Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Chancen und Voraussetzungen der Demokratisierung Afrikas | APuZ 12/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 12/1993 Schutz der Menschenrechte durch humanitäre Intervention? Chancen und Voraussetzungen der Demokratisierung Afrikas Multilaterale Entwicklungspolitik Multilaterale Entwicklungspolitik Wirtschaftsreformen in Lateinamerika

Chancen und Voraussetzungen der Demokratisierung Afrikas

Peter Molt

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In vielen Ländern Afrikas wurden seit 1990 die bisherigen Diktaturen durch Mehrparteiensysteme über freie Wahlen abgelöst. Diese Entwicklung wurde durch die Ereignisse in Osteuropa und den Druck von außen ausgelöst; die eigentliche Ursache war aber die Unfähigkeit der afrikanischen Diktatoren, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und Integration zu meistern. Der derzeitige politische Wandel birgt die Gefahr des Zerfalls der staatlichen Macht in sich. In der Gesellschaft Afrikas gibt es jedoch auch Elemente, die eine wirklich demokratische Entwicklung tragen könnten. Diese gilt es im Rahmen der Entwicklungshilfe zu fördern.

I. Einleitung

Nach dem Zerfall der totalitären Herrschaft in Osteuropa kam es auch in vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara zur Ablösung der bisherigen Diktaturen durch Mehrparteienregierungen. In einigen Ländern, wie auf den Kapverdischen Inseln, auf Sao Tom 6 und Principe, in Benin, Mali, Sambia und Kongo, führten freie Wahlen zum Regierungswechsel. In anderen Ländern, wie in Burkina Faso, an der Elfenbeinküste, in Gabun, Ghana, Kamerun und Kenia, schafften es die bisherigen Machthaber, sich durch mehr oder minder korrekte Wahlen im Amt bestätigen zu lassen, in Togo und Uganda leisten sie noch hinhaltenden Widerstand gegen ihre Entmachtung. In Liberia und Somalia kam es zum Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, in weiteren acht Staaten Afrikas, in Sierra Leone, im Tschad, in Äthiopien, Zaire, Ruanda, Burundi, in Angola und Mozambique, besteht die große Gefahr, daß die staatliche Ordnung weiter zerfällt

II. Die Ursachen der politischen Krise Afrikas

Der 1990 beginnende Demokratisierungsprozeß in Afrika wird vielfach Einflüssen von außen zugeschrieben, wie dem Verfall des osteuropäischen Kommunismus, insbesondere dem Sturz Ceaucescus in Rumänien, oder den Ermahnungen von Präsident Mitterrand auf dem französisch-afrikanischen Gipfeltreffen im Juni 1990 in La Baule sowie der dieser Konferenz folgenden politischen Konditionierung der Entwicklungshilfe durch die westlichen Geberländer, die sich verkürzt auf die Formel „Ohne Mehrparteiensystem und freie Wahlen keine Entwicklungshilfe“ bringen läßt.

Man würde allerdings die Ursachen der politischen Veränderungen in Afrika verkennen, wenn man sie nur auf die Femwirkung der Ereignisse in Osteuropa oder den von den Geberländem ausgeübten politischen Druck zurückführen würde. Es gibt eine eigenständige Demokratiebewegung in Afrika. Bereits seit Ende der siebziger Jahre wurde unter den jungen Intellektuellen Afrikas die autokratische Herrschaft in Frage gestellt Die Stimmen der Opposition in vielen Ländern und im Exil wurden immer lauter Ihr stärkstes Argument war das immer offenkundigere Versagen der Diktaturen, die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Probleme des Gemeinwesens zu meistern

III. Die wirtschaftlichen Ursachen der Krise

Die Krise des afrikanischen Staates zeigt sich zunächst im wirtschaftlichen Verfall. Die Weltbank, die im allgemeinen keine politischen Bewertungen abgibt, konnte nicht umhin, die Abhängigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von einer rechtsstaatlichen und pluralistischen politischen Ordnung herauszustellen Nun haben zwar viele Afrikanisten diesen Zusammenhang seit Jahren betont, nicht zuletzt unter Wiederentdeckung der Soziologie Max Webers, aber man darf nicht übersehen, daß auch die Wissenschaft lange Zeit eher an die Vorteile der sogenannten Entwicklungsdiktatur glaubte, weil sie pluralistischen Systemen nicht die Fähigkeit zutraute, über die für die Modernisierung erforderlichen Reformen zu entscheiden. So sprach Richard Löwenthal von der relativen und graduellen Antinomie von Freiheit und wirtschaftlicher Entwicklung: „Jeder Grad von Freiheit wird mit etwas Verlangsamung von Entwicklung, jeder Grad von Beschleunigung mit etwas Verlust an Freiheit bezahlt“ und stellte als Beispiele für erfolgreiche Entwicklungsdiktaturen das Japan der Meiji-Restauration sowie die Regime von Kemal Atatürk, Sukamo und Sun Ya Tsen heraus. Zu den von Löwenthal zitierten Beispielen könnte man die erfolgreich modernisierenden Diktaturen Lateinamerikas im ausgehenden 19. und zu Beginn unseres Jahrhunderts und in neuester Zeit Singapur, Taiwan, Südkorea und Chile unter dem Diktator Pinochet hinzufügen. Löwenthal schloß seinen Aufsatz mit der Forderung: „Wir werden uns vielmehr bemühen müssen, den Chancen einer freiheitlich-demokratischen Entwicklung auf lange Sicht dadurch zu dienen, daß wir in jedem einzelnen Falle aussichtsreiche Alternativen zur Stagnation einerseits, zur totalitären Diktatur andererseits fördern, mögen dies nun unvollkommene Demokratien oder un-dogmatische, offene Entwicklungsdiktaturen sein. Denn die maximale Annäherung an einen pluralistisch demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung kann in diesen Ländern nur das Ergebnis eines erfolgreich durchgeführten Entwicklungsprozesses sein, niemals seine Voraussetzung.“

Warum ist das in anderen Kontinenten erfolgreiche Modell der wirtschaftlichen Modernisierung durch eine offene, undogmatische Entwicklungsdiktatur in Afrika gescheitert? Viele der afrikanischen Entwicklungsdiktaturen waren ja ideologie-frei und westlich orientiert. Die Erklärung liegt in der unheilvollen Kombination von neopatrimonialer Herrschaftsform mit der Prädominanz einer bürokratischen Staatsklasse und ausgedehnten Klientelsystemen, eine Kombination, die es in dieser Form nur in Afrika südlich der Sahara gibt. Diese afrikanische Form autoritärer Herrschaft hat zum Scheitern aller bisherigen Entwicklungsanstrengungen geführt.

