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Globale Aufgaben und Herausforderungen: Die schwierige Suche nach Weltordnung | APuZ 15-16/1993 | bpb.de

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APuZ 15-16/1993 Globale Aufgaben und Herausforderungen: Die schwierige Suche nach Weltordnung Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen in einer Welt ethno-nationaler Konflikte Vor den Herausforderungen des Nationalismus: Die KSZE in den neunziger Jahren Die politischen Folgen der Streitkräfte-Reform der NATO Wandel im Wandel: Bundeswehr und europäische Sicherheit

Globale Aufgaben und Herausforderungen: Die schwierige Suche nach Weltordnung

Michael Stürmer

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Welt nach dem Kalten Krieg ist noch immer, nur auf andere Weise, ein gefährlicher Platz. Mit der sowjetischen Drohung und der Pax Americana entfiel das doppelte organisierende Prinzip, das den Westen insgesamt bestimmte und zugleich noch tief hineinwirkte in die Innenpolitik der Staaten. Fast alle westlichen Staaten sind von einem malaise erfaßt, das Politikverdrossenheit und Überforderung der Politik verbindet. Die westlichen Staaten beschäftigen sich vor allem mit sich selbst und werden dadurch für den Osten aus einem Teil der Lösung zum Teil des Problems. Deutschland, überfordert von der Wiedervereinigung, dem Osten und den eigenen lieben alten Gewohnheiten, macht davon keine Ausnahme. Das malaise der Staaten aber schwächt Handlungsfähigkeit und Krisenmanagement der Allianzen. Die sowjetische Erbfolge, der islamische Krisenbogen, die Proliferation von Waffen und die Weltbevölkerungsexplo» sion stellen die alten Institutionen vor neue, globale Herausforderungen. Deutschland kann in dieser Lage sich aktiver Mitgestaltung nicht entziehen, oder nur auf Kosten seiner Staatsraison, die vor wie nach der großen Wende aus Bündnissen und Bündnisfähigkeit kommt.

Gekürzte Fassung eines Referates auf dem 4. Forum für Deutschland in Berlin am 12. März 1993

Die Bundesrepublik Deutschland entstand nicht als Staat auf der Suche nach einer Außenpolitik, sondern als Ergebnis amerikanischer Weltpolitik auf der Suche nach einem Staat. Konrad Adenauer hatte alles daran gesetzt, Deutschland durch innere Verfassung und äußere Einbindung bündnis-fähig zu machen, und alle seine Nachfolger haben diese Linie fortgesetzt, die zur Staatsräson der Bundesrepublik wurde. England könnte immer noch zu Europa auf Distanz gehen, Frankreich nuklear und in Richtung Süden eigene Wege suchen; Italien und die südlichen Partner, selbst die Benelux-Staaten könnten mit einer sehr variablen Geometrie leben: Die innenpolitische Lage im vereinten Deutschland aber ist nicht so, daß Deutschland die Verankerung in Europa entbehren könnte, und die außenpolitische erst recht nicht. Das ist die Logik des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union. Das ist aber auch die Logik, nach der das Nordatlantische Bündnis seine Rolle nach dem Kalten Krieg definieren muß. Alle Taktik muß dieser zweifachen Strategie folgen. Tut sie es nicht, ist sie nicht im deutschen Interesse

I. Die Geschichte kehrt zurück

Im Atlantischen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft fand die Bundesrepublik seit den fünfziger Jahren nicht nur Sicherheit und Prosperität. In den Bündnissen und durch sie wurde aus dem Land der Geschlagenen ein Staat mit Gewicht und Vertrauen. So, und allein so, war die Wiedervereinigung möglich: nicht als Rückkehr zu Bismarck, der die Einheit gegen Europa erkämpfte, sondern im atlantischen Bündnis und mit Europa.

