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Die Bundeswehr vor neuen Aufgaben und Herausforderungen | APuZ 13/1992 | bpb.de

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APuZ 13/1992 Opfer des eigenen Erfolgs? Perspektiven der NATO nach dem Kalten Krieg Die KSZE und die europäische Sicherheit. Kooperative Konfliktverhütung für Gesamteuropa Die USA, Europa und die transatlantischen Beziehungen Die Bundeswehr vor neuen Aufgaben und Herausforderungen

Die Bundeswehr vor neuen Aufgaben und Herausforderungen

Wulf-W. Lapins

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine erhebliche Herausforderung für die Bundeswehr ist die Integration der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR in die nun einheitlichen deutschen Streitkräfte bei gleichzeitiger notwendiger Reduktion der Bundeswehr auf 370000 Soldaten bis Ende 1994. Dies -wie die gesamte, radikal veränderte sicherheitspolitische Landschaft -bedingt zugleich eine Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer weniger schwer bewaffneten, teils hochmobilen, teils gekaderten Streitkraft. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Bundeswehr weiterhin eine Wehrpflichtarmee bleiben soll und kann, oder ob die Entwicklung in Richtung Aufstellung von mehr Freiwilligenverbänden als erster Schritt zu einer künftigen deutschen Berufsarmee geht. Die Entscheidung darüber könnte bereits bald fallen, sollte sich die Zahl der Kriegsdienstverweigerer auf dem derzeitigen hohen Niveau für die kommenden Jahre stabilisieren und der Bundeswehr neue Aufgaben im Rahmen der UNO -über , peacekeeping’-Funktionen hinaus -zuwachsen. Diese neuen Aufgaben und Herausforderungen für die Bundeswehr weisen möglicherweise den Weg für neue Legitimationsbegründungen, weil der bisherige Hinweis auf die sowjetische Bedrohung nicht mehr zutrifft.

I. Einführung

Eine Zielvorgabe der „künftigen Aufgaben der Allianz“ vom 14. Dezember 1967, gemeinhin als „Harmel-Bericht“ bekannt, lautete: „Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschland-frage, die den Kem der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost-und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.“ 1 Durch den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ vom 12. September 1990, umgangssprachlich „ 2+ 4-Vertrag“ genannt, hat Deutschland seine staatliche Einheit auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts erlangt: Die „Deutsche Frage“ ist damit endgültig beantwortet worden.

Die Überwindung der deutschen Teilung ist das Resultat von historischen, radikalen Wandlungen in Europa, das seine politische und strategische Landkarte erstmals in der Geschichte verändert hat, ohne daß zuvor ein Krieg stattfand. Die Entwicklung grundlegend neuer sicherheitspolitischer Strukturen ist notwendig, weil die bisherigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht mehr existieren. Hierzu zählen im wesentlichen: -Der europäische kommunistische Staatenblock ist zusammengebrochen. Die Ost-West-Konfrontation und die bipolar dominierte Struktur der internationalen Beziehungen sind zu Ende, weil die primäre Konfliktursache nicht mehr besteht. Der Ost-West-Konflikt basierte nicht auf wechselseitigen politischen Mißverständnissen und Fehldeutungen, die im Zuge vermehrten Informationsaustauschs letztlich hätten abgebaut werden können. Er war objektiver Natur.

Es standen sich mit bürokratisch-diktatorischem Staatssozialismus und Liberalismus, mit Sowjetsystem und demokratischem Gemeinwesen zwei diametral entgegengesetzte, unvereinbare Gesellschaftsentwürfe gegenüber. Es handelte sich um einen tiefgreifenden macht-und ordnungspolitischen Systemgegensatz.

-Seit dem 1. April 1991 ist die östliche Militär-koalition durch freiwillige Selbstauflösung nur noch Geschichte. Konstitutiv für diesen geschichtlich beispiellosen Vorgang war zum einen die Herauslösung der DDR als entscheidendes Bindeglied der Warschauer Vertragsorganisation.

Zum anderen empfanden auch die neuen Regierungen der ehemaligen „Satellitenstaaten“

der UdSSR, nunmehr souveräne ost-mitteleuropäische Völkerrechtssubjekte, die östlichen Blockstrukturen als Last.

-Aus der Perspektive dieser jungen Demokratien besteht zwischen der NATO und der zerfallenden UdSSR/GUS ein sicherheitspolitisches Vakuum. Ungarn, Polen und die CSFR wollen verständlicherweise aber keine „Pufferzone“ sein. Nicht zuletzt aufgeschreckt durch den versuchten Staatsstreich von Führungseliten des sowjetischen ideologisch-militärischen Komplexes vom August 1991, sind sie sehr an einer Mitgliedschaft in der NATO interessiert.

-Die „neue“ Bundesrepublik Deutschland ist nunmehr befreit von den seit ihrer Gründung die Bonner Politik einschränkenden alliierten Vorbehaltsrechten. Der latenten Sorge unserer Nachbarstaaten, daß dem durch die wiedererlangte volle Souveränität möglich gewordenen erweiterten Aktionsradius deutscher Außenpolitik nicht erneut auch wieder machtpolitische Ambitionen folgen, haben auf Initiative der Bundesrepublik die 2+ 4Vertragsstaaten so einfach wie klug Rechnung getragen: Die Bundesrepublik Deutschland bleibt integriertes Mitglied in der EG und in der NATO.

Diese Mitgliedschaften bewirken, daß die Europäer die deutsche Einheit nicht als Destabilisierung der Sicherheit auf dem Kontinent ansehen. Damit auch materiell die Bundeswehr als mögliches deutsches militärisches Machtpotential ein-37 gehegt bleibt, enthält der 2+ 4-Vertrag die deutschen Streitkräfte beschränkende Ordnungselemente. Es sind dies die Reduzierung der Bundeswehr auf 370000 Soldaten, der Verzicht auf Herstellung und Besitz von ABC-Waffen und auf Verfügungsgewalt über sie ferner das Verbot der Stationierung von ausländischen Truppen (d. h. konkret von NATO-Einheiten) und der Dislozierung von Kernwaffen in Ostdeutschland

