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Kommunalpolitik zwischen exekutiver Führerschaft und legislatorischer Programmsteuerung | APuZ 22-23/1992 | bpb.de

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APuZ 22-23/1992 Kommunalpolitik zwischen exekutiver Führerschaft und legislatorischer Programmsteuerung Politisierung der Kommunalpolitik und Wandlungen im lokalen Parteiensystem Neue Prioritäten für die kommunale Finanzpolitik? Ergebnisse einer vergleichenden Städtestudie

Kommunalpolitik zwischen exekutiver Führerschaft und legislatorischer Programmsteuerung

Rüdiger Voigt

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Zusammenfassung

Ausgehend von der Frage, ob bestimmte Gemeindeordnungen besser den Anforderungen an die lokale Politiksteuerung gerecht werden als andere, werden zwei besonders ausgeprägte Kommunalverfassungsmodelle, nämlich die Norddeutsche und die Süddeutsche Ratsverfassung, miteinander verglichen. Die Ergebnisse dieses Vergleichs dürften gerade für die neuen Bundesländer interessant sein, die sich für das eine oder für das andere System entscheiden können. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zwei Steuerungsmodelle, nämlich das Modell der legislatorischen Programmsteuerung und das der exekutiven Führerschaft. Ist im ersteren Fall zentraler Steuerungsakteur der Chef der Verwaltung, so ist im letzteren Fall die kommunale Vertretungskörperschaft das eigentliche Machtzentrum. Die Norddeutsche Ratsverfassung tendiert zwar grundsätzlich zum Führungspluralismus, dieser kann jedoch schnell aufgrund von Parteienkonstellation, Mehrheitsverhältnissen im Rat und der herausragenden Machtposition einzelner Politiker in einen Entscheidungszentralismus umschlagen. Aus einem Vorentscheidergremium tritt in diesem Fall eine einzelne Person als zentraler Steuerungspolitiker in den Vordergrund. Eine Übertragung der Süddeutschen Ratsverfassung auf andere Länder des alten Bundesgebietes wird trotz der dort vorhandenen eindeutigeren Machtverhältnisse nicht befürwortet. Eine solche Übertragung würde nämlich der gewachsenen politischen Kultur eines Landes nicht ohne weiteres gerecht werden können.

Grundgesetz und Landesverfassungen garantieren das kommunale Selbstverwaltungsrecht, d. h. die eigenverantwortliche Erledigung aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze. So sind nach der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung die Gemeinden „die Grundlage des demokratischen Staatsaufbaus“. Diesem Anspruch auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden stehen jedoch ökonomische, fiskalische, rechtliche und politische Rahmenbedingungen entgegen, die eine Selbständigkeit der Kommunen im Sinne von Autonomie einschränken bzw. ausschließen. Die Kommunen sind abhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, von der Finanzverteilung in Bund und Land, von der Kompetenzzuweisung und von der Kommunalfreundlichkeit der politischen Körperschaften (Parlament, Regierung, Verwaltung) im Rahmen der Politikverflechtung.

I. Unterschiedliche Gemeindeverfassungstypen

Die Trage ist, ob die Ursache solcher Probleme in der formalen Entscheidungsstruktur liegen könnte, die von einer bestimmten Gemeindeordnung festgelegt wird Auf der Ebene der Kommunalverfassungstypen wird dabei die übliche Unterscheidung zugrundegelegt, nämlich die zwischen der Norddeutschen Ratsverfassung der Bürgermeisterverfassung der Magistratsverfassung sowie -last but not least -der Süddeutschen Rats-verfassung

Von allen Kommunalverfassungen ist die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung gegenwärtig am stärksten unter politischen Druck geraten Die von bestimmten Personen und Gruppen immer wieder vorgebrachte Forderung nach ihrer Revision beginnt allmählich auch bei der Düsseldorfer Landesregierung Wirkung zu zeigen So hat der Landesinnenminister nicht nur angekündigt, die Gemeindeordnung in dieser Legislaturperiode ändern zu wollen, sondern er hat auch eine große Fragebogenaktion durchgeführt, um die Meinung der Betroffenen zu erkunden. Dabei sind neben den Fraktionen, Bürgermeistern und Gemeindedirektoren alle 19000 Mitglieder von Räten und Bezirksvertretungen über ihre Ansichten zur Kommunalpolitik befragt worden.

Das gibt Anlaß, aus der Sicht der Politik-und Verwaltungswissenschaft die diesem politischen „Reform“ vorhaben zugrundeliegenden Prämissen zu untersuchen und die Berechtigung dieser Forderung zu überprüfen Die Ergebnisse dieser Analyse dürften nicht nur für Nordrhein-Westfalen interessant sein, sondern auch für die neuen Bundesländer, die sich für das eine oder andere System entscheiden werden

Während sich die Kritik an der Norddeutschen Ratsverfassung in den vergangenen Jahrzehnten -ähnlich wie bei den Ländern anderen Kommunalverfassungstyps -vor allem gegen die Machtfülle des Hauptverwaltungsbeamten und die Ohnmacht des Rates richtete, stehen heute die Machtlosigkeit des Verwaltungschefs und die Übermacht der Fraktionen im Rat, insbesondere der Mehrheitsfraktion, im Zentrum der Kritik War das Politikverständnis der einen Seite stärker am Gedanken der Partizipation orientiert so ist das der anderen Seite im wesentlichen auf Verwaltungseffizienz gerichtet Damit wird -wenn auch auf einer anderen Argumentationsebene -die alte Debatte um die Regierbarkeit unserer Städte wieder aufgenommen.

Konzentriert man sich auf die wesentlichen Unterschiede dann läßt sich die Spannbreite der Kommunalverfassungstypen in der Bundesrepublik unter dem Gesichtspunkt der Rolle des Verwaltungschefs als ein Kontinuum darstellen, dessen Endpunkte durch zwei Modelle charakterisiert werden können. Auf der einen Seite steht das Modell der exekutiven Führerschaft auf der anderen Seite das des City Managements.

Das City-Management-Modell ist durch die Figur des unpolitischen „City Managers“ charakterisiert, der über hohe professionelle Qualitäten verfügt, aber parteipolitisch neutral der jeweils herrschenden Mehrheit im Rat zuarbeitet. Der Rat und die in ihm vertretenen Parteien spielen dabei die eigentlich politische Rolle. Rat und Verwaltungschef sind -bis auf den Wahlvorgang -institutionell nicht miteinander verbunden. Typisch für dieses Modell ist, daß der Verwaltungschef oft im Rat nicht einmal Rederecht besitzt. Ein City Management in diesem Sinne findet sich auch heute noch in manchen britischen und amerikanischen Städten. Dieses Modell lag den Vorstellungen der britischen Besatzungsmacht zugrunde, als diese nach dem Kriege die Norddeutsche Ratsverfassung in ihrer Besatzungszone einführte; es beeinflußt auch heute noch die Diskussion um die Entscheidungsstruktur in Nordrhein-Westfalen.

