplare existiert) aufgefunden hatte, befand sich seit 1943 im KZ Sachsenhausen in Sonderhaft und war Anfang Mai 1945 in einem Berliner Krankenhaus verstorben. Dr. Alfred Meyer, Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, hatte seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, als das NS-Regime unter den Schlägen der alliierten Armeen zerbrach. Dr. Eberhard Schöngarth, zum Zeitpunkt der Wannsee-Konferenz Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement mit dem Dienstsitz Krakau, zuletzt in gleicher Funktion im Reichskommissariat der Niederlande, war in britische Gefangenschaft geraten und von einem Militärgericht 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.

Der Verbleib einer Anzahl weiterer Personen, die an der Besprechung teilgenommen hatten, war ungewiß; bisher war nach ihnen vergeblich gefahndet worden. SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Leiter des Referats IVB des sogenannten Judenreferats im RSHA, war schon während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozesses 1945/46 immer wieder als einer der wichtigsten SS-Offiziere genannt worden, als eine Zentralfigur bei der Organisation des Massenmords an den europäischen Juden. Es wurde angenommen, daß er bei Kriegsende umgekommen sei, doch gab es dafür keinen einzigen sicheren Anhaltspunkt. Eichmann war unter falschem Namen in Gefangenschaft geraten, dann aus einem Gefangenenlager entflohen und arbeitete 1947 unerkannt als Waldarbeiter in einem Forstwirtschaftsbetrieb im Niedersächsischen. Unbekannt war auch der Aufenthalt oder das Ende von Eichmanns unmittelbarem Vorgesetzten, dem Leiter des Amtes IV im RSHA, Gruppenführer Heinrich Müller („Gestapo-Müller“), der zu den am meisten gesuchten SS-Generälen gehörte. Ob er das Kriegsende überlebt hatte, konnte trotz aller Anstrengungen nie aufgeklärt werden.

Nichtsdestoweniger: Die Träger einer Anzahl von Namen, welche die Teilnehmerliste des Besprechungsprotokolls aufführte, konnten aufgrund von Kempners Ersuchen alsbald aufgespürt werden. Sie befanden sich als Internierte oder Untersuchungsgefangene im Gewahrsam der westlichen Siegermächte. Kempner konnte damit beginnen, sie in der Sache „Wannsee-Konferenz“ zu vernehmen. Er befragte Friedrich Wilhelm Kritzinger, der als führender Mitarbeiter der Reichskanzlei von Heydrich eingeladen worden war und noch 1942 zum Staatssekretär aufstieg. Weiter ließ er sich Erich Neumann kommen, einen der Stellvertreter Görings in dessen Eigenschaft als Chef der Behörde für den Vierjahresplan, gleichfalls ein Mann im Range eines Staatssekretärs. Schließlich hatte Kempner es mit Dr. Wilhelm Stuckart zu tun, Staatssekretär im Reichsinnenministerium, der sich gemeinsam mit Hans Globke als Kommentator der Nürnberger Gesetze von 1935 hervorgetan und seitdem die Vertreibung der Juden aus Deutschland systematisch vorangetrieben hatte.

Keine dieser Befragungen führte über jene Erkenntnisse hinaus, die sich dem Text des Besprechungsprotokolls entnehmen ließen. Mehr noch: Im Punkte „Wannsee-Konferenz“ ließ eigenartigerweise das Gedächtnis alle Befragten im Stich. Sie konnten sich nicht oder kaum erinnern und wollten, als sie den Tagungsort verlassen hatten, nicht gewußt haben, daß ihnen Heydrich dort das Programm der „Endlösung der Judenfrage“ rückhaltlos entwickelte, ihre Teilnahme allein sie also zu Mitwissern, wenn nicht gar Mittätern an einem geschichtlich beispiellosen Verbrechen machte. Einzig das Gespräch mit Kritzinger nahm nach Kempners Bericht einen etwas abweichenden Verlauf. Er, der altgediente Beamte der Reichsministerialbürokratie, bekundete jedenfalls rückblikkend seine Scham darüber, daß er diesem Regime gedient hatte 4.

Ob die Zeichen von Reue auch das Auftreten des einstigen Staatssekretärs in der Reichskanzlei während des Prozesses bestimmt hätten, blieb ungeklärt. Kritzinger starb in einem Nürnberger Krankenhaus, ohne vor Gericht angeklagt worden zu sein. So wurden im Verlauf der sogenannten Nachfolgeprozesse vor dem in Nürnberg tagenden Gerichtshof der USA einzig zwei ehemalige Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“ auf die Anklagebank gesetzt. Im „Wilhelmstraßen-Prozeß“ (Fall XI) befand sich Konferenzteilnehmer Wilhelm Stuckart unter den insgesamt 21 angeklagten ehemaligen Ministern, Staatssekretären und weiteren hochgestellten NS-Beamten. Otto Hofmann, der als Chef des Rasse-und Siedlungs-Hauptamtes (RuSHA) der SS an der Beratung am 20. Januar 1942 teilgenommen hatte, gehörte im RuSHA-Prozeß (Fall VIII) zu den 14 Angeklagten, besetzte jedoch nicht Platz 1 der Beschuldigten, der für seinen Amtsnachfolger bestimmt war.

Die ersten Spuren, die zur „Wannsee-Konferenz“ führten, sowie deren Ausdeutung und Bewertung waren mithin das Werk von Untersuchungsbeamten, Fahndern und Juristen der USA. Die Historiker traten erst später auf den Plan. Während das Interesse der Ankläger und Richter der Aufklärung der Frage galt, welcher Anteil an dem unter rassistischen Vorwänden verübten Massenmord an den europäischen Juden einzelnen Personen zuzumessen war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber auf die Fragen, warum und wie es zur Besprechung Heydrichs mit den Staatssekretären gekommen war, welche Ziele mit ihr verfolgt wurden und welche Bedeutung diese Konferenz im Prozeß der Judenvernichtung und darüber hinaus im Zweiten Weltkrieg hatte.

Die Zahl der Quellen und Dokumente, die zur Untersuchung und Beantwortung dieser Fragen zur Verfügung steht, war und bleibt begrenzt, denn es steht nicht zu erwarten, daß sie in irgendeiner wesentlichen Weise ergänzt werden könnte. Überliefert ist der Text der ursprünglichen Einladungsschreiben, die am 29. November 1941 ergingen, sowie der am 8. Januar 1942 von Heydrich unterzeichnete Text, mit dem die Teilnehmer auf den endgültigen Termin geladen wurden. Dann existiert als das Schlüsseldokument die von Adolf Eichmann auf Weisungen Heydrichs angefertigte Niederschrift, das „Besprechungsprotokoll", das unmittelbar nach Ende der Zusammenkunft hergestellt wurde. Seine Versendung an die Teilnehmer erfolgte mit einem Begleitschreiben, das Heydrichs Unterschrift trägt. Vor der Konferenz ließ sich Unterstaatssekretär Luther von dem ihm unterstellten „Judenreferenten“ einige Stichpunkte formulieren, die ihm für das eigene Auftreten während der Sitzung als Gedächtnisstütze dienen sollten. Auch dieses Schriftstück wurde gefunden Damit ist die Liste der Quellen, über die die Historiker verfügen, soweit es sich um zeitgenössische Dokumente handelt, bereits erschöpft.