Gerade was den letztgenannten Punkt anbelangt, hat der sozialdemokratische Außenpolitiker Norbert Gansel auf ein Dilemma aufmerksam gemacht: „Es kann doch auf die Dauer mit der deutschen Identität nicht vereinbar sein, daß die Hälfte unseres Staates als Stationierungsboden benutzt werden kann und die andere Hälfte auf ewig nicht.“ Erinnert sei in diesem Zusammenhang, daß es die heutige Bundesregierung war, die vor der Wende in der DDR sozialdemokratische Konzeptionen nuklear-und chemiewaffenfreier Zonen in Teilen der alten Bundesrepublik und der ganzen ehemaligen DDR stets heftig mit dem Vorwurf kritisiert hatte, dies führe zu Zonen unterschiedlicher Sicherheit. Gerade dem aber hat jedoch die Bundesregierung unbefristet zugestimmt. N. Gansel hierzu: „Diese Verpflichtungen aus dem 2+ 4-Vertrag gelten übrigens auch für ewig, denn der Vertrag enthält keine Änderungs-oder Kündigungsmöglichkeiten.“ Zum Zeitpunkt der Abkommensunterzeichnung waren jedenfalls die heutigen sicherheitspolitischen Gegebenheiten keinesfalls erkennbar vorprogrammiert. Vor dem Hintergrund der Fortführung der transatlantischen Sicherheits-und Verteidigungspolitik, der wachsenden Bedeutung der UNO für die Durchsetzung von Völkerrechtsprinzipien sowie der geostrategischen Lage und Interessendeterminanten Deutschlands erfolgt der Schutz seiner territorialen Integrität und der Freiheit seiner Entwicklung künftig mit einer „neuen“ Bundeswehr.

Im folgenden sollen die neuen Aufgaben und Herausforderungen der Bundeswehr auf den vier Feldern thematisiert werden: -Aufbau gemeinsamer deutscher Streitkräfte (Integration der ehemaligen NVA in die Bundeswehr),

-Wehrpflichtarmee oder Berufsstreitkräfte, -Bundeswehreinsätze im Rahmen der UNO und -Legitimation und Akzeptanz der Bundeswehr.

II. Integration der ehemaligen NVA

In seiner Rede vor Angehörigen der wenige Stunden zuvor aufgelösten Nationalen Volksarmee (NVA) und der Bundeswehr am 3. Oktober 1990 in Strausberg (Sitz des ehemaligen DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung, danach Außenstelle des Bundesverteidigungsministeriums) beteuerte Minister Stoltenberg, die Integration der NVA in die Bundeswehr werde nicht zu einer gesamtdeutschen Armee mit Soldaten erster und zweiter Klasse führen: „Einheit setzt Versöhnung voraus.“ Der Kommandeur des neu aufzubauenden Bundeswehrkommandos Ost, Generalleutnant Schönbohm, versprach dem zivilen und militärischen Personal: „Wir wollen Sie helfend begleiten -als Kameraden!“ Das klang nach vorne gerichtet und versöhnlich, ganz im Wortsinn seines Chefs. So General Schönbohm auch vor einer Gruppe von DDR-Journalisten in einem Interview: „Wir sind ein Deutschland, ein Staat, eine Armee, eine Armee in der Demokratie. Meine Aufgabe besteht darin, die Zukunft zu gestalten, und nicht, die Vergangenheit zu bewältigen. Man muß die Zukunft gestalten in Kenntnis der Vergangenheit. Und jeder Offizier oder Unteroffizier, der lange Zeit in der NVA gedient hat, muß mit seiner persönlichen Vergangenheitsbewältigung fertig werden ... Ich jedenfalls bin dagegen, daß man versucht, Gesinnungen zu überprüfen.“

Dieser Vertrauensvorschuß in die künftige Loyalität der neuen Bundeswehrangehörigen war wohl auch ein notwendiges deutliches Zeichen -nach innen. Seit Monaten war die Bundeswehr in zwei Lager gespalten: in Befürworter und Gegner der Übernahme von NVA-Offizieren in die Bundeswehr. Radikal und zuweilen polemisch wurde diese Kontroverse in der Presse und in sicher-heitspolitischen Periodika ausgetragen. Die Vertreter einer Integration plädierten für eine faire Chance für das militärische Führungspersonal. Daß sich hierzu auch NVA-Offiziere als Anwälte in eigener Sache zu Wort meldeten, kann nicht verwundern. Im wesentlichen lauteten ihre Argumente: Man muß zwischen Polit-und Truppenoffizieren differenzieren; man habe versucht, in der NVA gewissenhaft die Aufgaben zu erledigen; man sei von der eigenen politischen Führung betrogen worden.

Die Gegner einer Integration von NVA-Offizieren in die Bundeswehr verwiesen insbesondere auf den Parteicharakter der NVA, wie er sich unmißverständlich im Fahneneid widerspiegelte. Zuweilen wurde auch auf das offensive Denken und die entsprechenden militärischen Strukturen der NVA bis zur Wende hingewiesen. Das gesamte Ausmaß der eindeutig offensiven Strategie -im krassen Gegensatz zur Friedenspropaganda -wurde jedoch erst im Zuge des Aufbaus des Bundeswehrkommandos Ost und der Übernahme der NVA bekannt

Der Ablehnung lag aber wohl auch die quantitative Größenordnung des NVA-Offizierskorps zugrunde. Der Personalbestand der NVA betrug am Übernahmetag, dem 3. Oktober 1990, 93000 Soldaten. Davon besaßen nicht weniger als 32210 den Offiziersrang, 24400 waren Unteroffiziere. Zwar war die Mannschaftsstärke aufgrund der erheblich verringerten Einberufung von Wehrpflichtigen in der Zeit der politischen Wende in der DDR auch bedeutend unter die Soll-Stärke der Einheiten gesunken. Andererseits hatte Pfarrer Eppelmann, DDR-Verteidigungsminister zur Zeit des politischen Umbruchs, vor dem 3. Oktober bereits alle Offiziere über 55 Jahre und alle Generale sowie Admirale, vor allem jedoch sämtliche Politoffiziere entlassen. Einige tausend Offiziere waren auch aus eigener Initiative bereits aus der NVA ausgeschieden. Diesem Schritt lagen vorwiegend zwei Motive zugrunde: Zum einen wollten sie in der ehemals „feindlichen“ Bundeswehr nicht dienen; zum anderen waren sie zu Recht der Auffassung, zu jenem frühen Zeitpunkt noch gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben; außerdem kam für Sie die Aussicht einer möglichen Über-nähmein das Dienstverhältnis der Bundeswehr einem Lotteriespiel gleich.

