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Ideologieanfälligkeit und Relevanzverlust der Geisteswissenschaften | APuZ 15/1992 | bpb.de

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APuZ 15/1992 Ideologieanfälligkeit und Relevanzverlust der Geisteswissenschaften Naturwissenschaft und Ideologie Historizismus, Geschichtswissenschaft und totalitäre Ideologie Die Risiken des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts

Ideologieanfälligkeit und Relevanzverlust der Geisteswissenschaften

Klaus W. Hempfer

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wer undifferenziert Wissenschaft insgesamt unter Ideologieverdacht stellt, betreibt nicht Ideologiekritik, sondern selbst Ideologie. Er immunisiert darüber hinaus die nachweisbar besonders ideologieanfälligen Bereiche des Wissenschaftssystems gegen Ideologiekritik. Die Ideologieanfälligkeit der Geisteswissenschaften resultiert zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Rückfall in vorneuzeitliche Denkformen. Ein falsch verstandener Pluralismus sollte nicht davon abhalten, die Negation von Wissenschaft, wie sie etwa der Marxismus darstellt, auch als solche zu benennen. Der postulierte Sonderstatus der Geisteswissenschaften ist nichts weiter als eine Rechtfertigungsstrategie für reduzierte Rationalität. Der Preis hierfür sind die periodischen Legitimationskrisen, da reduzierte Rationalität keine Ergebnisse hervorbringen kann, die eine solche Rechtfertigung gegenstandslos machen. Die Geisteswissenschaften geben sich endgültig auf, wenn sie sich postmoderner Beliebigkeit hingeben. Das Postulat der Beliebigkeit läßt sich nicht nur nicht widersprüchlich begründen, es destruiert unmittelbar die Relevanz und damit die fundamentale funktionale Voraussetzung von Wissenschaft.

Wenn eine Wissenschaft oder ein ganzer Wissenschaftszweig der fortgesetzten Existenzrechtfertigung bedarf, ist dies ein deutliches Zeichen dafür, daß sich der betreffende Teilbereich unserer Wissensproduktion in einer Krise befindet. Traditionelle Geisteswissenschaften wie die Philosophie oder die Philologien, aber auch unter der Bezeichnung Sozialwissenschaften neugruppierte Fächer wie Soziologie oder Politologie zeigen eine Beflissenheit der Selbstrechtfertigung, die geradezu die Frage nach den Gründen für eine solche Beflissenheit aufzwingt; haben florierende Wissenschaften doch besseres zu tun als über ihre Notwendigkeit zu reflektieren, da sich diese über die erzielten Erkenntnisse von selbst ergibt.

Mit dieser Selbstrechtfertigung ist nun nicht einfach die Reflexion des eigenen wissenschaftlichen Tuns gemeint -diese ist immer und in jeder Wissenschaft notwendig -, gemeint sind vorrangig jene Apologien, die die Unverzichtbarkeit und die spezifische Funktionalität der Geisteswissenschaften nachzuweisen suchen, dabei aber all jene Probleme ausgrenzen, die überhaupt erst den Rechtfertigungsbedarf geschaffen haben. Es ist zweifelsohne zu kurz gegriffen, wenn man die Probleme, die die Geisteswissenschaften mit sich selbst und den anderen haben, vorrangig darauf zurückführt, daß sie nicht der Zweckrationalität eines von Naturwissenschaften und Technik dominierten Zeitalters entsprechen. Oder daß sie von der Medienrevolution, die das gedruckte Wort durch andere Kommunikationsmittel ersetzt hat, überrollt worden seien. Die Besucherzahlen von Museen und Ausstellungen oder die Auflagenzahlen bestimmter historischer Werke verweisen demgegenüber auf ein eminentes Interesse an Historischem und damit am spezifischen Gegenstandsbereich zumindest der klassischen Geisteswissenschaften. Ich möchte im folgenden zeigen, daß die aktuelle Krise der Geisteswissenschaften nicht einfach ein Ergebnis »unglücklicher 4 äußerer Umstände, sondern weitgehend selbst erzeugt ist. Meine These lautet, daß die offenkundige besondere Ideologie-anfälligkeit der Geisteswissenschaften, die im postmodernen Theoriediskurs zur puren Beliebigkeit gesteigert wird, notwendig eben jenen Relevanz-verlust zur Folge hat, über den man sich allenthalben beklagt. Diesem Relevanzverlust ist nun nicht dadurch zu begegnen, daß man für die Geisteswissenschaften neue Funktionsmodelle entwickelt, sondern dadurch daß man die Gründe jenes Relevanzverlustes beseitigt oder sich zumindest über sie klar wird. Denn ob die Geisteswissenschaften in einer Nische des Modernisierungsprozesses nur die Funktion von Akzeptanz-oder Kompensationswissenschaften erfüllen können oder aber ob sie ganz im Gegenteil gar als Orientierungswissenschaften fungieren sollen, läßt sich erst bestimmen, wenn den Geisteswissenschaften überhaupt Relevanz zuerkannt wird. Für eine Gesellschaft insgesamt relevant kann jedoch nicht sein, was einseitig ideologisch oder schlicht beliebig ist. Fragt man nach den Gründen, warum die Geisteswissenschaften so besonders ideologieanfällig sind, dann ist man sehr schnell bei den Grundlagen dieser Wissenschaften angelangt. Zuvor jedoch ein Wort zur besonderen Ideologieanfälligkeit der Geisteswissenschaften.