Eine Aufstellung der Schriftstücke, die zwischen Ende November 1941 und Ende Januar 1942 im Zusammenhang mit der „Wannsee-Konferenz“ entstanden sein könnten, wäre mindestens gleichlang: Eichmann hat auf Heydrichs Weisung hin für dessen einleitende Ausführungen Fakten und Zahlenmaterial zusammengestellt. Heydrich stützte seine Darlegungen am Beginn der Beratung darauf und wahrscheihnlich auf eigene Notizen. Während der Besprechung dürften sich eine Anzahl der Anwesenden Notizen gemacht haben. Mit Sicherheit besaß die -nach Eichmanns Zeugnis -anwesende Sekretärin ebenfalls Aufzeichnungen über den Verlauf der Aussprache. Dem schließlich versandten Text des „Besprechungsprotokolls“ dürfte mindestens ein Entwurf -Eichmann legte die Existenz mehrerer solcher Entwürfe während seines Verhörs nahe was allerdings wohl eher in der Absicht eigener Verteidigung geschah -vorausgegangen sein. Von alldem hat sich nichts auffinden lassen. Manches mag bald nach dem Treffen, anderes später vernichtet worden sein. In den Akten der beteiligten Ministerien und anderer Behörden haben sich keine Aufzeichnungen von Mitarbeitern finden lassen, die von Teilnehmern der Konferenz über deren Stattfinden und Ergebnisse zusammenfassend unterrichtet worden wären.

Um so wichtiger erscheinen daher für die Geschichtswissenschaft die Aussagen des Mannes, der nach Heydrich und Müller sich am meisten mit der Vorbereitung der Staatssekretär-Beratung hatte befassen müssen und in dessen Referat dann über Jahre die organisatorischen Stränge der Deportation von Millionen Juden in die Vernichtungslager zusammenliefen. Adolf Eichmann, 1960 vom Geheimdienst Israels in Argentinien gekidnappt, sagte 1960/61 als Untersuchungsgefangener und als Angeklagter mehrfach zum Thema „Wannsee-Konferenz“ aus, zuerst vor dem ihn verhörenden Polizei-Hauptmann Avner Less, dann vor dem Gerichtshof. Diese Aussagen wurden ebenso exakt protokollarisch aufgenommen und von Eichmann abgezeichnet wie die Schriftstücke, die er in der Haft für den Vernehmer, seinen Verteidiger und für sein eigenes Auftreten anfertigte

Wer auf sie zurückgreift, muß sich mit quellenkritischem Mißtrauen wappnen. Zum einen hatte Eichmann bereits vor seiner Gefangennahme und dann während der Untersuchungshaft sich mit inzwischen erschienenen Publikationen bekanntmachen können, deren Gegenstand Judenverfolgung und Judenmord, darunter auch Eichmanns Anteil daran, bildeten Was er aus eigener Erinnerung wußte, was ihm erst durch die Lektüre bewußt geworden war, vermochte er nach eigenem Zeugnis mitunter nicht genau zu unterscheiden. Zudem hatte er schon während der fünfziger Jahre -seine eigene Enttarnung und Entführung nicht ahnend -einem niederländischen Journalisten, ohne seine Identität preiszugeben, die dieser aber erraten hat, die „Eichmann-Story“ erzählt sich dabei also seine Version des Geschehenen zurechtgemacht; die Antworten Eichmanns auf die Fragen von Less und später der Richter und Ankläger können also nicht als ursprünglich oder spontan gewertet werden.

Am wichtigsten ist aber, daß Eichmann sich zu verteidigen, genauer: seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen trachtete. Das führte dazu, daß er seine eigene Rolle bei der Vorbereitung der Konferenz und während ihres Verlaufs zu marginalisieren suchte. Er stellte sich als der „kleine Oberstleutnant“ (das war der entsprechende militärische Wehrmachtsrang zu dem eines Obersturmbannführers der SS) dar, der -ein wenig abseits am Tisch der Sekretärin plaziert -in der Gesellschaft der Staatssekretäre und Generäle, die er auch die „Päpste“ nannte, nur hätte zuhören und sich wundem dürfen.

Dies alles wird bedenken müssen, wer die beiden Komplexe betrachtet, zu denen Eichmanns Auskünfte bisher Unbekanntes hinzufügte: Der eine betrifft die allgemeine Atmosphäre der Beratung, über welche die Niederschrift keine Schlußfolgerungen zuläßt, und der andere bezieht sich auf den Anteil der einzelnen Personen und ihren Beitrag zum Ergebnis des Treffens, soweit er nicht aus den knappen Aufzeichnungen des „Besprechungsprotokolls“ hervorgeht. Zudem suchte Eichmann 1960/61 in Jerusalem auch ein Bild von seinen eigenen Empfindungen über den Verlauf und die Folgen der „Wannsee-Konferenz“ zu geben. Es war durch und durch verlogen, suchte er doch wirklich diesen 20. Januar 1942 als den Tag seiner SS-Karriere auszugeben, an dem sein angebliches Vorhaben, eine „glimpfliche“ Lösung der Judenfrage durchzusetzen, als gescheitert anzusehen sei. Er hätte nach Beratungsende eine „pilatussche“ Situation empfunden mit welchem schiefen Bild der einstige Leiter des Referats IV B 4 ausdrücken wollte: er habe den Massenmord nicht gewollt, er habe ihn aber auch gegen die Mächtigen nicht verhindern können.

Tatsächlich gab es im Besprechungsraum in der Villa nur eine Person, die später unvoreingenommen und von Strafe unbedroht hätte bezeugen können, wie die wenigen Beratungsstunden verliefen: die anwesende Sekretärin. Doch wurde nach ihr offenbar nie ernsthaft gefahndet. Sie hat sich aus freien Stücken zur Zeugenschaft nicht gemeldet. Auch ihr Name ist unbekannt.

II.

Wer sich mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts erneut mit der „Wannsee-Konferenz“ befaßt, stößt nicht nur an die Grenzen der Quellen, zwischen und hinter denen Raum für Mutmaßungen bleibt, sondern hat sich auch mit einem mittlerweile entstandenen und verbreiteten Bild von diesem Ereignis auseinanderzusetzen, das man Legende nicht nennen mag, das aber doch zu ihren engen Verwandten gehört. Es ist von dieser Beratung am 20. Januar 1942 wieder und wieder gesagt und geschrieben worden, ihre Teilnehmer hätten den Mord an den Juden Europas beschlossen. Diese Vorstellung hat sich gegenüber dem tatsachengesättigten Widerspruch der Historiker als außerordentlich resistent erwiesen. Das falsche Bild bedient offenbar ein Bedürfnis -erlaubt es doch, die ungeheuerliche Absicht, Millionen von Menschen kaltherzig zu töten, an einen bestimm-ten Personenkreis zu binden, den Entschluß auf Tag und Stunde zu datieren und sich einen Ort vorzustellen, an dem „es sich ereignete“.