Das Gegenmodell hierzu ist das der exekutiven Führerschaft, wie es Rolf-Richard Grauhan insbesondere für die Länder der Süddeutschen Ratsverfassung herausgearbeitet hat Dieses Modell ist durch die Konzentration aller Machtbefugnisse in einer Hand gekennzeichnet. Der Bürgermeister erhält durch die direkte Volkswahl eine dem Rat gleichwertige Legitimation. Die politische Initiativfunktion liegt im wesentlichen beim Bürgermeister als Chef der Gemeindeverwaltung, der Rat dient eher als Beratungs-oder sogar lediglich als Akklamationsgremium für dessen Initiativen. Die Kritiker der nordrhein-westfälischen Gemeinde-ordnung, z. B.der Verband der Hauptgemeindebeamten und Beigeordneten im Lande NRW, favorisieren dieses Modell in ihrem Positionspapier vom Dezember 1987 und fordern die Übertragung der im Sinne einer exekutiven Führerschaft interpretierten baden-württembergischen Kommunal-verfassung auf Nordrhein-Westfalen.

II. Kritik an der Norddeutschen Ratsverfassung

Der wichtigste Ausgangspunkt der gegenwärtig geäußerten Kritik an der Norddeutschen Ratsverfassung ist die Annahme, daß diese mit ihrer dualistischen Entscheidungsstruktur den modernen Anforderungen an die lokale Politiksteuerung nicht gerecht werden könne. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Entscheidungsstruktur einer Gemeinde im wesentlichen von den rechtlichen Rahmenbedingungen abhänge, daß also die formale die informelle Struktur determiniere. Zugleich wird unterschwellig angedeutet, daß ein allzu starker Einfluß der Vertretungskörperschaft und insbesondere der in ihr vertretenen Parteien von Übel sei und daher möglichst vermieden werden müsse. Und schließlich wird vorausgesetzt, daß bei unveränderter politischer Kultur eine Implantation der Süddeutschen Ratsverfassung nach baden-württembergischem Modell in Nordrhein-Westfalen die Voraussetzungen für eine Lösung der bestehenden Steuerungsprobleme schaffen würde.

Im Mittelpunkt der Untersuchung sollen die folgenden vier Fragen stehen: 1. Welche Entscheidungsstruktur hat sich in unterschiedlichen Städten und Gemeinden herausgebildet? 2. Welche Bedeutung hat die Kommunalverfassung für die Ausformung dieser Entscheidungsstruktur? 3. Welche lokalen und regionalen Besonderheiten der politischen Kultur sind hierfür maßgebend? 4. Welche institutioneilen Voraussetzungen lassen sich daraus für das Funktionieren lokaler Politiksteuerung ableiten?

Bei der Beantwortung dieser Fragen soll methodisch so vorgegangen werden, daß die Ergebnisse neuerer einschlägiger empirischer Untersuchungen verwendet und zum Vergleich die Resultate eigener Erhebungen herangezogen werden. Die Bezugsebene ist hier jeweils eine Stadt bzw. Gemeinde, deren lokale Steuerungsprobleme analysiert werden sollen. Ausgeblendet bleiben hingegen die gesamtgesellschaftlichen Steuerungsprobleme, in deren Rahmen die einzelne Gemeinde eher als Element einer „Gegensteuerung von unten“ und weniger als eigenes Steuerungssystem erscheint. Daß dadurch nur ein unvollständiges Bild entsteht, liegt auf der Hand. Ein solches Vorgehen erscheint jedoch angesichts der Unmöglichkeit, alle Faktoren einzubeziehen, als gerechtfertigt.

III. Kommunale Macht-und Entscheidungsstruktur

Aufschlußreich sind u. a. die Ergebnisse solcher empirischer Untersuchungen zur kommunalen Machtstruktur, deren Augenmerk auf die Machtverteilung in der Gemeinde, speziell auf den Einfluß lokaler Interessengruppen, gerichtet ist Sie sind geeignet, das steuerungspolitische Umfeld der Entscheidungsstruktur zu beleuchten. Hierzu gehören empirische Untersuchungen über Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik zum Sozial-profil und den politischen Karrieren der Ratsmitglieder zum Zusammenhang von Lokalpartei und vorpolitischem Raum oder zur repräsentativen Demokratie in Großstädten

Noch aufschlußreicher für die hier interessierende Fragestellung sind allerdings solche Studien, die Entscheidungsprozesse zum Gegenstand haben, vor allem, da hier in letzter Zeit die Analyse administrationsinterner Entscheidungsprozesse in den Vordergrund des Interesses gerückt ist. Ihr Nachteil besteht allerdings oft darin, daß sie sich lediglich auf ein Bundesland beziehen Die darin enthaltenen Aussagen zur politischen Kultur des betreffenden Landes sind allerdings für unsere Fragestellung von größtem Nutzen.

1. Fallstudien zur vergleichenden Analyse von Gemeinden

Die Frage nach der optimalen Entscheidungsstruktur läßt sich jedoch kaum mit Hilfe von Untersuchungen beantworten, die sich auf ein einziges Bundesland beziehen. Vielmehr bedarf es hierzu einer vergleichenden Analyse von Gemeinden in Ländern unterschiedlichen Kommunalverfassungstyps. Auch diese Vorgehensweise hat in Deutschland eine gewisse Tradition. So wurde bereits 1976 der Zusammenhang zwischen Kommunalverfassung und kommunalem Entscheidungssystem in je einer Gemeinde der vier Grundtypen von Gemeindeverfassungen untersucht Ziemlich genau ein Jahrzehnt später wurde der Aktionsraum politischer Betätigung erneut in Gemeinden mit unterschiedlicher Kommunalverfassung analysiert Besonders interessant ist hierbei, daß allein in Nordrhein-Westfalen vier Orte unterschiedlicher Größenordnung in die Grunduntersuchung einbezogen wurden, nämlich zwei Großstädte, eine Mittelstadt und eine kleinere Gemeinde. Und schließlich wurden 1988 die Auswirkungen der unterschiedlichen Kommunalverfassungen auf die Steuerungsfähigkeit am Beispiel von vier Mittel-Städten analysiert, nämlich Gladbeck und Lünen in Nordrhein-Westfalen sowie Göppingen und Konstanz in Baden-Württemberg

Eine weitere wichtige Gruppe empirischer Untersuchungen sind die Fallstudien, die sich mit einem bestimmten Politikfeld, z. B. mit der Stadtsanierung oder der Umweltpolitik auf lokaler Ebene, befassen. Sie zeigen uns nicht nur, welchen Weg bestimmte Entscheidungen im konkreten Fall gegangen sind, sondern sie versuchen auch die Frage zu beantworten, aus welchen Gründen wichtige gesellschaftliche Probleme vom politisch-administrativen System der jeweiligen Gemeinde nicht oder aber zu spät wahrgenommen und bearbeitet worden sind