I. Die besondere Ideologieanfälligkeit der Geisteswissenschaften

Wie bereits die Spezifizierung mit , besonders 4 impliziert, soll nicht behauptet werden, daß sich das Ideologieproblem ausschließlich in den Geisteswissenschaften stellt. Wie ein Blick in das 1942 in Halle erschienene Werk von M. Steck: , Mathematik als Begriff und Gestalt 4 zeigt, lassen sich unter besonders ungünstigen Umständen selbst die Grundlagen der Mathematik ideologisch aufladen, glaubte der Verfasser doch, daß mittels des Gestaltbegriffs die „bisherige Botmäßigkeit und Beugung 44 der deutschen Wissenschaft „unter die Herrschaft des englischen Empirismus und unter die des westlichen Nominalismus ... gebrochen“ sei. Trotz dieses nazistischen Kotaus vor der deutschen Wissenschaft handelt es sich zum einen bei der an-gesprochenen Problematik einer platonistischen oder nominalistischen Grundlegung der Mathematik um ein nicht erst durch die nazistische Ideologie aufgebrochenes Fundierungsproblem der Mathematik, und zum anderen ist, banal gesagt, eins plus eins auch für einen nazistischen oder marxistischen Mathematiker zwei. Entsprechendes gilt nicht für einen nazistischen oder marxistischen Germanisten: Sie interpretieren nicht nur dieselben Phänomene grundsätzlich unterschiedlich, sie nehmen in der Regel bereits grundsätzlich Unterschiedliches als Phänomen wahr. Zunächst bleibt demnach festzuhalten, daß es einen zentralen Unterschied macht, ob eine Wissenschaft in ihrem Aufbau grundlegend ideologisch konditioniert ist -die Rasse oder die Klasse als Movens der Geschichte-, oder ob eine Wissenschaft ideologisch in Dienst genommen wird oder werden kann. Wenn ein Kernphysiker für den Bau der Atombombe eintritt, dann begibt er sich in das Feld der Ideologie, dies tangiert aber nicht die Richtigkeit seiner Einsichten in die Struktur des Atoms, während es sich dann, wenn ein Pädagoge von der Prämisse ausgeht, daß alle Menschen gleich seien und deshalb bei gleicher Förderung alle Einsteins werden könnten -ich simplifiziere bewußt -, um hierauf ein Bildungsmodell aufzubauen, um pure Ideologie handelt, da die Prämisse eine nicht belegbare Behauptung darstellt, deren Wahrheit aber zugleich die zentrale Voraussetzung der hierauf fußenden Bildungstheorie ausmacht. Ich will nun nicht behaupten, daß es eine analoge Ideologisierung im Bereich der Naturwissenschaften überhaupt nicht gibt: Die stalinistische Biologie wäre ein solches Beispiel.

