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Das Ende der Neutralität. Die neutralen Staaten im Wandel der Weltpolitik | APuZ 47-48/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 47-48/1992 Das Ende der Neutralität. Die neutralen Staaten im Wandel der Weltpolitik Österreich: Was bleibt von den Besonderheiten? - Die Schweiz zwischen Isolation und Integration Irland: Noch immer ein ungewöhnlicher Fall?

Das Ende der Neutralität. Die neutralen Staaten im Wandel der Weltpolitik

Andreas Barz

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Regierungen der neutralen Staaten Europas sehen sich unvermittelt neuen Herausforderungen gegenüber, die sich aus den Veränderungen der internationalen Beziehungen ergeben. Diese Veränderungen sind mit der Tradition ihres jeweiligen neutralitätspolitischen Standpunktes -ein Reflex auf eine bestimmte, für jeden Staat verschiedene historische und politische Situation -nicht in Einklang zu bringen. In dem Artikel werden die traditionelle Rolle der neutralen Staaten in der internationalen Politik und eine Analyse der Neutralitätspolitik Finnlands, Schwedens, Österreichs sowie der Schweiz den Veränderungen der internationalen Beziehungen gegenübergestellt. Das Ende des Ost-West-Konflikts als spektakulärste Veränderung, vor allem aber die stärkere Integration der EG, die neue Bedeutung regionaler, in aller Regel national(-istisch) motivierter Konflikte und die neue Dimension des Nord-Süd-Konflikts bestimmen die politische Agenda und fordern von den neutralen Staaten eine andere Politik.

I. Neutralität und die Ost-West-Beziehungen

Zur Begrifflichkeit Das Recht auf Neutralität entwickelte sich als Gewohnheitsrecht und wurde 1907 in der V. Haager Konvention betreffend den Landkrieg, in der XIII. Haager Konvention betreffend den Seekrieg und 1923 durch die Haager Luftkriegsregeln als internationales Recht kodifiziert. Die Erklärung der gewöhnlichen, einfachen oder Adhoc-Neutralität erfolgt im Zusammenhang mit einer militärischen Auseinandersetzung. Rechte sowie Pflichten ergeben sich aus der Nichtbeteiligung am Krieg. Sie folgen dem Grundsatz der Gleichbehandlung der kriegführenden Staaten und fließen in eine Vielzahl detaillierter Regelungen für Land-, See-und Luftkriege in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht ein 1.

Die Begründung einer dauerhaften, immerwährenden bzw. permanenten Neutralität erfolgt durch einen für alle Beteiligten verbindlichen Vertrag oder aber durch eine von allen Betroffenen anerkannte einseitige Erklärung des neutralen Staates Sie begründet Rechte und Pflichten in Kriegs-und in Friedenszeiten -die sogenannten Vorwirkungen der permanenten Neutralität in militärischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht -, um Unabhängigkeit und Souveränität nach innen und außen zu sichern. Aufgabe und Ziel der Neutralitätspolitik ist es, im Spannungsfeld zwischen den Vorwirkungen einerseits und den Anforderungen aus politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der internationalen Beziehungen andererseits zu einer glaubwürdigen Haltung zu finden. Sie umfaßt die Außen-, Sicherheits-und Wirtschaftspolitik sowie diejenigen Bereiche der Innenpolitik, deren Vorschriften und Maßnahmen der Sicherung der Neutralität dienen. Die gleiche politische Haltung verfolgen traditionell oder faktisch neutrale Staaten. Im Unterschied zu den permanent neutralen Staaten ist ihre Neutralität nicht durch einen internationalen Vertrag garantiert Quasi-Neutralität ist die Sicherung der Souveränität eines Staates durch einen multilateralen Vertrag, der den Begriff „Neutralität“ zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber dem Staat die Rechte und die Pflichten der permanenten Neutralität auferlegt.

Um den neutralen Staaten als Akteuren der internationalen Politik gerecht zu werden, spricht Daniel Frei von der Neutralität als Funktion. Machtposition, Funktion und politischer Handlungsspielraum des Neutralen in einem Kräfte-dreieck mit zwei Konfliktparteien leiten sich aus sechs Dimensionen und deren Verknüpfung ab. Die Wirksamkeit einer funktional verstandenen Neutralität beruht auf grundsätzlichen politischen Einstellungen, Interessen und wechselseitigen Beziehungen innerhalb der Kräftekonfiguration sowie nach außen. Die Politik der Konfliktparteien gegenüber dem Neutralen und umgekehrt des Neutralen gegenüber den Konfliktparteien spielt eine bedeutende Rolle Sie wird durch die politischen Ziele in einem Konflikt definiert: Die sachliche Betroffenheit durch einen Konflikt, aber auch die geographische Nähe zu ihm beeinflussen die Festlegung dieser Ziele Sie reflektieren zugleich die Existenz und den Einfluß weiterer Kräftekonfigurationen. Die letzte von Frei genannte Dimension einer funktional verstandenen Neutralität berücksichtigt eine normative, Umständen ideologische und -unter moralisie rende Komponente, d. h. die grundsätzliche Hal-tung, die der Neutralität entgegengebracht wird. Mit ihr definieren und legitimieren Neutrale ihr Handeln in der politischen Umwelt Doch statt von der Möglichkeit einer ideologiekritischen Diskussion der Neutralität Gebrauch zu machen, wird sie vorwiegend als sicherheitspolitisches Phänomen behandelt 2. Neutrale Staaten als Akteure der internationalen Politik Als Akteure der internationalen Beziehungen spielten die neutralen Staaten eine im allgemeinen untergeordnete Rolle. Diese resultierte nicht zuletzt daraus, daß der Status als rechtliche Handlungsdeterminante Verhaltenserwartungen stabilisierte und so in gewisser Weise den Status quo institutionalisierte; die politische Handlungsdeterminante Glaubwürdigkeit der Neutralität verstärkte diese Entwicklung

Zu den klassischen Aufgaben neutraler Staaten gehören die Funktion einer Schutzmacht entsprechend dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und die sogenannten Guten Dienste zur Regulierung internationaler Konflikte politisch bedeutsam waren letztere für die Formulierung der Schlußdokumente der KSZE in Helsinki und ihrer Folgekonfe August 1949 und die sogenannten Guten Dienste zur Regulierung internationaler Konflikte 9; politisch bedeutsam waren letztere für die Formulierung der Schlußdokumente der KSZE in Helsinki und ihrer Folgekonferenzen 10. Im Sinne einer aktiv verstandenen Neutralitätspolitik traten die neutralen Staaten der UNO bei, obwohl die zeitweilige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der UNO Probleme aufwarf, da dieser militärische und nichtmilitärische Maßnahmen zur Beilegung eines bewaffneten Konfliktes beschließen kann. Die Mitgliedschaft in supranationalen Organisationen schied bisher in erster Linie wegen des damit verbundenen Verlustes souveräner politischer Entscheidungs-und Handlungsfähigkeit in allen Feldern der Politik aus 11.