Das gilt sowohl für die Periode der dirigistischen Modernisierungspolitik als auch der in den letzten Jahren unter dem Druck des Weltwährungsfonds und der Weltbank durchgesetzten marktwirtschaftlichen Liberalisierung. Deshalb wird jetzt an die Durchführung freier Wahlen und die Einführung von Mehrparteiensystemen die Hoffnung auf eine Überwindung der wirtschaftlichen Krise geknüpft. Diese Erwartung äußern nicht nur europäische und nordamerikanische Politiker und Entwicklungsfachleute sondern auch die Führer der neuen, bisher oppositionellen Parteien Afrikas. Es gibt auch keinen Zweifel, daß der Teil der afrikanischen Bevölkerung, der überhaupt an den gegenwärtigen Reformen Anteil nimmt, von der Hoffnung lebt, daß der politische Wandel auch ihre wirtschaftliche Lage verbessere, sei es durch eine Befreiung von der staatlichen Ausbeutung, Willkür und Gängelei oder durch eine gerechtere Verteilung der öffentlichen Ressourcen sowie durch eine Erhöhung der ausländischen Entwicklungshilfe.

IV. Der Bedingungsrahmen der politischen Veränderungen

Kann man aber wirklich erwarten, daß die gegenwärtigen politischen Veränderungen die Dominanz der parasitären Staatsklasse und ihre Vernetzung in Klientelsysteme bricht und sich damit die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung verbessern? Vor allzu großen Erwartungen bezüglich den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des gegenwärtigen Demokratisierungsprozesses muß gewarnt werden. Berichte aus Benin, Sambia und Mali, wo es inzwischen demokratisch gewählte Regierungen gibt, sind nicht allzusehr ermutigend. Die Entwicklungen in diesen Ländern vermitteln den Eindruck, daß der Ruf nach Demokratisierung nur als Deckmantel eines intra-elitären Kampfes um die Kontrolle der von den Diktatoren geschaffenen Abschöpfungs-und Ausbeutungsmechanismen dient.

Die Diktatoren gründeten ihre Macht nach dem klassischen Modell patrimonialer Herrschaft auf Repression in Verbindung mit der Gewährung wirtschaftlicher Vergünstigungen für die jeweilige engere Führungsmannschaft Das bedeutete, daß sie neben der kostspieligen Unterhaltung eines Unterdrückungsapparats gezwungen waren, auch Mittel für die Bedienung klientelistischer Netze bereitzustellen. Hierfür ist der Spielraum in den achtziger Jahren durch den wirtschaftlichen Verfall und die Auflagen im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme des Weltwährungsfonds und der Weltbank sehr eng geworden, was wiederum zur Verschärfung des Verteilungskampfes und zu großer Unzufriedenheit in der bisher privilegierten Führungsschicht führte.

Man darf jedoch die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen nicht ausschließlich unter dem Blickwinkel des Verteilungskampfes um wirtschaftliche Macht sehen. Dazu kommt das Aufbegehren gegen die von den jeweiligen Inhabern der Macht gerade auch gegenüber anderen Mitgliedern der Führungsgruppe ausgeübte Willkür und Gewalt. Der Sturz von wichtigen und gewinnbringenden Regierungsämtern endete allzuoft in finsteren Kerkern, wenn er nicht sogar mit dem Verlust des Lebens bezahlt wurde. Diejenigen, die hoch stiegen, waren auch am meisten gefährdet, ihre Privilegien waren mit ständiger Angst erkauft. Der Abscheu und Protest gegenüber der Grausamkeit des Machtkampfes, der Ruf zum Verzicht auf Gewalt ist in vielen Zeugnissen afrikanischer Politiker, Wissenschaftler und Schriftsteller der achtziger Jahre belegt. Durch den Informationsaustausch mit Europa, durch das soziale Engagement der Kirchen und durch die in den letzten Jahren erheblich gewachsene Tätigkeit der Nichtregierungsorganisationen fanden demokratische Ideen in den afrikanischen Eliten mehr und mehr Aufmerksamkeit.

Das Aufbegehren gegen die autoritäre Herrschaft geht von dem Teil der Staatsklasse aus, der aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen unzufrieden ist. Es handelt sich im Kern um eine elitär-liberale Protestbewegung gegen die autokratische Herrschaft, die sich zunehmend unfähig erweist, die von ihr selbst definierten Staatsziele der nationalen Einheit und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zu verwirklichen. Der elitäre Charakter dieses Aufbegehrens äußerte sich in vielen Ländern in dem Ruf nach der Einberufung einer „Nationalen Konferenz“ zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung und zur Bestellung einer Übergangsregierung. Diese Versammlungen wurden je-doch nicht durch Wahlen gebildet, sondern alle, die Rang oder Namen haben, sollten ihnen angehören.

Dort, wo der Demokratisierungsprozeß in Gang gekommen ist, sind die Auseinandersetzungen hart und langwierig, denn die sozialen Gruppen, die von den bisherigen Herrschaftsverhältnissen profitierten, sind bestrebt, den politischen Wandel einzudämmen und ihre Privilegien und Pfründe möglichst weitgehend zu retten

V. Die Schlüsselrolle der Armee

Eine Schlüsselrolle für den Erfolg des Demokratisierungsprozesses spielt das Verhalten des Militärs. Die autoritären Machthaber entstammten in vielen Ländern der Armee. Selbst da, wo sich zivile politische Kräfte an der Macht halten konnten, hatte und hat das Militär einen großen Einfluß.

Es gibt immer wieder Versuche, die Militärregime nach ihren programmatischen Verlautbarungen zu kategorisieren In bezug auf den Demokratisierungsprozeß hat jedoch nur ein Unterscheidungsmerkmal Gewicht, nämlich ob die Armee -vielleicht präziser: das einzig ausschlaggebende Offizierskorps -eine landesweit homogene Gruppe mit eigenem professionellem Selbstverständnis bildet oder ob es sich nur um die Prätorianergarde eines Generalpräsidenten handelt, wie etwa die togoische Armee, in der alle wirklich wichtigen Posten mit Offizieren aus der regionalen Anhängerschaft des Präsidenten besetzt wurden. Im letzteren Fall klammert sich das Militär verständlicherweise noch mehr an die Macht, deren Verlust den führenden Offizieren auch einen erheblichen Teil ihrer Privilegien und Pfründe kosten würde.