Sicherheit ist nicht alles; alles aber ist nichts ohne Sicherheit. Sicherheit indessen bedeutet mehr als nur die Fernhaltung eines bewaffneten Feindes von den Grenzen des Landes. Landesverteidigung bleibt Kernbestand der Sicherheit; aber die militärische Bedrohung der deutschen Grenzen ist zur Zeit unwahrscheinlich. Im Zeitalter der Nuklear-undRaketenproliferation, der neuen Völkerwanderungen, wankender Grenzen und stürzender Staaten muß Sicherheitspolitik weit vorausschauend rechnen mit gegebenen Faktoren und notfalls handeln, auch wenn es nicht zu den Stärken der Demokratie gehört, Krisen vorgreifend zu bewältigen.

Sicherheit durch Bündnisfähigkeit: Vor zehn Jahren sagte Bundeskanzler Kohl in der Regierungserklärung -es war eine Zeit innerer und äußerer Hochspannung -, Bündnisfähigkeit sei für die Bundesrepublik Deutschland Kem der Staatsräson. Wer glaubt, dies sei seit dem 3. Oktober 1990 anders und die Deutschen könnten nunmehr zurückkehren zum Nationalstaat, der hat nichts begriffen von der Machtgeometrie, die durch „Zwei plus Vier“ und alle Gipfel zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 festgelegt wurde; und er muß auch, was die ältere Geschichte anlangt, einiges rekapitulieren.

Deutschland ist 1990 die größte Macht östlich von Washington und westlich von Moskau geworden. Das weckt viele alte Versuchungen und Verdammnisse, bei uns und allen anderen, wenn es nicht durch neue und erweiterte Bündnisfähigkeit vorgreifend ausgeglichen und schöpferisch gestaltet wird. Das ist Sinn der Suche nach einem neuen atlantischen Ausgleich mit der amerikanischen Führungsmacht, die unersetzlich ist und bleibt, wie alle Krisen seit 1989 zeigen. Und das ist auch der Sinn des vertieften Europa nach dem Maastrichter Vertrag. Bündnisfähigkeit bleibt Ziel der grand strategy des Landes: nicht aus der alten Angst der Deutschen vor sich selbst, nicht zur Abwehr japanischer oder amerikanischer Wirtschaftskraft, nicht zur Absicherung gegen postsowjetische Erdbeben, sondern -zuletzt und vor allem -um ein friedliches und balanciertes Europa zusammenzufügen, ohne das Deutschland seine Rolle nicht stabil und dauerhaft finden kann. Ein Europa, welches als Ganzes mehr sein muß als die Summe seiner Teile.

Die europäischen Reibungsverluste liegen nicht hauptsächlich im Gebiet des Geldtransfers und des Warenhandels. Die viel größeren sind die psychologisch-politischen des Denkens, das von weit her kommt, tief aus dem 19. Jahrhundert und aus den Verzweiflungslagen des großen europäischen Bürgerkriegs, der dann folgte. Die alten Dämonen haben einen leichten Schlaf. Deutschland muß -nicht nur wegen seiner Geschichte, sondern auch wegen seines Gewichts -immer um Vertrauen werben. Es muß sich ein wenig kleiner machen, als es ist. Alleingänge, die Portugal oder Luxemburg sich leisten können, sind dem größten Land Europas noch lange nicht zu raten.

Die Weltordnung von Jalta ist zerbrochen. Das russische Reich ist in seinem europäischen Teil wieder dort, wo Peter der Große begann. Hinter den Konflikten an Golf und Adria zeichnen sich Schatten ab von Großreichen, die lange brauchten, um zusammenzubrechen, und deren Trümmer niemals ordnungsgemäß aufgeräumt wurden. Das vereinte Deutschland findet sich in einer Welt, die aus den Fugen geht. Die Geschichte ist nicht an ihrem Ende angekommen, wie 1989 die Frohbotschaft aus Amerika lautete, sondern sie kehrt zurück.

Als General de Gaulle 1946 als President du Gouvernement provisoire de la Republique Fran^aise zurücktrat im Zorn über die Taktiken und Praktiken der Nachkriegszeit, da sagte er das stolze Wort: „L’homme des grandes tempetes n’estpas celui des bonnes combinaisons“. Zu Deutsch: Der Mann der großen Stürme ist nicht der für die kleinen Spiele. De Gaulle hat damit in seiner heroischen Verachtung des Alltags gekennzeichnet, was 40 Jahre lang dem Westen Europas beschieden war: nach den großen Ängsten und Erdbeben eine Epoche des geregelten Klimas, politisches air conditioning. Seitdem aber vor zehn Jahren der Umbruch der Sowjetunion begann und vollends, seitdem Gorbatschows Revolution von oben verunglückte, gibt es wieder Heiß und Kalt: Blut, Schweiß und Tränen. Geschichte ereignet sich im Rohzustand.