Die NVA war zu ihrer Zeit bei weitem zu offizierslastig gewesen. Die Bundeswehr kam bei einem Personalbestand von 490000 Soldaten mit ca. 40000 Offizieren aus; die 174000 Mann umfassende NVA besaß fast ebenso viele. Diese hohe Führerdichte in der NVA läßt sich in mehrfacher Hinsicht erklären: Die oberste Devise der SED insbesondere für die Streitkräfte lautete „gegenseitige Kontrolle“, die den Offizieren oblag, denn die waren fast ausnahmslos Mitglied in der SED. Der Unteroffiziersstand hatte in der DDR nur ein geringes Sozialprestige. Viele Aufgaben, die in der Bundeswehr von qualifizierten Unteroffizieren ausgeübt werden, übernahm in der NVA ein Offizier. Und schließlich gab es in der NVA im Gegensatz zur Bundeswehr keine Trennung zwischen militärischen und wehrorganisatorischen Verwaltungsaufgaben. Hinzu kamen noch Aufgaben und Kompetenzen auf den „Gebieten der Zusammenarbeit mit Partei und Massenorganisationen, des Sports, des Fernmeldewesens, der Heizversorgung sowie der medizinischen Versorgung. Andererseits war die NVA eine Art , Staat im Staat 4 mit vielen eigenen Einrichtungen, wie Fabriken, Ferienanlagen, Erholungsheimen, Jagdhäusern, Bautruppen und Einrichtungen zur Eigenversorgung bis hin zu einer armeeeigenen Brauerei und einer Schnapsfabrik.“

Für das Bundeswehrkommando Ost mit seinen anfänglich 240 Offizieren/Unteroffizieren aus der Bundeswehr und 360 Offizieren/Unteroffizieren der ehemaligen NVA war die Weiterverwendung der NVA-Offiziere nur ein Teilaspekt eines komplexen und komplizierten Gesamtprozesses der Reduzierung, Eingliederung und Umstrukturierung.1. Reduzierung Mit dem Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 umfaßte die neue Bundeswehr insgesamt 588000 Soldaten. Diese Größenordnung muß gemäß dem 2+ 4-Vertrag bis zum 31. Dezember 1994 auf 370000 Mann verringert werden. Die Wehrverwaltung des Bundes ist von der Personal-reduzierung nicht betroffen. Der Anteil ehemaliger NVA-Angehöriger soll bis dahin von 93 000 auf 50000, davon 25000 Zeit-und Berufssoldaten, verkleinert werden. Für den NVA-Offiziersbestand heißt dies radikaler Abbau von 32210 auf etwa 4000 militärische Führer. In diesem Zusammenhang ist allerdings versäumt worden, einen entsprechenden Schritt auch bei den Generälen und Admirälen der Bundeswehr vorzunehmen. Während die vormalige Bundeswehr mit 495000 Soldaten 237 dieser militärischen Führungsposten besaß, soll die neue Bundeswehr mit 370000 Soldaten immer noch von 209 Generälen und Admirälen kommandiert werden. Die gesamte Reduktion auf die geplante Soll-Stärke wird möglich durch die Verringerung von 873 Truppenteilen mit 1460 Einzeldienststellen auf etwa 450 militärische Dienststellen.

Im Gegensatz zum Offizierskorps, wo die quantitative Bedarfsdeckung gerade auch vor dem Hintergrund der eingereichten Anträge auf Übernahme mit einer zweijährigen Verpflichtung sichergestellt ist, fehlen bei der in Ostdeutschland stationierten Bundeswehr 3 700 der unteren Unteroffiziersgrade und bei den Feldwebeln. Der mit der deutschen Einheit verbundene vergrößerte Arbeitsmarkt und Ungewißheiten über die berufliche Zukunftsperspektive im Tätigkeitsfeld der Bundeswehr verantworten in hohem Maße mit die Nachwuchsprobleme der Bundeswehr insgesamt. Jüngsten Erklärungen der Hardthöhe zufolge fehlen fast 10000 Unteroffiziere, und auch bei den Offiziersanwärtern gibt es zunehmende Rekrutierungslücken.

Die Monate der revolutionären Veränderungen nach der Maueröffnung bis zum 3. Oktober 1990 hatten auch einen erheblichen Einfluß auf die Zahl der Wehrpflichtigen und Grundwehrdienst-leistenden der noch existenten NVA. Die neugeschaffene Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung wurde vielfach in Anspruch genommen, Nichtbefolgung der Einberufung oder unerlaubtes Fernbleiben von der Truppe waren keine Einzelfälle. Das Ergebnis war, daß am 3. Oktober 1990 mit 38000 Grundwehrdienstleistenden die Einheiten in der Regel nur zur Hälfte ihrer Soll-Stärke besetzt waren. 2. Eingliederung Der Dienstantritt in der nun gemeinsamen Bundeswehr erfolgte am 2. Januar 1991 für 7 000 Wehrpflichtige aus'den neuen Ländern. Unter der Maßgabe, einer möglichst großen Anzahl von ihnen eine Grundausbildung nach dem Standard und unter den Bedingungen der Bundeswehr/West zu ermöglichen sowie die Integration zu entwickeln, leisteten 4300 die Grundausbildung in Einheiten dort ab. Im Gegensatz zu den Regeln in der Bundeswehr, die Wehrpflichtigen in Einheiten einzuziehen, die möglichst heimatnahe liegen, berief die DDR ihre Rekruten zu möglichst heimatfernen NVA-Truppenteilen ein. Analog zu den alten Bundesländern gibt es auch in Ostdeutschland ein starkes Süd-Nord-Gefälle im Wehrpflichtigen-Aufkommen. Dennoch gelang es, etwa 50 Prozent der Grunddienstleistenden „im Bereich ihrer örtlich zuständigen Kreiswehrersatzämter zu verwenden. Die andere Hälfte wurde unter Beachtung der jeweils günstigsten Verkehrsverbindungen so eingeplant, daß eine , heimatfeme Verwendung 4 über 250 km zum Wohnort vermieden wird.