Gemeinsam ist allen afrikanischen Armeen, daß sie privilegierte Korporationen sind, die auf jede Änderung ihres wirtschaftlichen und politischen Status äußerst empfindlich reagieren. Gegen die Macht der Armee gibt es kaum nennenswerte Gegenkräfte wie z. B. Gewerkschaften, die im Falle eines Futsches zum Generalstreik aufrufen könn­ ten. Zu Recht ist eine der häufigsten Fragen im Verlauf der gegenwärtigen politischen Veränderungen, ob und wann die Armee ggf. eingreift oder gar putscht. Dazu ist es bisher nur in einigen wenigen Fällen gekommen, weil angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage sich auch die Militärs ausrechnen können, daß es ohne Auslandshilfe auch mit ihrer Macht und ihren Privilegien schlecht bestellt wäre. Die neuerdings praktizierte politische Konditionierung der Entwicklungshilfe durch die Geberländer erweist sich somit zur Beeinflussung der Militärs wirksamer als die jahrzehntelang durch Frankreich, Belgien und die Bundesrepublik Deutschland gewährte militärische Hilfe, bei der zwar viel Ausrüstung und technische Ausbildung gegeben, aber letztlich doch wenig demokratische Gesinnung vermittelt wurde. In jedem Fall wird es eine schwierige Aufgabe sein, das Militär der Kontrolle ziviler, demokratisch legitimierter Regierungen zu unterstellen. Für die Länder, in denen das Militär einen dominierenden Einfluß erlangen konnte, stehen die Chancen für eine tatsächliche Demokratisierung nicht gut.

VI. Die klientelistischen Systeme

Ein weiteres Hindernis für die Einführung demokratischer Institutionen ist die starke Prägung der afrikanischen Gesellschaften durch klientelistische Strukturen. Die Kolonialisierung traf in Afrika mit wenigen Ausnahmen -und anders, als in Lateinamerika, im Nahen oder Fernen Osten -nicht auf patrimoniale oder feudale Herrschaften, sondern auf archaische Gesellschaften die durch die Kolonialverwaltung dann in der Folge vielfältig geund verformt wurden. Im nachkolonialen Staat entstanden daraus zum Teil hierarchische Systeme von Klientelbeziehungen, in denen die Patrone und ihre Klientel auf den verschiedenen Ebenen einander wechselseitig verpflichtet sind. Im Austausch für materielle Leistungen, wie Jobs, soziale Einrichtungen für die Gemeinschaft, Zugang zur Bildung, Vermittlung von Entwicklungshilfevorhaben, aber auch für den Schutz gegen obrigkeitliche Willkür oder die Fürsprache vor Gericht schuldet der Klient dem Patron Unterstützung und Loyalität. Klientelistische Strukturen spielen in Staaten -wie Kenia und Senegal -, in denen bisher schon semikonkurrentielle Wahlen eine gewisse Bedeutung hatten, eine besondere Rolle, da hier die Stimmabgabe einen Teil der Verpflichtung der Klientel dar-stellt. Dabei zeigt sich in Kenia, wie dieses System durch die Anforderungen des modernen Staates sowie durch das große Bevölkerungswachstum und die damit verbundene Verstädterung an seine Grenzen stieß Die politischen Führer benötigten zum Erhalt oder gar zur Vergrößerung ihrer Klientel immer mehr öffentliche Mittel und Patronagemöglichkeiten und sahen sich deshalb der Schwierigkeit gegenüber, eine immer größere und anspruchsvollere Klientel bei sinkenden Ressourcen zu bedienen. Angesichts der beginnenden Auflösung der sozialen Basis des Klientelismus durch die Desintegration der traditionellen Familien und Clans sowie durch die Konkurrenz der neuen Akteure, wie der Armee und professioneller, religiöser und ideologischer Gruppen, verschärft sich der Druck auf die Machthaber. Die verfassungsmäßige Verankerung der Einparteienherrschaft in Kenia im Jahr 1978 und der sich in den letzten zehn Jahren verstärkende Autoritarismus war die Antwort auf diesen Druck und das durch ihn bewirkte Ausbrechen einiger politischer Führer aus dem Machtoligopol. Die daraus entstandenen, erbittert geführten Auseinandersetzungen innerhalb der politischen Klasse, in der die Kontrahenten auch vor dem politischen Mord nicht zurückschreckten, sind die Folgen der Krise eines nicht mehr funktionalen Systems politischer Herrschaft. Ähnliche Entwicklungen deuten sich auch im Senegal an, um ein zweites Beispiel zu nennen Schon das französische Kolonialregime schloß einen klientelistischen Pakt mit den islamischen Bruderschaften. Leopold Sädar Senghor, katholischer und westlich geprägter Präsident in einem islamischen Land, und die von ihm gegründete sozialistische Partei traten in diesen Pakt ein. Die islamischen Bruderschaften sorgten für die politische Loyalität ihrer Mitglieder, d. h. für deren Gehorsam gegenüber dem Staat und seiner Gesetzgebung, die Zahlung der Steuern, Leistung von Gemeinschaftsarbeit und entsprechende Stimmabgabe. Dafür zahlte die Regierung den Bruderschaften einen Preis: Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Rolle, Patronage, keine Behinderung der islamischen Mission, Ermöglichung wirtschaftlicher Aktivitäten, Infrastrukturleistungen und materielle Subsidien. Die Mitglieder der Bruderschaften erfüllen ihre religiös begründete Gehorsamspflicht gegenüber den religiösen Führern, den „Marabouts“, erhalten aber auch einen Schutz gegen staatliche Gewalt und einen Anteil an den materiellen Leistungen. Die Emanzipation eines Teils der Beamten, Technokraten und städtischen Mit­ telschichten von der Bindung an die Bruderschaften, das Bevölkerungswachstum und die Verstädterung, die vor allem in der mouridischen Bruderschaft sich vollziehende theologische Entwicklung, die einen Unterschied zwischen religiösem und politischem Gehorsam macht, und der sich verengende wirtschaftliche Spielraum des Staates stellen heute diesen Pakt in Frage. Dies begünstigte das Entstehen einer konservativen Verfassungspartei unter Abdoulaye Wade, führte aber auch zu gewaltsamen Unruhen nach den vermutlich gefälschten Wahlen vom März 1988 sowie zum Konflikt zwischen Schwarzen und Mauren im April/Mai 1989. Auch die oft als vorbildlich angesehene Demokratie im Senegal hat also eine recht brüchige Grundlage.