Zu den Zielen neutraler Politik zählt das eines stabilen Gleichgewichts von Interessen in den internationalen Beziehungen. Stabilität ist unter anderem eine Folge des militärischen Gleichgewichts und der Abschreckungspotentiale; deswegen definieren neutrale Staaten ihre Neutralität auch verteidigungspolitisch. Das Niveau militärischer Rüstung soll einen potentiellen Angreifer wirksam abschrecken. Auf Veränderungen der internationalen Beziehungen reagieren die stabilitätsorientierten neutralen Staaten eher zögerlich; konkrete Schlußfolgerungen im Sinne einer kritischen Hinterfragung der Relevanz der Neutralität werden mit dem Hinweis auf die Glaubwürdigkeit nicht gezogen 12.

Die globale und regionale Dominanz des Ost-West-Konflikts engte den Spielraum in den meisten Bereichen der Politik ein, erleichterte es aber, neutrale Standpunkte einzunehmen und zu rechtfertigen. Während der Entspannungsphase konnten die Neutralen zwar ihren Handlungsspielraum erweitern, zugleich sahen sie sich aber mit dem Risiko einer undeutlichen politischen Haltung konfrontiert Eine stete Herausforderung stellte die sowjetische Politik gegenüber den Neutralen als Teil ihrer regionalen und globalen außenpolitischen Strategie dar; sie schwankte zwischen Konfrontation und Kooperation, Propaganda und Pragmatismus.

II. Die neutralen Staaten Europas

Die vier neutralen Staaten Europas verfügen über eine jeweils eigene Art der Neutralität. Obwohl der Ost-West-Konflikt als struktureller Weltkonflikt für sie Status und Funktion in Europa festlegte, entstand die spezifische Neutralität in einem jeweils anderen historischen bzw. politischen Kontext. Die Rolle des Querriegels Österreich (und der Schweiz) war eine andere als die der nordischen Neutralen: Als Subsystem innerhalb der Ost-West-Beziehungen waren Schweden und in besonderem Maß Finnland aus geopolitischen und militärstrategischen Erwägungen an der Wahrung des interdependenten nordischen Gleichgewichts interessiert. Darunter versteht man das Beziehungsgefüge zwischen den im Frieden atomwaffen-freien NATO-Mitgliedern Dänemark und Norwegen, dem faktisch neutralen Schweden sowie dem quasi-neutralen Finnland mit seinen besonderen Beziehungen zur damaligen Sowjetunion 1. Finnland Die Neutralität Finnlands ist eine Folge des Mißtrauens und des Sicherheitsbedürfnisses der Sowjetunion gegenüber dem seit 1917 souveränen Nachbarland. Diese Gründe veranlaßten bereits die Zaren, Finnland als autonomes Großfürstentum dem russischen Reich einzugliedern, und sie wurden in dem Vertrag über Freundschaft und gegenseitige Zusammenarbeit von 1948 nochmals dokumentiert

Geographische und geopolitische Faktoren beeinflussen die Außenpolitik Finnlands. Zwischen den drei Leitmotiven Wahrung der Souveränität des Staates, Vertrauen und Stabilität in den Beziehungen zur Sowjetunion sowie Sicherheit und Stabilität in Nordeuropa bestehen enge wechselseitige Zusammenhänge. Sie spiegeln das Dilemma und die Ambivalenz finnischer Außenpolitik wider, nämlich eine glaubwürdige Politik gegenüber dem Westen und eine akzeptable gegenüber dem Osten zugleich formulieren zu müssen Das Ende des Ost-West-Konflikts erlaubte es der Regierung, neue Akzente zu setzen. Die verstärkte Einbindung in bestehende internationale Kooperationsund Organisationsformen (vor allem über die KSZE), die Aufwertung der nordischen Kooperation und die Vertiefung der Beziehungen zu Westeuropa sind die zentralen Elemente der neuen außenpolitischen Agenda und sollen der finnischen Wirtschaft zudem neue Märkte erschließen

Die Beachtung von objektiven und subjektiven Sicherheitsinteressen der UdSSR bestimmte neben dem regionalen Aspekt der Stabilität des nordischen Gleichgewichts Ziele und Inhalte der finnisehen Sicherheitspolitik. Den rechtlichen Rahmen bilden der Vertrag von 1948, die Charta der UNO und die Schlußakte von Helsinki. Die finnischen Vorschläge für ein regionales Disengagement sind ein Charakteristikum dieser in erster Linie außen-politisch ausgerichteten sicherheitspolitischen Konzeption einer präventiven Krisendiplomatie. Die verteidigungspolitische Komponente orientiert sich am Prinzip der defensiv ausgerichteten bewaffneten Neutralität bei einer vergleichsweise geringen Ausstattung Angesichts der veränderten internationalen Beziehungen befürwortet die finnische Regierung die Bemühungen um ein kollektives Sicherheitssystem in Europa auf der Grundlage bestehender internationaler Kooperationsformen bei Wahrung der militärischen Bündnislosigkeit. Es scheint, als würde der regionale Aspekt der nordischen Balance in Richtung einer baltischen Balance erweitert

Die vertraglich abgesicherten wirtschaftlichen Bindungen an die Staaten Osteuropas führten de facto zu einer gewissen Isolation Finnlands von den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen Europas, vor allem aber zu einer folgenschweren Abhängigkeit von den sowjetischen Absatzmärkten. Die Wirtschaftspolitik erweckte den Eindruck eines Balanceaktes zwischen der Berücksichtigung vermeintlicher oder tatsächlicher Interessen der UdSSR und den Erfordernissen der eigenen Volkswirtschaft. Die Einbindung in die EFTA war nur über das ergänzende FINEFTA-Abkommen (Sonderabkommen Finnlands mit der EFTA von 1961) möglich; bis zum Beitritt 1985 mußte ein langer Weg zurückgelegt werden. Der EG trat Finnland reserviert gegenüber, obwohl es wie die anderen Neutralen mit ihr ein Freihandelsabkommen abschloß.

