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Die „objektive“ und die „subjektive“ Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung | APuZ 29-30/1992 | bpb.de

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APuZ 29-30/1992 Die „objektive“ und die „subjektive“ Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung Die ostdeutsche Sozialstruktur unter Modemisierungsdruck „Magere Zeiten“ Eine Bilanz der Wohlfahrtsentwicklung in Ostdeutschland aus der Sicht der Betroffenen Ältere Menschen in den neuen Bundesländern Leben im Umbruch. Erste Ergebnisse einer regionalspezifischen Milieuerkundung

Die „objektive“ und die „subjektive“ Modernisierung. Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur und die Wiedervereinigung

Stefan Hradil

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wer die Sozialstruktur Westdeutschlands mit der der DDR vergleicht, kommt in der Regel zu dem Ergebnis, daß in Ostdeutschland erhebliche Modemisierungsrückstände „aufgelaufen“ sind. Offen bleibt dabei meist, was Modernisierung genau heißt, welche Prozesse sozialen Wandels im einzelnen in Westdeutschland Modemisierungsvorsprünge mit sich brachten und inwieweit sich die Mittel und Wege der Modernisierung im erfolgreicheren Westen und weniger erfolgreichen Osten Deutschlands unterscheiden. Diesen Fragen wird in vorliegendem Beitrag nachgegangen. Im ersten Abschnitt werden die „Meßlatten“ der Modemisierungstheorie und des Konzepts der Industriegesellschaft erläutert, mit denen Wandlungsvorgänge und Entwicklungsabstände erst als Modernisierung erkennbar werden. Im zweiten Teil werden die wichtigsten Entwicklungslinien des sozialstrukturellen Wandels in Westdeutschland auf den Gebieten Bevölkerungsweise (Geburten, Sterbefälle, Wanderungen), Familie, Haushalt und Lebensphasen, Bildung, Erwerbstätigkeit und Ungleichheit dargestellt und den ostdeutschen gegenübergestellt. Mit den Konzepten der Modernisierung und der Industriegesellschaft werden die erreichten Entwicklungs(ab) stände bestimmt. Im dritten Teil werden die Nachteile der „objektiven“ Modemisierungsstrategie der DDR mit den Vorteilen der „subjektiven“ Modernisierung in Westdeutschland konfrontiert. Diese läßt unterschiedliche, selbstgesteuerte und -kontrollierte Formen der Modernisierung zu. Die Wiedervereinigung bietet die Chance, diese „subjektive“ Modernisierung weiter auszubauen.

I. Sozialstruktureller Wandel -gemessen an Konzepten der Modernisierung und Industrialisierung

Im folgenden sollen die wichtigsten Entwicklungslinien des sozialstrukturellen Wandels in Westdeutschland seit etwa den sechziger Jahren skizziert werden, mit dem Ziel, die sozialstrukturelle Bedeutung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu kennzeichnen.

Um sozialstrukturellen Wandel darstellen zu können, ist mindestens zweierlei notwendig: 1. Eine Einschränkung des Gegenstandsbereichs. Was wandelt sich? Was versteht man unter Sozialstruktur? 2. Eine „Meßlatte“, mit der Wandlungsvorgänge erst als solche erkennbar werden. Denn Wandel wiederzugeben, heißt Vergleiche zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten anstellen, und dazu braucht man ein Tertium comparationis.

Erstens: Mit „Sozialstruktur“, einem viel benutzten, aber selten definierten Begriff, sollen die wichtigsten Merkmale und sozialen Beziehungen von Bevölkerungsgruppen bezeichnet werden, die sich durch eine jeweils gemeinsame Stellung in sozialen Subsystemen (Bildungssystem, Wirtschaftssystem o. ä.), in sozialen Institutionen (Betriebe, Schulen, Parteien usw.) und in sozialen Handlungsgefügen (persönliche Netzwerke von Bekannten, innerfamiliäre Beziehungen etc.) ergeben. Es geht also beispielsweise um die Lebensbedingungen und Mentalitäten von Arbeitern und deren Beziehungen zu Angestellten aufgrund der jeweiligen Stellung im Wirtschaftsleben, in Betrieben und in Arbeitszusammenhängen. Sozialstrukturanalyse legt so das vergleichsweise stabile „Skelett“ einer Gesellschaft offen. Es geht um die Gesellschaft im ganzen, nicht um Ausschnitte oder Details. Die statische Perspektive, die dem Sozialstrukturbegriff zu eigen ist, schließt die Analyse sozialen Wandels nicht aus. Im Gegenteil: Man braucht gerade Kenntnisse über vergleichsweise beharrende Grundstrukturen, um einschätzen zu können, was sich geändert hat.

Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Sozialstrukturanalyse nimmt der Bereich sozialer Ungleichheit ein, d. h. das System, die Institutionen und die persönlichen Interaktionen, die bestimmten Gesellschaftsgruppierungen bessere Lebensbedingungen (Einkommen, Vermögen, Ansehen, Bildung, Machtpositionen, Wohn-, Arbeits-, Freizeitbedingungen etc.) und vorteilhaftere Lebensweisen (Erziehung, Sprache, Leistungsmotivation usw.) als anderen verschaffen. Die Beschäftigung mit diesen Fragen und Problemen stand am Anfang der systematischen Soziologie. Daher wird der Begriff „Sozialstruktur“ (im engeren Sinne) nicht selten ausschließlich mit Blick auf Strukturen sozialer Ungleichheit verwendet.

Zweitens: Sozialen Wandel in Art und Ausmaß zu bestimmen, erfordert Maßstäbe. Diese liefern sozialwissenschaftliche Entwicklungstheorien und die hierin enthaltenen Gesellschaftskonzepte. Gerade in den letzten beiden Jahren wird im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands fast immer eine bestimmte Entwicklungstheorie, die Modemisierungstheorie, und ein bestimmtes, darin eingebettes Gesellschaftskonzept, das der Industriegesellschaft, herangezogen. Das Ergebnis ist, daß in der Gesellschaft Ostdeutschlands erhebliche Entwicklungsrückstände diagnostiziert werden. Dies wird mit gewissen Einschränkungen auch in diesem Beitrag geschehen. Die Häufigkeit und die Tragweite, mit der diese Vergleichsmaßstäbe Verwendung finden, erfordert es, auf ihre Eigenschaften und Implikationen etwas näher einzugehen.

Die Modernisierungstheorie stellt, historisch betrachtet, eine „lange Meßlatte“ dar. Denn in ihrem Lichte gesehen, begann Modernisierung hierzulande spätestens im 16. Jahrhundert und dauert nach wie vor an. Der Preis für die Länge dieses Meßstabs liegt in seiner Grobheit: Modernisierungskonzepte stellen relativ abstrakte Vergleichs-kategorien bereit.

Das Konzept der Industriegesellschaft stellt nichts anderes dar als das Struktur-und Entwicklungsmodell einer sich modernisierenden Gesellschaft einer bestimmten Art und ersten Entwicklungsstufe. Es liefert einen relativ konkreten Maßstab, indem es vergleichsweise genaue Angaben zu Entwicklungsrichtung und Zustand der einzelnen sozialstrukturellen Bereiche (Bevölkerung, Familien, Haushalte, Lebensphasen, Bildung, Wirt-schaft, Erwerbstätigkeit, Ungleichheit, Wohlfahrtsstaat, Politik etc.) enthält. Diese Genauigkeit wird allerdings mit Kurzfristigkeit bezahlt: Industriegesellschaftliche Strukturen im Sinne dieses Modells verbreiteten sich auf dem Gebiet Deutschlands erst seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Und ob manche besonders weit entwickelten Gesellschaften noch in allen wesentlichen Strukturen als Industriegesellschaften gelten können, läßt sich bezweifeln.

Mit anderen Worten: Industriegesellschaften sind stets moderne Gesellschaften. Ob moderne Gesellschaften (noch) in jedem Falle typische Industrie-gesellschaften darstellen, steht dahin.

Beide, Modernisierungstheorien und das Modell der Industriegesellschaft, zielen zum einen auf die Erklärung und Beschreibung faktischer Gegebenheiten. Sie stellen zum andern normative Konzepte dar: Sie skizzieren Entwicklungsrichtungen und gesellschaftliche Zustände, die in Wissenschaft und Gesellschaft als wünschenswert angesehen werden, die Leitbildcharakter haben und so zum Teil erhebliche Wirkungskraft entfalten. Vor allem in dieser Hinsicht sind Modemisierungs-und Industrialisierungstheorien „ins Gerede gekommen“ Ihre Vorbildfunktion ist keineswegs mehr unbestritten. Heute, nach dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Gesellschaften, gewinnt jedoch vor allem das Konzept der Modernisierung viel von seinem positiven Beigeschmack zurück.