Zur großen Aufgabe und Herausforderung des Zusammenwachsens der deutschen Streitkräfte in Ostdeutschland gehört insbesondere die Vermittlung und Identifikation mit dem Konzept vom Staatsbürger in Uniform und der Inneren Führung. Als ihre Schlüsselbereiche gelten das Verständnis von der Funktion und Rolle der Bundeswehr im demokratischen Rechtsstaat und die daraus resultierenden Grundsätze der Führung und Ausbildung in den Streitkräften auf der Basis der Treuepflicht zum Staat und von dessen Fürsorge für die Soldaten. Es ist deshalb verwunderlich, daß die von der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundesverteidigungsministeriums eingesetzte „Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr“ (Jacobsen-Kommission) in ihren Empfehlungen im Abschlußbericht der Integration von Soldaten der ehemaligen NVA in die Bundeswehr lediglich zwei Sätze widmet, von der Sache her wichtig gewesene konkrete Vorschläge der Umsetzung aber vermissen läßt: „Die Bundeswehr hat die Aufgabe und die Chance, die Soldaten aus den neuen Bundesländern vom Wert des Wehrdienstes im demokratischen Rechtsstaat zu überzeugen, zugleich auch die Streitkräfte in den neuen Ländern als Armee in der Demokratie gesellschaftlich zu verankern. Sie darf bei der Erfüllung dieser Aufgaben nicht alleine gelassen werden. Sie braucht aktive Unterstützung der gesellschaftlichen Institutionen.“ Dabei könnte das Konzept der Inneren Führung unter bestimmten Bedingungen durchaus zum „Exportschlager“ der Bundeswehr werden. Es sind nämlich nicht nur deutsche Waffen, die auf der Hitliste internationaler Begehrlichkeiten nach deutscher Militär-und Sicherheitspolitik stehen. In der Bundeswehrführungsakademie, der Akademie für Information und Kommunikation sowie im Zentrum für Innere Führung in Koblenz geben sich mittlerweile die Militärs und Verteidigungsexperten aus Ländern des ehemaligen Warschauer Vertrages, inklusive der GUS, die Klinke in die Hand. Sie alle sind sehr am spezifischen deutschen militärischen Führungs-, Erziehungs-und Ausbildungskonzept interessiert. Innere Führung ist aber keine einfach zu kopierende militärische „Software“. Sie bedingt ein entsprechendes demokratisches, institutionelles sowie gesellschaftspolitisches Umfeld, eine gewachsene politische Kultur. Wenn auch die aktuelle „Nachfrage“ häufig über die Grenze der personellen Kapazitäten an Lehrbefähigten für die Innere Führung hinausgeht, so sollten sich die Betroffenen doch immer daran erinnern: Vor dem Hintergrund deutscher Militärgeschichte zeugt es von tiefem Vertrauen in die Politik der Bundesrepublik Deutschland, daß ihre Armee in der zentralen Frage des Berufs-und Selbstverständnisses offenbar Vorbildcharakter besitzt.

Von entscheidender Bedeutung für den organisatorischen Prozeß der Integration der ehemaligen NVA war die vollständige Übernahme der Kommandogewalt durch Bundeswehroffiziere auf den höheren Kommandoebenen; bei den Regimentern war das zu 70 Prozent, bei den Bataillonen immerhin noch zu 50 Prozent der Fall. Militärisches Führungspersonal aus der Bundeswehr/West zur Beratung wurde bis zur Kompanieebene abgeordnet. Mittelfristig wird sich daran nichts ändern. Damit zwangsläufig verknüpft sind die psychologischen Wirkungen: Die vom SED-Regime mit sehr hohem Sozialprestige und vielen materiellen Privilegien direkter und indirekter Art ausgestatteten NVA-Offiziere gehören nun zu einem erheblichen Teil in der neuen Bundeswehr zur personellen „Verfügungsmasse“ im Rahmen der notwendigen Reduktion. Häufig wurden sie auch nur (bei Stabsoffizieren in der Regel) einen oder mehrere Dienstränge niedriger übernommen. Die psychosozialen Folgen als Konsequenz des radikalen Verlusts von vormaligem Elitestatus und -bewußtsein und ihre Behebung sollten näher untersucht werden. 3. Umstrukturierung Beim Prozeß der Neukonzeption der Bundeswehr wird nach Auffassung von Generalinspekteur Klaus Naumann „vermutlich kein Stein auf dem anderen bleiben können“ Zum einen hängt dies mit der Reduktion auf 370000 Bundeswehrsoldaten bis 1994 zusammen. Um diese völkerrechtlich fixierte Höchststärke zu erreichen, muß die Bundeswehr/West, ausgehend von der Größenordnung vom 3. Oktober 1990 von 588000 Soldaten, 218000 Mann abbauen. Im Bereich der Rüstungsvorhaben bis zum Jahr 2005 beabsichtigt die Hardthöhe aufgrund der fundamental gewandelten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen, durch Streichungen, Streckungen und Verringerungen 44 Mrd. DM einzusparen. Die nun revidierten Beschaffungsplanungen stammten noch aus der Zeit des Kalten Krieges. So benötigt z. B. das Heer gemäß seinem neuen Auftrag in Zukunft weniger schwere Panzer. Dem Rotstift zum Opfer fielen auch Jagdpanzer, Panzerfestbrücken und nacht-kampffähige Panzerabwehr-Hubschrauber Das Bundesverteidigungsministerium konnte sich bislang aber noch nicht zu einer klaren Entscheidung über die Produktion oder den Ausstieg aus dem Milliarden teuren, parlamentarisch wie auch militärisch umstrittenen Jäger 90 durchringen.

Eine künftig verkleinerte, weniger schwer bewaffnete, zum Teil hochmobile, teils gekaderte Bundeswehr soll folgende Struktur haben: „Zur Grundausstattung gehören alle Kräfte zur Wahrung der Souveränität, territoriale Kräfte und solche mit Ausbildungs-und Versorgungsaufgaben sowie Kräfte mit Mittlerfunktion zwischen militärischen und anderen staatlichen Organisationen. Dies sind Kräfte, die nur auf nationalem Gebiet eingesetzt werden und die im Frieden voll präsent sind.

Schnell verlegbare Kräfte werden zur Bewältigung kleinerer Konflikte und für Krisenmanagement bei kurzer Vorbereitungszeit in Mitteleuropa wie überall im Bündnisgebiet benötigt. Sie sind im wesentlichen mobilmachungsunabhängig, bestehen aus Teilen aller drei Teilstreitkräfte und enthalten auch die notwendigen Unterstützungselemente.