Die vorurteilsfreie Kenntnisnahme des „Besprechungsprotokolls“ überzeugt davon, daß die Versammelten nichts beschlossen, was als gedanklicher und befehlsmäßiger Ausgangspunkt des Verbrechens gewertet werden könnte. Doch konnte die Geschichtswissenschaft das Bedürfnis nach konkreter geschichtlicher Vorstellung nicht befriedigen, ihre Vertreter vermochten zum falschen Geschichtsbild keine anschauliche Alternative zu bieten. Statt dessen vertraten sie voneinander abweichende Versionen darüber, wann, wie und in welchen Zusammenhängen der Entschluß, von der Vertreibung der Juden aus dem deutschen Machtbereich zu ihrer ausnahmslosen Tötung in diesem Machtbereich überzugehen, gefällt worden war. Das komplizierte Thema bildete den Gegenstand weitläufiger Forschungen, wurde auf internationalen Tagungen von Spezialisten erörtert und die gefundenen Erkenntnisse erwiesen sich als sehr spröde, sollten sie in allgemein-verständlichen Publikationen „verdolmetscht“ werden

Immerhin scheint es gelungen zu sein, den landläufigen Irrtum zumindest zu erschüttern. Indessen las man neuerdings in Presseveröffentlichungen abgewandelte Versionen, die von der Wahrheit nach wie vor einigermaßen entfernt sind. So hieß es etwa, daß am 20. Januar 1942 am Wannsee die „Ausführungsbestimmungen erlassen“ worden wären, denen ein Göring-Befehl an Heydrich zur „Endlösung“ vorausgegangen sei. In einer anderen Darstellung wird geschrieben, daß die Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“ „koordinierende Maßnahmen zur Ermordung von über 11 Millionen Juden aus europäischen Ländern beschlossen“ hätten

Dennoch scheint die Erkenntnis um sich zu greifen, daß die Entscheidung, die Juden Europas umzubringen und ein „judenfreies“ Europa unterm Hakenkreuz zu schaffen, schon vor der „WannseeKonferenz“ gefallen und die grausige Untat bereits ins Werk gesetzt war, bevor sich die SS-Generäle und -Offiziere sowie die Staatssekretäre am 20. Januar 1942 zu ihrer Konferenz versammelten. Der Entschluß, soviel ist sicher, fiel in den Monaten vor dem Überfall auf die UdSSR, der am 22. Juni 1941 erfolgte. Er gehörte im weitesten Sinne zu den in dieser Zeit intensivierten Planungen für die „Neuordnung Europas“ nach deutsch-faschistischen Grundsätzen. In diesen Monaten ergingen nicht nur die Befehle zur Formierung der Mörder-Einheiten, die als „Einsatzgruppen“ der Sicherheitspolizei und des SD hinter der in die Sowjetunion einfallenden Wehrmacht mit den Massakern begannen Gleichzeitig wurden sich die Eroberer auch darüber schlüssig, daß sie innerhalb des kolonialen Riesenreichs, das sie bis an die Grenzen des Ural zu errichten trachteten, großen Gruppen von Menschen -die Rede war von „.. . zig Millionen“ -die Lebensgrundlagen entziehen würden, indem sie sie in Landstrichen isolierten oder in Gebiete abdrängten, in denen sie auch bei angestrengtester Arbeit der Natur ausreichende Nahrung nicht abgewinnen konnten

Läßt sich also der Zeitpunkt, an dem der Beschluß über den Massenmord an den Juden gefaßt wurde, mit großer Sicherheit auf das Frühjahr 1941, in die abschließende Planungsphase des Krieges gegen die UdSSR, datieren, so wird die Aussage unsicherer, wenn die Frage beantwortet werden soll, wer an der verbrecherischen Entscheidung beteiligt war. In allererster Linie ist da Hitler zu nennen, der in allen Jahren zuvor -wenn er das auch nicht öffentlich kenntlich machte -darauf bestanden hatte, die oberste Instanz in allen die Verfolgung und Drangsalierung der Juden betreffenden Fragen zu sein und der sich es mitunter verbeten hatte, in diesem Punkte mit unverlangten Ratschlägen belästigt zu werden.

Ohne Hitlers ausdrückliches „Ja“ war das Verbrechen nicht zu befehlen. Doch muß das nicht bedeuten, daß der Vorschlag, den letzten Schritt von der verbrecherischen Idee zu ihrer Verwirklichung zu gehen, zuerst von ihm gemacht wurde. Es ist nicht auszuschließen, daß Himmler oder Göring während der Gespräche über den „Ostkrieg“, das Okkupationsregime und die Fernziele der Kolonisatoren zuerst die Rede auf den Mordplan brachten. Damit sind die Namen der beiden Männer genannt, mit denen Hitler (oder die mit Hitler, die Unterscheidung ist nicht sehr groß) mit höchster Wahrscheinlichkeit übereinkam, ihren führenden Part in einem Verbrechen zu übernehmen, das -wie viele Tatsachen die Geschichtswissenschaft über seinen Hergang auch zu Tage gefördert hat und künftig noch feststellen wird -menschliches Vorstellungsvermögen weit übersteigt.

Himmler berief sich später auf einen „Befehl“, den ihm Hitler erteilt habe; Göring unterzeichnete am 31. Juli 1941 die Ermächtigung mit der er dem RSHA-Chef Heydrich auf dessen Verlangen hin bescheinigte, daß er die verantwortliche Person und sein Hauptamt die Zentralstelle sei, von der die Fäden zur mörderischen „Endlösung der Judenfrage“ ausgingen und bei der sie wieder zusammenliefen. Wann Heydrich diese Rolle tatsächlich übernahm, kann auf Tag und Stunde nicht bestimmt werden. Es geschah dies aber geraume Zeit vor dem 22. Juni 1941, hatte er doch im Zusammenwirken mit anderen Hauptämtern des SS-Apparates zuvor bereits die Einsatzgruppen formiert, geschult und deren Führer über ihre Aufgaben instruiert.

Die Feststellung, daß die Geschichte des Massenmords an den Juden Europas mit dem Überfall auf die UdSSR beginnt -mit hoher Wahrscheinlichkeit war das Massaker im grenznahen litauischen Ort Garsden, dem am 24. Juni 1941 201 Juden zum Opfer fielen, die Bluttat, die am Anfang des systematischen Tötens steht bedient nicht nur das (wie mitunter gemeint wird: übertriebene) Interesse an historiographischer Genauigkeit. Sie macht deutlich, daß der Ausgangspunkt des Verbrechens in einem Moment liegt, da die Machthaber um Hitler keinen Zweifel daran hegten, daß sie ihre Ziele wirklich erreichen könnten. Sie waren ihrer Endsiegerwartungen ganz sicher. Damit erledigt sich aber auch die Behauptung, der zufolge der Juden-mord eine Art Ersatzfunktion für Hitler und seine Gefolgsleute besessen habe, die den „Sieg“ über die Juden, d. h.deren Ausrottung, betrieben hätten, weil sie den Sieg über ihre Kriegsgegner nicht mehr hätten erreichen können Das Verbrechen wurde aber beschlossen und ins Werk gesetzt, als die politischen und militärischen Führer damit rechneten, in etwa zwei Monaten die UdSSR geschlagen zu haben, woraus sie sich den Gewinn versprachen, einen beliebig langen Krieg gegen Großbritannien und die USA führen und siegreich beenden zu können.