Bereits aus diesem -notwendigerweise unvollständigen -Überblick wird deutlich, daß das vorhandene Datenmaterial ausreicht, um zumindest einige vorläufige Antworten auf die Ausgangsfrage zu erlauben. Bei einer kritischen Durchsicht dieser Arbeiten zeigt sich freilich auch, daß man sich für eine länderübergreifende vergleichende Analyse lokaler Entscheidungsstrukturen und -prozesse von einer Fixierung auf den Verwaltungschef lösen muß und diesen als einen unter mehreren Akteuren im Entscheidungsprozeß zu betrachten hat. Eine solche Betrachtungsweise ergibt sich bereits zwingend aus der von der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung vorgegebenen dualen Entscheidungsstruktur. 2. Die Aufgaben des zentralen Steuerungspolitikers Den folgenden Überlegungen zur lokalen Politik-steuerung liegt ein Steuerungskonzept mittlerer Abstraktion zugrunde Denn gerade für eine Analyse der Steuerungsprobleme auf lokaler Ebene erweist sich das Abstraktionsniveau weitergehender theoretischer Konzepte als zu hoch, um noch empirischer Überprüfung zugänglich zu sein Festzuhalten bleibt jedoch, daß Steuerung hier nicht als „Einbahnstraße“ verstanden wird, also nicht als ein nur in einer Richtung verlaufender Vorgang, sondern als ein Prozeß wechselseitiger Anpassung unterschiedlicher Interessen durch Integration und Koordination. Steuerung ist demnach keine einseitige Festlegung von Verhaltensweisen des oder der Adressaten durch den oder die Steuernden. Vielmehr soll hier unter Steuerung ein kommunikativer Prozeß verstanden werden, in dem ein (zentraler) Akteur versucht, auf die anderen Akteure einzuwirken. Wer als „Sieger“ hervorgeht, also mehr oder weniger erfolgreich die andere Seite beeinflußt hat, steht weder von vornherein fest, noch wird dies positiv oder negativ bewertet. Im Zentrum der Untersuchung steht damit ein Netzwerk von zentralen Akteuren mit unterschiedlich großem Machtpotential. Während die zentralen Akteure im wesentlichen aufgrund ihrer formalen Position ermittelt werden, kommen bei der Frage des Machtpotentials stärker empirisch zu ermittelnde Faktoren ins Spiel, nämlich:

-die formale Weisungsbefugnis aufgrund der Amtshierarchie;

-die Möglichkeit, über das nötige Wissen sowie über einen entsprechenden Mitarbeiterstab verfügen zu können, um Initiativen ergreifen bzw.

Alternativen ins Spiel bringen zu können;

-die Möglichkeit, politische Unterstützung, z. B.

aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Rat, des Rückhalts in Partei und Fraktion bzw.der Popularität in der Bevölkerung, für das Einbringen und schließliche Durchsetzen eigener Zielvorstellungen mobilisieren zu können. 3. Verwaltungsführung und kommunale Entscheidungsfindung Das weist bereits darauf hin, daß die durch die Gemeindeordnung vorgegebenen Initiativrechte als Bezugspunkt nicht ausreichen. Vielmehr geht es -neben der formalen Beschlußfassung -um die folgenden zwei Fragen:

1. Wer hat den Anstoß zu einer bestimmten Entscheidung gegeben? Dabei ist auch zu prüfen, von wem die in den Rat eingebrachte Initiative tatsächlich ausgeht, z. B. vom Verwaltungschef oder einem anderen zentralen Akteur. 2. Wer hat bei der Ausarbeitung der Entscheidungsvorlagen und der Auswahl der Entscheidungsalternativen maßgeblich mitgewirkt?

Damit wird aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit ein der Entscheidungstheorie entlehntes Schema verwendet, das sich bei der Durchführung empirischer Untersuchungen bereits bewährt hat. Stellvertretend für das gesamte Steuerungsnetzwerk soll hier der Zusammenhang zwischen der Entscheidungsstruktur einer Gemeinde und den in ihr ablaufenden Entscheidungsprozessen dargestellt werden. Auf der Basis dieser Analyse wird sodann versucht, die Frage zu beantworten, inwieweit diese Entscheidungsstruktur als geeignet erscheint, zumindest die dringendsten gesellschaftlichen Probleme der Gemeinde wahrzunehmen und gegebenenfalls einer Lösung zuzuführen.

Die formale Entscheidungsstruktur ergibt sich im wesentlichen aus der Gemeindeordnung. Sie läßt sich mit Hilfe von vier Strukturmerkmalen systematisieren: -Verteilung von Kompetenzen in der Kommunalpolitik, -Art der Verwaltungsführung, -Verbindung oder Trennung der Funktionen des Verwaltungschefs und des Ratsvorsitzenden, -Wahlmodus des Verwaltungschefs.

IV. Kommunalverfassungsmodelle im Vergleich

1. Zweiköpfigkeit und Allzuständigkeit:

Das Beispiel Nordrhein-Westfalen Kennzeichnend für die in Nordrhein-Westfalen geltende Norddeutsche Ratsverfassung ist zum einen ihre Zweiköpfigkeit, d. h. Ratsvorsitz und Verwaltungsleitung sind auf zwei Personen verteilt, nämlich auf den ehrenamtlichen Bürgermeister und den hauptamtlichen Gemeindedirektor Beide werden -allerdings mit unterschiedlichen Amtszeiten -vom Gemeinderat gewählt. Der Rat kann aufgrund seiner sog. Allzuständigkeit dem Gemeindedirektor bestimmte Aufgaben übertragen, aber auch jederzeit wieder entziehen. Die Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen umschreibt die Aufgaben des Gemeindedirektors dahinge-hend, daß er die Beschlüsse des Rates vorzubereiten und diese dann unter der Kontrolle des Rates und in Verantwortung diesem gegenüber durchzuführen habe Theoretisch handelt es sich also um einen Fall „legislatorischer Programmsteuerung“

Ursprünglich war die Norddeutsche Ratsverfassung von den Briten nach dem Muster des „local government“ in ihrer Besatzungszone eingeführt worden. Im Laufe von vier Jahrzehnten hat sich jedoch aus dem britischen Vorbild in der spezifischen politischen Kultur Nordrhein-Westfalens eine eigenständige Kommunalverfassung entwikkelt. Aus dem als unpolitisch gedachten Gemeindedirektor wurde ein beamteter Politiker, der seine Aufgabe nicht zuletzt auch in der politischen Führung seiner Gemeinde sieht. Seine Amtszeit (derzeit acht Jahre) stimmt nicht mit der des Rates (fünf Jahre), der ihn wählt, überein. Allerdings kann dieser ihn (seit 1979) jederzeit -freilich nur mit Zweidrittelmehrheit -abberufen. Und obwohl der Gemeindedirektor die alleinige Verantwortung für das Funktionieren der Verwaltung trägt, hat er nicht die Befugnis, über die Besetzung der Stellen innerhalb dieser Verwaltung zu entscheiden. Zwar hat nach der Gemeindeordnung das letzte Wort der Rat, in größeren Städten gibt es aber einen einflußreichen Personalausschuß, in dem die Fraktionen -insbesondere die Mehrheitsfraktion -oft eine mehr am Parteibuch als an der fachlichen Qualifikation der Bewerber orientierte Personalpolitik betreiben.