Die Aufwuchskräfte müssen nach längerer Vorbereitungszeit und nach Mobilmachung in der Lage sein, gemeinsam mit unseren Verbündeten die Verteidigung unseres Landes zu gewährleisten. Sie bestehen im Frieden aus teilaktiven und gehaderten Truppenteilen. Hier gilt es, die Führungsfähigkeit zu erhalten, um die erforderliche Ausbildung sinnvoll und langfristig betreiben zu können.“ 4. Wehrpflichtarmee oder Berufsstreitkräfte Das neue Bundeswehrstruktur-Konzept stellt die Weichen für die „Neuorientierung unserer Streitkräfte von einer Präsenzarmee hin zu einer Ausbildungs-und Mobilmachungsarmee mit einer begrenzten Anzahl von schon im Frieden einsatzbereiten Verbänden“ Diese Neuorientierung führt zwangsläufig zur Frage nach der Art des Wehr-systems, zumal angesichts der drastisch gestiegenen Wehrdienstverweigerungsquote. 1990 stellten noch 75000 junge Männer den Antrag auf Wehrdienstverweigerung, 6000 von ihnen waren Reservisten. 1991 stieg die Antragsflut sprunghaft auf bereits 140000, davon 35000 Reservisten, in der alten Bundesrepublik und auf 150000 im geeinten Deutschland. Für dieses hohe Niveau sei, so beruhigen sich die Planer auf der Hardthöhe, psychologisch der Golfkrieg mitverantwortlich. Eng verknüpft mit der Art des Wehrdienstes und seiner Dauer ist die Ausbildungszeit an den komplexen und hochtechnisierten Waffensystemen sowie die Frage der Wehrgerechtigkeit: Die derzeitige zwölfmonatige Wehrdienstzeit reduziert sich abzüglich der Urlaubs-und Dienstausgleichsansprüche realistischerweise auf achteinhalb Monate Der Wehrexperte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Benno Zierer, führte im Kontext von Wehrpflicht-armee und Wehrgerechtigkeit in der Bundestagsdebatte über den „Jacobsen-Bericht“ aus: „Von drei Wehrpflichtigen muß nur einer die Uniform anziehen. Bei der Reduzierung auf 370000 wird nur noch einer von vier Wehrpflichtigen eingezogen werden.“ Im Bundesverteidigungsministerium schließt man in Zukunft eine jährliche Verweigerungsquote zwischen 20 und 25 Prozent nicht mehr aus.

In der öffentlichen Diskussion über den künftigen Wehrmodus wird in der Regel eine Korrespondenz zwischen allgemeiner Wehrpflicht und demokratischem Gemeinwesen mit einem Hinweis auf Theodor Heuss, demzufolge die „Wehrpflicht das legitime Kind unserer Demokratie“ sei, betont. Die Bundeswehr müsse eine Wehrpflichtarmee bleiben, weil auf diese Weise ihre gesellschaftliche Integration und Kontrolle gewährleistet bleibe. Paul Breuer, Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Bundeswehrfragen, erhob die allgemeine Wehrpflicht gar in den Rang eines Stücks „Staatsräson“

Die Jacobsen-Kommission betonte demgegenüber, „daß es keine Wehrform gibt, die allein der Demokratie angemessen ist, denn Wehrform und Staatsform verhalten sich allenfalls indifferent zueinander“ So hätten z. B. diktatorische Regime wie die UdSSR, das Dritte Reich und die DDR ihre Armeen aus Wehrpflichtigen rekrutiert. Andererseits sähe Großbritannien keinen Widerspruch zur langen Demokratietradition, seine Streitkräfte als Berufsarmee zu unterhalten. Der Bundesrepublik Deutschland bescheinigt die Kommission in ihrer über vierzigjährigen politischen Entwicklungsgeschichte eine hinreichend gewachsene, stabile Demokratiegarantie gegen eine Regression zum „Staat im Staate“ im Falle einer Entscheidung für eine Freiwilligen-oder Berufsstreitmacht.

Obwohl das Für und Wider von Freiwilligen-Streitkräften sowie der verschiedenen Varianten der Wehrpflichtarmee im einzelnen diskutiert wurde konnte oder wollte die Jacobsen-Kommission keinen anderen Rat geben als diesen: „Die Kommission empfiehlt, mittelfristig an der Allgemeinen Wehrpflicht mit einem zwölfmonatigen Grundwehrdienst festzuhalten. Die Kommission sieht sich gegenwärtig nicht in der Lage, ein langfristiges Votum für eine der Wehrformen abzugeben. Sie betrachtet die Eckdaten der Streitkräfteplanung bis 1995 als Übergangsstruktur. Sollte jedoch eine Reduzierung der Streitkräfte auf unter 370000 erforderlich werden, stellt sich die Frage der Wehr-form neu. Die Option Freiwilligenstreitkräfte sollte dann ernsthaft geprüft werden.“

Diese abwartende, vorsichtige Beurteilung teilen auch die Wehrexperten von Regierung und Opposition, wie die Bundestagsdebatte über den Jacobsen-Bericht zeigte. So bildete denn auch die dezidierte Prognose von Benno Zierer eher die Ausnahme: „Die Wehrpflichtarmee ist ein Auslaufmodell. Sie wird das Jahr 2000 bestimmt nicht erreichen.“ 5. Bundeswehreinsätze im Rahmen der UNO Mit der staatlichen Einheit Deutschlands und damit verbunden der Herstellung der uneingeschränkten nationalen Souveränität ist der Bundesrepublik Deutschland, so die Auffassung der die Bundesregierung tragenden politischen Kräfte, auch mehr weltpolitische Verantwortung zugewachsen. Im Rahmen der UNO müsse Deutschland nunmehr bereit sein, auch an militärischen Maßnahmen der Weltgemeinschaft teilzunehmen. Konsequent postulierte vor diesem Hintergrund Verteidigungsminister Stoltenberg: „Deshalb ist es erforderlich, möglichst bald klare Voraussetzungen für Bundeswehreinsätze aufgrund von Beschlüssen der UNO zu schaffen. Und zwar muß es hier um die ganze Bandbreite der Reaktionsformen gehen, die nach der UN-Charta möglich sind.“

Gemeint sind hier die in Kapitel VII der UN-Charta aufgeführten „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“. Sie beinhalten das Spektrum von Wirtschaftssanktionen und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen (Artikel 41) bis hin zu militärischen Einsätzen (Artikel 42), zu deren Durchführung der Weltsicherheitsrat auch einzelne seiner Mitglieder beauftragen kann (Artikel 48).

Ein analoges Votum hat die FDP abgegeben. Der Arbeitskreis für Außen-, Sicherheits-, Europa-und Entwicklungspolitik der FDP-Bundestagsfraktion beschloß auf einer Klausurtagung vom 19. -21. April 1991: „Es soll die Möglichkeit geschaffen werden, daß sich die Bundeswehr an militärischen Einsätzen im Rahmen von UN-Aktionen beteiligen kann. Dies sollte sich auf Einsätze der UN-Friedenstruppen (Blauhelme) beziehen, sich aber auch auf Kampfeinsätze erstrecken, und zwar unabhängig davon, ob diese unter UN-Kommando stehen oder auf Ermächtigung der UN beruhen. Da hierin ein Abweichen von der bisherigen Staats-und Verfassungspraxis liegt, ist eine Grundgesetzänderung erforderlich. "