Im zweiten Halbjahr 1941 begann der Judenmord auf dem Territorium der Sowjetunion, in deren baltischen, weißrussischen und ukrainischen Gebieten sowie in jenen Landesteilen, die sich die UdSSR angeeignet hatte, als die Wehrmacht Polen im September 1939 zerschlug. Mit Gewehren, Pistolen und Maschinengewehren wurden von den Angehörigen der Einsatzgruppen Hunderttausende Opfer niedergemacht. Im Dezember 1941 begann ein SS-Spezialkommando im Reichsgau Wartheland in einem Ort namens Kulmhof (polnisch: Chelmno), Juden aus der näheren Umgebung in für das Verbrechen speziell umgebauten Lastkraftwagen zu ersticken. Die Motorabgase wurden in den Laderaum geleitet, in den die Opfer unter Täuschung und mit Gewalt hineingetrieben wurden. In Serbien begann in der Nähe Belgrads zur gleichen Zeit die Massenerschießung von Juden, die als „Geiseln“ genommen worden waren. In Auschwitz hatte an sowjetischen Kriegsgefangenen und kranken Lagerinsassen die Erprobung des Massenmords unter Einsatz des Gases Zyklon B stattgefunden. Im äußersten Osten des Generalgouvernements waren die Vorbereitung für die Errichtung von Vernichtungsstätten im Gange, in denen das Judentum Polens und Juden aus den angrenzenden Staaten und Gebieten umgebracht werden sollten.

Nachdem im September die Juden im „großdeutschen“ Reichsgebiet gezwungen worden waren, sich -sofern sie das sechste Lebensjahr überschritten hatten -öffentlich mit dem „Judenstern“ zu kennzeichnen, setzten im Oktober die Deportationen deutscher, österreichischer und tschechischer Juden „nach dem Osten“ ein. Sie wurden in Ghettos in Polen und im erobertem sowjetischen Territorium gepfercht, die Wartestationen auf den Tod waren. Ende November 1941 wurden Juden aus Deutschland bei Riga in einem Waldgebiet zu Hunderten erschossen.

Was die „Endlösung der Judenfrage“ genannt wurde, das hatten die Täter an den Schreibtischen wie die an den Erschießungsgruben mithin ins Werk gesetzt. Von Tag zu Tag wuchs die Zahl ihrer Opfer. Die Mörder kamen befehlsgemäß voran und sie stießen auf weniger Hindernisse und Schwierigkeiten, als sie erwartet haben mochten. Zwar hatte die nichtjüdische Bevölkerung in den eroberten Gebieten sich nicht in jenem Maße zu Pogromen anstacheln lassen, wie das Befehlshaber der Einsatzkommandos der SS wünschten, aber die vom Krieg und der Besatzung überrumpelten Menschenmassen waren eingeschüchtert, verschreckt, gelähmt. Generals-und Offizierskorps der Wehrmacht, aus deren Reihen während des Feldzugs in Polen 1939 Proteste gegen das barbarische Vorgehen von SS-Einheiten in Wort und Schrift erhoben worden waren, verhielten sich diesmal kooperativ.

Die „Probleme“ derjenigen, die an den Schalthebeln des Verbrechens saßen und die es vor Ort ausführten, waren im wesentlichen organisatorischer Natur. Der hereinbrechende Winter und der rasch tiefgefrierende Boden erschwerte die Besei-B tigung der Leichen. Die Schienenwege, auf denen die Opfer aus „Großdeutschland“ in die Ghettos und zu den Vernichtungsstätten transportiert wurden, waren verstopft und das durch den Krieg überbeanspruchte und verschleißende rollende Material der Reichsbahn stand nur begrenzt zur Verfügung.

Doch hatten diese Schwierigkeiten keineswegs jenes Ausmaß angenommen, von dem Eichmann in Jerusalem in freier Phantasie sprach, um zu begründen, warum die „Wannsee-Konferenz“ eigentlich hätte stattfinden müssen. In das Reich der Fabel gehört auch seine Behauptung, daß eine Unzahl von bürokratischen Barrieren hätte aus dem Weg geräumt werden müssen Im „Besprechungsprotokoll“ findet sich eine Erwähnung der Abhängigkeit des Tempos der „Endlösung“ von der Bereitstellung des Transportraums -mehr nicht Und von auch nur einem leisen Ordnungsruf an die Adresse von Bürokraten, die das Fortschreiten des Mordens behindert hätten, kann dort nichts nachgelesen werden.

So erhebt sich die Frage, was Heydrich tatsächlich veranlaßte, jene Besprechung einzuberufen, die nach der ursprünglichen Terminplanung am 9. Dezember 1941 stattfinden sollte, dann wegen des Kriegsbeginns gegen die USA verschoben wurde, jedoch auf einen relativ späten Termin, der den Schluß zuläßt, daß eine besondere Dringlichkeit für das Treffen nicht vorlag. Einen Schlüssel für die Beantwortung der Frage mag das Schreiben liefern, das Heydrich fünf Tage nach der „WannseeKonferenz“ an den Chef des SS-Personalhauptamtes sandte Heydrich schickte SS-Gruppenführer Schmitt in Fotokopie jenes schon erwähnte, vom 31. Juli 1941 datierte „Bestellungsschreiben des Reichsmarschalls des Großdeutschen Reiches/Beauftragten des Vierjahresplans und Vorsitzenden des Ministerrats für die Reichsverteidigung“, das Heydrich als den Beauftragten „für eine Gesamtlösung der Judenfrage“ auswies. Der RSHA-Chef, der um Kenntnisnahme und Beachtung bat, wünschte offenbar, daß seine Ermächtigung durch Göring der eigenen Personalakte beigefügt würde. Heydrichs Begleitbrief aber schließt mit dem Satz (der diesem Artikel als Überschrift vorangestellt ist): „Die vorbereitenden Arbeiten sind eingeleitet.“

Die Möglichkeit, daß Heydrich mit dieser Wendung zu verschleiern suchte, wie weit das Massenmorden bereits vorgeschritten war, scheidet gegenüber einem Adressaten aus, dessen Amt an der Auswahl der Kommandeure der Einsatzgruppen direkt beteiligt war. Daß Heydrich die bis zum Zeitpunkt der „Wannsee-Konferenz“ verübten Massaker als „vorbereitende Arbeiten“ ansah, bezeugt demgegenüber, daß er sich bewußt gemacht hatte, daß er und sein Apparat erst am Beginn der Verwirklichung jener „Lösung“ stand, die -dem „Besprechungsprotokoll“ zufolge -„der Führer genehmigt“ hatte Es waren ganz andere Vernichtungszahlen zu erreichen, wenn die -geschätzten -elf Millionen Menschen, die Judenheit Europas, umgebracht werden sollten. Zu diesem Zweck und mit diesem Ziel war das reibungslose Zusammenwirken aller Obersten Reichsbehörden und der weiteren beteiligten Instanzen erforderlich. Es zu sichern, gleichsam vorbeugend denkbare Hemmnisse auszuschließen, darin vor allem lag die Absicht des RSHA-Chefs, dem es offenkundig um die allgemeine, aber strikt verbindliche Orientierung der Teilnehmer viel mehr zu tun war als nur um „Ausführungsbestimmungen“.