Die klientelistische Grundlage der politischen Herrschaft ist zwar im Senegal und Kenia besonders ausgeprägt, aber auch ausgesprochen patrimonialistische oder diktatorische Regierungen beziehen klientelistische Strukturen in ihr Herrschaftskalkül mit ein. Bei ihnen ist allerdings die Versuchung größer, den Ausgleich zwischen den Klientelgruppen zu vernachlässigen und den Zugang zur Herrschaft und die Ausbeutung der staatlichen Ressourcen auf die Armee oder die Clans der obersten Führungsgruppe zu beschränken. Ihre Machtinteressen verleiten sie oft dazu, die verschiedenen Klientelgruppen gegeneinander auszuspielen, in deren interne Führungsstrukturen einzugreifen oder zu versuchen, sie zu zerschlagen. Dies führt unvermeidlicherweise zu mehr gewaltsamer Repression und zu sozialen und politischen Spannungen, weil dadurch der Ausgleich und Kompromiß in der Gesellschaft schwieriger wird und der Patrimonialherr als letzte Entscheidungsinstanz immer weniger in der Lage ist, die Unparteilichkeit seiner Schiedsrichterfunktion, die nach außen die Legitimation seiner Macht begründet, zu beweisen.

VII. Die Bedeutung ethnischer Konflikte

In der Berichterstattung über Afrika ist allerdings weniger von den Klientelstrukturen als von ethnischen und Stammeskonflikten die Rede. Diese sind jedoch entgegen der landläufigen Meinung in vielen Fällen nicht Ursache, sondern Folge der politischen und gesellschaftlichen Krise. Die soziale Bindung gehört der Großfamilie, dem Clan und den den Klientelismus begründenden personalen Beziehungen. Das Bekenntnis zur Ethnie ist bereits eine Abstraktion. Wie die neuere soziologische Forschung zeigt, sind Ethnien imaginierte Gemeinschaften. Sie sind das Ergebnis von „WirGruppenprozessen“, die zumeist relativ jungen Datums sind. Der Prozeß ethnischer Identifikation in Afrika ist im wesentlichen erst in der Berührung mit den europäischen Eroberern und Kolonialherren entstanden. Bei der großen Vielzahl von Sprachgruppen oder Ethnien in Afrika funktionierte das interethnische Zusammenleben viel besser als in manchen Teilen Europas. Virulent wurde die ethnische Frage nur da, wo es Überlagerungsherrschaften gab, oder als Reaktion auf permanente wirtschaftliche und soziale Ausbeutung und Benachteiligung. So entstanden dominierende ethnische Identifikationen etwa durch die Vertreibung der Zulu und Kikuyu durch die weißen Siedler oder die Ansiedlung ehemaliger Sklaven in Liberia und Sierra Leone; sie waren die Reaktion auf die arabische Herrschaft im Südsudan, sie entwickelten sich im Umfeld des äthiopischen Herren-volkes der Amharen, oder sie ergaben sich aus der religiösen Differenzierung durch die christliche Mission wie bei den Ibos Nigerias. Gefördert wurde die ethnische Identifikation auch durch die von den Kolonialmächten eingerichtete Territorialverwaltung, die sich auf traditionelle Chefs stützen wollte und oft deren territoriale Machtansprüche erst begründete wie in Nordwestruanda und Süduganda. In manchen Fällen diente die Ethnogenese auch der kolonialen Herrschaftssicherung im Sinne des „divide et impera“. Die Kolonialmächte förderten den Einfluß mancher Ethnien, indem sie ihre Angehörigen für bestimmte Positionen in der Kolonialverwaltung oder bei der Aufstellung kolonialer Hilfstruppen bevorzugten. Das führte zu Abwehrreaktionen und damit zur Fremdzuschreibung ethnischer Identifikation bei den nicht beteiligten Ethnien. Schließlich verstärkten die von den Kolonialverwaltungen geförderte Wanderarbeit und Ansiedlungspolitik (z. B. Banyarwanda in Zaire und Uganda, Mossi und Bambara an der Elfenbeinküste und im Binnen-delta des Niger) den Prozeß der Ethnogenese.

Ethnische Identifikation wächst in einer Situation sozialen Umbruchs, wie sie heute durch den Verlust der bäuerlichen Lebensgrundlagen und der massenhaften Binnenwanderung in die Städte gegeben ist; in einer Situation, in der die Menschen nach einem neuen Selbstverständnis suchen, wofür sich die Identifikation mit Menschen der gleichen Muttersprache und kultureller Tradition anbietet.

Die neue politische Klasse Afrikas hat nach der Unabhängigkeit meist erfolgreich verstanden, einen die ethnischen Gruppen überspannenden Konsens zu wahren. Ethnische Spannungen werden politisch erst dann relevant, wenn die Auseinandersetzungen innerhalb der politischen Klasse ein Ausmaß erreichen, in dem die streitenden Parteien schließlich ihre eigene Machtgrundlage in Frage stellen. Dann kann der Appell an ethnische Ressentiments, der Aufruf zur Gewalttätigkeit, die Manipulation der Ethnizität zu Eruptionen führen, dann erst kann der „Rauch des Tribalismus tatsächlich den Himmel Afrikas verdunkeln“ Bei dem Potential an Gewalttätigkeit, das in den letzten dreißig Jahren den intra-elitären Machtkampf der politischen Klasse auszeichnete, darf man deshalb heute die Gefahr derartiger Eruptionen nicht unterschätzen. Ethnizität eignet sich leider, wie wir ja auch in Europa sehen, trefflich zur Manipulation durch skrupellose Politiker. Aber es gibt viele Beispiele dafür, daß auch heute noch die politische Klasse Afrikas die durch die Mobilisierung ethnischer Konflikte drohenden Gefahren für den Bestand des Staates und ihre eigene Machtstellung sieht und bei aller Härte der Auseinandersetzungen den nationalen Zusammenhalt nicht in Frage stellt. So versucht man bei der Gründung der neuen politischen Parteien, den ethnischen Bezug zu vermeiden oder nicht allzu offen nach außen in Erscheinung treten zu lassen; so werden die willkürlichen, viele Ethnien durchschneidenden staatlichen Grenzen immer noch nicht angefochten.

VIII. Die „politische Klasse“ Afrikas

Fassen wir kurz das bisher Gesagte zusammen: Die Existenz des Staates in Afrika wird gesichert einerseits durch die Militärkasten, andererseits durch die Kohärenz einer politischen Klasse, die mittels klientelistischer Netze die Bevölkerung in den Staat integriert. Der Kern der politischen Krise Afrikas liegt darin, daß die wirtschaftlichen Grundlagen für diese Art der Herrschaft gefährdet oder weggefallen sind. Die Wirtschaft ist überall so ruiniert, daß kaum mehr Geld vorhanden ist für die Aufrechterhaltung der Verwaltung, für den Unterhalt der Armee und schon gar nicht mehr für die kostspielige Befriedigung klientelistischer Ansprüche.