Gleichwohl ist es einer der beliebtesten Tricks geisteswissenschaftlicher Ideologen, gerade den hier skizzierten Unterschied zu verwischen, um durch den Ideologievorwurf auch gegenüber exakteren Wissenschaften Wissenschaft generell als Ideologie auszuweisen, wodurch dann wissenschaftliche Kompetenz einzig von der richtigen Ideologie abhängt. Und was die richtige Ideologie ist, bestimmen diejenigen, die wissen, was das Ziel der Geschichte und das Heil der Menschen ist. Das undifferenzierte Reden von „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ 1 -oder von den erkenntnisleitenden Interessen, die die exakten Wissenschaften angeblich genau so bestimmen würden, wie die weniger exakten 2, hat keineswegs die beabsichtigte „Aufklärung“ erreicht, sondern nur fundamentale Unterschiede hins hat keineswegs die beabsichtigte „Aufklärung“ erreicht, sondern nur fundamentale Unterschiede hinsichtlich der Ideologieanfälligkeit und damit der Relevanz oder Nichtrelevanz unterschiedlicher Wissenschaften verdeckt. Wenn Habermas dabei postuliert, daß eine „radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich“ sei 3, dann setzt er entweder die Wahrheit einer Gesellschaftstheorie, die keiner Erkenntnis-kritik unterzogen werden kann, voraus, oder aber die Gesellschaftstheorie ist auch nur eine Ideologie, die die auf ihrer Basis vollzogene Erkenntnis-kritik beliebig und somit belanglos macht. Dies kann belegen, wie schnell sich ein überdrehter Ideologievorwurf als Bumerang erweist. Auch wenn festzuhalten bleibt, daß sich Habermas in seinen neueren Publikationen entschieden gegen Irrationalität und Beliebigkeit des postmodernen Theoriediskurses wendet so hat er doch durch den generalisierten Ideologievorwurf auch und gerade gegenüber exakteren Wissenschaften einer Argumentationsstrategie Vorschub geleistet, die im Irrsinn den einzigen Sinn erblickt.

Wer undifferenziert Wissenschaft insgesamt unter Ideologieverdacht stellt, betreibt nicht Ideologie-kritik, sondern Ideologie. Er immunisiert die nachweisbar besonders ideologieanfälligen Bereiche des Wissenschaftssystems gegen Ideologiekritik.

Im folgenden möchte ich drei Gründe nennen, die die Geisteswissenschaften ideologieanfälliger machen als die Naturwissenschaften. 1. Theoriegeleitete Beobachtung vs. Auslegung autoritativer Texte Als Bertold Brecht ein Stück über Galileo Galilei schrieb, war er sich wohl kaum darüber im klaren, wie sehr er hiermit die Grundlagen seiner eigenen Weltanschauung demontierte. Bekanntlich entwickelte sich von Kopernikus über Kepler und Galilei zu Newton jener neue Denkhabitus, den Galilei selbst in einem Brief an Kepler aus dem Jahre 1610 in aller Deutlichkeit formulierte. Galilei beklagt sich in diesem Brief über „die Hauptphilosophen unseres Gymnasiums“ (gemeint sind die Universitätsphilosophen), die einfach seine astronomischen Entdeckungen, die er mit dem neu erfundenen Fernrohr machte, nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Wie Odysseus die Ohren, schreibt Galilei, „so haben diese die Augen gegen das Licht der Wahrheit verschlossen. Das ist ungeheuerlich, aber es erregt keine Verwunderung bei mir. Denn diese Art von Menschen hält die Philosophie für ein Buch, wie es die Äneis und die Odyssee sind. Sie glauben, daß die Wahrheit nicht in der Welt und in der Natur, sondern in der Vergleichung der Texte (wie sie es ausdrücken) gesucht werden müsse.“ Galilei beschreibt in dieser Brief-stelle einen erkenntnistheoretischen Umbruch, der den Siegeszug der Erfahrungswissenschaften, und dies heißt primär der Naturwissenschaften, begründen sollte. Wie sich an einer Mehrzahl anderer Stellen belegen ließe, die explizit auch die absolute Gültigkeit der Heiligen Schrift in Frage stellen, gibt es zumindest seit Galilei eine Erkenntnistheorie, die die Konstitution gültiger Erkenntnis nicht mehr auf die Auslegung autoritativer Texte, sondern auf Beobachtung -wir würden heute sagen: auf die theoriegeleitete Beobachtung -gründet. Wie komplex auch immer das Beobachtungsproblem in den modernen Naturwissenschaften -und nicht nur in diesen -diskutiert wird, es ist offensichtlich, daß Galilei ein neues Rationalitätsmodell formulierte, das die Entwicklung der modernen Wissenschaften bestimmt hat