Um sie konnte es an diesem Tage auch deshalb nicht gehen, weil die Hauptinstrumente der Massentötungen, die Vemichtungsstätten, sich noch im Aufbau befanden und sich über deren Einsatz-und „Funktionstüchtigkeit“ nichts Bestimmtes sagen ließ. Es ist unwahrscheinlich, daß Heydrich die Namen Auschwitz, Belzec, Sobibor und Treblinka während der Beratung überhaupt erwähnt hat. Hätten Heydrich die praktischen Fragen der „Endlösung“ vorrangig beschäftigt, dann hätte er nicht auf die Anwesenheit der Staatssekretäre aus dem Reichsverkehrsministerium und dem Reichsministerium der Finanzen verzichten können, hätte er zudem Vertreter der Generaldirektion der Reichs-bahn und der Direktion der Ostbahn einladen müssen und auch auf der Anwesenheit eines Generals oder Offiziers aus dem Stab der Ordnungspolizei bestanden haben, welche die Begleitkommandos für die Judentransporte „nach dem Osten“ stellte.

Heydrich ging es, wie er im „Besprechungsprotokoll" vermerken ließ, um die Klarheit in Grundsatzfragen Die erste dieser Fragen betraf seine Zuständigkeit und Kompetenz und mithin die sei-nes Amtes und seiner Mitarbeiter, insbesondere Adolf Eichmanns, an den er die „Judenreferenten“ in den einzelnen Ministerien und Dienststellen ausdrücklich verwies Schon als der RSHA-Chef Ende November 1941 die erste Einladung an die Teilnehmer versenden ließ, hatte er jeder von ihnen seine Ermächtigung durch Göring beifügen lassen. Dessen Unterschrift, das wußten die Adressaten aus ihrer eigenen Praxis, war die höchste, die sich in jedem vergleichbaren Falle überhaupt erreichen ließ. Görings Namenszug, des de-signierten Nachfolgers Hitlers, war so viel wert wie dessen eigener. Und dies bedeutete wiederum, daß sich in irgendwelchen die „Endlösung der Judenfrage“ auch nur berührenden Angelegenheiten alle Rückfragen um Heydrich herum erübrigten, ja verboten. Solche Schritte hatte es im Verlauf des zweiten Halbjahrs 1941 aus dem nazistischen Macht-und namentlich aus dem Okkupationsapparat auf sowjetischem Territorium gegeben Sie betrafen insbesondere pragmatische Aspekte -leuchtete doch nicht sogleich allen Zivil-und Militärpersonen ein, daß die Juden ohne Rücksicht auf ihre Verwendbarkeit als Arbeitskräfte vielerorts ausnahmslos vor die Erschießungskommandos geschleppt worden waren.

Das betraf die zweite Grundsatzfrage, in der Heydrich vor den Teilnehmern restlose Klarheit schaffen wollte. Er machte in seinen einleitenden Ausführungen unmißverständlich klar, daß kein Jude den Mördern entgehen sollte. Die Ausbeutung und Ausmergelung der Juden als Zwangsarbeiter galt dem RSHA-Chef immer nur als eine vorübergehende, von zeitweiligen Kriegsnotwendigkeiten diktierte Maßnahme, mehr noch: sie galt ihm selbst als ein Mittel, das Töten voranzutreiben, denn er ging davon aus, daß die zu Schwerstarbeit getriebenen Juden massenweise zugrunde gehen würden.

Eichmann behauptete in Jerusalem, er sei in Heydrichs Rede von der Ankündigung, daß die Juden „straßenbauend“ nach Osten gebracht werden sollten, überrascht worden Das ist ebensowenig auszuschließen wie die Möglichkeit, daß diese Ankündigung eher beiläufig erfolgte und in das Protokoll dann deshalb Aufnahme fand, um allen, denen es unbefugt vor Augen kam, die Vorstellung zu vermitteln, daß die „Endloser“ nur den Erfordernissen des Krieges Rechnung trugen. Immerhin war Heydrich zur gleichen Zeit damit beschäftigt, die sicherheitspolitischen Vorkehrungen für den massenhaften Einsatz von sowjetischen Kriegsgefangenen und „Ostarbeitern“ zu treffen, der ursprünglich nicht vorgesehen war

Heydrich ließ Eichmann in der Niederschrift ausdrücklich festhalten, daß der Zeitpunkt kommen würde, da man auch die letzten dann noch lebenden Juden als Arbeiter nicht mehr brauchen und sie, den „Rest“, töten würde. Angesichts dieser Ankündigung blieb auch nicht der kleinste Gedankenspielraum, in den sich die Vorstellung eines der Anwesenden hätte zurückziehen können, es würden noch Juden am Leben bleiben. Sie konnte sich auch nicht an der Ankündigung bilden, daß eine Anzahl von Juden aus dem Reichsgebiet in das „Altersghetto“ Theresienstadt geschafft werden würde, denn Heydrich kennzeichnete diese Sonderregelung sofort als eine lediglich aus taktischen Rücksichten getroffene Maßnahme Wer auch nur einen Augenblick darauf verwendete, sich die engen Grenzen dieser kleinen Stadt, der einstigen Festung der k. u. k. Monarchie vorzustellen, der konnte zumindest ahnen, was auch denen bevorstand, denen Theresienstadt zur Wartestation auf den Tod bestimmt werden sollte.