In ihrer Bedrängnis hoffen die Regierenden auf die Zufuhr neuen Kapitals aus den Industrieländern, und nur deshalb sind heute auch die Autokraten Afrikas bereit, dem westlichen Drängen nach einem Mehrparteiensystem zumindest äußerlich nachzugeben. Natürlich versuchen die Regierenden und ihr Anhang, die Macht oder zumindest einen möglichst großen Teil davon zu behalten, etwa indem sie sich mittels einer mehr oder minder geschickten Manipulation des demokratischen Prozesses eine Legitimation durch Wahlen verschaffen.

Dagegen streben heute diejenigen Klientelgruppen, die bisher nicht oder nicht in einem ihrem Anspruch entsprechenden Maß an der Macht beteiligt waren oder die in den letzten Jahrzehnten irgendwann davon ganz oder teilweise ausgeschlossen wurden, danach, einen Anteil dieser Macht zu erringen, indem sie sich als Parteien der demokratischen Opposition etablieren.

Die „demokratisch erneuerten“ ehemaligen Einheitsparteien und die neuen „oppositionellen“ Parteien unterscheiden sich nicht grundsätzlich voneinander. Sie sind vielmehr um politische Führer gruppierte klientelistische Gruppen. Eine programmatische Profilierung ist nur vereinzelt zu erkennen, alle bekennen sich zu Demokratie und Entwicklung. Die Diskussion um die neue Form des Staates ist diffus, wichtiger ist allen Akteuren in jedem Fall die Beteiligung an der Regierung. Typisch ist dafür die Entwicklung im Pionierland der Demokratisierung, in Benin, in dem die im Wahlkampf unterlegenen Politiker alles versuchen, um doch noch an der Regierung beteiligt zu werden

Bei den neuen demokratischen Parteipolitikern finden wir in der vorderen Linie viele vertraute Gesichter. Viele dieser neuen Politiker sind „alt“. Sie machten eine Karriere in den bisherigen Diktaturen, einige sind mit dem dabei zusammengerafften Reichtum zu erfolgreichen Geschäftsleuten geworden, andere haben sich aus der unsicheren Existenz eines Funktionärs rechtzeitg in die internationalen Organisationen abgesetzt und dort auf angenehme Art politisch „überwintert“. Auch die neuen politischen Führer verkörpern das alte System des Klientelismus, der sich im Zeichen mehr oder minder manipulierter Wahlen vermutlich populistisch erweitern wird. Das wird aber nicht die Übel dieses Systems beheben, nämlich die damit verbundene klientelistische Umverteilung staatlicher Ressourcen und die entsprechende personelle Patronage. Die politische Klasse Afrikas wird nicht hinlänglich durch den Begriff der „Staatsklasse“ beschrieben, da dieser ausschließlich ökonomisch definiert wird. Die immer deutlicher zutage tretende dualistische Teilung der afrikanischen Gesellschaft ist nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell bestimmt. Die Oberschicht ist gekennzeichnet durch die Beherrschung der von den Europäern übernommenen Amtssprache, europäische Bildung und eine am europäisch-amerikanischen Lebensstil orientierte Lebensweise. In ihrer zweiten und bald der dritten Generation ist die Verbindung zu den armen Verwandten, zum Dorf, zur traditionellen Lebensform fast nicht mehr vorhanden. Die soziale Distanz zum Volk ist größer geworden, nicht zuletzt durch eine zunehmende Monopolisierung der höheren Bildung. Dazu tritt die in afrikanischen „bürgerlichen“ Familien gängige Heiratspolitik. So vollzieht sich eine Art heuer Ethnogenese, nämlich die Bildung einer in Lebenskultur, Sprache, Denkweise und Zukunftschancen von der Masse der ländlichen und städtischen Armen weit entfernten Oberschicht.

Die Bande zwischen Volk und politischer Klasse in Afrika lockern sich; es besteht die Gefahr, daß sich das Volk von der politischen Klasse und damit auch vom Staat abkoppelt. Ein Anzeichen dafür sind die gewaltsamen Unruhen im September 1991 in Zaire, bei der das aufgebrachte Volk nicht nur die Geschäfte plünderte, sondern auch die Einrichtungen der modernen Infrastruktur und Industrie zerstörte. Drückt sich darin nicht ein grundlegendes Verneinen der modernen Entwicklung, der Staatsmacht und der derzeit regierenden Klasse aus?

Im Süden Malis kam es im Frühjahr 1992, trotz korrekter Parlaments-und Präsidentenwahlen, nicht nur zu gewaltsamen Angriffen gegen Staats-funktionäre, sondern auch zur Steuerverweigerung, zur Inbesitznahme von Land, Wald und Wasser durch die Bevölkerung und schließlich auch zur Bildung einer Bauerngewerkschaft Demokratisierung wird von der aufgebrachten Bevölkerung hier offensichtlich in erster Linie als Befreiung von der Herrschaft des Staates und der politischen Klasse verstanden

Es gibt also mögliche Anzeichen für ein Aufbegehren auch der Unterschicht. Dies deutete sich schon seit Jahren in dem von Entwicklungsexperten beklagten passiven Widerstand der Bauern und Viehzüchter gegenüber den vom Staat eingeleiteten Entwicklungsprojekten an. Ein weiterer Hinweis dafür, daß der gegenwärtige Demokratisierungsprozeß den Teil der Bevölkerung, der nicht unmittelbar eingebunden ist, nur wenig interessiert, ist die teilweise sehr niedrige Wahlbeteilung auch bei den ersten freien Wahlen. In dem schon weitgehend verstädterten Sambia betrug die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen, bei denen es um die Ablösung des jahrzehntelang autokratisch regierenden Kaunda ging, gerade 40 Prozent. Noch niedriger war die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen in Mali am 12. und am 26. April 1992 mit nur 23, 6 bzw. 20, 9 Prozent d. h., an den Wahlen nahmen im wesentlichen nur die Funktionäre bzw. die vom Staat profitierenden Klientelgruppen teil.

IX. Voraussetzungen einer wirklichen Demokratisierung

Wie wir aus anderen Teilen der Welt und auch aus unserer eigenen Geschichte wissen, führt die Übernahme von in anderen Länder bewährten Verfassungsbestimmungen nicht zu identischen, ja oft nicht einmal zu ähnlichen politischen Strukturen. Auch in Afrika werden sich durch die Übernahme europäischer Verfassungsbestimmungen und Wahlsysteme eigenständige Formen des politischen Lebens ergeben.