Der Zusammenbruch der osteuropäischen Märkte führte zwangsläufig zu krisenhaften Anpassungsprozessen der finnischen Wirtschaft. Lange Zeit zögerte die Regierung, eine klare Haltung zur Beitrittsfrage zu beziehen und favorisierte Alternativen über die nordische Zusammenarbeit, die Reorganisation der EFTA oder die Schaffung eines Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). Mittlerweile hat Finnland den Beitritt zur EG beantragt. Auf diese Weise sollen finnische Interessen bei der Weiterentwicklung der europäischen Integration vertreten werden, insbesondere hinsichtlich der Beachtung regionaler Aspekte wie der Stabilisierung der Transformationsprozesse in Osteuropa

Die Verzögerung der finnischen Entscheidungsprozesse wurde durch innenpolitische Zwänge mit-verursacht. Erst die jüngste wirtschaftliche Krise und die Beitrittsanträge der übrigen neutralen Staaten führten zunächst bei der Bevölkerung und danach bei den Parteien zu einem Stimmungswandel. Während die bis 1991 regierenden Sozialdemokraten und Konservativen vorsichtig für einen Beitritt votierten, lehnten die Zentristen diesen Schritt ab, änderten jedoch nach dem Wahlsieg ihre Haltung. Bei den Gewerkschaften stößt die Politik der Regierung auf Ablehnung, da sie Nachteile für ihre Klientel befürchten.

Aus regionalpolitischen und regionalstrategischen, letztlich realpolitischen Erwägungen heraus stellten vermutete und tatsächliche sowjetische Interessen einen wesentlichen Faktor finnischer Außen-, Sicherheits-und Wirtschaftspolitik dar. Diese Haltung wurde als „Finnlandisierung“ heftig kritisiert. Bei aller Polemik, die in dieser Wertung mitschwingt, gilt festzuhalten, daß die Konstruktion des Vertrages von 1948 die Verpflichtung zur Neutralität für den Fall einer Bedrohung oder eines Angriffs auf die UdSSR suspendiert hätte Im Herbst 1991 haben Finnland und die damalige Sowjetunion einen revidierten Vertrag unterzeichnet. 2. Schweden Bei Schweden handelt es sich um einen faktisch neutralen Staat, der seinen politischen Standpunkt selbst als „between power blocs" und seine Politik als „policy of not-alignment" definiert Nach dem Tod Gustav II. Adolf (1632) und dem Verlust der Großmachtrolle im 17. Jahrhundert entwickelte Schweden eine politische Tradition, mit der heute die Neutralität des Staates historisch begründet werden kann. Neutralitätsabkommen mit den europäischen Großmächten, die Erklärung der Neutralität bei Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkrieges sowie die Bemühungen um eine neutrale Position Nordeuropas in der Zwischenkriegszeit ermöglichten dem Land eine weitgehend friedliche Entwicklung.

Geopolitisch befindet sich Schweden isoliert vom Zentrum Europas in einer Randlage und war doch Pufferstaat zwischen Ost und West. Daraus leiteten sich drei Ebenen der Außenpolitik ab. Das regionale Element der nordischen Zusammenarbeit, deren weiterreichende schwedische Ambitionen im Sinne einer Intensivierung der Kooperationsformen bzw. möglicherweise der Institutionalisierung der nordischen Balance an unterschiedlichen Interessen der Nachbarn scheiterten, ergänzte ein kontinentales Element enger politischer Beziehungen zu den westeuropäischen Staaten. Global ist das Engagement zugunsten der Entwicklungsländer hervorzuheben. Auf diesen großen außenpolitischen Spielraum ist die rasche und reibungslose Anpassung der Außenpolitik an die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen zurückzuführen. Die Fortentwicklung bestehender internationaler Organisations-und Kooperationsformen, insbesondere der KSZE, soll künftige Entwicklungen angesichts der instabilen Lage im ehemaligen Ostblock in abschätzbare Bahnen lenken. Der Ostsee-raum bildet neben Nordeuropa den regionalen Schwerpunkt als integraler Bestandteil des Ausbaus der EG gemäß den Beschlüssen von Maastricht. Um in Zukunft flexibel auf neue Entwicklungen reagieren zu können und die Bündnisfreiheit aufrechtzuerhalten, wird eine inhaltliche Festlegung durch internationale Verträge vermieden

Die Sicherheitspolitik zielt auf die Verhinderung potentieller und die Milderung akuter Konflikte mit Hilfe friedlicher Mittel der Konfliktregulierung bzw. -lösung. Kern der Sicherheitspolitik war die Wahrung der politischen und militärischen Stabilität im strategisch wichtigen Nordeuropa. Ein aufwendiges Verteidigungssystem mit einer aktiven militärischen und einer passiven Verteidigungskomponente, die zivile, wirtschaftliche und psychologische Elemente enthält, signalisiert potentiellen Angreifern einen hohen Eintritts-und Aufenthaltspreis Das Aufbrechen überwunden geglaubter nationaler Konflikte stellt eine neue sicherheitspolitische Herausforderung dar, welche die Friedensdividende aus dem Ende des Ost-West-Konflikts aufzehrt. Bündnisfreiheit, nationale Verteidigungsfähigkeit und Rüstungskontrolle im globalen Rahmen sollen angesichts neuer Instabilitäten die nationale Sicherheit gewährleisten. Mit dem Engagement für die Gründung der EFTA trug das OECD-Mitglied Schweden einerseits der Verflechtung der Weltwirtschaft Rechnung, andererseits garantierte diese Politik die Glaubwürdigkeit der Neutralität und einen unabhängigen wirtschaftlichen Standort im Verein mit den anderen neutralen Staaten. Angesichts erstens der Schwierigkeiten, multilateral über EFTA, Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder nordeuropäische Kooperation die Beziehungen zur EG zu gestalten, und zweitens des Anpassungsdruckes an die internationalen Veränderungen hat die schwedische Regierung mittlerweile den Antrag auf Aufnahme in die EG in Brüssel überreicht. Er ist mit der Feststellung verknüpft, daß die Neutralität integraler und unverzichtbarer Teil schwedischer Politik ist

Obwohl die Neutralität Teil des Selbstverständnisses der Schweden ist, bejahen 67 Prozent der Bevölkerung den EG-Beitritt. Allerdings ist die Zustimmung nicht ohne Vorbehalte. Diese äußern sich in Befürchtungen, der Beitritt würde das Ende des Sozialstaates bedeuten. Daneben zeigen sich unterschwellige Ängste vor den sogenannten vier Freiheiten der EG: der Freiheit des Kapital-, Waren-und Dienstleistungsverkehrs sowie der Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Parteipolitisch ist der Beitritt so gut wie unumstritten. Lediglich die Grünen und die Kommunisten votierten bei der Abstimmung im Reichstag gegen die Pläne der Regierung.