Auf diese Normativität soll erst im letzten, dritten Abschnitt des vorliegenden Beitrags zurückgekommen werden. Zunächst geht es darum zu klären, was im folgenden mit den Begriffen „Modernisierung“ und „Industriegesellschaft“ gemeint ist, die durch derzeit häufigen Gebrauch nicht klarer werden. Dann, im zweiten Abschnitt, sollen diese Konzepte als (heuristischer, nicht als normativer) Maßstab verwendet werden, um sozialstrukturellen Wandel in Westdeutschland und die Konfrontation mit der ostdeutschen Sozialstruktur einordnen zu können.

Mit Modernisierung wird die Ausrichtung von Politik und Gesellschaft nach bestimmten Leitlinien beschrieben, wie sie mit Renaissance und Reformation seit dem 16. Jahrhundert in systematischen Gedankengebäuden entwickelt und seit der Aufklärung vom 18. Jahrhundert an zunehmend politisch eingefordert wurden. Massenhaft in gesellschaftliche Systeme (z. B. in demokratische), in Institutionen (Schulen, Bürokratie etc.) und in Handlungsgefüge umgesetzt, und damit sozial-strukturell bedeutsam, wurden diese Gedanken in Deutschland freilich erst nach den wirtschaftlichen und politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Strukturdominant wurden sie erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst seither kann man von einer „modernen Gesellschaft“ sprechen.

Leitlinien der Modernisierung sind -linearer Zeitbegriff und Fortschrittsdenken, -Wachstum individueller Optionen und individueller Freiheit im Sinne der Lösung von Bindungen, -Säkularisierung von Zielsetzungen, -Zweck-Mittel-Rationalität, damit verbunden analytisches, objektivierendes, auf Effektivität und Nutzen zielendes Denken.

Gesellschaftlich realisiert wurden diese Prinzipien zunächst in Gestalt der Industriegesellschaft. Ganz allgemein gesprochen, zeichnet sich diese durch die funktionale Differenzierung ihrer Strukturelemente und durch deren gegenseitige Verflechtung aus. Das heißt: Es entstehen immer verschiedenartigere Betriebe, Organisationen, Rollen etc., die jeweils immer spezifischere Aufgaben erfüllen, dabei jedoch immer mehr aufeinander angewiesen sind. Der Weg der Industrialisierung führt von unzusammenhängender Gleichartigkeit (z. B.der Bauernhöfe in vorindustriellen Gesellschaften) zu verflochtener Verschiedenartigkeit (z. B. von arbeitsteiligen Industriebetrieben) (E. Dürkheim).

Etwas spezifischer: Der Entwicklung von Industriegesellschaften unterliegt ein „Code“, der sich in folgenden Stichworten zusammenfassen läßt -Standardisierung (von Produkten, Löhnen, Preisen, Arbeitsvorgängen, Arbeitsverhältnissen, Lebensläufen, Lebensformen, Kulturmustern etc.). -Spezialisierung in Gestalt der Arbeitsteilung, der Trennung von Produktion und Konsum, der Rollendifferenzierung zwischen Mann und Frau, der Aufgabenteilung von Organisation etc. -Synchronisierung und Rationalisierung der Zeit, d. h. gleichzeitiges Tun und zeitliche Abstimmung des Tuns vieler Menschen sowie mehr Tun innerhalb bestimmter Zeiteinheiten: Die Fabriksirene, die Schulklingel und die Rush-hour geraten zu Symbolen der Industriegesellschaft; Pünktlichkeit und Zeitnot werden zur Norm. -Konzentration (der Produktion in Fabriken, in Konzernen und in Monopolen, der politischen Herrschaft in Nationalstaaten usw.). -Maximierung (von Produktionszahlen, von Beschäftigtenzahlen, des Infrastrukturausbaus, des Großstadtwachstums, der Hochhäuser usw.). -Zentralisierung (in der Politik, bei unternehmerischen Entscheidungen, in Zentralbanken etc.).

Im Grunde geht das Modell der Entwicklung hin zur Industriegesellschaft davon aus, daß der technische Fortschritt den Motor und die Ursache wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturbildung darstellt. Die Maschine und das Kraftwerk strahlen gewissermaßen in Fabriken, Familien, Betriebe, Bürokratien und Schulen aus. Dem Modell der Industriegesellschaft zufolge ist die Kraft der Technologie stärker als Unterschiede der wirtschaftlichen und politischen Organisation: Die gezeigten Maximen gelten für kapitalistische und sozialistische Industriegesellschaften gleichermaßen.

Sofern nicht ausdrücklich angenommen wird, die technische Entwicklung sei von Menschen nach gewissen Leitlinien zu steuern, gerät das Konzept der Industriegesellschaft leicht zum Bild einer „automatisch“ unaufhaltsam in einer Einbahnstraße vorwärts fahrenden Dampfwalze, die alle traditionalen Besonderheiten und spezifischen Bestrebungen unwiderstehlich einebnet. Solche deterministischen Anklänge weist das Modernisierungskonzept nicht unbedingt auf. Es läßt einigen Raum für unterschiedliche gesellschaftliche Umsetzungen und bewußte Steuerung. .

Das Konzept der Industriegesellschaft ist aber noch weit ausführlicher als der angeführte „Code“. Es enthält genaue Vorstellungen darüber, welche -Bevölkerungsweisen (Geburten, Ein-und Auswanderungen), Sterbefälle, -Familienformen, Haushaltsformen und Lebens-phasen, -Bildungseinrichtungen und -Strukturen, -Gefüge in Wirtschaft und Erwerbsarbeit, -sozialen Ungleichheiten sowie -Formen der Sozialpolitik, des Wohlfahrtsstaat und der Politik überhaupt im Zuge der Industrialisierung typischerweise zu erwarten sind. Diese Strukturmodelle werden im folgenden jeweils skizziert, und daran wird der soziale Wandel von Bevölkerungs-, Familien-und anderen -Strukturen in Westdeutschland gemessen.

II. Die sozialstrukturelle Entwicklung Westdeutschlands

Optimal wäre es, den sozialstrukturellen Wandel in der Systematik darzustellen, die der oben definierte Sozialstrukturbegriff nahelegt: gegliedert nach Subsystemen, die der Erfüllung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse dienen (Bildungs-, Wirtschafts-, Sicherungs-, Politik-System), nach Institutionen innerhalb dieser Systeme (Schulen, Betriebe, Parteien usw.), schließlich nach persönlichen Beziehungsgefügen innerhalb dieser Institutionen (Arbeitsteams, Netzwerke etc.). Angesichts des knappen Raums soll indessen eine pragmatischere, dem Lebenslauf folgende Gliederung gewählt werden.

1. Bevölkerung

Die Zahl und Zusammensetzung einer Bevölkerung, d. h.der Menschen, die in einem bestimmten Gebiet wohnen, verändert sich durch den jeweiligen Bevölkerungsprozeß. Hierunter versteht man das Zusammenwirken von Geburten, Sterbefällen und Wanderungen. Ist dieser Prozeß im Rahmen einer Gesellschaftsformation vergleichsweise stabil, spricht man von einer Bevölkerungsweise.

Von einer „typischen“ Industriegesellschaft erwartet man eine einheitliche und „sparsame“ Bevölkerungsweise: In allen großen Bevölkerungsgruppen sollte hiernach das Geburtenniveau zwar niedrig, aber etwas über dem der Sterbefälle liegen. Dies führt insgesamt zu einem stabilen, aber begrenzten Bevölkerungswachstum, das lediglich durch wirtschaftlich bedingte Einwanderungsschübe punktuell erhöht wird.

Sieht man einmal von Verwerfungen durch Kriege und Wirtschaftskrisen ab, so entwickelte sich die deutsche Bevölkerung in Wirklichkeit seit dem „demographischen Übergang“ (von hohen zu niedrigen Geburten-und Sterberaten im Laufe der Industrialisierung) bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein durchaus gemäß dem industriegesellschaftlichen Modell.

Seither ergaben sich aber Bevölkerungsprozesse, die anhaltend gekennzeichnet sind durch Geburtenraten, die (relativ pro Frau im Alter zwischen 15 und 45 Jahren) um etwa ein Drittel unter den Sterberaten liegen und so eine Bevölkerungsabnahme hinterlassen. Diese wird durch immer neue Einwanderung(swell) en ausgeglichen (Von 1950-1961 kamen 3, 1 Mio. Übersiedler aus der DDR. Von 1961-1989 blieben per saldo gut drei Millionen ausländische Arbeitnehmer mit Familienangehörigen; von 1962-1990 wänderten 1, 9 Mio. Aussiedler ein; von 1978-1989 hatte die Bundesrepublik ca. eine Million und 1990 nochmals 256000 Asylbewerber.) Da Geburten, Sterbefälle und Einwanderungen, im Zusammenhang gesehen, seit Mitte der siebziger Jahre eine recht stabile Struktur ergeben, hat man sie schon als „postindustrielle Bevölkerungsweise“ bezeichnet

Dem widerspricht nicht, daß in den letzten Jahren das absolute Geburtendefizit gering war und sich seit 1990 sogar in einen leichten Geburtenüberschuß verkehrt hat. Dies beruht auf dem Hineinwachsen von geburtenstarken Kohorten und von Zuwanderem in die Eltemphase und stellt (fast) keine Veränderung des Geburtenverhaltens dar

Diese neue Bevölkerungsweise änderte die Bevölkerungsstruktur. Zum einen alterte die Bevölkerung, obwohl Zuwanderer in der Regel zwischen 20 und 40 Jahre alt sind. Schon heute hat Westdeutschland weltweit den größten Anteil (gut 15 Prozent) alter Menschen, die mindestens 65 Jahre alt sind. Zum andern vergrößerte sich die ausländische Wohnbevölkerung (1990: 2 Prozent) und Westdeutschland wurde ethnisch immer inhomogener. Nach allem, was wir wissen, werden beide Entwicklungen anhalten.