Die Ereignisse der beiden letzten Jahre zeigen, daß es für die kleinen Leute Afrikas bei den derzeitigen politischen Umwälzungen um ein Ende der Ausbeutung, die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage und um eine Befreiung von der staatlichen Willkür geht. Sie erhoffen sich von der Demokratisierung Schutz vor den Belästigungen durch Geheimdienste, Polizei, Militär und Funktionäre. Für die politischen Führer geht es dagegen um eine Neuverteilung und nicht um eine Reduzierung von politischer Macht.

Die Diskussion um die beste Verfassung und das geeignetste Wahlrecht war -trotz der in einigen Ländern eingesetzten Verfassungskommissionen -bisher wenig profund und kreativ. Der Zentral-staat und das Präsidialsystem wurden bisher nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die neuen Verfassungen und das Wahlrecht sind zumeist einfallslose Kopien europäischer Modelle. Dabei wäre es naheliegend, angesichts der Gefahr, daß sich aus den Kämpfen der Parteianhänger, der klientelistischen und ethnischen Gruppen ein staatszerstörender Flächenbrand entwickeln kann, gründlicher über die Verfassung des Staatswesens zu reflektieren. So böten sich föderalistische und kollegiale Regierungsformen schon deshalb an, weil für die verschiedenen politischen Gruppierungen die Teilhabe an der Macht unerläßlich ist: Opposition allein bietet kaum eine politische Zukunftschance. Wichtig wäre auch eine wirksame Gewaltenteilung und die Garantie einer unabhängigen Rechtsprechung. Doch hierüber wird kaum gründlich diskutiert. Auch die strukturellen Wirkungen der verschiedenen Wahlmethoden finden bisher kaum Beachtung.

Beim Abwägen, welche Chancen die Demokratie in Afrika hat, sollten wir allerdings nicht übersehen, daß für Lateinamerika, wo es seit 170 Jahren demokratische Verfassungen und Wahlen gibt, noch heute von vielen Beobachtern in Abrede gestellt wird, daß es sich dabei um wirkliche Demokratien handle Wird man über die Demokratie in Afrika in einigen Jahren ähnliche Feststellungen treffen müssen? Kann man hoffen, daß -so wie sich Lateinamerika langsam von den autoritären und oligarchischen Legaten der iberischen Kolonialzeit zu befreien beginnt -auch Afrika die zentralistischen und autoritären Strukturen der kolonialen Vergangenheit und der ersten Jahrzehnte der Unabhängigkeit überwindet? Kann man mehr persönliche Freiheit, bessere Kontrolle der Regierungen, mehr soziale Gerechtigkeit erwarten? Sollte es möglich sein, daß dieser Prozeß sogar schneller abläuft als vergleichsweise in Lateinamerika? Trotz des derzeitigen krisenhaften Zustands der afrikanischen Staaten gibt es eine Reihe von Faktoren, die den Demokratisierungsprozeß in Afrika begünstigen.

Die Dauerwirkungen der autoritären Repression und Indoktrination der neopatrimonialen Herrschaften sind offenbar begrenzt geblieben. Die Mehrheit der Bevölkerung ist durch die größere zeitliche Nähe zur Tradition archaischer Gemeinschaftsstrukturen weniger autoritär geprägt als in Regionen mit langer patrimonialer Herrschaftsstruktur. Die politische Kultur der Bevölkerung ist, soweit man das überhaupt beurteilen kann, zwar auf personell-klientelistische Unterordnung unter die Führung, auf den Vorrang des Alters und des männlichen Geschlechtes angelegt, aber es gibt in diesen Beziehungen das rationale Element wechselseitiger Verpflichtung. Es ist das Wesen des Klientelismus, daß der Klient seinen Vorteil sieht und sich nicht bedingungslos unterordnet. Hinter dem Klientelismus verbirgt sich noch eine zweite Tradition, die den demokratischen Pluralismus begünstigt: In der örtlichen oder tribalen Gemeinschaft gab es immer rivalisierende politische „Unternehmer“ und zwischen ihnen oft auch eine Art Gewaltenteilung.

Schließlich ist auch der europäische Etatismus und Zentralismus der afrikanischen politischen und sozialen Tradition fremd und faszinierte wohl mehr die politischen Führer, die darin eine Voraussetzung der raschen wirtschaftlichen Entwicklung und politischen Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht sahen, als die breiten Massen. Sicherlich gibt es einen deutlichen Trend zu oligarchischen Strukturen, aber diese sind, da sie noch vorwiegend auf unterschiedlichen Bildungschancen beruhen, weniger verfestigt, als wenn ihre Basis materieller Besitz, insbesondere Großgrundbesitz, wäre. Der westliche demokratische Lebensstil hat einen großen Einfluß auf die politische Klasse und die jüngere Führungsschicht, aber dieser Einfluß erreicht über Fernsehen und Radio auch das Volk.

Im volkreichsten Land Afrikas, Nigeria -dort lebt rund ein Fünftel der Bevölkerung Schwarzafrikas -, hat die zivile Gesellschaft immer ein hohes Maß von Autonomie gegenüber dem Staat erhalten, was sich in der Wahrung der persönlichen Rechte, einer unabhängigen Rechtsprechung, einer freien Presse und unabhängigen und aktiven Gewerkschaften ausdrückt, obwohl das Land nur kurze Zeiten demokratischer Regierungen erlebte Aufbauend auf diesen positiven Faktoren gibt es auch unter den derzeitigen Bedingungen gute Möglichkeiten, die demokratischen Ansätze in der afrikanischen Gesellschaft zu stärken.

Eine Schlüsselrolle dafür kommt der Stärkung der örtlichen Selbstverwaltung zu. Die Gefahr, daß im Rahmen der Gemeinden sich örtliche Notabeinherrschaften verfestigen, ist gering gegenüber den großen Vorteilen, die sich daraus ergeben können. Die Bedürfnisse und Interessen der Mehrheit der Bevölkerung beziehen sich auf örtliche Fragen: Wasser, Gesundheitsversorgung, Schule, Wege und Märkte. Wir wissen, daß eine nachhaltige materielle Verbesserung der Lebensbedingungen, die sich auch nur entfernt mit dem Standard der Indu-strieländer messen kann, für die Mehrheit der Menschen in den Entwicklungsländern weder heute noch morgen möglich ist. Dies ist jedoch nicht das einzige Kriterium für eine menschenwürdige Lebenssituation

Der schwerwiegendste Vorwurf gegen den autoritären Staat in Afrika besteht darin, daß er versucht hat, die Menschen gerade der Möglichkeit zu berauben, in ihren gewachsenen Gemeinschaften die sie berührenden Entscheidungen zu treffen. Darum bildet die Deregulierung der Verwaltung und die Dezentralisierung der Entscheidungsebenen und Zuständigkeiten, die gleichzeitig natürlich mit einer Zuweisung der erforderlichen Ressourcen verbunden sein muß, die erste Priorität für eine richtig verstandene demokratische Entwicklung. Nur dadurch läßt sich auch der Zugriff der zentralen Eliten auf die staatlichen Ressourcen wirksam unterbinden.