Schwedens Neutralitätspolitik wird nicht widerspruchslos hingenommen. Technologietransfer und Rüstungsexporte beschädigten das Image. Kürzungen im Rüstungsetat und die Affäre der sowjetischen U-Boote in schwedischen Küstengewässern nährten Zweifel an der Glaubwürdigkeit, die angesichts zunehmender Interdependenzen in allen Bereichen angeschlagen ist 3. Österreich Im Unterschied zur Neutralität Schwedens und Finnlands ist die Österreichs international durch den Staatsvertrag von 1955 garantiert und national im Bundesverfassungsgesetz über die immer-währende Neutralität aus dem gleichen Jahr verankert. Parallel zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO endete kurz nach dem Tod Stalins mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages das Tauziehen der beiden Pol-mächte USA und vor allem der UdSSR um die politische Rolle und den Status Österreichs in Mitteleuropa.

Die militärische, völkerrechtlich eng determinierte Neutralitätskonzeption wurde unter Außenminister Waldheim und danach unter Bundeskanzler Kreisky um eine außenpolitische Komponente hin zur aktiven Neutralitätspolitik erweitert Das neutrale Österreich öffnete sich mit einer Mischung aus Liberalisierung (Systemöffnung) und Produktionismus (Systemschließung) der internationalen Politik. Das schweizerische Modell, das Pate für Österreichs Neutralität gestanden hatte, wurde um Elemente der schwedischen Variante ergänzt. Außenpolitische Schwerpunkte bildeten die Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern, den neutralen und blockfreien Staaten, den Donaustaaten sowie die Mitarbeit in der UNO. Die politischen Beziehungen zu Westeuropa wurden erst nach 1983 ausgebaut. Seither entwickelte die Westeuropapolitik eine Dynamik, die für die neutralen Staaten untypisch war

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ergänzte die Regierung die Grundlinien ihrer Außenpolitik um neue Elemente: die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit (Zentraleuropäische Initiative [ZEI] der Staaten Österreich, Italien, Ungarn, Polen, der CSFR in ihrer jetzigen Form sowie Slowenien und Kroatien) und die Aufwertung der politischen Rolle von KSZE und UNO. Im Verein mit den westeuropäischen Staaten zielt die Ostpolitik Wiens auf die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der Transformationsprozesse in den Staaten Ost-und Südosteuropas. Die EG-Politik ist in diesem Sinne um das Ziel der Osterweiterung ergänzt worden.

Kennzeichnend für die österreichische Neutralitätskonzeption ist der Umfang und die Bedeutung, die der verteidigungspolitischen Komponente der Sicherheitspolitik beigemessen wird. Das Verteidigungskonzept orientiert sich an der Zielvorstellung einer umfassenden, d. h. militärischen, wirtschaftlichen, zivilen und geistigen Verteidigung Die Glaubwürdigkeit der Verteidigungsanstrengungen wird durch eine außenpolitische Komponente untermauert, um das Machtgleichgewicht und die politischen Beziehungen in Zentraleuropa zu stabilisieren. Ziele und Umfang der Politik werden mittlerweile auf Osteuropa ausgeweitet. Nationalitätenkonflikte und waffentechnische Entwicklungen erfordern ein angepaßtes sicherheitspolitisches Konzept, das unter Beibehaltung der Neutralität den Beitritt zu einem System kollektiver Sicherheit zuläßt

Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ist ein wichtiges Kriterium der Glaubwürdigkeit neutraler Positionen. Das OECD-Mitglied Österreich trat aus neutralitätsrechtlichen Erwägungen der EG nicht bei, engagierte sich allerdings bei der Gründung der EFTA. 1986 wich das von einer großen Koalition aus ÖVP und SPÖ regierte Land von seiner bisherigen Politik ab. Nachdem Alternativen wie ein koordiniertes Vorgehen im Rahmen der EFTA diskutiert und wieder verworfen worden waren, entschloß sich die Regierung 1991, den Antrag für die Aufnahme in die EG zu stellen, freilich in Verbindung mit der Forderung, die Neutralität wahren zu wollen

Die Anpassungsprozesse in den genannten Politikbereichen sind innerhalb der Parteien der Großen Koalition unumstritten. Lediglich die Grünen verschließen sich mit dem Hinweis auf die immerwährende Neutralität den genannten Entwicklungen.

Bedenklich ist ein Stimmungsumschwung, der Teile der Bevölkerung erfaßt hat und Befürchtungen laut werden läßt, die vier Freiheiten innerhalb der EG würden österreichischen Interessen schaden

Neutrale sind der Kritik ausgesetzt, da -wie im Falle Österreichs -Neutralität zwar völkerrechtlich garantiert, nicht aber inhaltlich definiert ist. Dennoch beschränkte sich die Kritik an Österreich auf Einzelfälle wie die Frage des Technologietransfers, der Rüstungsexporte in Spannungsgebiete oder der Glaubwürdigkeit der Verteidigungsanstrengungen angesichts moderner Waffensysteme. 4. Schweiz Die immerwährende bewaffnete Neutralität der Schweiz ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Dieser begann mit der Niederlage der Schweizer Kantone 1515 bei Marignano gegen Frankreich. Sie markiert das Ende der Großmachtpolitik der Kantone und den Beginn des Bestrebens, sich abseits der Politik der Groß-mächte zu halten. 1815 erkannten die europäischen Großmächte die dauernde Neutralität der Schweiz an