Diese „postindustriellen“ Strukturen stehen im deutlichen Gegensatz zur ehemaligen DDR. Sie war stets ein Auswanderungsland und war ethnisch weitgehend homogen. (Ende 1989 lebten ganze 1, 2 Prozent Ausländer in der DDR. 1990 wohnten gar nur noch 1, 0 Prozent Ausländer in Ostdeutschland.) Und die DDR brachte immerhin noch drei Viertel der zum Bestandserhalt nötigen Kinderzahl hervor. Alles in allem stand sie der industriegesellschaftlichen Bevölkerungsweise noch näher als die Bundesrepublik. Für die Zukunft aber deutet sich eine schnelle Anpassung an die „postindustrielle“ Bevölkerungsweise an, eine viel schnellere als in anderen sozialstrukturellen Bereichen: Die in Ostdeutschland ohnehin seit Jahren sinkenden Geburtenraten nähern sich den westdeutschen. Die Einwanderung beginnt. 2. Familien, Haushalte, Lebensphasen Im Modell einer „typischen Industriegesellschaft“ leben die Menschen in Klein-bzw. Kemfamilien (Zwei-Generationen-Familie mit ca. zwei Kindern) zusammen. Das Heiratsalter (in der Regel wird geheiratet) ist in allen Bevölkerungsgruppen wesentlich niedriger als in vorindustriellen Gesell-schäften, wo Heirat häufig noch von Erbschaft etc. abhängig ist. Von Industriegesellschaften wird also eine vergleichsweise standardisierte Lebensform (hierunter versteht man in der neueren Soziologie die Strukturform des unmittelbaren Zusammenlebens mit Mitmenschen) erwartet.

Die Wirklichkeit Westdeutschlands näherte sich in den fünfziger und sechziger Jahren dieser industriegesellschaftlichen Standardisierung sehr stark an. Es war die „Hoch-Zeit der Hochzeit“ und das „goldene“ Zeitalter der „Normalfamilie“. Mehr als 90 Prozent der betreffenden Altersjahrgänge heirateten, und zwar recht früh, und wiederum mehr als 90 Prozent von ihnen hatten Kinder. Abgesehen von den ersten Nachkriegsjahren waren die Ehen mit etwa 10 Prozent Scheidungsraten auch recht stabil. Ehe und Familie stellten ein Faktum dar, aber auch eine Norm: Es war die Zeit, als man zu heiraten „hatte“ und sich fragen lassen mußte, wann denn „die Kinder kommen“.

Seit den sechziger Jahren nahm in Westdeutschland die Neigung zur Ehe stark ab. Heute heiraten kaum noch 70 Prozent der relevanten Altersjahrgänge Und der Zeitpunkt wird immer weiter hinausgeschoben. Mitte der siebziger Jahre heirateten ledige Männer erstmals mit 25, 6 und Frauen mit 23 Jahren, Ende der achtziger Jahre mit 28 bzw. 25 Jahren. Die Ehen sind mit gut 30 Prozent Scheidungsquote heute wieder so zerbrechlich geworden, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren. Und vor allem: Alle „untypischen“ Lebensformen nahmen auf Kosten der „Normalfamilie“ zu 8: Ende der achtziger Jahre lebten in Ein-Personen-Haushalten etwa 16 Prozent der Bevölkerung, in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mindestens vier Prozent, in Ein-Eltern-Familien gut fünf Prozent. Der Anteil nichtehelich geborener Kinder ist von 5, 5 Prozent im Jahre 1970 auf 10, 2 Prozent im Jahre 1989 gestiegen. Für das alles hat sich das Schlagwort von der Pluralisierung der Lebensformen durchgesetzt.

Die Ausdifferenzierung geht „in Wirklichkeit“ wohl noch weiter, als diese Zahlen vermuten lassen. Denn die „Hüllen“ der amtlichen bzw. in der Sozialforschung üblichen Erfassungskategorien (verheiratet, in Lebensgemeinschaft, allein lebend etc.) verbergen jeweils sehr unterschiedliche, und allem Anschein nach immer unterschiedlicher werdende Lebensformen, wie die „Wochenendehe“, Stieffamilien oder nichteheliche Lebensgemeinschaften bei Aufrechterhaltung zweier Wohnungen. -Die Lebensformen in Westdeutschland differenzieren sich also aus und entfernen sich seit den siebziger Jahren zum guten Teil vom idealtypischen Muster der „Normalfamilie“ einer klassischen Industriegesellschaft. Trotzdem sollten wir auch die Grenzen dieser Entstandardisierungsvorgänge sehen. Nach wie vor heiraten ca. 70 Prozent der jeweiligen Altersjahrgänge, und knapp vier Fünftel von ihnen haben Kinder. Neun von zehn westdeutschen Kindern leben in einem „ganz normalen“ Haushalt mit verheirateten Eltern. Zwar machen Alleinlebende mittlerweile 35 Prozent aller Haushalte aus. Aber sie stellen, wie gesagt, nur etwa 16 Prozent der Bevölkerung. Und von den drastisch zunehmenden nichtehelichen Lebensgemeinschaften erweist sich die Mehrzahl als „Probeehen“, als funktionales Äquivalent des früheren Verlöbnisses. Ähnlich wie die Lebensformen haben sich auch die Lebensläufe vieler Menschen in Westdeutschland ein ganzes Stück von der industriegesellschaftlichen „Normalität“ entfernt. Die ehedem unverrückbar erscheinende, standardisierte Abfolge von Kindheit, Jugend (Ausbildung), Erwachsenen-phase (Erwerbstätigkeit, Hausfrauentätigkeit) und Alter (Rente) beginnt zu zerfasern. Neue Lebens-phasen wie die „Postadoleszenz“ (zwischen Jugend und Erwachsensein) und die des „leeren Nestes“ verbreiten sich. Individuelle Biographiebrüche infolge Scheidung, Arbeitsplatzwechsels, Arbeitslosigkeit, Weiterbildung etc. werden häufiger.

Die Sozialstruktur der Familien und Haushalte in der DDR wies bis zur Vereinigung deutliche Unterschiede zu der im Westen auf. Gemessen an Industrialisierungsvorstellungen entsprachen einige, aber nicht alle Strukturen denen einer „typischen“ Industriegesellschaft: Noch wesentlich größere Teile der Bevölkerung heirateten. Man heiratete drei Jahre früher. Auch die Geburt der Kinder erfolgte dementsprechend früher. Frauen in der DDR bekamen mehr Kinder (durchschnittlich 1, 67) als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen (1, 42). Ehe und Familie hatten im Verhalten, aber auch im Denken der Menschen (noch) einen höheren Stellenwert als in der Bundesrepublik. Dieser Familismus war noch ausgeprägter als der einer typischen Industriegesellschaft: Er wurde durch die „Nischengesellschaft“ und die dominierende proletarische Lebensweise gesteigert sowie durch die bevorzugte Wohnungsvergabe an Verheiratete und Mütter und durch viele andere sozialpolitische Maßnahmen gefördert.

Der Betonung von Ehe und Familie, die an westdeutsche Gegebenheiten der fünfziger und sechziger Jahre erinnert, standen in der DDR allerdings eine deutlich höhere Scheidungsquote (45, 3 Prozent im Osten vs. 30 Prozent im Westen), der viel höhere Anteil nichtehelicher Geburten (35 Prozent vs. 10 Prozent) und die stärkere Verbreitung Alleinerziehender (17, 0 Prozent vs. 10, 2 Prozent der Mehrpersonenhaushalte) gegenüber. Wir finden somit zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung in der DDR gegenläufige Abweichungen von der Struktur Westdeutschlands, allerdings kaum gegenläufige Entwicklungen: Auch in der DDR sank in den letzten Jahren die Heiratsneigung, stieg das Heiratsalter und das Alter von Müttern, sank die Geburtenrate. In der DDR gab es also einesteils ein Nachhinken, andernteils auch schon „Vorsprünge“, aber keine erkennbaren Abweichungen von der Entwicklungsrichtung, die Gesellschaften üblicherweise nehmen, wenn sie sich in typische industriegesellschaftliche Strukturmuster hinein-und wieder herausbewegen. Überdies weisen die neuesten Befunde auf schnelle Konvergenz zwischen Ost-und Westdeutschland hin. Dies bestätigt den Eindruck, daß sich die Komponenten der Sozialstruktur, die hochgradig Handlungsgefüge darstellen, also etwa Bevölkerungs-oder Familienstrukturen, schneller zu wandeln in der Lage sind als institutioneile oder systembedingte Elemente der Sozialstruktur.