An zweiter Stelle der Prioritätenliste steht die Verbesserung des Rechtsstaates für die Masse der Bevölkerung. Dazu ein Zitat des französischen Politologen J. F. Medard: „Die Beziehungen, die sich zwischen dem durchschnittlichen Afrikaner und den Repräsentanten des Staates entwickelt haben, sind verabscheuungswürdig: Das Verhalten der Funktionäre, Polizisten, Militärs gegenüber der Bevölkerung ist unerträglich. Die Bevölkerung ist ohne Möglichkeiten der Gegenwehr ihren Ausbeutungsversuchen ausgeliefert, ihrem Urteil und ihrer Willkür. In vielen afrikanischen Staaten haben die Polizisten gleichsam ein Recht über Leben oder Tod der Menschen, sie können ohne weiteres Verdächtige töten, diejenigen, die ihnen kein Geld geben, mißhandeln oder sie von einem Richter ohne Beweise zu einer Gefängnisstrafe verurteilen lassen. Ohne Geld oder Beziehungen gibt es keine Rettung. Dieser tägliche Autoritarismus mit seinen Konsequenzen für die Bevölkerung wurde zu lange verheimlicht.“

Eine weitere Forderung ist, das Recht auf Eigentum an Grund und Boden für Kleinbauern und die armen Städter zu regeln bzw. zu schützen. Bauern und Handwerkern muß es möglich sein, sich ungehindert von staatlicher Bevormundung wirtschaftlich zu betätigen. In diesem Zusammenhang gehört, daß sich Organisationen wie Bauernverbände, Genossenschaftsverbände und Gewerkschaften frei entfalten können. Da die herrschenden Eliten in der Bildung unabhängiger Interessengruppen eine mögliche Bedrohung ihrer Machtstellung sahen, verhinderten oder behinder­ ten sie bislang die Gründung solcher Organisationen oder versuchten, sie in die Einheitsparteien einzugliedem und damit zu entmachten. In einer sich wirtschaftlich und sozial differenzierenden Gesellschaft ist es nur über derartige Organisationen möglich, daß die Masse der Bevölkerung den erforderlichen Freiraum und auch die Chancen erhält, die sie für ihr Überleben und eine Verbesserung ihrer materiellen Lage benötigt.

In der Demokratisierungsdiskussion wird oft übersehen, daß auf Afrika durch das demographische Wachstum Probleme zukommen, die das Gesicht des Kontinents tiefgreifend verändern werden. Die Bevölkerung Afrikas südlich der Sahara -daran können auch noch so wirksame Bevölkerungsplanungsprogramme nichts mehr ändern -wird von derzeit ca. 500 Millionen auf 1 Milliarde im Jahre 2010 wachsen. Das bedeutet bei vorsichtigen Schätzungen, daß die Verstädterung Afrikas das Niveau Lateinamerikas erreichen wird. Wie in Asien und Lateinamerika werden Riesenstädte entstehen. In diesem Prozeß werden die heutigen Sozialstrukturen durch neue ersetzt werden, das System sozialer Beziehungen wird sich grundlegend ändern.

X. Europäische Afrikapolitik

Was kann die europäische Außen-und Entwicklungspolitik zugunsten der Demokratisierung Afrikas beitragen?

Es besteht die große Gefahr, daß die europäische Politik die soziopolitischen Faktoren, die die politischen Veränderungen beeinflussen, in Zukunft ebenso verkennt wie in der Vergangenheit, in der man die autokratischen Regime, die man jetzt mißbilligt, nachhaltig förderte und die politischen Wirkungen, die von der Entwicklungshilfe ausgehen, nicht sehen wollte.

Die bisherige Handhabung der politischen Konditionierung läßt wenig Gutes erwarten. An einigen Ländern wird noch ein Exempel statuiert, während man sonst den Eindruck hat, daß in den westlichen Außenministerien inzwischen die Angst umgeht, daß man in Afrika mit dem Drängen auf Mehrparteiensysteme eine Lawine losgetreten hat, an deren Ende wie in Liberia und Somalia Chaos und Anarchie stehen könnte. So geben sich die Regierungen in Paris, Brüssel und Bonn in letzter Zeit wieder mit kosmetischen Korrekturen der afrikanischen Herrschaftspraxis zufrieden. Damit werden aber die Probleme der politischen Ordnung in Afrika nicht gelöst. Für die Zukunft Afrikas wird es entscheidend sein, daß die Führungsschicht Afrikas ihre Energie nicht mehr nur darauf konzentriert, politische Macht-und Verteilungskämpfe um staatliche Ressourcen zu führen, sondern sich darauf verständigt, wie das notwendige Minimum an öffentlicher Ordnung aufrechterhalten und wie ein Maximum an Freiheit für die wirtschaftlichen Initiativen von unten gesichert werden kann. Alle Ansätze, die in diese Richtung gehen, sollte man nachdrücklich unterstützen.

Es geht darum, daß die bestehenden Herrschaftsstrukturen Schritt für Schritt liberalisiert werden. Es bedeutet einen wichtigen Fortschritt, wenn konkurrentielle Wahlen stattfinden, auch wenn diese nicht oder noch nicht unseren Kriterien entsprechen, wenn es eine verhältnismäßig freie Presse gibt und die Menschenrechte einigermaßen respektiert werden

Für die weitere politische Entwicklung Afrikas ist es ausschlaggebend, ob die Führungsschicht Afrikas zum unternehmerischen Engagement gebracht werden kann, ob die kleinen Bauern und Handwerker von den sie bedrückenden wirtschaftlichen und administrativen Fesseln befreit werden können. Es gilt, die örtliche Selbstverwaltung und Verantwortung zu fördern und den Rechtsschutz einschließlich des Rechts auf Eigentum für alle, auch die kleinen Leute, zu stärken. Dies sind Voraussetzungen dafür, daß das Verständnis für die humane Qualität des demokratischen Verfassungsund Rechtsstaats auch in Afrika Wurzeln schlägt. Wenn in diese Richtung Fortschritte erfolgen, dann haben wir in der Tat Grund, für Schwarzafrika nicht mehr ganz so pessimistisch zu Sein.