Vierzig Jahre lang kamen Leidenschaft und Tragik, Krieg und Massentod in Europa nicht vor -eine Sache der Historiker. Die Sozialingenieure von Links und Rechts hatten ihre große Zeit: jeden Tag eine neue glückhafte Erfindung, jeden Tag die Welt ihrer Perfektion ein Stück nähergebracht. Die Politik arbeitete allen Ernstes unter der Hypothese, daß, wo ein Problem ist, die Lösung schon warte. Jetzt aber zeigt sich, daß das bipolare System der Supermächte, das bis zum Jüngsten Tag begründet schien, an sich selbst zugrunde ging, und die Sowjetunion, siebzig Jahre lang das Neue Jerusalem für die Pilgerschaft des Fortschritts, nicht viel mehr ist als der Müllplatz alter Ideologien, Träume und Utopien, während die Menschen, die aus dem Alptraum erwachen, noch in halber Betäubung sind. Man wird sich hierzulande daran gewöhnen müssen, daß es Probleme gibt, auf die keine Lösung wartet; daß es Entscheidungen gibt, die nicht ohne tragischen Rest aufgehen; daß es Kriege gibt, denen man sich nicht durch Wegschauen entziehen kann.

II. Das malaise im Westen

Die Deutschen kennen, nach einem Wort Walther Rathenaus, die Landkarte, aber der Globus ist ihnen fremd. Die Logik unserer Lage ist aber nicht allein auf der Landkarte zu finden, sondern auf den weiten Flächen des Globus. Der vielgeträumte deutsche Traum, eine große Schweiz zu sein oder Schweden in Europas Mitte, kann das Land nicht retten vor den Folgen seiner Größe, seines Gewichts, seiner Lage, seiner Interessen und seiner Verantwortung. Das Land wird Sicherheit in Bündnissen finden, oder überhaupt nicht.

Dabei ist schon der Blick auf die Landkarte nicht ohne Erkenntniswert: Überall, fast überall im Westen, hat sich ein malaise ausgebreitet. Italiens Politik, dargestellt in der Filmkomödie „Don Camillo und Peppone“, der Kleriker und der Kommunist, war seit dem Ende Mussolinis ausgerichtet auf zwei Pole: für die Kommunisten Moskau, für die Christdemokraten Washington. Die Neofaschisten waren nichts als die Farce, die der Tragödie folgt. Bis 1990 schien sich Italien, von Norden aus betrachtet, in einem Gleichgewicht der Instabilität zu halten -halb mit Bewunderung und halb mit Sorge anzuschauen: die Wirtschaft lebenstüchtig weit über ihr fiskalisch nachgewiesenes Maß, die Politik bei allem Wirbel nicht ohne Verläßlichkeit, die Rolle des Landes im europäisch-atlantischen Verbund stabil und stabilisierend. Seitdem aber Moskau nicht mehr sendet, Freund und Feind sich neu und undramatisch gruppieren, ist etwas auseinandergefallen. Das Budgetdefizit erscheint größer, die Mafia mächtiger, der Süden hoffnungsloser, der Norden korrumpierter. Seit der bitteren Parteienkritik des Präsidenten Cossiga 1991 ist das Spumanteglas nicht mehr halbvoll, sondern halbleer und lauwarm.

Aber auch in Frankreich gräbt sich das malaise tiefer ein. Die Regierung hat, so scheint es den von Radrennen begeisterten Franzosen, die Pedale verloren. Eine Verfassungs-und Autoritätskrise ist in Gang, die nicht den Präsidenten ausspart, nicht die Parteien und nicht das Parlament. Seit der Einheit Deutschlands und dem Zerfall der Sowjetunion geht das Land durch eine außenpolitische Orientierungskrise. Bis dahin hatte Deutschland dieverlust Frankreichs. Seitdem ist allein im entschiedenen Eintreten für Maastricht noch Zielrichtung zu erkennen.