In seiner vormaligen Funktion als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion befürwortete Norbert Gansel ebenfalls einen Bundeswehreinsatz im Rahmen der UNO: „Es ist auch nicht auszuschließen, daß es einmal den militärischen Ernstfall geben wird, und wenn es ihn geben sollte, wenn er wirklich unvermeidlich ist, dann meine ich, muß er unter der Verantwortung der UNO, des Sicherheitsrates, des Generalstabsausschusses gegen internationale Rechtsbrecherstaaten oder Individuen eingesetzt werden ... Die Möglichkeit, Bundeswehreinheiten unter UN-Kommando zu stellen, ist eine Weiterentwicklung der Unterstellung von Bundeswehreinheiten unter das NATO-Kommando. In der Entwicklung von der Nationalstreitkraft über die NATO-Streitkraft zur internationalen Streitkraft muß sich für die Zukunft ein fortschrittliches Selbstverständnis der Streitkräfte entwickeln.“

Seine Ausführungen sind jedoch eine klare Ablehnung von militärischen Aktionen auf der Basis von UN-Beschlüssen, die, wie beim Golfkrieg, unter der strategischen Führung eines Mitglieds des Sicherheitsrats (USA) nach Artikel 48 UN-Charta stehen.

Die Position von Norbert Gansel, Karsten Voigt und anderen SPD-Sicherheitsexperten reflektiert allerdings nur eine Minderheitsmeinung in der Partei. Die Mehrheitsmeinung wiederholte während der Bundestagsdebatte über den Jacobsen-Bericht noch einmal Walter Kolbow, Sprecher der Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik der SPD-Fraktion, indem er darauf verwies, daß die SPD nur einer Verfassungsänderung zustimmen werde, die für die Bundeswehr „den Blauhelmeinsatz im Rahmen von Friedensmissionen der Vereinten Nationen ermöglicht“. Einem „weltweiten Kampfeinsatz“ der Bundeswehr erteilte er eine deutliche Absage. Diese Haltung steht in Übereinstimmung mit der sehr restriktiven Position des Bremer Parteitags der SPD. Es heißt dort: „Eine Ausweitung der Aufgaben von NATO und WEU mit dem Ziel eines möglichen Einsatzes ihrer Truppen außerhalb des NATO-Vertragsgebietes und die Aufstellung von dazu vorgesehenen Eingreiftruppen lehnen wir ab. Eine Grundgesetzänderung mit dem Ziel, der Bundeswehr solche oder andere militärische out-of-area-Einsätze zu ermöglichen, ist mit unserer Friedens-und Sicherheitspolitik unvereinbar. Eine deutsche Beteiligung an militärischen Kampfeinsätzen unter UNO-Kommando oder durch Ermächtigung der UNO lehnen wir ab. Die Bundesrepublik Deutschland muß jedoch in der Lage sein, sich im Rahmen der UNO an friedenserhaltenden Maßnahmen (Blauhelm-Mission) zu beteiligen. Friedenserhaltende Maßnahmen sind: a) Friedenstruppen, die durch ihre Anwesenheit einen Waffenstillstand garantieren; b) Militärische Beobachtergruppen, häufig lediglich Offiziere, zur Überwachung von Friedens-abkommen; c) UN-Friedensmissionen unter ziviler Leitung mit gemischt militärischer und ziviler Komponente ...

Der Einsatz deutscher Truppen für Blauhelm-Aktionen der UNO bedarf in jedem Fall der Zustimmung des Deutschen Bundestages.“ 33

Diese restriktive Position kann und wird sicherlich nicht die letzte Antwort der deutschen Sozialdemokratie hinsichtlich der Politikfähigkeit und Glaubwürdigkeit deutscher Außen-und Sicherheitspolitik sein. Den Frieden wiederherstellende, erhaltende und gestaltende UNO-Missionen müssen nicht nur kontrolliert, sondern zunächst auch durchgeführt werden. Mit anderen Worten: Wenn die Vereinten Nationen zu einer effektiven Weltsolidargemeinschaft heranreifen sollen, dann können nicht nur stets die anderen die berüchtigten „Kastanien aus dem Feuer holen“, wohingegen für uns die Parole lautet „ohne mich“. Es spricht übrigens vieles dafür, daß die Aufstellung von UNO-Streitkräften nach Artikel 43 UN-Charta und die Einsetzung eines UNO-Generalstabs-ausschusses nach Artikel 47 UN-Charta eine aggressionsabhaltende Wirkung entfalten könnte. Deshalb mehr Vertrauen, Unterstützung und Mut zur UNO!

Die Weltgemeinschaft muß jedoch reorganisiert werden. Der Weltsicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitgliedern die als Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zu den Gründern gehörten und zugleich auch die fünf führenden nuklearen Waffenmächte der Welt waren, repräsentieren eine überkommene Großmachtordnung. So besitzen Frankreich und Großbritannien nach der Dekolonisation heute lediglich noch Mittelmacht

Status. Die VR China ist ein Dritte-Welt-Land. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Die einzige wirkliche Macht sind die USA. Das kollektive Sicherheitssystem basiert auf dem Konsensprinzip der Fünf und funktioniert auch nur dann, wenn ihre jeweiligen Interessen miteinander kompatibel sind. Der Weltsicherheitsrat steht eben nicht stellvertretend für die nicht existierende Weltregierung. Militärische Befriedungsmaßnahmen der UNO können derzeit z. B. noch durch ein Veto des kommunistisch-totalitären Sicherheitsratsmitglieds VR China blockiert werden.