Die Beigeordneten sind Wahlbeamte. In gleicher Weise wie der Gemeindedirektor werden sie vom Rat auf acht Jahre gewählt. Sie vertreten den Hauptverwaltungsbeamten in ihrem Arbeitsgebiet. Zwar leitet und verteilt der Gemeindedirektor die Geschäfte, den Geschäftskreis der Beigeordneten kann aber auch der Rat selbst festlegen. Noch viel einschneidendere Folgen hat der Umstand, daß der Rat (genauer: die Fraktionen) dafür sorgen kann, daß nur Personen seines Vertrauens Beigeordnete werden, und obendrein diesen auch noch bestimmte Aufgaben zuweisen kann. Ein Parteienproporz ist freilich nach der Gemeinde-ordnung nicht vorgesehen. Zwar sind regelmäßige Beigeordnetenkonferenzen obligatorisch, ob sie aber zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Verwaltungsführung dienen, hängt von der Konstellation im Rat und dem Einfluß der Fraktionen auf die Beigeordneten ab. Institutionell wird die Position der Beigeordneten zudem dadurch gestärkt, daß sie ihre abweichenden Meinungen in Angelegenheiten ihres Geschäftsbereichs dem Hauptausschuß vortragen können.

Auch die Stellung des Bürgermeisters wurde im Laufe der Zeit auf Kosten des Rates erheblich aufgewertet. Dabei spielte die Tradition der rheinischen Bürgermeisterverfassung eine erhebliche Rolle, die in der Weimarer Republik starke Bürgermeisterpersönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Robert Lehr u. a. hervorgebracht hatte. Diesem Vorbild fühlten sich vor allem die Oberbürgermeister der Großstädte verpflichtet. Nach der Gemeindeordnung leitet der Bürgermeister lediglich die Ratssitzungen, setzt die Tagesordnung fest und informiert den Rat über alle wichtigen Verwaltungsangelegenheiten. Zugleich ist er der Repräsentant der Gemeinde nach außen. Für die Wahl-bürger erscheint der Bürgermeister hingegen als das eigentliche Stadtoberhaupt, so daß viele Probleme an ihn -und nicht an den Verwaltungschef -herangetragen werden. Die Versuchung ist groß, das besondere Vertrauen, das die Bürger ihm oft entgegenbringen, in politische Macht zu Lasten des Verwaltungschefs umzumünzen.

Es kommt hinzu, daß mit wachsendem Einfluß der Parteien auf lokaler Ebene die Bedeutung der Fraktionen zugenommen hat Dazu hat auch das Wahlsystem entscheidend beigetragen, das den Einfluß der Wahlbürger auf die Kandidatenaufstellung und ihre Plazierung auf der Liste minimiert, umgekehrt jedoch den der politischen Parteien maximiert. Die Fraktionen sind es also, die u. U. die Verwaltungsspitze fest am Zügel führen. Das gilt besonders für die Mehrheitsfraktion und ihren Vorsitzenden, dem damit häufig eine Schlüsselrolle zuwächst. Darüber hinaus hat sich -vor allem in Großstädten -auch das Selbstverständnis der Ratsmitglieder gewandelt. Obgleich der Rat nach der Gemeindeordnung als Verwaltungsorgan konzipiert ist und es eine strikte Gewaltenteilung auf kommunaler Ebene nicht gibt, verstehen sich die Mitglieder des Rates als Parlamentarier. Administrative Zweckmäßigkeit und „bloße“ fachliche Kompetenz gehören für sie damit in den Bereich einer oft als neutral (d. h. unpolitisch) verstandenen Verwaltung, während sie für sich selber den Primat der Politik in Anspruch nehmen. 2. Starker Bürgermeister und schwache Parteien:

Das Beispiel Baden-Württemberg Vergleicht man damit die Süddeutsche Ratsverfassung in Baden-Württemberg, fällt auf, daß -anders als in Nordrhein-Westfalen -dem vom Volk gewählten Bürgermeister Organcharakter zukommt. Er hat eigene, gesetzlich festgelegte Zuständigkeiten, die nicht vom Rat abgeleitet sind. So steht ihm z. B. das Recht der Eilentscheidung zu. Er ist zugleich Chef der Verwaltung und Vorsitzender des Rates. Seine Amtszeit beträgt -wie die des Gemeindedirektors in NRW -acht Jahre. Er hat den Vorsitz in den Ausschüssen des Rates, die i. d. R. nichtöffentlich tagen, wenn sie Beschlußvorlagen beraten. Eine besondere Rolle kommt ihm in Personalangelegenheiten zu. Da die Gemeindeordnung ein Einvernehmen zwischen Rat und Bürgermeister vorschreibt, müssen sich also beide in bezug auf einen Kandidaten für eine Stelle der Gemeindeverwaltung einigen. Angesichts seiner im allgemeinen unabhängigen Position kommt dem Bürgermeister damit faktisch die Prärogative zu.

Auch dort, wo in Baden-Württemberg Beigeordnete vorgesehen sind sind diese rechtlich Untergebene des Bürgermeisters; er kann ihnen Weisungen erteilen und im Einzelfall auch Entscheidungen aus ihrem Geschäftsbereich an sich ziehen. In größeren Städten ist allerdings eine gewisse Tendenz zu einer kollegialen Führung festzustellen. So überträgt der Bürgermeister u. U. auch den Vorsitz in bestimmten Ausschüssen seinen Beigeordneten. Das erscheint vor allem unter dem Gesichtspunkt bemerkenswert, daß die Beigeordneten nach der baden-württembergischen Gemeindeordnung nach Parteienproporz ausgewählt werden sollen. Die Abgrenzung der Dezernatsbereiche muß der Bürgermeister zwar im Einvernehmen mit dem Gemeinderat vornehmen, dabei wird ihm jedoch im allgemeinen zugestanden, seinen eigenen Geschäftsbereich allein zu bestimmen. Der Bürgermeister vertritt die Gemeinde unmittelbar nach außen -auch bei allen Rechtsgeschäften.