Von größerer Tragweite aber ist, daß die Vereinigten Staaten im Selbstzweifel leben. Der Aufstieg eines Milliardärs aus Nirgendwo verkörpert hier das malaise, welches sein Fall nicht behoben hat. Selbst wenn sich das tradierte Parteiensystem wieder festigt, so bleibt doch jenes verdrießliche Gefühl, das gegenwärtig das Establishment und Washington in Frage stellt. Der „Perotfaktor“ wird nicht spurenlos sein. Es bleibt das Unbehagen der weißen Mittelklasse an big government, Budgetdefizit, der hinkenden Konjunktur, an Wertrelativismus und Kompliziertheit einer Gesellschaft, die sich jeden Tag weiter entfernt von jenen amerikanischen Werten, die einmal so selbstverständlich waren wie „motherhood and apple-pie". Amerika nach dem Kalten Krieg ist der Visionen und Missionen müde, die „new frontier“ fasziniert nicht, kein Kreuzzug ruft das Land, kein „evil empire“ mobilisiert seine Kräfte, während doch Amerika sich zugleich überlastet fühlt vom großen Weltgeschäft wie von der inneren Agenda: „imperial overstretch“. Das aber vergrößert nicht nur die globale Unsicherheit -es nimmt auch Deutschland die Führungsmacht, die vierzig Jahre lang da war und Deutschland schützte vor bitteren Entscheidungen wie vor den Fährnissen der Großen Politik.

Das Beben, welches seit 1989 die internationale Politik erschüttert, erreicht nun auch die politischen Systeme, ja die Verfassungen der Hauptländer des Westens. Die neue Ungewißheit setzt sich um in Autoritätsverlust der Regierungen und Vertrauensverlust bei den Wählern. Es zeigt sich, daß der Kalte Krieg ein großer Vereinfachet war. Die Bedrohung von außen hatte eine Art von Burgfrieden zur Folge, der die Vision ersetzte und die Frage nach der Staatsidee beiseite schob. Jetzt stehen die Wähler, die politischen Parteien, die Akteure sich selbst und der neuen Weltunordnung gegenüber. Die Normalität hat einen bitteren Geschmack. Weder in der Innenpolitik noch in der Außenpolitik sind die Deutschen schon in der neuen Realität angekommen. Es zeigt sich, daß in vierzig Jahren seitab der Geschichte aus Staatsbürgern Staatskunden wurden, und dies nicht nur in Deutschland.

Die Bundesrepublik Deutschland mußte in der Wiedervereinigung den tiefsten Bruch im Osten mit der höchsten Beständigkeit im Westen verbinden. Es hat Europa beruhigt, daß die deutsche Zeichen des Atiantiscnen bundnisses und der Europäischen Gemeinschaft. Aber das vereinte Deutschland wird von den neuen Ungewißheiten nicht verschont bleiben, und auch nicht von der neuen Verdrossenheit, welche den groben Vereinfachungen des Kalten Krieges folgt. In diesem malaise wird der Preis entrichtet für die Einheit, den Rückzug der Russen und die neue Rolle Deutschlands. Für das Land in der Mitte Europas aber sind Berechenbarkeit und Stetigkeit nicht nur schöne Grundsätze politischer Rhetorik nach innen, sondern vor allem Bedingungen der Handlungsfähigkeit nach außen. Die Prüfung der Beständigkeit im Wandel hat erst begonnen. Ein europäisches Deutschland wurde den Nachbarn am 3. Oktober 1990 versprochen. Aber im Golfkrieg und im zerfallenden Jugoslawien warteten die Verbündeten vergebens.

Das malaise im Westen folgt dem Beben im Osten, und beides wird nicht sobald zu Ende sein. Je mehr aber die Hauptländer des Westens mit sich selbst beschäftigt sind, desto weniger können sie nach Osten beruhigend einwirken. Der Kalte Krieg hält nicht mehr zusammen, was nicht zusammen gehört. Während im Osten die Landkarten neu gezeichnet werden, werden im Westen die Verfassungen geprüft und die Bündnisse umgeschrieben: Ob dieses Umschreiben in den Konzilien Europas und des Atlantischen Systems schon kühn genug war, ist die Frage aller Fragen.