3. Bildung

Die Ausdifferenzierung der Bildung aus Familie und Arbeitssphäre sowie das Wachstum und die Auffächerung des so entstandenen Bildungssystems in immer mehr spezialisierte und sich gegenseitig ergänzende Einrichtungen kann als Musterbeispiel funktionaler Ausdifferenzierung in Industriegesellschaften gelten. Bildung und die dementsprechenden Dienstleistungstätigkeiten werden im typischen Entwicklungsgang von Industriegesellschaften schließlich so dominant, daß diese von einigen Theoretikern (D. Bell, A. Touraine) eigens als „postindustrielle Gesellschaften“ bezeichnet werden.

Nach diesem Muster verlief auch die sozialstrukturelle Entwicklung Westdeutschlands im Bildungsbereich seit den sechziger Jahren: Noch im Jahre 1960 war in Westdeutschland Hauptschulbildung „normal“, der Besuch weiterführender Schulen und Universitäten demgegenüber eher außergewöhnlich: Volle 70 Prozent der 13jährigen gingen 1960 zur Hauptschule. Nur 11 Prozent bzw. 15 Prozent gelangten auf Realschule bzw. Gymnasium. Dagegen besuchten 1990 erstmals in der deutschen Geschichte ebenso viele 13jährige das Gymnasium wie die Hauptschule (je 31 Prozent). 26 Prozent gingen in die Realschule, sieben Prozent in Integrierte Gesamtschulen

Diese enorme Bildungsexpansion erlebten auch die meisten anderen entwickelten Industriegesellschaften. Sie verlief in Westdeutschland jedoch vergleichsweise spät und heftig. Deshalb sind die Generationenunterschiede im Bereich der Bildung hierzulande besonders kraß. In der jüngeren Generation gibt es heute keine „normale“ Bildung mehr. Die Sozialstruktur hat sich in zahlreiche Bildungsstufen und Gruppierungen aufgefächert.

Eindeutige Gewinner der Bildungsexpansion in Westdeutschland sind die Frauen. Ganz anders als noch in den sechziger Jahren haben sie im allgemeinbildenden Schulwesen die Männer eingeholt und sogar überholt. In der Berufsausbildung haben sie zumindest aufgeholt. Abweichend von anderen Bereichen der Sozialstruktur war das Bildungswesen in der DDR ähnlich gut ausgebaut wie im Westen. Trotz völlig anderer Bildungsorganisation wiesen auch die sozial-strukturellen Unterschiede der Bildungsniveaus und Bildungschancen keine fundamentalen Unterschiede zu Westdeutschland auf.

4. Erwerbsarbeit

Als typisch für Industriegesellschaften gilt die jahrzehntelange, ganztägige, kollektiv geregelte und beruflich spezialisierte Erwerbsarbeit vor allem der Männer. Sie findet überwiegend in funktional differenzierten, hierarchisch organisierten Großbetrieben statt. Der Produktionsbereich dominiert und hat den Agrarsektor weit zurückgedrängt. Erwerbsarbeit ist zeitlich, örtlich, organisatorisch streng geschieden von der Privatsphäre und vom öffentlichen Leben. Gleichwohl prägt die Art der Erwerbsarbeit Lebensbedingungen, Einstellungen, Selbstbilder und Lebenswege der Menschen. Sie wirkt somit weit in das private und öffentliche Leben hinein. Industriegesellschaften sind „Arbeitsgesellschaften“. Der Blick auf den sozialen Wandel in Westdeutschland zeigt, daß wir uns in mancher Hinsicht von diesem Modell entfernen, das im großen und ganzen noch in den sechziger Jahren die Wirklichkeit traf. Zwar stieg die „Erwerbsqupte“, d. h.der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung, leicht an (von 46, 2 Prozent im Jahre 1950 auf 49, 6 Prozent im Jahre 1990) Aber dies war -im Gegensatz zu dem Muster einer herkömmlichen Industriegesellschaft -auf die Altersstruktur der Bevölkerung und auf die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen zurückzuführen. 1970 standen erst 30, 2 Prozent, 1990 schon 39, 2 Prozent aller Frauen im Beruf. 1970 war erst ein gutes Drittel, 1990 schon fast die Hälfte aller verheirateten Frauen erwerbstätig. Von den mehr als eine Mio. neuen Arbeitsplätzen, die von 1983 bis Ende der achtziger Jahre in Westdeutschland neu geschaffen wurden, kamen zwei Drittel Frauen zugute.

Auch die drastische Verringerung der Jahresarbeitszeit (1960: 2080 Stunden, 1990: 1573 Stunden) paßt nicht ins Bild einer herkömmlichen Industriegesellschaft. Zusammen mit dem späteren Eintritt in den und dem früheren Ausscheiden aus dem Beruf hat sie dazu geführt, daß Erwerbstätige derzeit kaum noch ein Zehntel ihrer Lebenszeit mit Erwerbsarbeit verbringen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten die Berufstätigen noch etwa ein Viertel ihrer gesamten Lebenszeit. An dieses Schrumpfen der Arbeitszeit knüpfen sich weitreichende Interpretationen: Die Berufsposition scheint nicht mehr unbestritten das Zentrum sozialer Identität zu sein. Freizeit und Kontakt-netze treten als gesellschaftliche Verankerungen hinzu. Arbeitsbedingt ähnliche Lebensweisen großer Gruppen (z. B.der „Arbeiterschaft“) gehen zurück. Die „Pluralisierung der Lebensstile“ dringt vor. Umfassende Thesen vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ werden mit der Arbeitszeitverkürzung in Verbindung gebracht

Auch wenn man dergleichen kühnen Deutungen nicht ganz folgt, ist unbestreitbar, daß die Starrheit kollektiver Regelungen an vielen Stellen aufweicht: Arbeitszeiten werden flexibler. Jede sechste Erwerbsperson ist mittlerweile teilzeitbeschäftigt. Beschäftigungsverhältnisse werden rechtlich vielgestaltiger. Die ehedem unverrückbar erscheinende Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben verschwimmt durch zunehmende Eigenarbeit, Schwarzarbeit und alternative Arbeitsformen. Erwerbsbiographien verlaufen immer unstetiger.

Schließlich ist auch die Spezialisierung von Berufen, sowohl von Berufsfähigkeiten (Ausbildung) als auch von Berufstätigkeiten, an vielen Stellen rückläufig. Mögen auch Buchtitel wie „Das Ende der Arbeitsteilung“ voreilig gewählt sein, so haben doch insbesondere die neuen Informationstechnologien nach Jahrzehnten typisch industrie-gesellschaftlicher Arbeitsteilung sowohl das Fähigkeits-als auch das Tätigkeitsprofil vieler Arbeitender wieder breiter werden lassen.

Von der „Normalität“ der Erwerbstätigkeit kann auch angesichts der Arbeitslosigkeit keine Rede mehr sein. Die unstete Geburtenentwicklung hat zusammen mit der schubweisen Durchsetzung neuer Technologien dazu geführt, daß seit Mitte der siebziger Jahre Massenarbeitslosigkeit anhält (Arbeitslosenquoten: 1975 4, 7 Prozent, 1980 3, 8 Prozent, 1985 9, 3 Prozent, 1990 7, 2 Prozent) und viele Menschen an „normaler“ Existenzsicherung und Identität hindert.

Am deutlichsten zeigte sich der soziale Wandel weg von einer herkömmlichen Industriegesellschaft in Verschiebungen der Wirtschaftssektoren und der Berufsstruktur. Heute arbeitet deutlich mehr als die Hälfte der Beschäftigten (1990: 55, 8 Prozent; 1970 42, 7 Prozent; 1950 33, 4 Prozent) in Unternehmen des Dienstleistungssektors. Nur hier, nicht im Produktions-und erst recht nicht im Agrarsektor, hat sich in den letzten 20 Jahren die Zahl der Arbeitsplätze vermehrt. Dementsprechend übersteigt seit 1987 die Zahl der Angestell-ten die der Arbeiter. Betrachtet man die konkret ausgeführten Berufstätigkeiten, so führen heute gar schon vier Fünftel aller Erwerbstätigen Dienstleistungen aus Westdeutschland ist eine Dienstleistungsgesellschaft geworden. Bezeichnenderweise wird es immer wichtiger, innerhalb des Dienstleistungssektors zu differenzieren: Vor allem die Dienstleistungen an Menschen (Lehren, Heilen, Pflegen, Beraten, Unterstützen) nehmen stark zu, während mit Sachdienstleistungen (Verwalten, Registrieren etc.) zunehmend weniger Menschen beschäftigt sind.