Die europäischen Idealvorstellungen über Demokratie sind als Maßstab für die weitere politische Entwicklung wenig brauchbar. Es geht darum, den afrikanischen Bauern und Bäuerinnen, den kleinen Handwerkern, den städtischen Armen wenigstens eine gewisse Einwirkungsmöglichkeit und Kontrolle ihrer Eliten zu verschaffen. Erst damit beginnt die Demokratie in Afrika.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu eine in „Jeune Afriqye“ vom 17. 12. 1992, S. 13 veröffentlichte Karte, in der die afrikanischen Staaten nach dem Grad ihrer Gefährdung des Zerfalls der staatlichen Ordnung, der „Somalisation“, eingeteilt werden.

  2. Vgl. D. C. Martin, Le multipartisme pour quoi faire. Les limites du ddbat politique: Kenya, Ouganda, Tanzanie, Zimbawe, in: Politique Africaine, (1991) 43, S. 21 f.

  3. Große Wirkungen für diese Bestrebungen hatte das Buch des ehemaligen Generalsekretärs der GAU, des Togoers Edem Kodjo, „Et demain l’Afrique“, Paris 1985.

  4. Die politische Krise Afrikas ist -hier teile ich voll die Meinung der französischen Politikwissenschaftler um die Zeitschrift „Politique Africaine“ -eine Krise des Staates in seiner aktuellen Form und seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Vgl. dazu J. F. Medard, Autoritarismes et dämocraties en Afrique noire, in: Politique Africaine, (1991) 43, S. 92.

  5. In einem Bericht der Weltbank aus dem Jahre 1989 heißt es dazu: „Underlying the litany of Africa’s development Problems is a crisis of govemance. By governance is meant the exercise of political power to manage a nation’s affairs. Because countervailing power has been lacking, state officials in many countries have served their own interests without fear of being called to account... This environment cannot readily support a dynamic economy ... It requires a systematic effort to build a pluralistic institutional structure, a determination to respect the rule of law, and a vigourous protection of the freedom of the press and human rights.“ World Bank (IBRD), Sub-Saharan Africa: From Crisis to Sustainable Growth, Washington, D. C. 1989, S. 60f.

  6. Vgl. Richard Löwenthal, Staatsfunktion und Staatsform in den Entwicklungsländern, in: ders. (Hrsg.), Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963, S. 164ff.

  7. Rosas in Argentinien, Gomez in Venezuela und Porfirio Diaz in Mexico.

  8. So heißt es in der im August 1992 veröffentlichten Konzeption des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ), Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern Afrikas südlich der Sahara in den 90er Jahren: „Die Schaffung demokratischer Regierungsformen und die ordnungspolitische Neuorientierung in vielen Ländern werden neue Kräfte freisetzen“. BMZ-Aktuell, August 1992.

  9. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 679ff.

  10. Vgl. Jean-Fran^ois Bayart, L’Etat en Afrique, l’ötat du ventre, Paris 1989.

  11. „En tout 6tat de cause, la rösistance aux changements dämocratiques proviendra d’abord des catögories sociales qui tirent leur revenus de l’ötat rentier et qui d’ailleurs contrölent fräquemment son appareil rdpressif par les biaises coteries pr 6sidentielles“, Jean-Fran^ois Bayart, La problömatique de la ddmocratie en Afrique noire. „La Baule et puis aprös?“, in: Politique Africaine, (1991) 43, S. 5 ff.

  12. Etwa wie neuerdings wieder Ansprenger in revolutionäre und konservative Militärdiktaturen. Franz Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, München 1992.

  13. Vgl. Stefan Breuer, Der archaische Staat. Zur Soziologie

  14. Vgl. Daniel Bourmaud, Histoire politique du Kenya, Etat et pouvoir local, Paris 1988.

  15. Vgl. Brian O’Cruise, Le Contrat Social Senegalaise ä l’öpreuve, in: Politique Africaine, (1992) 45, S. 9ff.

  16. Vgl. Eiwert Waldmann (Hrsg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken 1989.

  17. Lancind Sylla, Tribalisme et parti unique en Afrique noire, Paris 1977, S. 18: „Die Staaten Afrikas sind Vulkane. Der Rauch des Tribalismus verdunkelt dauernd den politischen Himmel Afrikas. Ein Funke genügt, den Ausbruch zu bewirken. Die heutigen Staaten Afrikas haben nicht die Kraft, ihr Überleben zu sichern.“

  18. Vgl. Jean Pascal Daloz, L’itindraire du pionnier: sur Involution politique böninoise, in: Politique Africaine, (1992) 46, S. 132.

  19. Vgl. Hartmut Elsenhans, Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft. Versuch über den Staat in der Dritten Welt, Frankfurt 1981.

  20. Im Januar 1992 gebildet von den Produzenten von Exportprodukten (cash-crops) (Syndicat National de Cotonniers et Vivriers).

  21. Bei seinem Ausscheiden beklagte der für den politischen Wandel in Mali verantwortliche Übergangspräsident Amadou Tourö den Widerstand der Zentralbürokratie mit ihrer traditionellen Verachtung und Unverständnis gegenüber dem Anliegen der Bauern und Hirten, den diese gegenüber seinem Bemühen, durch die Ankündigung einer Dezentralisierung die Massen wieder mit dem Staat zu versöhnen, geleistet habe.

  22. Vgl. Hdl& ne Claudot-Hawad, Mali: La Troisi& me R 6publique face ä la mefiance des ruraux, in: Politique Africaine, (1992) 46, S. 138.

  23. Vgl. Manfred Mols, Demokratie in Lateinamerika, Stuttgart 1985, S. 9.

  24. Vgl. Jibrin Ibrahim, Democratie ä la nigeriane: les 61ecteurs font la queue, in: Politique Africaine (1991) 43, S. 131.

  25. Vgl. Richard F. Behrendt, Soziale Strategie für Entwicklungsländer, Frankfurt/M. 1965, S. 520f.

  26. J. F. Medard, Autoritarismes et dömocraties, in: Politique Africaine, (1991) 43, S. 101.

  27. Die Entwicklungskonzeption des BMZ für Afrika (Anm. 8) vertritt denn auch im wesentlichen diese realistische Haltung.

Weitere Inhalte

Peter Molt, Dr. phil., geb. 1929; Ministerialrat a. D.; Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit G. A. Maurer) Lateinamerika. Eine politische Länderkunde, Berlin 1973; Machiavellismus und Neopatrimonialismus. Zur politischen Herrschaft in Afrika, in: Machiavellismus, Parteien und Wahlen, hrsg. von Rupert Breitling, Trier 1988.