Westdeutschland war enfant cheri des Kalten Krieges. Die sowjetische Drohung und die Existenz der Mauer ermöglichten dem Land einen unnatürlichen Grad an innerem Zusammenhalt, der durch die föderativen Strukturen, das Prinzip der politischen Koalitionen und die Praxis der Tarifautonomie, durch Bundesbank und Bundesverfassungsgericht im Gleichgewicht gehalten wurde. Jetzt aber geht es um schmerzhafte Entscheidungen, und ökonomisches Wachstum ist nicht länger verfügbar, um Streit zu beruhigen. Das Budgetdefizit, Transfers nach Osten, Inflationsangst, Sorge vor Arbeitslosigkeit und Angst vor der Zukunft verbinden sich zu einer deutschen Aschermittwochs-stimmung. Aber es wird nicht reichen, nur den Stil der Politik zu verändern und auf besseres Wetter zu hoffen. Die politische Realität innerhalb Deutschlands -und außerhalb noch mehr -hat sich geändert aufgrund derselben Erdbeben, die noch immer die tektonischen Platten Asiens, Afrikas und Europas bewegen und den Atlantik verbreitern.

III. Die neue Weltunordnung

Dieses malaise aber ist für kein Land des Westens im nationalen Alleingang zu kurieren, sondern nur in größeren Verbänden: das Atlantische Bündnis und die Europäische Gemeinschaft als die wirkungsvollsten zuerst, danach aber die KSZE, die Gruppe der Sieben, das General Agreement on Trade and Tariffs. Damit aber verlassen wir die Landkarte und müssen den Globus betrachten, auch wenn es des Landes nicht der Brauch ist. Die Welt ist aus den Fugen, die Geschichte kehrt zurück. Das Volk erwartet noch immer nach dem Kalten Krieg die Friedensdividende, so als ob die nicht längst in Form von dessen friedlicher Beilegung ausbezahlt worden wäre. Wir leben wieder in dem, was de Gaulle die „grandes tempetes“ nannte; die „bonnes combinaisons", leider, sind auf lange Zeit vorbei. So wie die Französische Revolution drei Jahrzehnte der Kriege und Krisen einleitete, so wie 1914 ein ehernes Zeitalter der Katastrophen begann, so werden Niedergang und Sturz der Sowjetmacht auf lange Zeit die welthistorischen Bewegungen vorantreiben. Die sowjetische Erbfolge wird sich vermischen mit den anderen, neu aufsteigenden Gefahrendimensionen: dem islamischen Krisenbogen, der Waffenproliferation, den neuen Völkerwanderungen.

Zuerst die sowjetische Erbfolge: Sie erinnert daran, daß die Welt des Kalten Krieges nicht nur Konfrontation umfaßte, sondern auch Kooperation, wie beim Schach. Beide Seiten waren gegeneinander aufmarschiert von der Norwegensee bis zu den Dschungeln Vietnams. Es gab eine grobe Balance der Kräfte; Satellitenstaaten und Verbündete wurden unter Kontrolle gehalten, Bauern-Scharmützel waren erlaubt, größeres Kräftemessen mußte vorsichtig vermieden werden, und auf Schachmatt zu setzen wäre tödlich gewesen. Aber es gab auch Kooperation, die vieles umfaßte: vom Heißen Draht über den Nonproliferationsvertrag zu Salt I und Salt II und, am wichtigsten, den ABM-Vertrag, mit dem 1973 beide Seiten darauf verzichteten, Raketenabwehrsysteme aufzubauen, und die eigene Bevölkerung der Gegenseite als Geisel des Wohlverhaltens darboten. Das Berlin-Abkommen der Vier Mächte von 1971 ebenso wie der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag von 1973 gehörten dazu, die Helsinki-Schlußakte und der KSZE-Prozeß.