Demgegenüber bot die DDR zum Zeitpunkt der Vereinigung das Bild einer herkömmlichen Industriegesellschaft, wie Westdeutschland in den sechziger Jahren: Der Produktionsbereich und die Arbeiterschaft dominierten; die Arbeitszeiten zählten zu den längsten in ganz Europa (wie effektiv diese Arbeit war, ist eine andere Frage); Arbeitszeiten und Beschäftigungsverhältnisse waren durchweg kollektiv geregelt; Erwerbsbiographien waren stetig, normalerweise lebenslang gesichert; formelle Arbeitslosigkeit war unbekannt.

Freilich gab es eine wichtige Ausnahme: Die Regierung der DDR hatte in den siebziger Jahren energisch die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit betrieben, um die Verluste an Arbeitskraft auszugleichen. Die ca. 82prozentige Erwerbsquote von Frauen im erwerbsfähigen Alter paßt schon in das Bild fortgeschrittener, „postindustrieller“ Dienstleistungsgesellschaften wie Schweden oder USA.

5. Soziale Ungleichheit

Die wichtigsten sozialen Ungleichheiten, d. h. die gesellschaftlich bedingten, verfestigten, von individuellen Personen weitgehend unabhängigen (un) vorteilhaften Lebensbedingungen (Einkommen, Qualifikation, Prestige, Macht etc.) und Lebensweisen (Leistungsmotivation, Sprachstile, Erziehungsstile etc.), entstehen in modernen Industriegesellschaften typischerweise im Bereich der Wirtschafts-und Erwerbstätigkeit. Der Weg zu besseren oder schlechteren Lebensbedingungen und Lebensweisen führt für den einzelnen und seine Familienangehörigen in erster Linie über individuelle Erwerbstätigkeit (und über die hierfür nötige Vorbildung) und erst in zweiter Linie über die Herkunft oder über ererbten Besitz, wie in vorindustriellen Gesellschaften. Es existiert also eine kausale Verknüpfung und strukturelle Deckungsgleichheit zwischen: -der jeweiligen Position in der Berufshierarchie, -dem jeweiligen Status in einem vertikalen Gefüge beruflich vermittelter Ressourcen, d. h. im Klassen-oder Schichtgefüge, das Einkommen/Vermögen, Bildung, Prestige und Macht als wichtigste Dimensionen enthält, -der jeweiligen klassen-und schichtspezifischen Lebensweise (Mentalitäten, Sprachstile, Sozialisationsstile), -den jeweiligen politischen Interessen (primär am eigenen Einkommens-, Prestigestatus etc.), beruhend auf einer weitgehend materialistischen und utilitaristischen Massenkultur.

Dieses Modell eines berufsnahen, vertikalen, im psychologischen Sinne deterministischen Ungleichheitsgefüges kam in den sechziger und siebziger Jahren der tatsächlichen Ungleichheitsstruktur Westdeutschlands offenbar sehr nahe. Von der Familienstruktur, den Sozialisationsprozessen, dem Erziehungsstil und dem Sprachcode bis hin zum Kirchenbesuch, der Kriminalität und der Wahlentscheidung erschien nahezu alles geprägt von der Klassen-und Schichtstruktur. Und diese schien in hohem Maße das Ergebnis ökonomischer Markt-und Machtverhältnisse, und nicht etwa wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung oder sozio-kultureller Entstehungsgründe.

Heute existiert diese „klassische“ Ungleichheitsstruktur nach wie vor. Immer noch bildet die Berufshierarchie eine tragende Säule im Ungleichheitsgefüge, auf der Einkommensabstufungen, Prestigegrade, Wohn-und Arbeitsbedingungen und viele Ungleichheiten mehr wesentlich beruhen.

Aber seit den siebziger Jahren sind zusätzliche Dimensionen der Ungleichheit in den Vordergrund getreten, die (wie Umweltbedingungen, die Versorgung mit Infrastruktur, soziale Sicherheit oder Vorurteile von/über Mitmenschen) nur bedingt mit ökonomischen Ursachen und beruflichen Stellungen, dafür um so mehr mit dem Wohlfahrtsstaat und sozio-kulturellen Faktoren zu tun haben.

Seit den siebziger Jahren sind neben dem Beruf auch weitere Determinanten sozialer Ungleichheit wichtig geworden, wie das Geschlecht, die Nationalität, das Alter und die Wohnregion. Sie stellen bestimmte soziale Gruppen (wie Frauen oder Ausländer) teils abhängig, teils unabhängig vom jeweiligen Beruf schlechter als z. B. Männer bzw. Deutsche. Wer in den achtziger Jahren einen Wahlkampf mit dem Thema der („objektiv“ anhaltenden) Ungleichheit zwischen Arbeitern und Angestellten oder der (wachsenden) Ungleichheit zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen führte, stieß auf mäßiges Interesse. Wer Wahlkampf mit der Ungleichheit zwischen Mann und Frau oder zwischen Deutschen und Ausländern führte, hatte volle Säle. Die meisten dieser sog. „neuen“ Dimensionen und Determinanten sozialer Ungleichheit (z. B. das Geschlecht) sind keineswegs tatsächlich neu, wohl aber neu in der sozialen und politischen Bedeutung, die ihnen heute zukommt.

Weiterhin sind seit den siebziger Jahren insbesondere im Mittelstand komplizierte Gefüge sozialer Ungleichheit zutage getreten. Sie verlaufen nicht statuskonsistent, sondern sind durch das Nebeneinander relativer Vor-und Nachteile gekennzeichnet. Sie bilden also kein durchgehend vertikales Oben und Unten von Klassen oder Schichten. Diese „sozialen Lagen“ werden insbesondere dann sichtbar, wenn zusätzliche, berufsferne Dimensionen sozialer Ungleichheit (wie Freizeit, Sicherheit, Wohnen und Infrastruktur) Berücksichtigung finden.

In den letzten beiden Jahrzehnten schälte sich in Westdeutschland immer mehr eine neue Gesamt-struktursozialer Ungleichheit heraus. Kennzeichnend ist nicht mehr -wie in der frühkapitalistischen Industriegesellschaft -der Gegensatz zwischen einem großen, verelendeten „Proletariat“ und einer kleinen, aber mächtigen Bourgeoisie. Charakteristisch ist auch nicht mehr das industrie-gesellschaftliche Gefälle zwischen einer großen, benachteiligten Arbeiterunterschicht und einer großen „Mittelschicht“ von Angestellten, Beamten und „kleinen“ Selbständigen. Strukturtypisch sind vielmehr einerseits die Vorteile des Mittelstandes, der die große Bevölkerungsmehrheit umfaßt, insgesamt recht gutgestellt lebt, aber, wie gesagt, sehr unterschiedliche Kombinationen von Vor-und Nachteilen aufweist, und andererseits die Anhäufungen von Nachteilen sehr unterschiedlicher Rand-undProblemgruppen. Diese stehen durchweg außerhalb des Erwerbslebens.

Die meisten dieser Gruppen wachsen, wobei viele Menschen. mehreren Gruppen zugleich angehören: -Arme (Wenn der als arm gilt, der weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens gleicher Haushalte verdient, so sind derzeit 11 Prozent der Bevölkerung arm, was eine Verdoppelung seit Mitte der siebziger Jahre bedeutet.) -Asylbewerber (Im Jahre 1991 wurden 256100 Asylanträge gestellt.) -Ausländische Arbeiter und ihre Familien (Die derzeit etwa drei Millionen haben die deutsche Arbeiterschaft in allen Ungleichheitsdimensionen „unterschichtet“.) -Langzeitarbeitslose (1990 waren in Westdeutschland 513000 Menschen länger als ein Jahr arbeitslos.) -Obdachlose (Derzeit leben etwa eine Million Menschen in Notunterkünften.) -Stadtstreicher (etwa 100 000) -(ca. 400000) Rentner(innen), die im Gegensatz zur allgemeinen Wohlstandssteigerung der Rentner(innen) nach wie vor mit Einkünften unterhalb des Sozialhilfeniveaus leben müssen.

Bei der Interpretation dieser neuen Gesamtstruktur ist zu bedenken, daß sich mit ihrer Herausbildung für die Bevölkerungsmehrheit das Niveau des Wohlstands und der Lebensbedingungen drastisch erhöht hat. In Preisen von 1980 hatte im Jahre 1950 jeder Bewohner der Bundesrepublik einen Nettorealverdienst von ca. 6140, 00 DM. 1987 verdiente er ca. 21143, 00 DM. Das reale Bruttosozialprodukt hat in der gleichen Zeit noch stärker, um das Vierfache, zugenommen. Es belief sich 1950 auf ca. 6820, 00 DM, 1987 auf ca. 26 900, 00 DM pro Einwohner

Nicht die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, die Helmut Schelsky in der Nachkriegszeit kommen sah, hat sich also ergeben, sondern die „pluraldifferenzierte und sozialstaatlich fundierte Wohlstandsgesellschaft“ -freilich mit benachteiligten Problemgruppen.