Während für die Naturwissenschaften das Zeitalter nicht hinterfragbarer Autoritäten im Laufe des 17. Jahrhunderts unwiederbringlich zu Ende geht, gelingt es den Geisteswissenschaften immer wieder, in eine vorneuzeitliche Denkform zurückzufallen. Der Marxismus ist hierfür ein geradezu idealtypisches Beispiel. Die sogenannte marxistische Wissenschaft basiert bekanntlich auf einer begrenzten Anzahl autoritativer Texte, die zwar beständig neu ausgelegt, aber nicht grundsätzlich widerlegt werden dürfen. Wer letzteres tut, ist per definitionem kein Marxist mehr, und er konnte dies in der Vergangenheit auch nur tun, wenn er nicht in einem Gemeinwesen lebte, in dem diejenige Instanz, die die Orthodoxie der Auslegung der autoritativen Texte überwachte, die Partei, zugleich die Staatsmacht ausübte. Je nach der Mächtigkeit der orthodoxiegarantierenden Auslegungskontrollinstanz konnten sich natürlich unterschiedlich orthodoxe Marxismen konstituieren, deren Liberalisierungsgrenzen jedoch genau dort liegen, wo die identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten verlassen werden. Das heißt, ohne eine unaufhebbare Grundlage von Glaubenssätzen -wir können auch sagen von Ideologemen -geht es nicht, sonst verlöre die marxistische Wissenschaft ihre Differenzqualität zur „normalen“ Wissenschaft. Da die Texte des Marxismus nun keine marxistische Physik oder Chemie, wohl aber eine politische Ökonomie, eine Gesellschaftstheorie, eine Geschichtstheorie oder besser eine Geschichtsphilosophie usw. entwickelt haben, sind die Geistes-und Sozialwissenschaften in einen Ideologiesog geraten, den gerade sie aufgrund ihrer eigenen konstitutionellen Schwäche am schwersten abwehren konnten. Denn die spezifische Ideologie-anfälligkeit der Geisteswissenschaften beruht nicht nur darauf, daß es in ihrem Bereich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Rückgriff auf vorneuzeitliche Erkenntnismodelle kam, sondern auf weiteren Bedingungen.

Ein falsch verstandener Pluralismus sollte nicht davon abhalten, die Negation von Wissenschaft, wie sie etwa der Marxismus darstellt, auch als solche zu benennen. 2. Die Sonderstellung der Geisteswissenschaften Es ist ein Gemeinplatz einer bestimmten philosophischen Tradition vom nachkantischen Idealismus über die Frankfurter Schule bis zur sogenannten Postmoderne, aufklärerischer Rationalität vorzuwerfen, daß sie zu kurz greife, daß sie das Eigentliche -was auch immer das sei -ausspare und deshalb durch eine höhere Form von Rationalität überwunden werden müsse. Nun verdanken wir aufklärerischer Rationalität nachweislich nicht nur den emphatisch gesetzten Vernunftbegriff, sondern so ziemlich alle Voraussetzungen des modernen, freiheitlichen Rechtsstaats -vom Toleranzprinzip über die Gewaltenteilung bis hin zur repräsentativen Demokratie -, während die „falschen Propheten“ des 19. Jahrhunderts, wie Popper „Hegel, Marx und die Folgen“ nannte, die Grundlagen totalitärer Ideologen lieferten Dies sollte bereits vorsichtig stimmen, doch ist noch ein weiterer Punkt unmittelbar auffällig. Während nämlich die aufklärerische Rationalität gerade dadurch charakterisiert ist, daß man bestimmte grundlegende Voraussetzungen naturwissenschaftlichen Denkens auf alle Wissenschaften auszudehnen trachtete -nicht zufällig war der Dichter und Philosoph Voltaire einer der entschiedensten Propagandisten Newtons -und damit vielleicht zum letzten Mal so etwas wie eine Einheit der Wissenschaften konstituierte, beginnt mit der idealistischen Philosophie die Absonderung der Geisteswissenschaften, die dann um die Jahrhundertwende bei Dilthey und anderen ihre systematische Begründung erfährt.