Diese übergreifenden Strukturen haben 1990 dazu beigetragen, das System, das sie erzeugt hatte, zu überwinden. Seitdem aber ist es nicht mehr wieder-zuerkennen, und die Hauptursache ist die Erschöpfung der Sowjetunion, die durch imperialen Ehrgeiz, Überrüstung und innere Diktatur sich selbst zerstörte. Aber keiner der Nachfolgestaaten verspricht Stabilität. Der „Commonwealth of Independent States“ hat, wie die Financial Times spottete, „little in common and no wealth". Was die Sowjet-erben verbindet, ist das gemeinsame Interesse, kein nukleares Jugoslawien zu werden, dazu eine furcht-erregende Liste von Problemen ohne Lösung: umstrittene Grenzen, Schwäche aller Verwaltungsstrukturen, die Wirtschaft im freien Fall und die Währung in der Auflösung begriffen, eine zivilen Bedürfnissen unangepaßte Industrie, ein mächtiger militärisch-industrieller Komplex ohne Alternative dazu, weiter zu produzieren.

Die Wirkungen der sowjetischen Erbfolge auf die Außenwelt sind nicht wesentlich beruhigender: Europa kann sich ökologischen Gefahren einer neuen Größenordnung gegenübersehen, dem Zusammenbruch riesiger Industrien oder dem „bum out“ nuklearer Reaktoren. Energie wird knapp sein, nicht nur in Rußland, sondern noch mehr in den früheren Satellitenstaaten, und Westeuropa wird viel tun müssen, den Meisterplan der European Energy Charter zu verwirklichen. Massen-wanderungen zeichnen sich ab als Ergebnis solcher Zusammenbrüche, aber auch von Hunger und Bürgerkrieg. Die große Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Rußland ist nicht auszuschließen, während zu hoffen bleibt, daß Angst und Vernunft zu Vorsicht raten. Es kann sein, daß Rußland in industriell-militärische Fürstentümer zerfällt; der Prozeß hat längst begonnen. Sicher aber kann man sein, daß die Zentralgewalt sich am Ende durchsetzt. Neun Zeitzonen, ein Achtel der Landmasse der Erde, 150 Millionen Menschen, dreißigtausend nukleare Waffen: nach allen Krisen und Katastrophen wird Rußland -die Landwirtschaft repariert, die Verwaltung aufgebaut, der Energiebereich gestrafft, fremde Investitionen zufließend -wieder eine entscheidende Rolle spielen, in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende möglicherweise als die dynamischste Wirtschaft Europas.

Die russische Erbfolge aber wird durchschnitten vom islamischen Krisenbogen, und er ist nach dem Golfkrieg noch weniger eine Einheit als zuvor. Die islamische Welt hat wenig oder nichts als einheitsverbürgendes Formprinzip. Es gibt wenige gemeinsame Strukturen außer dem immerwährenden Versagen der Demokratie, der Schwäche aller langfristigen staatlichen Strukturen, die entweder Regime oder Familienunternehmen sind, dem Versagen heimischer Industrien, der islamischen Abneigung gegen modernes Banking, vor allem aber einer Bevölkerungsexplosion, die fast überall dazu führt, daß die Zahl der Menschen sich inzwanzig Jahren verdoppelt. Hinter allem aber stehen die Konflikte zwischen radikalem Säkularismus, wie ihn die Türkei verkörpert, und den Varianten des Fundamentalismus. Unübersehbar ist, daß zwischen Iran und Irak, zwischen Türkei und Rußland die sowjetische Erbfolge in Zentralasien noch keineswegs entschieden ist. Das künftige asiatische Powerplay wird davon bestimmt werden, daß der Iran den alten Glanz Persiens erneuern will, der Irak an Babylon denkt und die Türken nicht vergessen haben, daß sie einst Herren des Osmanischen Reiches waren. Was immer aber die Vergangenheit wert ist -keines dieser Länder kann den Nachbarn erlauben, sich die sowjetische Erbmasse allein anzueignen.