Indem Heydrich diese zweite Grundsatzfrage klärte, machte er die Anwesenden spätestens an diesem Tage zu totalen Mitwissern des Verbrechens, das begonnen worden war, dessen Hauptteil aber noch bevorstand und die Mitwirkung der Beratungsteilnehmer verlangte. Spätestens -das will besagen, daß keine Rede davon sein kann, daß auch nur einer der aus den nicht zum SS-Bereich gehörenden Dienststellen kommenden NS-Funktionäre sich ahnungslos in der Wannsee-Villa eingefunden hätte. Für Heydrich und die ihm unterstehenden Angehörigen des RSHA und der Sicherheitspolizei erübrigt sich die Frage des Vorwissens ohnehin. Doch trifft auch für die Staatssekretäre -die, wie die interne Bezeichnung des Treffens beweist, die eigentlichen Adressaten von Heydrichs Veranstaltung waren -uneingeschränkt zu, daß sie von den Judenmassakern zumindest unterrichtet waren. Bis zu diesem 20. Januar 1942 mochten sie vielleicht den Umfang des Mordens und das ganze Ausmaß der Planungen nicht ermessen haben. Als sie den Tagungsort verließen, waren sie die in Sachen „Judenmord“ bestunterrichteten Personen des gesamten Regimes. Genau das aber suchten die Teilnehmer, mit denen Kempner im Verhör sprach, zu bestreiten. Dieser Versuch war ebenso aussichtslos wie jämmerlich. Die dritte Grundsatzfrage, in der Heydrich Klarheit zu schaffen wünschte, war die einzige, die im eigentlichen Sinne die Bezeichnung „frage“ verdiente. Sie betraf ausschließlich die Juden im Reichsgebiet, und sie war entstanden, seitdem mit der Deportation der Juden „nach dem Osten“ begonnen worden war. Dabei hatte sich rasch das Bestreben von NS-Funktionären auf unterer und mittlerer Ebene geltend gemacht, „ihre“ Juden ausnahmslos „abzuschieben“ und sich über die seit 1933 mit bürokratischer Akribie und juristischer Spitzfindigkeit getroffene Entscheidung, wer „Volljude“ sei und wer als „Halb-“ oder „Vierteljude“ von den schärfsten Diffamierungen und Verfolgungen ausgenommen wurde, hinwegzusetzen.

In dieser Praxis drückte sich namentlich die in Kreisen der NSDAP permanent vorhanden gewesene Unzufriedenheit mit den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 aus. Auch in den Führungsgruppen und -instanzen des Regimes wirkten Kräfte, die auf eine Eskalation des Begriffs „Jude“ zielten. Heydrich wußte um die Meinungsverschiedenheiten, die es über die Frage der Behandlung der verschiedenen Gruppen von „Nichtariern" gab, die entweder nicht den „Volljuden“ zugezählt wurden oder als Partner in Ehen mit Nichtjuden („Mischehen“) lebten. Auf diesem Feld konnten in einer schwer vorhersehbaren Zahl von Fällen Komplikationen entstehen, denn von nun an ging es nicht mehr um die Unterscheidung, wer brutal und wer weniger brutal behandelt wurde, sondern um die Sonderung derer, denen ein Lebensrecht noch zugestanden wurde, von jenen, die ermordet werden sollten. Heydrich hielt sich -folgt man den Aufzeichnungen des „Besprechungsprotokolls“ -in diesem zuletzt erörterten Punkt zurück, nannte aber einleitend die Markierung einer scharfen Trennlinie zwischen denen, die getötet werden sollten, und jenen, denen die Machthaber begrenzte Lebensrechte noch zugestanden, die „wichtigste Voraussetzung... für die Durchführung der Evakuierung überhaupt“ Er beschränkte sich darauf, eine Ausarbeitung zu referieren, die aus der Reichskanzlei stammte und bisherige Vorstellungen über die Be-(oder richtiger wäre zu sagen:) Mißhandlung der „Halb-“ und „Vierteljuden“ sowie der Juden in „Mischehen“ zusammenfaßte

Die entscheidende Frage lautete: Sollten Menschen aus jenem Kreis der „Nichtarier“, die nicht den nach nazistischen Maßstäben bestimmten Juden zugezählt worden waren, nun neu „sortiert“ und in die Fänge der Mörder deportiert werden? Während zu Heydrichs bisherigen Ausführungen im Grunde nur Anmerkungen gemacht wurden, entspann sich darüber dem Protokoll zufolge eine zum Teil auch kontroverse Debatte, in deren Verlauf sich die Bereitschaft der Teilnehmer zeigte, die Grenzziehung der „Nürnberger Gesetze“ aufzugeben und weitere Gruppen von Personen zur physischen Liquidierung zu bestimmen. Schon der Vorschlag des Chefs der Reichskanzlei wollte die „Halbjuden“ oder „Mischlinge 1. Grades“ künftig nicht anders als die Juden behandelt, also ermordet sehen. Für eine Reihe von Ausnahmen sollten Einzelfallprüfungen erfolgen, bei denen wiederum De-facto-Todesurteile gefällt werden konnten. Wer einem solchen Urteil entging, würde vor die Wahl gestellt werden, sich sterilisieren zu lassen oder ebenfalls des Reiches verwiesen zu werden, wobei offenbar an Ghettos gedacht war, über deren wahren Charakter kaum Zweifel aufkommen konnten. Einzelfallprüfungen sollten auch die Juden unterworfen werden, die in „Mischehen“ lebten. Taktische Winkelzüge und Zugeständnisse schienen den Rassefanatikern auf diesem Gebiet unverzichtbar, so daß sie mit Rücksicht auf einflußreiche „deutsche Verwandte“ vorsahen, den zwangsweise von seinem Ehepartner gerissenen jüdischen Teil in ein „Altersghetto“ zu deportieren.

Gegen diesen Verfahrensweg und die weiteren „Mischlinge 2. Grades“ sowie die „Ehen von Mischlingen“ betreffenden Vorschläge erhob vor allem der Staatssekretär des Reichsinnenministeriums, Wilhelm Stuckart, entschieden Einspruch. Er wie auch der SS-Gruppenführer Otto Hof-mann, Chef des Rasse-und Siedlungshauptamtes, plädierten für möglichst einfache bürokratische Lösungen, die wenig Verwaltungsaufwand erforderten. Wer nicht in die Vernichtungsstätten deportiert werden würde, der sollte zwangssterilisiert werden.

Die Versammelten waren nicht befugt, über die „restlose Bereinigung des Problems“, als die Heydrich die „Lösung der Mischehen-und Mischlingsfrage“ galt zu befinden und zu entscheiden. Sie konnten Hitler allenfalls ihren gemeinsamen Vorschlag machen, der aber während der Beratung nicht entstand. Auf der Ebene der Referenten sollte daher die weitere Debatte erfolgen. Heydrich mußte mit diesem Ausgang nicht unzufrieden sein Zunächst galten „die Nürnberger Gesetze gewissermaßen (als) die Grundlage“ des Handelns der Sicherheitspolizei weiter. Eichmann und sein Stab hatten bei den Gestapo-Stellen im Reich darauf zu dringen, daß von ihnen abweichendes, eigenmächtiges Vorgehen lokaler Dienststellen unterbunden wurde. Die endgültige Entscheidung war damit aufgeschoben. Hitler fällte sie während des Krieges nicht, doch läßt auch die Debatte während der „Wannsee-Konferenz“ keinen Raum für Zweifel darüber, wie diese Entscheidung „nach dem Endsieg“ ausgesehen haben würde. So viele Juden die Machthaber schon bis zu diesem gedachten Zeitpunkt umgebracht haben würden, es wären ihnen die „Juden“ ganz doch nie ausgegangen, denn sie hätten sich auf der Suche nach dem „jüdischen Blut“ schließlich unabhängig von allen Ahnentafeln all jene vorgenommen, die -wie eine Formulierung im Protokoll besagt -ein „rassisch besonders ungünstiges Erscheinungsbild“ aufwiesen und daher „schon äußerlich zu den Juden“ zu rechnen waren