Kennzeichnend ist der instrumentelle Charakter der Neutralität für die Zielbestimmung der Außenpolitik, d. h. für Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit des Staates. Im Sinne einer aktiven Neutralitätspolitik auf der Grundlage völkerrechtlicher Bestimmungen füllen die klassischen Aufgaben einer Schutzmacht, die Guten Dienste sowie die Mitgliedschaft in der UNO, inhaltlich diese Ziele aus. Außenpolitik wird kooperativ, weltweit und mehrdimensional betrieben. Doch trotz des Willens zu Mitgestaltung, Mitbestimmung und Mitverantwortung gewinnt der Beobachter den Eindruck der Übervorsichtigkeit. Die Neuformulierung der außenpolitischen Leitlinien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Das Bekenntnis zu internationaler Solidarität, Kooperation und Integration in bestehende internationale Organisationen, zunächst in erster Linie die KSZE und die UNO, danach in ein kollektives europäisches Sicherheitssystem, wird durch beharrende Tendenzen neutralisiert. Diese äußern sich in der Entscheidung, auf die Neutrali-tat in ihrem völkerrechtlichen Kemgehalt nicht zu verzichten

Die sicherheitspolitischen Leitziele Unabhängigkeit, Handlungsfreiheit und Integrität sind in ein Konzept der Gesamtverteidigung eingebunden. Dessen außenpolitische Komponente beinhaltet Friedenssicherung, Konflikt-und Krisenbewältigung sowie Rüstungskontrolle in den regionalen und globalen internationalen Organisationen. Die zentrale Komponente ist die Verteidigungspolitik; sie umfaßt militärische, wirtschaftliche, zivile und psychologische Elemente. Obwohl die außenpolitische Komponente die Bedeutung der bewaffneten Neutralität relativiert hat, bleibt doch die militärische Tradition ein wesentlicher Teil des schweizerischen Selbstverständnisses. Da die Beschlüsse von Maastricht hinsichtlich der außen-und sicherheitspolitischen Integration keine tragfähige sicherheitspolitische Struktur implizieren, werden für die Sieherheitspolitik keine Schlußfolgerungen abgeleitet. Ein Beitritt der Schweiz zur EG hätte damit für die Neutralität keine Folgen

Pragmatismus und Realismus kennzeichnen die Wirtschaftspolitik der Schweiz. Als Reaktion auf die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 engagierte sie sich bei der Gründung der EFTA. Der Freihandelsvertrag mit der EG 1972 fügte sich in einen Anpassungsprozeß an die Herausbildung wirtschaftlicher Interdependenzen ein. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit der Neutralität wurden eine Assoziation oder ein Beitritt zur EG stets abgelehnt. Ab Mitte der achtziger Jahre setzte die konsequente Haltung der drei anderen neutralen Staaten die Schweiz einem enormen Druck aus. Dies führte schließlich dazu, daß sie ungeachtet neutralitätsrechtlicher Vorbehalte ihre Politik einer grundsätzlichen Revision unterzog. Allen Bedenken zum Trotz bewegt sich die Politik in Richtung eines Beitrittes zur EG

Die Haltung gegenüber der EG ist innenpolitisch umstritten. Die konservative Regierungskoalition äußert sich im Gegensatz zur oppositionellen Sozialistischen Partei eher reserviert. Einige Politiker vertreten eine pointiert ablehnende Haltung. Die Gewerkschaften lassen im Gegensatz zur Arbeitgeberseite Zustimmung erkennen. Im allgemeinen neigen die Schweizer unter Bezugnahme auf und aus Sorge um ihre Traditionen dazu, Alternativen zum Beitritt zur EG den Vorzug zu geben. Der Neutralität wird offenkundig eine historisch gewachsene innerstaatliche Integrations-und Identifikationsfunktion beigemessen. Auffallend ist bei allem Pragmatismus die Diskrepanz zu dem Wunsch nach außenpolitischer Zurückhaltung. Dieser Widerspruch erklärt sich möglicherweise aus dem Mißtrauen gegenüber der offiziellen Politik, welche die Position einer aktiven außenpolitischen Linie verficht

III. Die Neutralität und der Wandel * der internationalen Beziehungen

1. Parameter des Wandels Eine Vielzahl politischer, ökonomischer, ökologischer und kultureller Problemstellungen und Handlungszusammenhänge sind global vernetzt und nur noch durch Koordination und Kooperation von Staaten und gesellschaftlichen Akteuren zu lösen. Die Globalisierung findet ihre Entsprechung im Prozeß der Regionalisierung, d. h.der Verdichtung der supra-und internationalen Zusammenarbeit in geographisch bzw. geopolitisch und historisch bzw. kulturell zusammenhängenden Räumen. Beide Prozeßmuster wirken als Transregionalisierung zusammen: Interdependenzen ziehen sowohl Kooperation und Koordination als auch Konkurrenz und Konflikte zwischen den Regionen nach sich. Konterkariert werden diese Entwicklungen durch die Re-Nationalisierung der internationalen Politik Inhaltlich ergänzen Ökonomisierung und Demokratisierung die genannten Entwicklungen.

(Im Zuge dieser prozessualen Veränderungen haben sich die internationalen Kräfteverhältnisse in ihrer räumlichen und inhaltlichen Dimension verändert. Gesamtpolitisch ergibt sich auf globaler Ebene eine pentagonale Struktur aus Westeuropa, den USA, Japan, China und Rußland. Nuklear-strategisch bleibt eiterhin das Dreieck USA, Ruß-land und China bestehen, wohingegen sicherheitspolitisch ein Dreieck USA, Rußland und Westeu-ropa bestimmend sein wird. Die Weltwirtschaft dominieren die USA, Japan und Westeuropa Den Status von Staaten im multipolaren, multilateralen und vernetzen System bestimmen Problemfindungs-und Problemlösungskompetenz. Die Transnationalisierung der internationalen Politik weist den nichtstaatlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren ein entscheidendes Maß an Handlungskompetenz und -fähigkeiten zu -über Staatsgrenzen hinweg und unkontrolliert von den Institutionen des Staates.

Eine weitere wichtige Veränderung bestimmt die internationale Politik: Die weltpolitische Dominanz des Ost-West-Konflikts ist der Konfliktvielfalt der Ost-West-Beziehungen gewichen, die für Europa mit einer Transformation von schwer regelbaren Konflikten hin zu leichter regelbaren einherging Dennoch bleibt das internationale System auch in Zukunft ein anarchisches Selbsthilfesystem. Die Verteilung und Aneignung von Werten sind Machtfragen und führen als solche zu Konflikten, deren Ursachen sich allerdings vom Politikfeld Sicherheit hin zu Verteilungsfragen von Wohlfahrt und Herrschaft verlagern. Wie die Annexion Kuwaits durch den Irak zeigt, versuchen regionale Vormächte, die weltpolitische Entspannung zum Ausbau ihrer Macht zu nutzen. Die militärischen und politischen Auseinandersetzungen mit dem Irak zeigen, wie schwierig es ist, nationalistisch motivierte Machtpolitik in ihre Schranken zu weisen.