Dazu kommt die Proliferation von Waffen, HighTech und Low-Tech, von nuklearem Material und Raketentechnologien, wie nie zuvor. Selbst bevor die Sowjetmacht zusammenbrach, konnte man auf dem Weltmarkt vieles zusammenkaufen. Jetzt aber sind nur die sowjetischen strategischen Arsenale in sicheren Händen, während vieles andere den Weg auf den Weltmarkt findet, ohne jede Geheimniskrämerei, allerdings auch ohne jede politische und strategische Zurückhaltung. Die Welt wird wahrscheinlich, wie Verteidigungsminister Cheney 1992 sagte, die erste arabische Nuklear-waffe, als Sprengkopf auf Raketen gesetzt, noch vor dem Ende dieses Jahrzehnts erleben. Diese Waffe aber wird nicht in einem System der Abschreckung gefangen sein, wie es dreißig Jahre lang zwischen Ost und West bestand. Während also die safeguards dünn werden, hat die Welt kein Konzept, um nuklearer Erpressung zu begegnen oder mit Erobererstaaten zu verhandeln, die sich Nuklearwaffen und fortgeschrittene Raketentechnologie beschaffen. Ein gemeinsames Krisenmanagement wird nur eine begrenzte, kostspielige Antwort sein -Rußland und Amerika zusammen gegen den Süden. Wenn nichts geschieht, stehen die Barbaren vor den Toren, und zu ihrem Kriegsgerät gehören Waffen, die dem Westen schwer zu schaffen machen werden.

Die größte und vielleicht am wenigsten zu bewältigende Gefahr in dieser langfristigen Konfiguration aber kann aus der Bevölkerungsexplosion in den ärmsten Teilen der Welt kommen, damit verbunden Völkerwanderungen, ökologische Zusammenbrüche, Ressourcenknappheit, Wasserkonflikte, der Streit um Verunreinigung der Atmosphäre oder unsichere industrielle Anlagen. Gegenwärtig ist die causa causans wahrscheinlich, beim Umweltgipfel in Rio sorgsam vor der Tür gehalten: das Bevölkerungswachstum mit rund 100 Millionen Menschen, die jedes Jahr dazukommen. Das bedeutet langfristig Destabilisierung in großen Teilen dessen, was bis 1990 die Dritte Welt hieß, mit gewaltsamen und unberechenbaren Ausbrüchen in Richtung der OECD-Zone und weiterem Verlust an Steuerung in der früheren Sowjetunion. Unsere Vorstellungskraft reicht nicht aus, die Szenarien im Detail zu beschreiben. Aber es könnte sein, daß große Teile der Welt südlich und östlich von Europa in Verzweiflung und Gewalt treiben, daß Recht und Gesetz zusammenbrechen und, wie es sich heute in Teilen Afrikas abzeichnet, Staaten in Anarchie zerfallen. Das aber hätte zur Folge, daß Wellen verzweifelter Boat people Europas Lichter suchen und daß keine Art von Maginotlinie Europa besser dient, als es das Original 1940 für Frankreich zu leisten vermochte.

IV. My Alliance, Right or Wrong

Am Vorabend der Washingtoner Konferenz zur Unterzeichnung des Nordatlantik-Pakts lud der amerikanische Präsident Harry S. Truman am 3. April 1949 die Außenminister Kanadas und Westeuropas ein und erklärte ihnen die grand strategy der USA.

Truman forderte von den künftigen Alliierten, sich mit dem Gedanken zu befreunden, daß Deutschland aus einem Land der Besiegten zum Partner des Westens werden müsse. Er nannte dies „a calculated risk“. Und er fügte hinzu: „Jede alliierte Politik, die nicht dem deutschen Wiederaufstieg hinreichend Spielraum läßt, kann diese Nation in die Arme der UdSSR bringen. Daher appellieren wir an die Westmächte, eine gemeinsame Politik zu beginnen, die den deutschen wirtschaftlichen Wiederaufbau ermutigt, die Entwicklung demokratischer Institutionen beschleunigt und die sowjetische Subversion aktiv bekämpft. Das bedeutet nicht, daß wir angemessene Sicherheitskontrollen aufgeben durch Verbot bestimmter Schlüsselindustrien oder die Begrenzung, wahrscheinlich auch das Verbot bewaffneter Kräfte.“ Es ging Präsident Truman um „a gradual Integration of Germany into the Western European bloc“.