Das Gefährliche dieser Absonderung beruht nun keineswegs darauf, daß man für die Geisteswissen-schäften insgesamt und für jede einzelne von ihnen einen spezifischen Gegenstandsbereich und spezifische Methoden der Ermittlung von Erkenntnissen postulierte -dies bestimmt jegliche Ausdifferenzierung von Wissenschaften das Gefährliche beruhte vielmehr darauf, daß man glaubte, die Geisteswissenschaften seien durch einen für sie spezifischen Rationalitätstyp charakterisiert. Es kam zu der bekannten Unterscheidung von den erklärenden Naturwissenschaften und den verstehenden Geisteswissenschaften, wobei diese Unterscheidung bereits bei Dilthey in gefährlicher Weise normativ aufgeladen wurde: „Nun unterscheiden sich ... von den Naturwissenschaften die Geistes-wissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstände Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindung der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, vermittels deren wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren, von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist.“ Diese Gegenüberstellung ist eindeutig wertend: die beim Äußeren -um nicht zu sagen Äußerlichen -stehenbleibenden Naturwissenschaften, die einen Zusammenhang nur auf der Basis von Hypothesen herzustellen vermögen, und die in einem intuitiven Sprung das Ursprüngliche und Eigentliche erfassenden Geisteswissenschaften. Letztere haben sich von dieser Metaphysik nie wieder ganz erholt, und wenn die Germanistik innerhalb weniger Jahrzehnte vom biologischen Rassismus der Nazi-zeit über die ahistorische Werkimmanenz der Nachkriegsperiode zum vulgärmarxistischen Soziologismus der 68er Generation umschwenkte, dann spiegelt sich hierin genau jenes Problem, daß der Besitz der ursprünglichen Wahrheit in keiner Weise methodisch kontrolliert wird. Und damit sind wir beim eigentlichen Kern der Ideologieanfälligkeit der Geisteswissenschaften, ihrem hermeneutischen Fundament.

Was ist Hermeneutik? Die Hermeneutik, die sich aus der Bibelexegese entwickelt hat, ist ursprünglich nichts weiter als eine Kunstlehre des Verstehens, die Regeln für die angemessene Auslegung von Texten zu formulieren sucht. In dem Maße, in dem für die Geisteswissenschaften ein eigener Rationalitätstyp postuliert wurde, entwickelte sich die Hermeneutik zu einer Methodologie der Geistes-wissenschaften. Bei Gadamer kommt es dann zu einer weiteren Ausweitung des Totalitätsanspruchs der Hermeneutik. Im Anschluß an Heidegger ist für ihn Verstehen „nicht eine unter den Verhaltensweisen des Subjektes, sondern die Seinsweise des Daseins selbst. In diesem Sinne ist der Begriff , Hermeneutik hier verwendet worden.“ Die exakten Wissenschaften haben sich von dieser Ontologisierung der Erkenntnistheorie wenig beeindruckt gezeigt und den Totalitätsanspruch der neuen Hermeneutik schlicht ignoriert. Anders eine Mehrzahl von Geisteswissenschaften, wo die Hermeneutik Gadamerscher Prägung zur neuen Fundierungsdisziplin avancierte, so daß Hans Robert Jauß schreiben konnte, die Geisteswissenschaften fänden in der „Hermeneutik ... ihr gemeinsames methodisches Prinzip“