Ganz anders als in Nordrhein-Westfalen ist das Verhältnis des Bürgermeisters zu den politischen Parteien in Baden-Württemberg Nur jeder zweite Bürgermeister ist hier überhaupt Mitglied einer Partei Dabei steigt allerdings mit zunehmender Ortsgröße die Wahrscheinlichkeit seiner Mitgliedschaft in einer Partei. Auch bei der Rolle, die den Parteien in der Kommunalpolitik zugestanden wird, fällt die deutliche Distanz zu ihnen auf. Nahezu drei Viertel aller befragten Bürgermeister meinten, daß Parteien auf dem Rathaus nichts zu suchen hätten Mit Sicherheit spielt dabei das Wahlrecht eine wesentliche Rolle

V. Vom Führungspluralismus zum Entscheidungszentralismus

In Nordrhein-Westfalen ist die Entscheidungsstruktur von der Kommunalverfassung nicht eindeutig determiniert, vielmehr besteht eine gewisse Tendenz zum Führungspluralismus. Anders als in Baden-Württemberg ist hier dem Verwaltungschef von der Gemeindeordnung keineswegs die führende Rolle zugedacht, vielmehr muß dieser sich die Führungsrolle oft mit anderen Politikern teilen. 1. Ausgangspunkt: Labiles Machtgleichgewicht Häufig besteht zunächst ein labiles Machtgleichgewicht, wenn Rat und Verwaltungschef noch nicht lange im Amt sind. Die Hauptakteure auf der Verwaltungsseite sind dann neben dem Hauptverwaltungsbeamten u. U. auch die Beigeordneten und wichtige Dezernenten. Auf Ratsseite gehören dazu der Bürgermeister, die Vorsitzenden der großen Fraktionen sowie manchmal auch die Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse. Dieser Personenkreis ist ja bereits in anderem Zusammenhang als sog. Vorentscheidergruppe bekannt geworden Je nach lokalen und regionalen Besonderheiten der politischen Kultur kann aus diesem Führungspluralismus allerdings ein zentralisiertes Entscheidungssystem werden, wenn nämlich einer der Hauptakteure die Rolle des „zentralen Politikers“ übernimmt. Das ist die Person, die über die stärkste Stellung im Vorentscheidersystem verfügt, den größten Einfluß auf örtliche Themen und Konzepte nimmt und jederzeit in der Lage ist, um seine Person eine Mehrheit zu scharen Hierfür kommen neben dem Gemeindedirektor vor allem der Bürgermeister und der Chef der Mehrheitsfraktion in Betracht.

Ein wichtiger Faktor ist hierbei die lokalpolitische Situation, d. h. Parteienkonstellation und Mehrheitsverhältnisse im Rat sowie Geschlossenheit oder Flügelkämpfe in Parteien und Fraktionen, insbesondere in der Mehrheitsfraktion und der dahinterstehenden Partei. Es liegt auf der Hand, daß der Vorsitzende einer Fraktion, die eine sichere Mehrheit im Rat stellt, erheblich mehr Einfluß auf die Verwaltung hat, als beispielsweise der Vorsitzende einer Fraktion, die sich in einer Pattsituation befindet. Auch der Rückhalt des einzelnen zentralen Akteurs in Partei und Fraktion spielt eine wichtige Rolle. Das gleiche gilt für die Möglichkeit, auf die Ressourcen anderer politischer Ebenen Zugriff zu haben. Hierfür kommen mögliche Doppel-oder Mehrfachrollen der -formal ehrenamtlichen -Politiker, z. B. als Kreistags-, Landtags-oder Bundestagsabgeordnete oder als Mitglieder von Aufsichtsräten örtlicher und überörtlicher Wirtschafts-Unternehmen, in Betracht.

Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ferner die Mitgliedschaft in den Vorständen der kommunalen Spitzenverbände und der kommunalpolitischen Organisationen der Parteien Und auch die Rückbindung des jeweiligen Akteurs an bestimmte gesellschaftliche Institutionen oder Gruppen wie Kirchen, Verbände und Vereine ist für dessen Chancen, die Position des zentralen Steuerungspolitikers zu übernehmen, u. U. von großer Bedeutung. Schließlich sollte nicht vergessen werden, daß die Lokalpolitik stets eine Angelegenheit von Menschen und deren individuellen Eigenschaften ist. Dabei spielen einerseits Charaktereigenschaften der zentralen Akteure eine Rolle, wie z. B. die Fähigkeit, andere von den eigenen Vorstellungen überzeugen zu können oder ein besonderes politisches „Fingerspitzengefühl“ zu entwickeln. Andererseits ist aber auch die fachliche Qualifikation des einzelnen Akteurs von Bedeutung. 2. Varianten des zentralisierten Entscheidungssystems Je nachdem, wie die daraus resultierenden Machtpotentiale verteilt und auf bestimmte zentrale Akteure konzentriert sind, lassen sich aufgrund der insoweit übereinstimmenden Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen die folgenden drei Varianten feststellen:

Variante 1: Exekutive Führerschaft In Kleinstädten und Gemeinden des ländlichen Raumes ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß der Gemeindedirektor die Führungsrolle übernimmt. Hier macht sich in den Räten das Fehlen an profilierten Landes-und Bundespolitikern, aber auch an Verwaltungsjuristen, Gewerkschafts-und Verbandssekretären bemerkbar. Zudem stehen dem hauptberuflich agierenden Verwaltungschef, der oft der einzige Jurist im Rat ist, im allgemeinen bloße Feierabendpolitiker gegenüber, die neben der Ratsarbeit ihrem Hauptberuf nachgehen müssen. In dieser Variante nähert sich die Situation dem Modell exekutiver Führerschaft. Ein „starker“ Gemeindedirektor beherrscht den Rat und errichtet mit Hilfe der Mehrheitsfraktion, deren „Spiritus rector“ er zugleich ist, eine Art Alleinherrschaft. Bürgermeister und Vorsitzender der Mehrheitsfraktion treten hinter ihm zurück. Die Charakteristika dieser Variante sind eine hohe Effizienz der Verwaltung eine enge und unmittelbare Verbindung des Verwaltungschefs zu den lokalen gesellschaftlichen Organisationen sowie zur örtlichen Wirtschaft; und schließlich eine tendenziell unpolitische Haltung der Bevölkerung, begleitet von einer niedrigen Bewertung der Oppositionsrolle im Rat.

Als Beispiel für diese Variante mag die Großgemeinde G. dienen. Hier ist der Gemeindedirektor der „ungekrönte König“ der Gemeinde und der Bürgermeister lediglich formal Vorsitzender des Rates. Tatsächlich führt der Gemeindedirektor auch im Rat und in den Ausschüssen das „große Wort“. In ständigem Kontakt zum Regierungspräsidenten und in enger Verbindung zu den wichtigsten gesellschaftlichen Organisationen werden die wesentlichen Entscheidungen oft sogar ohne Wissen der CDU-Mehrheitsfraktion soweit vorangetrieben, daß dem Rat nur die Möglichkeit zur Akklamation bleibt.