Tatsächlich wurde auf der „Wannsee-Konferenz“ im eigentlichen Sinne nichts beschlossen. Heydrich traf auch nicht in einem einzigen der von den Teilnehmern vorgetragenen Punkte eine neue Entscheidung. Auf den Einwurf des Staatssekretärs Neumann, daß die im Kriegseinsatz stehenden Juden nicht deportiert werden sollten, konnte der RSHA-Chef antworten, daß entsprechende Richtlinien von ihm bereits genehmigt worden wären Gegenüber dem auftragsgemäßen Drängen des Staatssekretärs Bühler, mit der „Endlösung“ im Generalgouvernement zu beginnen, übte sich Heydrich offenbar in Zurückhaltung. Zu diesem Vorschlag vermerkt das Protokoll keine Reaktion des RSHA-Chefs, der natürlich wußte, daß auf dem Territorium des Generalgouvernements die Vernichtungsstätten bei Lublin bereits geplant bzw. errichtet wurden. Der Niederschrift ist auch nicht zu entnehmen, daß Heydrich sich zustimmend zu den Vorschlägen der Staatssekretäre Meyer und Bühler geäußert hätte, die Juden „gleich in den betreffenden Gebieten“, d. h. in der Nähe ihrer Wohnstätten zu töten Auf dem Territorium der UdSSR war das ohnehin täglich geschehen. In dem Gebiet des Generalgouvernements sollten andere Verfahren angewendet werden.

Ganz am Ende wird im Protokoll vermerkt, daß „die verschiedenen Arten der Lösungsmöglichkeiten besprochen worden“ seien. Eichmann, in Jerusalem daraufhin befragt, übersetzte „Lösungsmöglichkeiten“ mit Tötungsmöglichkeiten und erweckte den Eindruck, es sei schließlich ganz unverhüllt über die Mordpraktiken geredet worden, die er -ebenso wie Lange und Schöngarth -aus eigener Anschauung und Mitwirkung kannte. Diese Darstellung des Untersuchungsgefangenen kann aber auch nur der Bekräftigung jenes Bildes von den „Päpsten“ gedient haben, von denen er doch wissen konnte, wie glimpflich sie nach 1945 davongekommen waren, während ihm der Galgen drohte. Stuckart befand sich schon 1949 in der Bundesrepublik wieder auf freiem Fuß und hätte noch lange leben können, wäre er nicht 1953 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Und die gegen Hofmann ausgesprochene Strafe, die ursprünglich auf 25 Jahre gelautet hatte, war alsbald auf zehn Jahre reduziert worden, die der einstige Chef des Rasse-und Siedlungs-Hauptamtes ebenfalls nicht vollständig zu verbüßen brauchte.

Die „Wannsee-Konferenz“ schloß mit der im Protokoll verzeichneten, an alle Teilnehmer gerichteten „Bitte“ Heydrichs, „ihm bei der Durchführung der Lösungsarbeiten entsprechende Unterstützung zu gewähren“ Nicht anders könnte die Vorstandssitzung eines Bank-oder Industrieunternehmens schließen, mit eben dieser Bitte der Vorsitzende eines Universitäts-Kuratoriums ein Arbeitstreffen als beendet erklären. Vieles spricht dafür, daß die Beratung an jenem 20. Januar 1942 nur einen Tagesordnungspunkt in der Agenda der Staatssekretäre darstellte und Hannah Arendts Diktum von der „Banalität des Bösen“ selbst mit dem Blick auf dieses Ereignis bedacht werden muß. Von seinem beispiellos verbrecherischen Charakter aber ist damit nichts genommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Geschichte der. Auffindung des „BesprechungsprotokoDs“ vgl. Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen. In Zusammenarbeit mit Jörg Friedrich, Frankfurt/M. 1983, S. 312. Zur Rolle des Auswärtigen Amtes: Christopher R. Browning, The Final Solution and the German Foreign Office. A Study of Referat D III of Abteilung Deutschland 1940-1943, New York 1978.

  2. Zur Geschichte des Konferenzortes vgl. Johannes Tuchei, Die „Stiftung Nordhav“ und die Wannsee-Konferenz, in: Berliner Geschichte, (1990) 11, S. 89ff.

  3. Das „Besprechungsprotokoll“ wurde als Beweisdokument der Anklage zuerst im sog. Wilhelmstraßen-Prozeß vorgelegt. Es kann heute in vielen Dokumenten-Publikationen im Wortlaut oder in wesentlichen Auszügen nachgelesen werden, so in: Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945, hrsg. von Helmut Eschwege. Mit einem Geleitwort von Arnold Zweig, Berlin 19812, S. 251-260. Ein vollständiger Faksimile-Druck findet sich in: Documenten van de Jodenvervolging in Nederland 1940-1945, Hrsg. Joods Historisch Museum, Amsterdam 1979. Wird im weiteren aus dem „Besprechungsprotokoll" zitiert (fortan WK-Prot.), so verweisen die Seitenangaben jeweils auf die durchnumerierten Seiten der maschinenschriftlichen Ausfertigung, die insgesamt 15 MS umfaßt.

  4. Kritzinger wurde vom Kempner am 11. März 1947 vernommen. Auf eine Frage antwortete der ehern. Staatssekretär: „Das Furchtbarste war für mich die Behandlung in den besetzten Gebieten und der Juden. Ich schämte mich, in meine Heimat zu fahren, das Grab meines Vaters zu besuchen.“ (Robert M. W. Kempner, Eichmann und Komplicen, Zürich 1961, S. 157f.)

  5. Die vorstehend genannten Dokumente sind sämtlich abgedruckt in: Kurt Pätzold/Erika Schwarz, Tagesordnung Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Berlin 1992.

  6. Mit dem Hinweis auf eine größere Zahl von Entwürfen, die dem endgültigen und dann versandten Protokoll-Text vorausgegangen sein könnten -Belege dafür existieren nicht-, wollte Eichmann den Gedanken nahelegen, daß an den abschließenden Formulierungen Heydrich und Heinrich Müller beteiligt gewesen wären, ihn dafür also nur eine bedingte Verantwortung träfe.

  7. Eichmanns umfangreiche Aufzeichnungen aus der Haftzeit in Israel sind über den Nachlaß seines Rechtsanwalts Dr. Robert Servatius in das Bundesarchiv Koblenz gelangt und finden sich dort im Bestand Allgemeine Prozesse 6.