Wenn dem so wäre, müßte man die Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie, die dezidiert antihermeneutisch ist, genauso zu den Nichtgeisteswissenschaften rechnen wie maßgebliche Forschungstendenzen in der Sozial-, Wirtschaftsoder Wissenschaftsgeschichte, der Sprach-und Literaturwissenschaft oder in den sogenannten Sozialwissenschaften. Nun finden sich freilich in der Denkschrift selbst wesentlich verschiedene Positionen -Mittelstraß zum Beispiel lehnt ganz explizit die Opposition von Erklären vs. Verstehen als Differenzierungskriterium von Natur-und Geisteswissenschaften ab -, doch markiert das Jaußsche Diktum jenen Totalitätsanspruch der Hermeneutik, die zwar nicht durchgängig das „Sein des Daseins“, wie bei Gadamer, zu ihrem , Herrschaftsbereich 4 erklärt, wohl aber alles „geschichtliche Sein . Stellt sich ein solcher Totalitätsanspruch immer schon unter Ideologieverdacht, so wird der Verdacht zur Gewißheit, wenn man sich die nähere Fundierung dieser Hermeneutik ansieht. Gadamer entwickelt seine Konzeption in bewußter Absetzung von den „ontologischen Hemmnissen des Objektivitätsbegriffs der Wissenschaft“ Dabei geht er von der Heideggerschen Vorstruktur allen Verstehens aus, wonach Verstehen überhaupt nur möglich ist auf der Basis von Vorurteilen. In dezidiert antiaufklärerischer Stoßrichtung wird das Vorurteil zur conditio sine qua non von Verstehen überhaupt. Auf historische Gegenstände angewendet, entwickelt sich hieraus die sogenannte Geschichtlichkeit des Verstehens, was heißt, daß aufgrund von je aktuellen Vorverständnissen Vergangenes immer wieder anders verstanden wird. Dies alles wäre nicht weiter schlimm, würde nun für ein solchermaßen verstandenes Verstehen nicht der Wahrheitsanspruch erhoben. Gadamer postuliert nämlich ein „mit methodischem Bewußtsein geführtes Verstehen“ das seine Vorverständnisse kontrolliert, um solchermaßen „die wahren Vorurteile, unter denen wir verstehen, von den falschen, unter denen wir mißverstehen, zu scheiden“ Nun wird aber, wie bereits Rainer Warning festgestellt hat eine Instanz, die diese Kontrollfunktion wahrnehmen könnte, nicht benannt, es sei denn in der höchst problematischen Rehabilitierung von Tradition und Autorität. Womit wir wieder bei Galilei wären, dem der Aristoteliker Cesare Cremonini entgegenhält, er lasse sich von ihm und seinem , komischen Fernrohr doch nicht den Himmel seines Aristoteles nehmen -der Bezug auf Autorität und Tradition stabilisiert nur die Vorurteile. Wenn die wirkungsgeschichtliche Hermeneutik jedoch keine Bedingungen dafür formulieren kann, wann Vorurteile wahr’ und wann sie , falsch'sind, kann sie nur von unkontrollierbaren Setzungen ausgehen, die eben durch ihren Charakter der Unkontrollierbarkeit nur noch ideologischer Natur sein können. Dies erklärt, warum es gerade jene Wissenschaften bzw. Teilbereiche von Wissenschaften sind, die sich so emphatisch als hermeneutische deklarieren, die besonders leicht der jeweils herrschenden Ideologie erliegen. Es genügt nämlich nicht, über die Vorstruktur allen Verstehens zu reflektieren, man muß auch Bedingungen dafür angeben können, wie sich richtiges von falschem Verstehen unterscheidet, oder auf Wissenschaft verzichten.

Um nicht mißverstanden zu werden: Mir geht es nicht um eine Rückkehr zum naiven Empirismus, doch sind die Probleme, die die neuere Hermeneutik zu lösen vorgibt, in anderen Wissenschaftstraditionen weit adäquater theoretisiert. Wenn man Popper nicht in das Massengrab des Positivismus befördert, sondern wirklich gelesen hätte, hätte man feststellen können, daß er schon in seiner „Logik der Forschung“ von 1934 auf der Theorie-abhängigkeit jeglicher Beobachtung insistiert. Von der Gestaltpsychologie bis zur genetischen Epistemologie Piagets wird Erfahrung von Wirklichkeit als über , Strukturen'vermittelt erwiesen, und auf die nichtobjektivistisch vorgegebene, sondern rationale Konstruktion von Wirklichkeit heben auch die Neurobiologen Maturana und Varela ab Die Reflexion der Subjektproblematik ist also keineswegs eine Domäne der Hermeneutik; ihre Domäne ist jedoch, daß sie diese Reflexion in peinlicher Abschottung vom erkenntnis-und wissenschaftstheoretischen Diskurs jener Wissenschaften betreibt, die Ergebnisse erzielen, die sie gar nicht erst dem Zwang permanenter Selbstrechtfertigung aussetzen.