Variante 2: Gemäßigter Populismus In einer zweiten Variante wird der Bürgermeister zum zentralen Steuerungspolitiker. Dies ist -in Nordrhein-Westfalen -tendenziell dann der Fall, wenn dieser in einer Großstadt mit SPD-Mehrheit zugleich SPD-Landtagsabgeordneter ist und über wichtige Verbindungen zur Landesregierung verfügt. In einer Stadt mit CDU-Mehrheit setzt dies hingegen eher die Mitgliedschaft in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages und Verbindungen zur Bundesregierung voraus. Der Bürgermeister kann in diesen Fällen beispielsweise Infrastruktureinrichtungen für seine Stadt und Aufträge oder Subventionen für die örtlichen Wirtschaftsunternehmen beschaffen. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Position des „zentralen Steuerungspolitikers“ ist freilich, daß der Bürgermeister über eine große Popularität bei der Bevölkerung und -nicht zuletzt wegen seiner Zugkraft bei der Wahl -über einen starken Rückhalt in seiner Partei und Fraktion verfügt.

Als Beispiel mag hier die Stadt R. dienen. Hier hat der Oberbürgermeister, der zugleich SPD-Landtagsabgeordneter und stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Landtag ist, mit Hilfe eines großen persönlichen Büros eine Art Nebenverwaltung von zeitweilig bis zu 30 Mitarbeitern aufgebaut, mit der er die Verwaltungsspitze kontrolliert. Die meisten Initiativen gehen von ihm aus, während Initiativen und Vorlagen des Oberstadtdirektors, die nicht vorher mit dem Oberbürgermeister abgestimmt wurden, im Rat auf Widerstand oder sogar auf völlige Ablehnung stoßen.

Variante 3: Partei-und Fraktionsherrschaft In einer dritten Variante wird der Vorsitzende der stärksten Ratsfraktion zum zentralen Steuerungspolitiker. Dies wird tendenziell immer dann der Fall sein, wenn er (und nicht der Bürgermeister) Landtags-bzw. Bundestagsabgeordneter ist und so über die Unterstützung einer anderen politischen Ebene verfügt. Nicht zuletzt durch diese Möglichkeit des Zugriffs auf Landesmittel gelingt es ihm oft, die Fraktion auf sich „einzuschwören“. Die Varianten 2 und 3 sind vor allem in Großstädten mit einer stark fragmentierten Parteienstruktur feststellbar. Außerdem setzt die Variante 3 eine klare Mehrheit einer Fraktion voraus, an der vorbei keine Politik in der Stadt gemacht werden kann. Während der Bürgermeister auch dann noch -z. B. aufgrund seiner persönlichen Popularität und seiner Rückbindung an gesellschaftliche Gruppen -bis zur Neuwahl eine zentrale Rolle bei der lokalen Politiksteuerung spielen kann, wenn es eine Pattsituation im Rat gibt, ist diese Situation für den Vorsitzenden der stärksten Fraktion zumeist politisch „tödlich“.

Als Beispiel für die dritte Variante kann die Stadt S. herangezogen werden, wo der Vorsitzende der Mehrheitsfraktion Mitglied des Landtags ist und über einigen Einfluß in der Landesregierung verfügt. Er hat dafür gesorgt, daß Beigeordnete und Dezernenten vom Rat gewählt wurden, deren Loyalität gegenüber der Mehrheitsfraktion und ihrem Chef stärker ist, als die gegenüber dem Oberstadtdirektor. Inzwischen berät ein ganzer Stab von Experten der Stadtverwaltung die SPD-Fraktion -und insbesondere deren Vorsitzenden. Mit welchem Kenntnisstand und mit welcher Intention die Verwaltungsangehörigen dabei handeln, wissen weder der Oberstadtdirektor noch der Oberbürgermeister. Ganz offiziell nehmen 103 Beamte der Stadtverwaltung an den Sitzungen der Fraktion und der Fraktionsarbeitskreise teil.

VI. Politische Kultur und Gemeindeverfassung

Wie gezeigt wurde, kann dieselbe Kommunalverfassung -hier die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung -ganz unterschiedliche Entscheidungsstrukturen hervorbringen, die, ausgehend vom „Führungspluralismus“, von einer Art „City Management“ bis zur exekutiven Führerschaft durch einen zentralen Politiker reichen. Dieser zentrale Steuerungspolitiker kann allerdings sowohl aus der Verwaltung (Gemeindedirektor), als auch aus dem Rat (Bürgermeister oder Chef der Mehrheitsfraktion) kommen. Dabei zeigt sich, daß die Annahme, die Gemeindeordnung determiniere die Entscheidungsstruktur durch die eindeutige Zuweisung von Führungsrollen und Machtpotentialen, so nicht aufrechterhalten werden kann. Vielmehr ist deutlich geworden, daß vor allem lokale Besonderheiten der politischen Kultur für die Ausgestaltung der jeweiligen Entscheidungsstruktur maßgeblich sind.

Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Rolle, die die politischen Parteien spielen Ist ihre Bedeutung gering, dann sind die Chancen für den Verwaltungschef besonders hoch, sich zum zentralen Steuerungspolitiker aufzuschwingen. Das wird zusätzlich erleichtert, wenn die Konsensbereitschaft im Rat groß ist. In dieser Hinsicht sind Ähnlichkeiten zwischen der Situation in Klein-und Mittelstädten Baden-Württembergs und der in Gemeinden des ländlichen Raums in Nordrhein-Westfalen festzustellen. Hier wirkt sich das nordrhein-westfälische Wahlrecht, das politische Parteien tendenziell begünstigt, (noch) nicht aus. Auf längere Sicht könnte jedoch die Vergrößerung der Gemeinden durch die Gebietsreform die Bedeutung der politischen Parteien auch im ländlichen Raum weiter zunehmen lassen. Die Tendenz zur Machtkonzentration beim Verwaltungschef wird noch verstärkt durch das Fehlen profilierter Politiker im Gemeinderat. Sobald jedoch der Bürgermeister oder der Chef der Mehrheitsfraktion Unterstützung von anderen politischen Ebenen mobilisieren kann, bzw. die Parteien eine ausschlaggebende Rolle in der Stadt spielen, verändert sich dieses Bild z. T. nachhaltig.

Für die in der einzelnen Gemeinde bestehende Entscheidungsstruktur sind also sowohl institutionenbezogene wie personenbezogene Merkmale maßgebend. Bei den institutionenbezogenen Merkmalen kommt es z. B. auf die Mehrheitsverhältnisse im Rat, die Geschlossenheit der stärksten Fraktion und die Unterstützung der Fraktion durch die örtliche Parteibasis an. Oft spielen jedoch personenbezogene Merkmale eine ausschlaggebende Rolle, wie etwa der Rückhalt, den die zentralen Akteure bei der Mehrheitsfraktion, bei einflußreichen gesellschaftlichen Organisationen und Gruppen bzw. bei der Bevölkerung haben. Aber auch Qualifikation und Image der zentralen Akteure gehören zu dieser Merkmalskategorie. Neben diesen lokalen Aspekten können über-lokale Faktoren vor allem dann eine Bedeutung erlangen, wenn z. B. durch Doppel-oder Mehrfachrollen eines zentralen Akteurs dessen Machtpotential in der Gemeinde erheblich gestärkt wird.