Deren Situation ist eher schlechter als die des Industrieproletariats Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses war groß, vergleichsweise homogen und mächtig: „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“. Die heutigen Problemgruppen sind kleiner; sie zerfallen in ganz unterschiedliche Gruppierungen; und sie sind schwach, weil sie außerhalb des Wirtschaftslebens stehen und nicht mit Leistungsverweigerung drohen können.

Schließlich hat sich das Ungleichheitsgefüge Westdeutschlands von dem einer „typischen Industriegesellschaft“ auch in der Hinsicht entfernt, als klassen-und schichtspezifische Lebensweisen zerfasern. Viele empirische Befunde weisen auf eine Pluralisierung von Milieus und Lebensstilen hin.

Pluralisierung heißt hierbei dreierlei: Das Gesamt-spektrum wird erstens breiter, zweitens in sich vielgestaltiger, drittens unabhängiger von Beruf, Klasse, Schicht und -damit zusammenhängend -von Einkommenshöhe, Bildungsgrad und Prestige-status.

Zwar haben unter den äußeren Lebensbedingungen auch heute (noch?) der Bildungsgrad, das Alter und die Familienverhältnisse Einfluß auf Milieuzugehörigkeit und Lebensstil aber diese Einwirkungskräfte sind eher schwach. Auch unter Menschen gleicher Bildung, gleichen Alters und/oder gleicher familiärer Lebensform, erst recht gleicher Klasse und Schicht, finden wir sehr unterschiedliche Lebenszuschnitte. Gesteigerter Wohlstand, kleinere Familien, mehr Bildung und Informationen, schwächere Alltagsnormen, bessere soziale Sicherheit und wohlfahrtsstaatliche Ausstattung haben es vielen Menschen ermöglicht, ihr Leben mehr oder minder nach eigenen Präferenzen auszurichten

Seit den achtziger Jahren wurde in einer Vielzahl von Studien das Gesamtspektrum und die innere Differenzierung von Wertgruppierungen, sozialen Milieus, Lebensstilen, Lebensführungen und sozialen Bewegungen erforscht. Schon die Vielfalt der verwendeten Begriffe ist bezeichnend dafür, daß die Lebensweise vieler Menschen sich heute nicht mehr als eindimensionaler Abdruck grober „Gußformen“ (H. Esser) industriegesellschaftlicher Arbeits-und Lebensbedingungen darstellen läßt. Vielmehr treten die allgemeinen Vorstellungen vom Wünschenswerten (Werte), die Wahrnehmung und Nutzung der Umwelt (Milieu), die alltäglichen Verhaltensmuster (Lebensstil) und biographischen Prinzipien der Lebensgestaltung (Lebensführung) und politischen Bestrebungen (soziale Bewegung) nicht selten auseinander. Menschen gehören diesbezüglich unterschiedlichen, oftmals recht kleinen Gruppierungen an.

Einige Befunde als Beispiele: Die Forschergruppe um Helmut Klages unterteilt die Gesamtbevölkerung in acht Gruppen mit unterschiedlichen Wert-haltungen und -kombinationen zwischen den Polen „alter“ Pflicht-und „neuer“ Entfaltungswerte: die Konservativen (13 Prozent), die konservativen Hedonisten (11 Prozent), die integrierten Staatsbürger (10 Prozent), die Pluralisten (20 Prozent), die Resignierten (10, 5 Prozent), die hedonistischen Materialisten (6, 5 Prozent), die progressiven Idealisten (13 Prozent) und die Anhänger des New Age (11 Prozent)

In der Konsum-, Wahl-und Jugendforschung eingesetzt und besonders bekannt wurde die Typologie sozialer Milieus des SINUS-Instituts: Konservativ gehobenes Milieu (9 Prozent), technokratisch-liberales (10 Prozent), alternatives (3 Prozent), kleinbürgerliches (26 Prozent), aufstiegsorientiertes (24 Prozent), hedonistisches (10 Prozent), traditionelles Arbeiter-(9 Prozent) und traditionsloses Arbeitermilieu (10 Prozent).

Um die Kleinräumigkeit sozio-kultureller Differenzierung deutlich zu machen, sei schließlich ein, freilich extremes, Beispiel von Lebensstilvielfalt in Berlin-Schöneberg angeführt * „Homosexuelle Subkultur“, „das gutbürgerliche Schöneberg“, „die Drogenszene“, „die Punks“, „die erste New-Wave-Generation“, „die links-alternative Szene“, „die Alternativszene“, „die sogenannten neuen Mittelschichten“, „Altlinke“, „die intellektuelle Szene, die Aufstandskultur, der ästhetische Flügel der No-future-Generation“, „Söhne und Töchter des exekutiven Kleinbürgertums, die hier Gelegenheit hatten, den Bruch mit ihrem Herkunftsmilieu zu leben und zu zelebrieren“, „existentiell radikalisierte Spätjugendliche“, „die Nischen der Kulturszene“, „der Lebensstil des neu-existentialistischen Post-Punk“, „das Bewegungsmilieu“, „die Widerstandskultur“, „der aufgestylte Schicki-Micki aus dem City-Bereich“, „das proletarische Milieu“, „die jüngeren, an Lebensstilen orientierten Gruppen“ usw.

Die gezeigte Pluralisierung von Werten, Milieus, Lebensstilen etc. hat enorme praktische Auswirkungen. Vieles spricht dafür, daß die Zugehörigkeit zu dergleichen „subjektiven“ Gruppierungen immer mehr -und die zu „objektiven“ Berufsgruppen, Klassen und Schichten immer weniger -zur Quelle des Alltagshandelns geworden ist. Wer wissen will, wo in der westdeutschen Gesellschaft und wieso gerade da bestimmte Erziehungsstile, Sprachgewohnheiten, Konsumstile, Wahlentscheidungen, Partizipationsformen, Kontaktkreise, Statussymbole u. v. a. m. zu finden sind, muß sich zunehmend um sozio-kulturelle Differenzierungslinien kümmern. Dort findet immer öfter Vergesellschaftung statt, dort wachsen immer wichtigere Stätten der Identitätsbildung heran, dort wird Zugehörigkeit empfunden und Abgrenzung betrieben.

Die Pluralisierung von Lebensweisen und Gruppenzugehörigkeiten prägt nicht zuletzt auch die alltagsweltliche Bedeutung sozialer Ungleichheit. Auch „objektiv“ gleiche Ressourcenausstattung und Lebensbedingungen können heute, je nach Werthaltungen, Milieuzugehörigkeit, Lebensstil etc.der Menschen, sehr unterschiedliche bzw. ungleiche Auswirkungen haben. 2000 DM Monats-einkommen pro Kopf bedeuten im „aufstiegsorientierten“ und im „alternativen“ Milileu nicht das gleiche. Damit entfällt heute viel von der Durchschlagskraft bis in den Alltag, die der Klassen-und Schichtzugehörigkeit einst zukam.

Diese Ungleichheitsstruktur Westdeutschlands, die seit den späten sechziger Jahren -um zusätzliche Ansprüche und Dimensionen erweitert ist, -durch politisch brisante „neue“ Ungleichheiten, durch Statusinkonsistenzen innerhalb mittlerer Statusgruppen, sowie durch benachteiligte Rand-und Problemgruppen komplizierter geworden ist, und -durch die Pluralisierung von Lebensformen, Milieus und Lebensstilen alltagsweltlich über-formt worden ist und so teils unkenntlich, teils verschärft, teils nur ausdifferenziert zutage tritt, wurde durch die Wiedervereinigung mit der Ungleichheitsstruktur der DDR konfrontiert. Diese wirkt, obwohl weitgehend verschwunden, bis heute kräftig nach -um so mehr, als sie große Unterschiede zur westdeutschen aufwies. Bildungsungleichheiten waren ähnlich, Machtungleichheit und Rentnerarmut krasser, Einkommensungleichheiten nivellierter als im Westen Während in Westdeutschland -trotz Anwachsens des differenzierten Mittelstandes -die Zunahme von Armut und Randgruppen einerseits, von Reichtum andererseits, also zu viel finanzielle Ungleichheit zum Problem wurde, hatte die DDR zu wenig Einkommensungleichheit, um z. B. für Führungspositionen zu motivieren. Auch die Subventionierung vieler Alltagsgüter und die mangelnde Verfügbarkeit von Gütern wirkten nivellierend.