Den supra-und internationalen Organisationen erwachsen aus den Veränderungen neue Verantwortung und neue Kompetenzen. So steht die Integrationspolitik der EG unter einem enormen Anpassungsdruck, dem sie bislang vorwiegend mit den bekannten Instrumenten Rechnung trägt. Qualitative inhaltliche oder organisatorische Veränderungen sind aus verschiedenen Gründen nur schwer zu realisieren. Neben der Korrektur struktureller und institutioneller Unvereinbarkeiten sowie organisatorischer Defizite steht die EG vor der Entscheidung über Erweiterung oder Vertiefung der Integration.

Nach der Auflösung des Warschauer Paktes sieht sich die NATO mit der Frage nach ihrem Fortbestehen konfrontiert. Wenn auch ihre Leistungsfähigkeit nicht angezweifelt wird, so sind doch Bündniszweck und Bündnisgebiet neu zu bestimmen. Den politischen Aufgaben kommt in Zukunft größere Bedeutung zu: Nationalistisch motivierte Konflikte in Europa entziehen sich dem Instrumentarium einer Organisation, die ein alt gewordenes Kind des Kalten Krieges ist. Die Gründung eines nordatlantischen (NATO) Kooperationsrates und die Möglichkeit, der KSZE Truppen und Logistik für friedenserhaltende Maßnahmen zur Verfügung zu stellen, weisen in die nächste Zukunft Die KSZE hat nach ersten Schritten der Institutionalisierung (z. B. das Sekretariat in Prag) auf ihrer letzten Gipfelkonferenz eine weitreichende Veränderung beschlossen: Sie stellt nun eine regionale Abmachung nach Kapitel 8 der Charta der Vereinten Nationen dar Dies gilt entsprechend für die UNO. Kompetenzen, Entscheidungsmechanismen und interne Struktur schwächen die Weltorganisation. Eigene Streitkräfte im Rahmen der kollektiven Sicherheit sind ein bedeutendes, aber nicht das wichtigste Thema: Ökologie, Unterentwicklung, Rüstung und Kriege in der Dritten Welt sind brennende Probleme. 2. Folgerungen für die Neutralität Die neutralen Staaten Europas unterscheiden sich deutlich in Entstehung und Ausformung ihrer Neutralität. Sie stellt für alle Beteiligten im jeweiligen historischen Kontext eine akzeptable Lösung dar. Als historisch bedingtes Konzept hat sie angesichts der gegenwärtigen Veränderungen der internationalen Beziehungen für die zukünftige Gestaltung der Weltpolitik ihre Relevanz weitgehend verloren. Neutralitätspolitik im Frieden ermöglicht Neutralität in einem bewaffneten Konflikt. Kriege in den Entwicklungsregionen der Welt machen diese Haltung fragwürdig. Dies zeigte die lebhafte Diskussion um die Rolle der Neutralität angesichts der vom Sicherheitsrat der UNO gebilligten Militäraktion gegen den Irak 1991. In vergleichbaren weltpolitischen Situationen wären die Neutralen erneut mit dem Dilemma konfrontiert, Solidarität mit der Staatengemeinschaft zu üben oder neutralitätsrechtlich begründete Zurückhaltung zu praktizieren. Neutralität, nationale Souveränität und internationale Solidarität stehen in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Ein Staat, dessen Souveränität von der Beachtung völker-rechtlicher Grundsätze abhängt, kann sich nicht Maßnahmen entziehen, die auf dem Boden des Völkerrechts zu dessen Schutze dienen.

Nationalstaatliche Souveränität ist Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der Neutralität; Interdependenzen und transnationale Beziehungen entlarven aber die Souveränität des Nationalstaates als Mythos. Zugleich vermindern die beiden Phänomene die Bedeutung militärischer Macht, obwohl für die Neutralen eine Akzentverschiebung in den militärischen Bereich festzustellen ist, mit der sie ihre Rolle definieren und Glaubwürdigkeit demonstrieren. Angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit militärischer Auseinandersetzungen in Europa wird es schwierig, Neutralität im Frieden zu definieren. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist keine neue Sicherheitsordnung erkennbar, aus der heraus Neutralität begründbar wäre. Die Konfliktursachen der Gegenwart -wirtschaftliche Interdependenzen, Schutz der Umwelt, soziale Frage, Transformationsprozesse -erfordern neue und andere politische Strategien Damit bleiben den Neutralen nur wenige Alternativen neben der Vollmitgliedschaft in der EG, die allerdings ein Beharren auf den inadäquaten Standpunkten der Neutralitätspolitik ausschließt. Neutralitätsvorbehalte würden die ohnehin schwierigen EG-internen Entscheidungsprozesse lahmlegen. Mit ihrer praktizierten Politik weichen die Neutralen von der offiziell und möglicherweise aus innenpolitischen Zwängen heraus verfolgten Linie ab. Dies käme der von Frei genannten sechsten Dimension nahe -zwar nicht im Sinne der Legitimation außenpolitischer Isolation, wohl aber im Sinne einer Befriedung notwendiger Anpassungsprozesse an die Veränderungen der internationalen Beziehungen.

Dabei ist die Notwendigkeit einer Diskussion über Inhalte und Ziele der Neutralität unbestritten. Sie dreht sich zumeist im Kreise und benennt Politikinhalte, die ohnehin Bestandteil aktiver Neutralitätspolitik sind und lediglich in einem neuen politischen Kontext mit anderen Begriffen benannt werden. Die häufig genannten politischen Ziele -Friedenswahrung, Brückenfunktion, Beitrag zum Abrüstungs-und Rüstungskontrollprozeß, kollektive europäische Friedensordnung -sind Ziele aller KSZE-Staaten, mithin keine typischen Ziele neutraler Politik Auch ein interaktives Modell der Neutralität der Konfliktlösung und Konfliktbegrenzung beschreibt keine ausschließlich neutrale Position Problematisch sind vor allem Ansätze, die angesichts neuer Konfliktkonstellationen und Kräftekonfigurationen einen differentiellen Begriff der Neutralität bestimmen. Dieser ließe eine Mitgliedschaft in supranationalen Organisationen zu, sofern der Bereich der Sicherheitspolitik ausgeklammert wird oder wenn damit deren Einbindung in kollektive Sicherheitssysteme verknüpft ist -in Kenntnis interdependenter, politikbereichsübergreifender Tendenzen.