Im Zusammenhang mit der etwaigen deutschen Teilnahme auch an militärischen Befriedungsaktionen der UNO sollte -darüber scheint unter den Befürwortern weitgehend Konsens zu bestehen -nur das Freiwilligkeitsprinzip zum Tragen kommen. Dies wirft jedoch mehrere Fragen auf: Was passiert, wenn keine hinreichende Anzahl von Soldaten dem Ruf der Weltorganisation Folge leisten will? Freiwillige werden in der Regel Länger-dienende, also Unteroffiziere/Offiziere, sein. Bestimmte militärische Aufgaben, zumal Kampfaufträge, können jedoch nur von dem Gesamtsystem Soldaten-Unteroffiziere-Offiziere geleistet werden. Die Beteiligung an sogenannten „peace-keeping operations“ wäre für die Bundesrepublik nicht unbedingt Neuland. Bereits 1988/89 nahmen fünfzig Freiwillige des Bundesgrenzschutzes an der UN-TAG (UN Transition Assistance Group) in Namibia teil. An dieser Aktion beteiligte sich auch die DDR. Der nächste „Einsatz“, diesmal waren es drei Ärzte und drei Pfleger der Bundeswehr, folgte im November 1991 im Rahmen der UNAMIC (UN Advanced Mission in Camboida). Dieses Jahr werden voraussichtlich fünfzehn Polizisten des Bundesgrenzschutzes bei der MINURSO (Mission des Nations Unies pour un Referendum au Sahara Occidental) teilnehmen. „Außerhalb des eigentlichen UN-, piece-keeping‘ wurden nach dem Krieg gegen den Irak Sanitätsund Transporteinheiten der Bundeswehr bei der Hilfe für die kurdischen Flüchtlinge im Iran, deutsche Minensuchboote im Persischen Golf sowie ein Transall-Transporter und drei Hubschrauber der Luftwaffe zur Verbringung von UN-Inspektoren nach Bagdad und für sonstige Überwachungsmissionen der Weltorganisation im Irak eingesetzt.“ Golfkrieges saß Während des die Bundesrepublik Deutschland militärisch nur auf der Zuschauertri-büne. Ihre finanzielle Unterstützung für die direkt kriegsführenden Parteien beläuft sich auf 17 Mrd. DM. Hinzu kamen umfangreiche militärtechnische Lieferungen wie Waffen und Munition. Nicht zu vergessen ist die Drehscheibenfunktion, die die Bundesrepublik während des Golfkrieges gespielt hat. Im Yom-Kippur-Krieg 1973 verwehrte noch die damalige Bundesregierung den USA, Kriegsmaterial aus US-Beständen in der Bundesrepublik über Bremerhaven nach Israel zu verschiffen. 6. Legitimation und Akzeptanz der Bundeswehr „Unter Legitimation werden Rechtfertigungsbemühungen der in Politik und Administration Verantwortlichen zur Begründung sicherheitspolitischer Grundsatz-und Einzelfallentscheidungen verstanden. Legitimität setzt sich aus der empirisch meßbaren Anerkennungsbereitschaft der Bevölkerung (Akzeptanz) und, als Resultat einer rationalen Auseinandersetzung der sinnstiftenden Institutionen über die , Moral‘ der Sicherheitspolitik, aus der ethisch qualifizierten Anerkennungsbereitschaft (Akzeptabilität) zusammen. Legitimation und Legitimität weisen Wechselwirkungen auf. Die Sicherheitspolitik muß zunächst gut begründet werden, wenn sie überhaupt akzeptiert werden soll.“ Legitimitätsbegründungen haben somit eine politische, rechtliche sowie ethische Ebene.

Im historischen Kontext westdeutscher Militär-und Sicherheitspolitik sind diese Ebenen jeweils unterschiedlich intensiv herausgestellt worden. Die Aufstellung der Bundeswehr erfolgte bekanntlich sechs Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Sie war die Konsequenz der damaligen Außen-und Militärpolitik der UdSSR, die vor dem Hintergrund ihrer „Patenrolle“ im Korea-Krieg sowie ihres theoretischen wie rhetorischen weltrevolutionären Anspruchs westlicherseits als machtpolitisch und expansionsorientiert und damit als objektive Gefährdung beurteilt wurde. Insbesondere waren es die Stärke, Bewaffnung, Dislozierung und Doktrin der sowjetischen Streitkräfte, die während des Kalten Krieges die raison d’tre für die Bundeswehr lieferten. „Wer und was bedroht die Freiheit der deutschen Eigenentwicklung“, oder „was verteidigt die Bundeswehr/wer ist ihr potentieller militärischer Gegner?“ -dies waren die Wertfragen, mit der die Akzeptanz der militärisch gestützten Sicherheitspolitik stets auf hohem Niveau gehalten werden konnte.

Im Zuge des Neuen Denkens mit Glasnost und Perestrojka schwand jedoch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mehr und mehr die Perzeption und das Gefühl von sowjetischer Bedrohung. Die Bundeswehr kam durch den „Gorbatschow-Effekt“ in eine Begründungskrise. Ihre Argumentation, daß sich unter Gorbatschow lediglich die sowjetischen sicherheitspolitischen Absichten, nicht jedoch in gleichem Maße bereits auch schon die militärischen Fähigkeiten zur raumgreifenden Offensive und zu Überraschungsangriffen geändert hätten, wurde häufig als typische militärkonservative Einschätzung abgetan.

Der ehemalige Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz versuchte, dieser sich verbreiternden Schere zwischen öffentlichem Bewußtsein und offizieller sicherheitspolitischer Lagebeurteilung Rechnung zu tragen. Er rückte die Souveränitätsfrage ins Zentrum der Legitimation der Bundeswehr. In der Tat konnte er mit dieser Verknüpfung auf die westdeutsche Wiederbewaffnungsgeschichte verweisen. Es war im wesentlichen Bundeskanzler Adenauer, der seinerzeit darauf bestand, daß die im Deutschlandvertrag zuerkannten Souveränitätsrechte mit der Sicherheitsfrage -dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur WEU und NATO -in einen unmittelbaren Zusammenhang gestellt wurden.

Diese Legitimitätsbegründung führte aber nicht auch schon zu einer entsprechenden Akzeptanz Wie denn auch -konnte der Souveränitätsansatz doch angesichts der historischen Realitäten nicht überzeugen. Denn gerade in der Außen-und Sicherheitspolitik war die Bundesrepublik aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte und die volle Integration in die NATO eben nicht souverän. Nicht einmal einen nationalen Generalstab besaß die Bundeswehr. Auch nach dem Vollzug der deutschen Einheit ist die Bundeswehr nach wie vor eine Bündnisarmee ohne eigenen Generalstab. Spötter meinten daher hinsichtlich Scholz’ Souveränitätsansatz, daß hierfür auch die Existenz des Bonner Wachbataillons genüge.

Vor dem Hintergrund der völlig veränderten, historisch unvergleichbar positiven Sicherheitslage der Bundesrepublik, kann und muß die Bundeswehr nur mehr ethisch legitimiert werden. Die zentrale politisch-normative Frage muß demnach lau-ten: „Wofür stehen wir?“ Eine Antwort darauf: „Die Bundeswehr empfängt ihren Auftrag aus Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich aus der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die menschliche Würde zu schützen. Sie nimmt damit das in der Satzung der Vereinten Nationen verankerte Recht der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung in Anspruch.“ Die Jacobsen-Kommission betont demgegenüber als „Sinn des soldatischen Dienstes“ die Streitkräfte als Instrument der staatlichen Politikfähigkeit: „Es muß stärker ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden, daß Staat und Gesellschaft ohne die Fähigkeit zur Landesverteidigung und ohne den Willen zur Selbstbehauptung fremden Zwecken ausgeliefert sind. Sicherheit und Verteidigung dürfen auch in Zukunft nicht allein als Sache des Staates betrachtet, sondern müssen zugleich als allgemeine gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.“

Der geforderten breiten Verantwortungsethik wird aber wohl eher eine Wehrpflichtarmee als Spiegel der Gesellschaft entsprechen als eine mehr berufs-orientierte Armee.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bulletin, Nr. 109, 14. 9. 1990.