Dabei war der Zugang zu Gütern durchaus ungleich verteilt. Die Wirtschaft der DDR war ja im Grunde keine Plan-, sondern eine Beziehungswirtschaft, in der Machtpositionen und Kontakte zählten. Dies schuf bei der Güterbeschaffung sehr spezifische Ungleichheiten im Mikrobereich, aber, von den immensen Vorteilen der mächtigen Nomenklatura einmal abgesehen, kaum eine auffällige soziale Schichtung im Makrobereich.

Insgesamt war das Ungleichheitsgefüge der DDR also nicht in jeder Hinsicht geringer als im Westen. Aber es war, berücksichtigt man den alltagsweltlichen Normalitätsdruck im „Land der kleinen Leute“, den geringeren Wohlstand und die verpönte Zurschaustellung, noch wenig sichtbar. Dies ändert sich gerade. In Westdeutschland dagegen ist die Ungleichheitsstruktur, abgesehen von blanker Armut, infolge eines allgemein hohen Wohlstandsniveaus und infolge der Vielfalt der Lebens-stile und Lebensführungen schon wieder wenig sichtbar geworden.

6. Fazit

Sieht man die skizzierten Sozialstrukturbereiche der Bevölkerungsweise, der Familie, der Erwerbstätigkeit, der Bildung und der sozialen Ungleichheit im Überblick, so wird deutlich, daß der soziale Wandel in Westdeutschland an zahlreichen Stellen weg von den „Normalzuständen“ und von der rein funktionalen Differenzierung typischer Industrie-gesellschaften und hinein in weitreichender pluralisierte Strukturen führte. Ob es sich dabei um Familienformen, Lebensstile oder Beschäftigungsformen handelt -häufig kamen diese pluralen Gefüge und die Zugehörigkeit zu ihnen aufgrund individueller Vorlieben und Problemlösungen zustande und nicht aufgrund gesamtgesellschaftlicher Funktionszusammenhänge.

Damit hatte sich zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung die Sozialstruktur der Bundesrepublik von der der DDR weit entfernt. Denn diese war nach wie vor dem industriegesellschaftlichen „Code“ (s. o.) entsprechend gebaut, in mancher Hinsicht sogar noch weitergehender als viele „typische Industriegesellschaften“: Die Sozialstruktur der DDR war zwar zum Teil unterspezialisiert, aber extrem standardisiert, synchronisiert, konzentriert, maximiert und zentralisiert. Dies zeigte sich u. a. in der Dominanz und Hochschätzung der „Normalfamilie“, in langen und starren Arbeitszeiten, in der norm(alitäts) orientierten Mentalität und Alltagskultur etc.

Im Westen entwickelte sich dagegen die Entstandardisierung, die De-Institutionalisierung, die Dezentralisierung und die Verkleinerung von sozialen Gebilden. Dies geschah vor allem auf jener Ebene der Sozialstruktur, die dem Einwirken der Menschen unmittelbar zugänglich ist, in den Handlungsgeflechten der Bevölkerungsweise, der Haushalte, der Arbeitszeitwahl, der Lebensstile, bei der Bildung von Selbsthilfegruppen etc. Diese Pluralisierungstendenzen gingen über funktionale Spezialisierungen teils hinaus (Lebensstile), teils machten sie diese rückgängig und mündeten in anderen Differenzierungen (Geschlechtsrollen im Haushalt). Im Grunde gefährdete jedoch die sozialstrukturelle Pluralisierung den harten Kern funktionaler Differenzierung nicht. Denn von der individuell geprägten Pluralisierung der Sozialstruktur finden wir sehr viel weniger auf der organisatorischen Ebene (z. B. im Bildungswesen) und auf der Ebene von Systembedingungen *Hier dominiert nach wie vor die funktionale Differenzierung von Institutionen und deren Verflechtung.

Es erscheint derzeit leichter, in Westdeutschland bestimmte Entwicklungen weg von bestimmten industriegesellschaftlichen Strukturprinzipien zu erkennen, als zu (er) messen, auf welche Strukturen hin sich dieser soziale Wandel zubewegt. Hierfür fehlt bislang eine „Meßlatte“ von der Genauigkeit des Konzepts der Industriegesellschaft.

Legt man die „längere“ der eingangs formulierten „Meßlatten“ -die Prinzipien der Modernisierung -an die genannten Tendenzen sozialstruktureller Pluralisierung in Westdeutschland an, so wird deutlich, daß sie durchweg Modernisierungen, und zwar sehr radikale Modernisierungen, darstellen. Wie anders als individuelle Optionsmehrungen und als individuelle, zweckrationale Lösungen lassen sich verringerte Kinderzahlen, „maßgeschneiderte“ Lebensformen, flexibilisierte Arbeitszeiten und pluralisierte Lebensstile interpretieren?

Im Hinblick auf die Sozialstruktur Ostdeutschlands stellen sich unter anderem die folgenden Fragen: 1. Wenn Westdeutschland Modernisierungsvorsprünge gegenüber Ostdeutschland aufweist, stellen diese Vorsprünge eine neue Stufe der Modernisierung dar? 2. Betrieb man in der DDR, die offenkundig auch eine Gesellschaft auf dem Modernisierungspfad war, eine andere, evtl, weniger erfolgreiche Art der Modernisierung? 3. Läßt sich aus dieser Konfrontation Gewinn für die gegenwärtige Diskussion um die gesellschaftliche Modernisierung ziehen?

III. Die „objektive“ und die „subjektive“ Modernisierung

Erstens: Die Sozialstruktur Westdeutschlands ist, wie die vieler anderer fortgeschrittener Gesellschaften, wesentlich weiter und in anderen Bereichen über die Strukturen einer herkömmlichen Industriegesellschaft hinausgewachsen, als Daniel Bell und Alain Touraine, die wichtigsten Theoretiker der „Postindustriellen Gesellschaft“, diagnostizierten. Diese -eine Dienstleistungs-und Wissens-gesellschaft -stellt lediglich ein Anwachsen und eine Ausdifferenzierung von Institutionen des Bildungs-und Wirtschaftssystems dar. Westdeutschland hat, wie andere fortgeschrittene Gesellschaften, Strukturveränderungen auch in anderen Bereichen hervorgebracht.

Es war der sozio-kulturelle Bereich, es waren die Werte und Normen, das Denken und Handeln der einzelnen, wo sich in Westdeutschland sozialstrukturell besonders viel veränderte. Dieser Bereich, vom Wertewandel über die Technologiediskussion bis hin zur sozialstrukturell bedeutsamen Pluralisierung von ethnischen und sozio-kulturellen Milieus, Lebensformen, Beschäftigungsverhältnissen, Lebensstilen und neuen sozialen Bewegungen, die oben skizziert wurden, ist es auch, der die weitreichendsten sozialstrukturellen Modernisierungsvorsprünge Westdeutschlands gegenüber der ostdeutschen Sozialstruktur aufweist. Diesen Wandel der Sozialstruktur hin zu „subjektiven“ Freiräumen und Pluralisierungen kann man in der Tat als eine neue Stufe der Modernisierung bezeichnen. Allerdings, da sich an vielen organisatorischen und systemischen Grundzügen der herkömmlichen Industriegesellschaft nichts ändert, sollte diese Stufe vielleicht nur als die einer „entwickelten Industriegesellschaft“ bezeichnet werden.

Zweitens: Der Wandel der westdeutschen Sozialstruktur im sozio-kulturellen und im „subjektiven“

Bereich, der durch die Konfrontation und Vereinigung mit der Sozialstruktur der DDR erst vollends sichtbar wurde, kommt nicht von ungefähr. Er beruht auf einer anderen Modernisierungsstrategie, die sich in Westdeutschland immer mehr in den Vordergrund geschoben hat. Man kann sie „subjektive“Modernisierung nennen.

Wie Fortschritt und Modernisierung zu realisieren seien, welche Ziel-und Programmplanungen maßgebend sein sollten, war in der Nachkriegszeit primär Sache des Marktes, wurde in den siebziger Jahren auch dem Wohlfahrtsstaat überantwortet und dann seit den achtziger Jahren immer mehr den einzelnen und öffentlichen Diskursen überlassen. Parallel lief der Wandel gesellschaftlicher und politischer Zielsetzungen vom Wohlstandsparadigma über das Wohlfahrtsparadigma zum Lebensweiseparadigma Dieser Wandel beruhte weniger auf überlegener Einsicht als auf schlechten Erfahrungen.