Der undifferenzierte Vorwurf, die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung verhindere eine sinnvolle Politiksteuerung auf lokaler Ebene, ist weitgehend überzogen und stellenweise sogar ganz unberechtigt. Die Forderungen der Hauptgemeindebeamten in Nordrhein-Westfalen, die Funktionen von Verwaltungschef und Ratsvorsitzendem in einer Person zusammenzufassen und diesen Bürgermeister neuer Art (wieder) auf zwölf Jahre zu wählen, läßt sich mit den Ergebnissen dieser Untersuchung jedenfalls nicht rechtfertigen. Sie erscheinen vielmehr als übersteigertes Machtstreben der amtierenden Gemeindedirektoren. Die Ein-11 führung der Süddeutschen Ratsverfassung würde den Wünschen dieser Gruppe zwar entgegenkommen, muß aber angesichts der Vielzahl und der Vielfalt von unterschiedlichen Interessen (insbesondere in den Großstädten Nordrhein-Westfalens), die in das politische System der Gemeinde integriert (und nicht ausgegrenzt) werden müssen, als wenig erfolgversprechend eingeschätzt werden. Für die politischen Parteien würde die Chance noch geringer werden, ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden, die Anliegen der Bürger in den Entscheidungsprozeß ihrer Gemeinde einzubringen. Andere Forderungen sind hingegen durchaus bedenkenswert: Daß der Rat stärker die Aufgabe als Steuerungs-und Kontrollorgan für die wichtigsten Gemeindeangelegenheiten und die allgemeinen Grundsätze der Verwaltungsführung übernehmen sollte, statt sich in jedes Detail der Verwaltungsarbeit einzumischen, erscheint gerade auch unter dem Gesichtspunkt einer Aufrechterhaltung der Ehrenamtlichkeit der Ratsmitglieder als sinnvoll. Besonders in Großstädten spricht vor allem das Selbstverständnis der Ratsmitglieder für eine solche Lösung. Freilich müßte entsprechend die im Grundgesetz enthaltene Funktionsbestimmung der kommunalen Selbstverwaltung neu überdacht werden, der zufolge die Stadt-und Gemeinderäte keine Parlamente, sondern Verwaltungsorgane sind. Die Forderung nach einer solchen Neubestimmung der kommunalen Selbstverwaltung ist immer wieder auch von Politik-und Rechtswissenschaften erhoben worden Dabei wird aber zumeist nicht bedacht, daß eine solche Veränderung das mühsam ausbalancierte Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern im föderalen System stören, wenn nicht sogar zerstören würde Die Länder sind nach den bisherigen Erfahrungen nicht bereit, ihr Exklusivrecht, als einzige legitime Partner des Bundes auftreten und damit auch für „ihre“ Gemeinden handeln zu dürfen, aufzugeben.

Zu betonen bleibt abschließend noch einmal, daß jede Umgestaltung der geltenden Gemeindeordnung die Vorgaben der örtlichen politischen Kultur berücksichtigen muß. Der Nutzen einer solchen Umgestaltung muß vor allem daran gemessen werden, ob und inwieweit es dem lokalen politisch-administrativen System gelingt, die in der Gemeinde vorhandenen unterschiedlichen (und gleichermaßen legitimen) Interessen zu integrieren und zu koordinieren. Dabei spielt neben einer funktionstauglichen Kommunalverfassung vor allem ein Gesichtspunkt eine Hauptrolle, der allzu-oft vernachlässigt wird: der „Faktor Mensch“!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Edzard Schmidt-Jortzig, Gemeindeverfassungstypen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Die Öffentliche Verwaltung, 7 (1987), S. 281-285.

  2. Gilt in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

  3. Gilt in Rheinland-Pfalz und im Saarland.

  4. Gilt in Hessen und Schleswig-Holstein.

  5. Gilt in Bayern und Baden-Württemberg.

  6. Vgl. Hermann Schönfelder, Rat und Verwaltung im kommunalen Spannungsfeld. Praktische Vorschläge für eine Verbesserung der Zusammenarbeit, Köln 1979; Thomas-G. Vetterlein, Parlamentarische Willensbildung auf Kommunal-ebene: Krise und Reform eines Verfassungsorgans, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 7 (1976), S. 531-548.

  7. Vgl. Dieprand von Richthofen/Gerd Bollermann (Hrsg.), Eine neue Gemeindeverfassung für Nordrhein-Westfalen?, Gelsenkirchen 1989.

  8. Vgl. Rüdiger Voigt, Grundzüge der Gemeindeverfassung in Nordrhein-Westfalen. Die Entwicklung seit 1945, in: Dieter Fischer/Rainer Frey/Peter Paziorek (Hrsg.), Kommunal-verfassung in Nordrhein-Westfalen. Sind unsere Städte noch zu regieren?, Düsseldorf o. J. (1988), S. 35-58.

  9. Vgl. Gerd Schmidt-Eichstaedt, Kommunalrecht und Kommunalverfassung in Deutschland, in: Franz Braschos/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Kommunalpolitik in Stadt und Land. Beiträge zu Theorie und Praxis der Kommunalpolitik, Erfurt 1991, S. 2-14.

  10. Vgl. Dieter Schimanke (Hrsg.), Stadtdirektor oder Bürgermeister. Beiträge zu einer aktuellen Kontroverse, Basel u. a. 1989.

  11. Vgl. Karl-Heinz Naßmacher, Analysen und Reformvorstellungen zur kommunalen Verfassungsstruktur, in: Paul Kevenhörster/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Kommunalpolitische Praxis und lokale Politikforschung, Berlin 1978, S. 289-323; Dietrich Thränhardt/Herbert Uppendahl (Hrsg.), Alternativen lokaler Demokratie. Kommunalverfassung als politisches Problem, Königstein 1981.

  12. Vgl. Gerhard Banner, Haushaltssteuerung in der Krise, in: Städte-und Gemeindebund, 5 (1983), S. 163-166.

  13. Vgl. Gerd Schmidt-Eichstaedt, Die Machtverteilung zwischen der Gemeindevertretung und dem Hauptverwaltungsbeamten im Vergleich der deutschen Kommunalverfassungssysteme, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, (1985), S. 20-37.

  14. Vgl. Paul Kevenhörster, Neuere Fragestellungen lokaler Politikforschung. Erkenntnisstand, Probleme und Entwicklungsmöglichkeiten der politikwissenschaftlichen Gemeinde-forschung, in: ders. (Hrsg.), Lokale Politik unter exekutiver Führerschaft, Meisenheim 1977, S. 15ff.