Der postulierte Sonderstatus der Geisteswissenschaften ist nichts weiter als eine Rechtfertigungsstrategie für reduzierte Rationalität. Der Preis hierfür sind die periodischen Legitimationskrisen, da reduzierte Rationalität keine Ergebnisse hervorbringen kann, die eine solche Rechtfertigung gegenstandslos machen. 3. Nichts geht mehr, wenn alles geht Die endgültige Marginalisierung der Geisteswissenschaften scheint Ziel all jener Strömungen zu sein, die sich selbst oder denen man das Etikett „post“ zuordnet. Ich meine die Posthistorie, den Postempirismus, den Poststrukturalismus usw., die in einer wie auch immer zu bestimmenden Postmoderne ihr epochales Bezugssystem finden. Diese Strömungen schließen vielfach unmittelbar an die -vor allem deutsche -Hermeneutikdiskussion an -so bezieht sich etwa Derrida, der einflußreichste poststrukturale Philosoph, mit Vorliebe auf Heidegger -und radikalisieren, zum Teil auch mehr oder weniger , unwissend', hermeneutische Positionen. Diese Radikalisierung besteht vor allem darin, daß der von der Hermeneutik noch immer vertretene, wenn auch nicht mehr konsistent be-gründbare Wahrheitsanspruch grundsätzlich aufgehoben wird. Nach Lyotard, einem der zentralen , Theoretiker der Postmoderne, ist postmodernes Denken dadurch charakterisiert, daß es den Glauben an die Geltung von Meta-Recits verloren habe. Mit Meta-Recits sind Normsysteme gemeint, die etwa bestimmen, welchen Bedingungen ein wissenschaftlicher Diskurs zu gehorchen habe, um wissenschaftlich zu sein, oder wie eine gerechte Sozialordnung aussehen müsse. Anstelle dieser Normsysteme sei die Heterogenität unterschiedlicher Sprachspiele getreten, und in expliziter Absetzung von Habermas wird der Konsens als „une valeur dsute et suspecte" (ein überholter und verdächtiger Wert) bezeichnet. Lyotard gerät nun freilich in einen logischen und nicht nur hermeneutischen Zirkel, wenn er die Legitimität der heterogenen -und das heißt im Klartext: der beliebigen -Diskurse zu bestimmen sucht. Denn Beliebiges läßt sich schlicht nicht nichtbeliebig begründen, oder anders formuliert: Beliebiges kann man nicht verbindlich machen. Wenn Lyotard der Positivität heterogener Sprachspiele den Schrecken („terreur") des Konsenses gegenüberstellt dann macht er genau das, was er nach seinen eigenen Voraussetzungen nicht mehr machen dürfte: Er macht einen bestimmten Typus von Sprachspielen, die heterogenen bzw. beliebigen, verbindlich, wo es doch gerade diese Verbindlichkeit nicht geben kann und soll.

Analoge Zirkularität ließe sich auch bei anderen postmodernen , Denkern nachweisen, doch kommt es mir hierauf nicht an. Wichtig ist, daß es in zentralen Bereichen des gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Theoriediskurses Positionen gibt, die die Beliebigkeit zur Norm für den wissenschaftlichen Diskurs insgesamt erheben. Nun ist sicherlich nicht abzustreiten, daß speziell in den Geistes-wissenschaften vieles, zu vieles beliebig ist, doch scheint es geradezu grotesk, hieraus gegenüber dem Terror des Konsenses eine positive Norm machen zu wollen. Es dürfte jedem höchst abwegig erscheinen, aus der Tatsache, daß Menschen immer Menschen umgebracht haben, abzuleiten, daß dies angebracht sei. Auch wenn Beispiele hinken -viel besser ist Lyotards Argumentation nicht, denn das beliebige Nebeneinander inkommensurabler Sprachspiele läßt sich nur mit Gewalt positivieren. Beliebiges hat nun einmal keine Relevanz, und Wissenschaften, die sich selbst um ihre Relevanz bringen, dürfen nicht darüber verwundert sein, wenn man sie beim Wort nimmt. Wenn Feyerabend mit seinem „anything goes“ Recht hätte, dann ginge nichts mehr, denn alles wäre gleich belanglos. Glücklicherweise ist die Praxis geisteswissenschaftlicher Forschung noch immer weit solider als ein Teil ihrer vermeintlichen Fundierungsversuche.

Die Geisteswissenschaften geben sich endgültig auf, wenn sie sich postmoderner Beliebigkeit hingeben. Das Postulat der Beliebigkeit läßt sich nicht nur nicht widersprüchlich begründen, es destruiert unmittelbar Relevanz und damit die fundamentale funktionale Voraussetzung von Wissenschaft.

II. Fazit

Wenn man die Geisteswissenschaften mit Jürgen Mittelstraß und Reinhard Koselleck als Kulturwissenschaften begreift dann kommt ihnen eine prinzipielle Existenzberechtigung zu, solange es das gibt, was man Kultur -in einem umfassenden, nicht normativen Sinn -nennt. Ein Anrecht auf institutionelle Behandlung als Wissenschaften haben sie freilich nur, wenn es sich tatsächlich um Kulturwissenschaften und nicht um Kulturgerede handelt. Dies wird mitunter übersehen.