Dessen ungeachtet orientiert sich die Politik pragmatisch an den realen Verhältnissen. Dies belegen die EG-Beitrittsanträge und die außenpolitischen Neuorientierungen Finnlands, Schwedens, Österreichs und der Schweiz. Ähnliches gilt für Nordeuropa: Mit dem Zerfall der UdSSR in souveräne Republiken entsteht ein neuer geopolitischer Bezugsrahmen, der möglicherweise in ein regionales Untersystem führt, das in die Regionalismusdiskussion im Sinne der Region als staatenübergreifender, kooperativer Einheit eingebettet wäre Dies folgt aus der Einsicht, daß eine nordische, nun baltische Zusammenarbeit ein Element im Rahmen der Entwicklung integrativer Einheiten in Europa darstellt Die neue Konfliktkonfiguration in Europa unter den Bedingungen eines vernetzten, interdependenten und transnationalen Systems entzieht auch einer dynamisch interpretierten Neutralität den Boden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ulrich Scheuner, Die Neutralität im heutigen Völkerrecht, Köln-Opladen 1969; Josef Köpfer, Die Neutralität im Wandel der Erscheinungsformen militärischer Auseinandersetzungen, München 1975.

  2. Vgl. Manfred Rotter, Die dauernde Neutralität, Berlin 1981, S. 31-51; Stephan Verosta, Die dauernde Neutralität, Wien 1967, S. 66ff., 79ff.; Michael Schweitzer, Dauernde Neutralität und europäische Integration, Wien-New York 1977, S. 95ff., 109ff.

  3. Vgl. S. Verosta (Anm. 2), S. 18ff.; M. Schweitzer (Anm. 2), S. 34f.

  4. Vgl. Daniel Frei, Dimensionen neutraler Politik, Genf 1969, S. 15ff., 58ff.

  5. Vgl. ebd., S. 109ff., 127ff.

  6. Vgl. ebd., S. 154ff.

  7. Vgl. als neueres Werk einer vorwiegend militärstrategischen Sichtweise Ephraim Karsh, Neutrality and Small States, London-New York 1988, S. 174ff.

  8. Vgl. Hans Peter Thalberg, The European Neutrais and Regional Stability, in: Hanspeter Neubold/Hans Peter Thalberg (Hrsg.), European Neutrais in International Affairs, Wien 1984, S. 126ff.; M. Rotter (Anm. 2), S. 18ff., 96ff.

  9. Vgl. Hans Haug, Neutralität und Völkergemeinschaft, Zürich-St. Gallen 1962, S. 153 ff., 179.

  10. Vgl. zu dieser Haltung Joseph Kruzel, The European Neutrais. National Defense and International Security, in: Comparative Strategy, (1989) 3, S. 297-315.

  11. Vgl. Bernard von Plate, Zur Position und Rolle der neutralen Staaten in der Entwicklung der europäischen Ost-West-Beziehungen, Ebenhausen 1975, S. 35 ff.

  12. Vgl. grundlegend Arne Brundtland, The Nordic Balance, in: Cooperation and Conflict, (1966), S. 3Off.; Heinz Schneppen, Nordeuropa zwischen Integration und Isolation, in: Europa-Archiv, (1987) 9, S. 269 ff.

  13. Vgl. zur Geschichte der finnischen Neutralität Peter H. Krosby, Friede für Europas Norden, Düsseldorf 1981, S. 120ff.; Daniel Woker, Die skandinavischen Neutralen, Bem 1978, S. 22ff.

  14. Vgl. Osmo Apunen, Geographica! and Political Factors in Finland’s Relation with Soviel Union, in: Yearbook of Finnish Foreign Policy, (1977), S. 21 ff.; Ephraim Karsh, Finland: Adaption and Conflict, in: International Affairs, (1986) 2, S. 262 ff.; ders., Geographical Determinism. Finnish Neutrality Revisted, in: Cooperation and Conflict, (1986) 1, S. 52ff.

  15. Vgl. Finland, Ministry for Foreign Affairs, Government’s Report on Finnish Security Policy to the Foreign Affairs Committee of Parliament on 24 October 1990, Helsinki 1990, S. 5ff.; Botschaft von Finnland, Finnland und die EG-Mitgliedschaft, in: Finnland Information, (1992), S. 67ff.

  16. Vgl. Raimo Väyrynen, Die finnische Verteidigungspolitik und ihre militärische Infrastruktur, in: Annemarie Große-Jütte/Dieter S. Lutz (Hrsg.), Neutralität -eine Alternative?, Baden-Baden 1982, S. 142.

  17. Vgl. Esko Aho, Rede vor der EG-Debatte im Reichstag Finnlands, in: Finnland heute, (1992), S. 3.

  18. Vgl. Botschaft (Anm. 17); Mervi Porevuo, Finnish Neutrality and European Integration, in: Yearbook of Finnish Foreign Policy, (1989), S. 18ff.

  19. Vgl. Sakari Jutila, Finlandization for Finland and the World, Bloomington, 111. 1983, S. 46ff.; V. I. Punasalo, The Reality of . Finlandization 1: Living under the Soviet Shadow, in: Conflict Studies, (1978), S. 4ff.; Hans-Peter Schwarz, Finnlandisierung? Ein Reizwort: Wirklichkeit und Aktualität, in: Die Politische Meinung, 181 (1978), S. 9ff.; Georges Soutou, La Finlandisation ou la Dpendence Consentie?, in: Politique Internationale, (1980), S. 40ff.

  20. Vgl. Nils Andren, Power Balance and Non-Alignment, Stockholm 1967, S. 191ff.; ders., Sweden: Neutrality, Defense, Disarmament, in: H. P. Neuhold/H. P. Thalberg (Anm. 8), S. 40ff.

  21. Vgl. Sten Andersen vor dem Reichstag am 30. November 1990; Ingvar Carlsson, Rede auf dem Gipfeltreffen der KSZE in Paris am 19. November 1990; Margaretha af Uglas (Außenministerin von Schweden) vor dem Institute of International Affairs in Stockholm am 4. Dezember 1991; dies., Regierungserklärung anläßlich der außenpolitischen Debatte am 26. Februar 1992.

  22. Vgl. William Taylor, Sweden, in: Paul Cole/William Taylor (Hrsg.), Nordic Defense, Lexington, Mass. 1985, S. 127ff.; Wolfgang A. Schmidt, Die schwedische Sicherheitspolitik, St. Gallen 1983, S. 192ff.