Die schlechten Erfahrungen bezogen sich zum einen paradoxerweise auf die Erfolge der Modernisierung: Die Steigerung des Wohlstandes und der individuellen Ressourcen machte erst recht sichtbar, daß Modernisierung zwar erfolgreich diese Mittel mehrte, aber die damit erreichbaren Ziele schwinden und fragwürdig werden ließ. Die „Subjektivierung“ der Modernisierung beruhte zum andern auf schlechten Erfahrungen im Hinblick auf Modernisierungsmzßer/o/ge: Vom Verkehrswahnsinn bis hin zur alltäglichen Funktionalisierung des Menschen brachte die Modernisierung so viele negativ bewertete Erscheinungen mit sich, daß weder Markt noch Staat, sondern nur „subjektive“ Kontrolle darüber übrig blieb, welche individuellen Optionen am Platz seien, welche rationalen Mittel zum Erreichen welcher Zwecke einzusetzen seien etc. Diese Subjektivität ersetzte keine Perspektive; sie kalkulierte Scheitern und Irrtum ein; sie erschien aber im Privaten und im Öffentlichen geeignet, vor Schlimmerem zu bewahren; sie setzte dabei viel Kreativität und Initiative frei.

Demgegenüber wurde Modernisierung in Ostdeutschland bis zuletzt „objektiv“ betrieben. Was Fortschritt hieß, wie individuelle Optionen aussehen sollten, welche Mittel zu welchen Zwecken einzusetzen seien, wurde nach „objektiven“ Maßstäben festgesetzt. Diese Art der Modernisierung zielte auf umfassende Funktionalisierung, auf Zweckmäßigkeit und auf Schutz vor Scheitern. Diese Strategie scheiterte gerade deshalb. Sie schadete der Ökonomie, Umwelt und persönlicher Kreativität gleichermaßen.

Drittens: Die deutsche Vereinigung und das Aufeinandertreffen so unterschiedlich (weit) modernisierter Sozialstrukturen hat sicher erst einmal ne­ gative Auswirkungen: Finanzierungslasten, verschärfte Verteilungskämpfe, Mentalitätsbrüche, das Zurückfallen ins Mittelfeld der europäischen Wohlstandshierarchie, insgesamt eine gewisse „Modernisierungspause“. Freilich gibt es auch Bereiche beschleunigter Modernisierung, vor allem, was die Stellung von Frauen im Erwerbsleben und die Freiräume von Frauen (z. B. bezüglich der Abtreibung) betrifft.

Für den sozialstrukturellen Wandel kann die Modernisierungsverzögerung nach der Wiedervereinigung aber auch positive Auswirkungen haben: Drei sollen abschließend angedeutet werden: -„Postmoderne“ Lebensstilparadigmata in Westdeutschland, seien sie privat oder öffentlich, die auf der Suche nach Weg und Ziel von der Realität abheben, können durch die Konfrontation mit den sehr handfesten „frühmodernen“ Problemen in Ostdeutschland auf den Boden von eindeutigen Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten zurückfinden. Regression auf der Modemitätsskala kann hilfreiche Denkpausen vermitteln. -Dieses Moratorium kann auch dazu genutzt werden, Formen „subjektiver“ Modernisierung weiterzuentwickeln und zu konsolidieren. Dies ist nötig, um den „cultural lag“ der herkömmlichen Industriegesellschaft, wo die technische, ökonomische und materielle Entwicklung den sozio-kulturellen Strukturen, dem Denken und dem Handeln der Menschen vorauseilte, dauerhaft in einen „institutional lag“ zu verwandeln. Dies ist nötig, um dem Bewußtsein möglichst vieler Menschen, um öffentlichen Diskursen, auch und gerade im Hinblick auf die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung, einen Vorsprung vor den institutioneilen, materiellen, technischen und ökonomischen Gegebenheiten zu verschaffen. Dies ist nötig, um Modernisierung von einem technologisch und ökonomisch vorwärtsgetriebenen, wie auf einer einspurigen Einbahnstraße selbstlaufenden Prozeß dauerhaft in einen kulturell und reflexiv gesteuerten Prozeß zu verwandeln. Die herkömmliche moderne Industriegesellschaft mit ihrer Ressourcenmehrung, Bildungsexpansion und Perfektionierung der sozialen Sicherung schuf die Möglichkeiten zu solch „subjektiver“ Selbststeuerung; sie lieferte mit Umweltzerstörung, Verkehrsinfarkt, Städtezerstörung, Randgruppen, Datenmißbrauch, neuer Armut etc. aber auch die Anlässe dazu. -Die „Modernisierungspause“ nach der Wiedervereinigung kann dabei helfen, Modernisierung als Gestaltung des Gewollten zu begreifen, das sehr unterschiedliche Entwicklungsrichtungen und -geschwindigkeiten einschlagen kann. Wir müßten uns dann an diese Bedeutung des Modernisierungsbegriffs gewöhnen, mit dem wir heute noch oft Geradlinigkeit und Altemativlosigkeit verbinden. Das heißt, daß Gesellschaftsmitglieder im Zuge der so verstandenen Modernisierung auch Sozialstruktur und Lebensbedingungen selbst verändern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Johannes Berger, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Die Moderne -Kontinuitäten und Zäsuren, Soziale Welt, Sonderband 4, Göttingen 1986, S. 6.

  2. Vgl. Robert Spaemann, Ende der Modernität?, in: Peter Koslowski/Robert Spaemann/Reinhard Löw (Hrsg.), Moderne oder Postmodeme?, Weinheim 1986, S. 21 ff.; Heinz-Günter Vester, Modernismus und Postmodemismus -intellektuelle Spielereien?, in: Soziale Welt, 36 (1985), S. 3-26; Stefan Hradil, Postmodeme Sozialstruktur?, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, in: Soziale Welt, Sonderband 7, Göttingen 1990, S. 125-150.

  3. Nach Alvin Toffler, Die dritte Welt. Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, München 1980, S. 58ff.

  4. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit WZB, Berlin, und ZUMA, Mannheim, Datenreport 1992, Bonn 1992, S. 39f.; vgl. Charlotte Höhn, Ulrich Mammey und Hartmut Wendt, Bericht 1990 zur demographischen Lage: Trends in beiden Teilen Deutschlands und Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 16 (1990), S. 135-205.

  5. Vgl. Josef Schmid, Strukturwandel oder „Finis Germaniae“ -Klassische Bevölkerungsstrukturen in Auflösung, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum 60. Geburtstag, Opladen 1985.

  6. Vgl. Stat. Bundesamt (Anm. 4), S. 48.

  7. Vgl. Stat. Bundesamt (Anm. 4), S. 48ff.

  8. Vgl. Ch. Höhn u. a. (Anm. 4), S. 141.

  9. Vgl. Stat. Bundesamt (Anm. 4), S. 64.

  10. Vgl. Stat. Bundesamt (Anm. 4), S. 92.

  11. Vgl. Bernd Guggenberger, Freizeitgesellschaft -Ohne Freizeit und Zeit, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Umbrüche in der Industriegesellschaft, Bonn 1990, S. 199 ff.

  12. Vgl. Horst Kem/Michael Schumann. Das Ende der Arbeitsteilung, Frankfurt/M. 1984.

  13. Vgl. Stat. Bundesamt (Anm. 4), S.98.

  14. Vgl. Wolfgang Glatzer und Richard Hauser, Von der Überwindung der Not zur Wohlstandsgesellschaft, in: Norbert Blüm und Hans F. Zacher (Hrsg.), 40 Jahre Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden 1989, S. 751 f.

  15. Karl Martin Bolte, Strukturtypen sozialer Ungleichheit, in: P. A. Berger/S. Hradil (Anm. 2), S. 45.

  16. Vgl. Peter Gluchowski, Freizeit und Lebensstile, Erkrath 1988, S. 89ff.; Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992.

  17. Vgl. Hartmut Lüdtke, Expressive Ungleichheit, Opladen 1989, S. 124.

  18. Vgl. Willi Herbert, Wertwandel in den 80er Jahren. Entwicklung eines neuen Wertmusters, in: Heinz Otto Luthe/Heiner Meulemann (Hrsg.), Wertwandel -Faktum oder Fiktion, Frankfurt/M. 1988, S. 140-160.

  19. Vgl. Helmut Berking und Sighard Neckel, Die Politik der Lebensstile. Zu einigen Formen nachtraditionaler Vergemeinschaftung in einem Berliner Bezirk, in: P. A. Berger/S. Hradil (Anm. 2), S. 481-500.

  20. Vgl. dazu den Beitrag von Rainer Geißler in diesem Heft.

  21. Vgl. Stefan Hradil, Epochaler Umbruch oder ganz normaler Wandel? Wie weit reichen die neueren Veränderungen der Sozialstruktur in der Bundesrepublik, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Anm. 11), S. 73-100.

  22. Vgl. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek 1979; Alain Touraine, Die postindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1972.

  23. Frei nach: Joachim Raschke, Politik und Wertwandel in westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/80, S. 36-45.

Weitere Inhalte

Stefan Hradil, Dr. phil., Dr. rer. pol. habil., geb. 1946; Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. -Veröffentlichungen u. a.: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft, Opladen 1987; (zus. mit Karl Martin Bolte) Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen, 19886; (Hrsg. zus. mit Peter A. Berger) Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile in: Soziale Welt, Sonderband 7, Göttingen 1990; (Hrsg.) Zwischen Bewußtsein und Sein, Opladen 1992 i. E.