Der Relevanzverlust der Geisteswissenschaften resultiert nicht aus dem Relevanzverlust ihrer Gegenstandsbereiche, sondern aus dem Relevanzverlust ihrer Ergebnisse. Der Relevanzverlust ihrer Ergebnisse hat seinen letztendlichen Grund im Postulat des Sonderstatus der Geisteswissenschaften, das ihnen das Reservat reduzierter Rationalität schuf. Reservate erlauben keine natürlichen Entwicklungen, so daß es erstes Ziel der Geisteswissenschaften sein muß, aus diesem Reservat wieder entlassen zu werden. Von der Neurobiologie bis zur Wissenschaftsgeschichte zeichnet sich eine Konvergenz der Erkenntnistheorien ab, die sich gleichermaßen jenseits des naiven Objektivismus traditionell naturwissenschaftlichen Denkens wie des ideologieanfälligen Subjektivismus hermeneutischer Positionen ansiedelt. Insofern die Hermeneutik durch die postmoderne Radikalisierung ihrer subjektivistischen Halbheit überführt worden ist, kann sie nicht weiter als methodisches Fundament der Geisteswissenschaften fungieren. Diese haben nur die Wahl, sich entweder in die Heterogenität postmoderner Sprachspiele aufzulösen oder zu einem gemeinsamen Fundament von Wissenschaft zurückzufinden. Erleichtern dürfte dieses Zurückfinden das Ende der Ideologien im politisch-gesellschaftlichen Bereich. Wir befinden uns im Augenblick in der paradoxen Situation, daß der Marxismus in seiner politischen Realisationsform als real existierender Sozialismus aufgrund unleugbarer Tatsachen gescheitert ist, vom Scheitern des Marxismus als Theorie dieser Praxis ist jedoch noch immer nicht die Rede. Statt dessen bastelt man -im Westen wie im Osten -unentwegt an Immunisierungsstrategien, die die Theorie von ihrem praktischen Versagen zu entlasten suchen. Es wäre die Aufgabe einer auf dem linken Auge nicht blinden Ideologiekritik, nach Idealismus, Szientismus und allem möglichen anderen endlich dem Marxismus den Ideologieprozeß zu machen und die Parteilichkeit einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ als das auszuweisen, was sie ist: Negation von Wissenschaft. Dies bedeutet keine Gefährdung eines pluralistischen Wissenschaftskonzepts. Gefährdet wird ein pluralistisches Wissenschaftskonzept vielmehr durch die Akzeptanz von Ideologien als Wissenschaft, deren erklärtes Ziel gerade die Destruktion von Pluralität ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl.ders., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968.

  2. Vgl.ders., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985.

  3. Galileo Galilei, Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, hrsg. u. eing. von Hans Blumenberg, Frankfurt/M. 1980, S. 9.

  4. Vgl. Klaus W. Hempfer, Die Konstitution autonomer Vernunft von der Renaissance zur Aufklärung, in: ders. /Alexander Schwan (Hrsg.), Grundlagen der politischen Kultur des Westens, Berlin-New York 1987, S. 95-115.

  5. Vgl. Karl Popper, Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. II, Bern-München 1958.

  6. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. V: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, hrsg. v. Georg Misch, Stuttgart 19746, S. 143f.

  7. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 19652, S. XVI.

  8. Hans Robert Jauß, Die Paradigmatik der Geisteswissenschaften im Dialog der Disziplinen, in: Wolfgang Frühwald/Hans Robert Jauß/Reinhart Koselleck/Jürgen Mittelstraß/Burkhart Steinwachs, Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt/M. 1991, S. 46.

  9. H. -G. Gadamer (Anm. 9), S. 250.

  10. Ebd., S. 254.

  11. Ebd., S. 282.

  12. Vgl. Rainer Warning, Rezeptionsästhetik als literatur-wissenschaftliche Pragmatik, in: Rainer Warning (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München 1975, S. 21.

  13. Vgl. G. Galilei (Anm. 5), S. 10.

  14. Vgl. Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern-München-Wien 19872.

  15. Jean-Franois Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979, S. 106.

  16. Ebd., S. 104.

  17. Vgl. Anm. 10.

Weitere Inhalte

Klaus W. Hempfer, Dr. phil., geb. 1942; Ordinarius für Romanische Philologie und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zu literaturwissenschaftlichen Themen.