  23. Vgl. P. Luif (Anm. 11), S. 184ff.

  24. Vgl. Björn Hägelin, Grenzen der Sicherheit. Politik und Wirtschaft in Schweden, in: A. Große-Jütte/D. S. Lutz (Anm. 18), S. 114ff.; Paul Luif, USA-Schweden: Der Konflikt um den Technologietransfer, in: Zukunft, (1985), S. 17ff.

  25. Vgl. Konrad Ginther, Wandlungen der österreichischen Neutralitätskonzeption, in: Europa-Archiv, (1976) 8, S. 275ff.; Manfred Rotter, Bewaffnete Neutralität. Das Beispiel Österreich, in: Militärpolitik Dokumentation, (1984) 8, S. 11 ff.; Alfred Verdross, Die immerwährende Neutralität Österreichs, Wien 1982, S. 44ff.

  26. Vgl. Paul Luif, Österreich zwischen den Blöcken: Bemerkungen zur Außenpolitik des neutralen Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Politik, (1982) 2, S. 210ff.

  27. Vgl. Alois Mock, Neutralität und Solidarität als Säulen der österreichischen Außenpolitik. Rede vor der Gesellschaft für Außenpolitik/Liga für die Vereinten Nationen am 6. März 1991, S. 10ff.; Ernst Sucharpia/Stefan Lehne, Die Ostpolitik Österreichs vor und nach der Wende, in: österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (1991) 3, S. 305 ff.

  28. Vgl. Wilhelm Kuntner, Militär-und Sicherheitspolitik neutraler Staaten. Ein österreichischer Beitrag, in: A. Große-Jütte/D. S. Lutz (Anm. 18), S. 85ff.; . M. Rotter (Anm. 27), S. 16ff.

  29. Vgl. A. Mock (Anm. 29), S. 12; E. Sucharpia/S. Lehne (Anm. 29), S. 310f.; Interview mit Alois Mock, in: Profil vom 3. Februar 1992.

  30. Vgl.den Bericht der Arbeitsgruppe für Europäische Integration an die Bundesregierung, Wien 1988, S. 3L; A. Mock (Anm. 29), S. 11; Wiens Neutralität macht der EG Sorgen, in: Süddeutsche Zeitung vom 1. August 1991, S. 2.

  31. Vgl. Anfrage des Abgeordneten Voggenhuber an den Bundeskanzler vom 11. März 1992; Nationales Psychodrama, in: Die Zeit vom 3. April 1991, S. 57ff.

  32. Vgl. Wilhelm Mark, Die Sicherheitspolitik der Schweiz, in: A. Große-Jütte/D. S. Lutz (Anm. 18), S. 50ff.

  33. Vgl. Bericht der Studiengruppe zu Fragen der Schweizerischen Neutralität, Schweizerische Neutralität auf dem Prüfstand -Schweizerische Außenpolitik zwischen Kontinuität und Wandel, o. O. 1992, S. 14ff.; Jean Freymond, La Suisse en Europe, in: Cadmos, (1991) 54, S. 55ff.

  34. Vgl. Bericht (Anm. 35), S. 18f.

  35. Vgl. Dietrich Schindler, Die EG und die schweizerischen Eigenheiten, in: Schweizer Monatshefte, (1989) 11, S. 892 ff.

  36. Vgl. Daniel Frei, Außenpolitik im Spiegel der öffentlichen Meinung, in: Schweizerische Vereinigung für Politische Wissenschaft -Jahrbuch, (1988), S. 51ff.; Sigmund Widmer, Parlament und Außenpolitik, in: ebd., S. 43f.

  37. Vgl. Wilfried von Bredow/Thomas Jäger, Die Außenpolitik Deutschlands, in: Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/91, S. 27 ff.

  38. Vgl. Werner Link, Handlungsmaximen deutscher Außenpolitik, in: Jahrbuch für Politik, (1991), Halbband 1, S. 79ff.

  39. Vgl. Volker Rittberger/Michael Zürn, Transformation der Konflikte in den Ost-West-Beziehungen, in: Politische Vierteljahresschrift, (1991) 3, S. 404ff.

  40. Vgl. Erhard Forndran, Anmerkungen zur neuen sicherheitspolitischen Konstellation, in: Gegenwartskunde, (1991) 2, S. 147 ff.

  41. Vgl. Heinz Magenheimer, Zur Neukonstellation der Mächte in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/91, S. 28ff.; Michael Staack/Oliver Meier, Die KSZE und die Europäische Sicherheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 13/92, S. 18ff.

  42. Vgl. Philip Windsor, Options for Neutral Staates, in: Richard E. Bissel/Curt Gasteyger (Hrsg.), The Missing Link. West European Neutrais and Regional Stability, Durham, N. C. -London 1990, S. 180ff.

  43. Vgl. Ulrich Albrecht/Burkhard Auffermann/Pertti Joenniemi, Neutrality. The Need for a Conceptual Revision (Occasional Papers, Nr. 35), Tampere (Finnland) 1988, S. 35ff.

  44. Vgl. Pertti Joenniemi, The Peace Potential of Neutrality, in: Bulletin of Peace Proposals, (1989) 2, S. 178 ff.

  45. Vgl. Nils Andrn, On the Meaning and Uses of Neutrality, in: Cooperation and Conflict, (1991) 3, S. 79 ff.

  46. Vgl. Manfred Rotter, Von der integralen zur differentiellen Neutralität, in: Europäische Rundschau, (1991) 3, S. 33ff.

  47. Vgl. Ole Waever, Nordic Nostalgia: Northern Europe after Cold War, in: International Affairs, (1992) 1, S. 96ff.; Lena Jonson, The Role of Russia in Nordic Regional Cooperation, in: Cooperation and Conflict, (1991) 3, S. 142ff.

  48. Vgl. Bo Strath, The Illusory Nordic Alternative to Europe, in: Cooperation and Conflict, (1980) 2, S. 104ff.; Bengt Sundelius, Foreign Policies of Northern Europe, Boulder 1982, S. 180ff.

Weitere Inhalte

Andreas Barz, Dr. phil., geb. 1961; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kaiserslautern, Fachgebiet Politikwissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Jürgen Plöhn) Das Saarland, in: Falk Esche/Jürgen Hartmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bundesländer, Frankfurt-New York 1990; Der Mythos Neutralität, Pfaffenweiler 1992.