  2. Vgl. Artikel 3 des 2+ 4-Vertrages.

  3. Vgl. Artikel 5 des 2+ 4-Vertrages.

  4. Vortrag vor dem Gesprächskreis „Sicherheit und Abrüstung“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 13. 3. 1991, schriftliche Aufzeichnung der Rede, S. 18.

  5. Ebd., S. 2.

  6. Vgl. Friedrich Holtzendorff, Die Bundeswehr im Prozeß der Vereinigung, in: Europäische Wehrkunde, (1990) 11, S. 626.

  7. Ebd.

  8. Neues Deutschland vom 26. 9. 1990, S. 8.

  9. Vgl. hierzu beispielhaft: Günther Gillessen, Auflösen -ohne Rest, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 25. 7. 1990 und die sich darauf beziehenden Leserbriefe vom 13. 8. 90; 15. 8. 90; 17. 8. 90 sowie Hans Rühle, Wer bricht hier wem den Hals?, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. 8. 1990.

  10. Vgl. Europäische Wehrkunde (1990) 3, S. 172ff.; (1990) 4, S. 201ff. und 206 ff.; (1990) 5, S. 268; (1990) 7, S. 377 ff.; (1990) 9, S. 496ff.

  11. Vgl. Josef Joffe, Aufmarschpläne und Ausrüstung der NVA belegen nun, daß die DDR-Armee im Kriegsfall als Angriffsspitze weit nach Westen vorgestoßen wäre, in: Süddeutsche Zeitung vom 8. 10. 1990, S. 3; Karl Feldmeyer, NVA besaß elf statt sechs Divisionen, in: FAZ vom 30. 11. 1991, S. 4.

  12. „Der Aufbau der Bundeswehr in den neuen Ländern“, IAP-Dienst, 8-9/1991, S. 3.

  13. Nach dem 3. Oktober 1990 wurden weitere 1200 Offiziere und 800 Unteroffiziere, in der Regel Feldwebel, zur Unterstützung des Bw-Kommandos Ost abgeordnet.

  14. Vgl. Die Welt vom 29. 1. 1992, S. 8.

  15. IAP-Dienst (Anm. 13), S. 5.

  16. Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr. Abschlußbericht und Empfehlungen (des weiteren als Abschlußbericht zitiert), Bonn, 24. September 1991, S. 33.

  17. „Sicherheitspolitik im Umbruch. Herausforderung an die Bundeswehr.“ Vortrag an der Führungsakademie der Bundeswehr am 19. 11. 1991, Bundesverteidigungsministerium, Informations-und Pressestab, Materialien, Dezember 1991, S. 22.

  18. Vgl. im einzelnen zu den Beschaffungen, Streckungen, Streichungen: Bundeswehr aktuell, 4/1992, S. 2.

  19. Sicherheitspolitik im Umbruch (Anm. 18), S. 19.

  20. Bundesminister der Verteidigung, Gerhard Stoltenberg, im Deutschen Bundestag, 16. 1. 1992, Bundestagsprotokoll, S. 5881.

  21. Vgl. Sicherheitspolitik im Umbruch (Anm. 18), S. 21.

  22. Redebeitrag im Deutschen Bundestag, 16. 1. 1992, Bundestagsprotokoll, S. 5886.

  23. Ebd., S. 5892.

  24. Abschlußbericht (Anm. 17), S. 21.

  25. Vgl. ebd., S. 25-27.

  26. Ebd., S. 27.

  27. B. Zierer (Anm. 23).

  28. „Zukunftsaufgaben der Bundeswehr im vereinten Deutschland“, Rede auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr in Bonn am 13. 3. 1991, in: Stichworte zur Sicherheitspolitik, hrsg. vom Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, 4/1991, S. 22.

  29. FDP, Fachinfo Bundeswehr, Nr. 2299, Bonn, 22. 4. 1991.

  30. Vortrag vor dem Gesprächskreis (Anm. 5), S. 16f.; seine Position, Bundeswehreinheiten unter UN-Kommando in multinationalen Streitkräften zur Friedenssicherung und -gestaltung auch in Krisengebieten einzusetzen, wiederholte Gansel erst jüngst wieder; vgl. Süddeutsche Zeitung vom 20. 1. 1992, S. 1.

  31. Redebeitrag im Deutschen Bundestag, 16. 1. 1992, Bundestagsprotokoll, S. 5884.

  32. Durch die Resolution 2758 (XXVI) beschloß die UN-Generalversammlung am 25. 10. 1971, „der VR-China alle Rechte wieder zuzuerkennen, die Vertreter ihrer Regierung als einzige Vertreter Chinas bei den rechtmäßige Vereinten Nationen anzuerkennen und die Vertreter Chiang Kaisheks unverzüglich von ihrem unrechtmäßig eingenommenen Sitz in den Vereinten Nationen und den mit ihr verbundenen Organisationen auszuschließen“.

  33. Niels Hansen, Verpflichtungen auch außerhalb der NATO, in: FAZ vom 12. 11. 1991, S. 9.

  34. Hans-Joachim Reeb, Warum noch Streitkräfte, in: Information für die Truppe, (1990) 2, S. 49.

  35. Der für Personalfragen zuständige Stabsabteilungsleiter, Brigadegeneral Oltmanns, sagte im Sommer 1991 vor dem Forum „Bundeswehr und Gesellschaft“, die „Anzahl der Deutschen, die die Bundeswehr als wichtig betrachteten, sei derzeit nicht einmal halb so hoch wie noch vor zehn Jahren“, in: FAZ vom 3. 7. 1991, S. 4.

  36. H. -J. Reeb (Anm. 36), S. 55.

  37. Abschlußbericht (Anm. 17), S. 32.

Weitere Inhalte

Wulf-W. Lapins, Dr. phil., geb. 1953; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Osteuropa-Referat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Gorbatschow-Doktrin der Einheit der Sowjetunion und die baltische Frage, Friedrich-Ebert-Stiftung, Kurzpapier Nr. 47, Februar 1991; Der Putsch -eine Epoche ging zu Ende, in: Truppenpraxis, (1991) 6; Sowjetische Militärpolitik im Wandel -wohin?, in: H. G. Ehrhard (Hrsg.), Die sowjetische Frage -Integration oder Zerfall, Baden-Baden 1991.