  15. Vgl. Rolf-Richard Grauhan, Politische Verwaltung, Freiburg 1970.

  16. Vgl. Hans-Arthur Haasis, Kommunalpolitik und Machtstruktur. Eine Sekundäranalyse deutscher empirischer Gemeindestudien, Frankfurt/M. 1978.

  17. Vgl. Klaus Arzberger, Bürger und Eliten in der Kommunalpolitik, Stuttgart 1980.

  18. Vgl. Doris Gau, Politische Führungsgruppen auf kommunaler Ebene. Eine empirische Untersuchung zum Sozialprofil und den politischen Karrieren der Mitglieder des Rates der Stadt Köln, München 1983.

  19. Vgl. Herbert Kühr/Klaus Simon, Lokalpartei und vor-politischer Raum, Melle 1982.

  20. Vgl. Klaus Simon, Repräsentative Demokratie in großen Städten, Melle 1988.

  21. Vgl. Hans-Georg Wehling/Hans-Jörg Siewert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg. Eine Monographie, Stuttgart 1984; sie knüpft bewußt an die Wertheim-Studie an, vgl. Thomas Ellwein/Ralf Zoll, Wertheim. Politik und Machtstruktur einer deutschen Stadt, München 1982.

  22. Vgl. Hans-Ulrich Derlien/Christoph Gürtler/Wolfgang Holler/Hermann Josef Schreiner, Kommunalverfassung und kommunales Entscheidungssystem. Eine vergleichende Untersuchung in vier Gemeinden, Meisenheim 1976; es handelte sich dabei um die -etwa gleichgroßen -Mittelstädte Lemgo, Bad Homburg, Bad Kreuznach und Coburg.

  23. Vgl. Hermann Hill, Die politisch-demokratische Funktion der kommunalen Selbstverwaltung nach der Reform, Baden-Baden 1987.

  24. Vgl. Uwe Winkler-Haupt, Gemeindeordnung und Politikfolgen. Eine vergleichende Untersuchung in vier Mittel-städten, München 1988.

  25. Vgl. Hans-Arthur Haasis, Bodenpreise, Bodenmarkt und Stadtentwicklung. Eine Studie zur sozialräumlichen Differenzierung städtischer Gebiete am Beispiel von Freiburg/Br., München 1987; Wolfgang Thomaßen, Politische Partizipation und Stadtentwicklungsplanung, München 1988; Ralph Baumheier, Altlasten als aktuelle Herausforderung der Kommunalpolitik. Zu den Schwierigkeiten politisch-administrativer Problemverarbeitung in der Kommune, München 1988.

  26. Vgl. Rüdiger Voigt, Staatliche Steuerung aus interdisziplinärer Perspektive, in: Klaus König/Nicolai Dose (Hrsg.), Instrumente und Formen staatlichen Handelns, Köln u. a. 1992 (i. E.).

  27. Vgl. Rüdiger Voigt, Neuere Überlegungen zur politischen Steuerung in den Sozialwissenschaften -Brauchbarkeit für Raumplanung, in: Viktor von Malchus (Hrsg.), Perspektiven der Landesentwicklung Nordrhein-Westfalens im neuen Europa, Dortmund 1992, S. 108ff.

  28. In Städten: Stadtdirektor; in kreisfreien Städten: Ober-stadtdirektor.

  29. Vgl. Wilfried Berg, Die Direktorialverfassung in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, in: Günter Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, Berlin u. a. 19822, S. 222-229.

  30. Vgl. R. -R. Grauhan (Anm. 15).

  31. Vgl. Bodo Richter, Die nordrhein-westfälische Gemeindeordnung -Entwicklung und Vergleich mit anderen deutschen Gemeindeverfassungen, in: Uwe Andersen (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung und Kommunalpolitik in Nordrhein-Westfalen, Köln 1987, S. 53-77.

  32. In Gemeinden ab 10000 Einwohner möglich.

  33. Vgl. Hans-Georg Wehling, Der Bürgermeister und „sein“ Rat. Kommunalpolitik in der Bundesrepublik im Vergleich, in: Politische Studien, 35 (1984), S. 27-36.

  34. Vgl. H. -G. Wehling/H. -J. Siewert (Anm. 21), S. 70ff.

  35. An dieser von Gerhard Lehmbruch bereits 1975 festgestellten Tendenz scheint sich auch mehr als zehn Jahre später wenig geändert zu haben; vgl. Gerhard Lehmbruch, Der Januskopf der Ortsparteien, in: Der Bürger im Staat, 25 (1975) 1, S. 3ff.

  36. Vgl. Bernd Löffler/Walter Rogg, Kommunalwahlen und kommunales Wahlverhalten, in: Theodor Pfizer/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Kommunalpolitik in Baden-Württemberg, Stuttgart 1991-, S. 108-124.

  37. Vgl. Gerhard Banner, Zur politisch-administrativen Steuerung in der Kommune, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, (1982), S. 26-47.

  38. Vgl. Gerhard Banner, Kommunale Steuerung zwischen Gemeindeordnung und Parteipolitik -am Beispiel der Haushaltspolitik -, in: Die Öffentliche Verwaltung, 9 (1984), S. 364-372.

  39. Z. B. Kommunalpolitische Vereinigung der CDU/CSU, Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik.

  40. Gemessen in eingeworbenen Landesmitteln.

  41. Kirchen, Vereine, Freiwillige Feuerwehr etc.

  42. Vgl. Herbert Kühr (Hrsg.), Vom Milieu zur Volkspartei. Funktionen und Wandlungen der Parteien im kommunalen und regionalen Bereich, Königstein 1979.

  43. Z. B. von Wolfgang Roters, Dietrich Thränhardt und Gerd Schmidt-Eichstaedt.

  44. Vgl. Arthur B. Gunlicks/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Föderalismus in der Bewährungsprobe: Die Bundesrepublik Deutschland in den 90er Jahren, Bochum 1991.

Weitere Inhalte

Rüdiger Voigt, Dr. jur., geb. 1941; Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München; 1981-1990 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gesamthochschule Siegen; Herausgeber der „Beiträge zur Kommunalwissenschaft“. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Handwörterbuch zur Kommunalpolitik, Opladen 1984; (hrsg. zus. mit Klaus M. Schmals) Krise ländlicher Lebenswelten. Analysen, Erklärungsansätze und Lösungsperspektiven, Frankfurt/M. 1986; Kommunalpolitik im ländlichen Raum. Olädoyer für eine Wiederbelebung lokaler Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/86; (hrsg. zus. mit Franz Braschos) Kommunalpolitik in Stadt und Land. Beiträge zu Theorie und Praxis der Kommunalpolitik, Erfurt 1991.