  8. Damals lag die erste Gesamtdarstellung der Vernichtung der Juden im faschistischen Machtbereich schon vor: Gerald Reitlinger, The Final Solution -The Attempt to Exterminate the Jews of Europa 1939-1945, London 1953. Das Buch war in deutscher Übersetzung 1956 in der Bundesrepublik (mit dem veränderten Untertitel „Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945“, der die Verantwortung für den Massenmord verkürzen wollte) erschienen und hatte 1957 die zweite, 1960 die dritte Auflage erlebt. Es wurde Eichmann zur Verfügung gestellt. Während Eichmanns Haft erschien in den USA und in Großbritannien Raul Hilbergs fundamentale Monographie: The Destruction of European Jews (New York 1961), dessen deutsche Übersetzung erst 1982 (Berlin-West) vorlag. Eine auf den Ergebnissen der Forscher vieler Länder fußende Darstellung des Ausmaßes des Massenmordes gibt: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wolfgang Benz, München 1991 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, Bd. 33).

  9. Mit dem Abdruck der „Eichmann-Memoiren“, die auf den Gesprächen zwischen Eichmann und Willem Sassen fußten, begann die amerikanische Zeitschrift „Life“ am 28. November 1960, als sich der einstige Leiter des Referats IVB 4 in Israel angeklagt sah.

  10. Eichmann bestand während des Prozesses darauf, daß er für Heydrichs Ausführungen zu Beginn der „Wannsee-Konferenz“ nur Material geliefert habe, das sein Chef für jene Passagen verwenden konnte, die im „Besprechungsprotokoll“ bis S. 7 wiedergegeben seien, d. h. daß er keinerlei Vorschläge für die mörderische „Endlösung“ vorgelegt habe; BA Koblenz, Allgemeine Prozesse 6, Bd. 2, Bl. 817-849, 875-879. Am Rande des in Faksimile ihm überlassenen Exemplars des „Besprechungsprotokolls“ notierte sich Eichmann (S. 11): „... ich konnte vor mir selbst nachweisen, daß ich mit meinen unmaßgeblichen Kräften alles getan hatte, nach einer glimpflichen Lösung Ausschau zu halten“. Derartige Beteuerungen beeindruckten Vernehmer und Richter wenig, die Eichmann nachweisen konnten, daß er auch in Einzelfällen darauf bestanden hatte, buchstäblich noch den letzten Juden auf den Weg in den Tod zu deportieren.

  11. Der Forschungsstand wurde 1984 während einer internationalen Konferenz in Stuttgart debattiert. Das sehr stark gekürzte Protokoll der Referate und Diskussionsbeiträge gibt dennoch ein Bild davon, welche Fragen in Expertenkreisen als geklärt, welche als offen angesehen werden und in welchen Fällen die Interpretationen von Dokumenten, Ereignissen und Prozessen kontrovers geblieben sind: Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlußbildung und Verwirklichung, hrsg. von Eberhard Jäckel und Jürgen Rohwer, Stuttgart 1985.

  12. Vgl. Peter Neuhof, Gebrandmarkt mit dem gelben Stern, verschollen in Auschwitz...; Hans Pinter, Judenmord mit deutschen Filmen, beide in: Neues Deutschland vom 9. /10. November 1991.

  13. Die umfassendste Darstellung der Formierung und der Rolle der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD bei: Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1982 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 22, Veröffentlichungen des Instituts für Zeitgeschichte).

  14. Vgl. Aktennotiz über Ergebnis der heutigen Besprechung mit den Staatssekretären über Barbarossa, angefertigt am 2. Mai 1941, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1948, Bd. XXXI, S. 84.

  15. Vgl. ebd., Bd. XXVI, S. 266f.

  16. Diese Version hat vor allem Sebastian Haffner (Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 179f.) glaubhaft zu machen gesucht.

  17. In einem Text, den Eichmann im Gefängnis schrieb (127 Bl. handschriftlich) und der die Überschrift „Meine Memoiren“ trägt, heißt es: „Jedenfalls waren ähnlich wie früher bei der Auswanderung nunmehr in verstärktem Maße bei der Evakuierung Schwierigkeiten aufgetaucht.“ Die Arbeit sei trotz des Drängens von Hitler und Himmler „im bürokratischen Leerlauf und in tatsächlichen Schwierigkeiten“ erstorben. BA Koblenz, Allgemeine Prozesse 6/119, Bl. 112. Diese Schilderung war ein Produkt von Eichmanns Phantasie. Tatsächlich rollten im Januar 1942 aus deutschen Städten die Züge mit den Opfern „nach dem Osten“.

  18. Und diese Bereitstellung von Lokomotiven und Waggons hing wiederum vom Kriegsverlauf ab. Im Protokoll heißt es: „Der Beginn der einzelnen größeren Evakuierungsaktionen wird weitgehend von der militärischen Entwicklung abhängig sein“ (WK-Prot., S. 9).

  19. Heydrich an den Chef des SS-Personalamtes, Gruppenführer Schmitt, -vom 25. Januar 1942; Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien, E 20952, Bl. 149.

  20. WK-Prot., S. 5.

  21. Vgl. ebd., S. 2.

  22. Vgl. ebd., S. 9. Es wr die Nennung des „zuständigen Referenten der Sicherheitspolizei imd des SD“ -eben Eichmanns -im „Besprechungsprotokoll“, die später die Versuche des Angeklagten, sich als eine Nebenfigur ohne Macht und Einfluß hinzustellen, erledigte.

  23. Vgl.den Schriftwechsel zwischen dem Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und dem Reichskommissar Ost-land (Riga), Oktober -November 1941, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (Anm. 14), Bd. XXXII, S. 435-437.

  24. WK-Prot., S. 7.

  25. Vgl. Bundesarchiv Koblenz, R 16/162 unpag. Siehe auch Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin 1985, S. 137ff.

  26. Vgl. WK-Prot., S. 8f.

  27. Ebd., S. 8.

  28. Ebd., S. 10.

  29. Ebd., S. 12.

  30. Ebd., S. 10.

  31. Mit der Übersendung des „Besprechungsprotokolls“ an die Teilnehmer der Beratung, die im Februar 1942 erfolgte, lud Heydrich die Referenten der einzelnen Ministerien und Dienststellen für den 6. März 1942 zu einer Sitzung in das RSHA, Referat IVB 4 ein, auf der die Fragen der „Mischlinge“ und der Juden in „Mischehen“ weiter diskutiert werden sollten.

  32. WK-Prot., S. 12.

  33. Vgl. ebd., S. 14.

  34. Ebd., S. 15.

  35. Vernehmung Eichmanns durch den Richter Itzchak Raveh vor dem Bezirksgericht Jerusalem während der 106. Sitzung des Gerichts am 21. Juli 1961, Bundesarchiv Koblenz, Allgemeine Prozesse 6/77, B. A 1, B 1, K 1, L 1.

  36. WK-Prot., S. 15.

  37. So im Untertitel ihres Buches: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1986. Zur zeitgeschichtlichen Gesamtbeurteilung der „Wannsee-Konferenz“ siehe neuerdings auch: Miroslav Kämy, Konference ve Wannsee a jeji misto v historii „Konecneho reseni“, in: Rocenka obecnych dejin, Praha 1991, S. 247ff.

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