So, und so allein, wurde Deutschland aus dem Objekt der Sieger wieder zum Subjekt der internationalen Politik. In Jalta und Potsdam war Deutschland dazu bestimmt gewesen, die Alliierten zusammenzuhalten. Ohne den Weltgegensatz in Deutschland und um Deutschland wären wir noch heute nichts als die Geiseln unserer Geschichte und die Besiegten des Zweiten Weltkriegs. Die europäische Konstruktion aber wurde möglich, weil drei Faktoren zusamenwirkten:-„Soviet expansionist tendencies", in der Formulierung von George F. Kennan von 1947; -Amerikas „Containment“ und -Deutschlands existentielles Interesse, Westintegration und Bündnisfähigkeit über alles zu stellen.

Heute stehen wir in einer Umbruchphase, deren Ziel und Ende nicht abzusehen sind; nicht im Innern und nicht nach außen. Die sowjetische Drohung hält nichts mehr zusammen. Amerika wendet sich nach innen und verliert an Strahlkraft. Die deutsche Einheit, der Zusammenbruch der Russen und Amerikas Rückzüge auf der einen Seite, die Ungleichgewichte Europas und die Risiken der neuen Weltunordnung auf der anderen Seite haben zu Maastricht geführt und zu dem Versuch, Europa neue Bindungskräfte zu geben in dem Moment, da alles andere auseinanderfällt.

Aber Maastricht ist mehr Vision als Verfassung. Zwar wurden alle acquis communautaires bestätigt und bestärkt. Aber die große Frage bleibt un-gestellt und damit unbeantwortet, wie die Gestalt des künftigen Europa aussehen soll, wie Europa nach außen wirken kann, wie das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten sich gestalten wird, wie das zu Ost-und Ostmitteleuropa. Hat Europa ein System der governance, das entwicklungsfähig ist? Oder treiben die zentrifugalen Kräfte die Gemeinschaft auseinander? Ist die Perfektion der Brüsseler im Kleinen vereinbar mit den Widersprüchen im Großen: Verfassung, parlamentarische Kontrolle, Währungspolitik, aber auch Außen-und Sicherheitspolitik? Der weltpolitische Rahmen, der vierzig Jahre lang galt, ist weggefallen, und das Bild muß neu gezeichnet werden. Darum das große malaise und die innenpolitische Desorientierung in den europäischen Hauptländem. Die Erosion des Verfassungskonsensus in Italien, Frankreich und Deutschland ist ein schrilles Warnsignal. Das macht einerseits die europäische Verfassung notwendiger, andererseits auch schwieriger.

Alte Interessengegensätze brechen auf. Großbritannien, Frankreich und Deutschland finden in der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik weder zu gemeinsamer Analyse noch zu gemeinsamer Politik, und deshalb steht diese Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik bisher nur auf dem Papier. Neue Interessengegenstände kommen hinzu. Deutschland hat die Wiedervereinigung zu finanzieren, ohne die erhöhten Lasten durch einschneidendes Sparen auf jeder Ebene aufzubringen: Das treibt die Zinsen hoch. Die Nachbarn aber sind schon tief in der Rezession und wollen gegensteuern. Im Europäischen Währungssystem knirscht es, und Teile sind schon weggebrochen. Damit ist der währungspolitische Fahrplan von Maastricht längst in Frage gestellt.

Das nicht nur erweiterte, sondern anders gewordene Deutschland muß angesichts der neuen Weltunordnung alles tun -und jedenfalls mehr als seit dem großen Herbst 1989 -, seine inneren Machtwährungen zu erhalten: Bildungswesen, Sozialkonsens, Marktwirtschaft, technische Hochleistung und das Vertrauen der anderen. Um bündnisfähig zu bleiben, muß Deutschland aber auch die falschen Entschuldigungen überwinden: die nicht existierenden Verfassungshindernisse für Verteidigung im Bündnis und das angebliche out of area-Hemmnis der NATO. „My alliance, right or wrong“ das geht wahrscheinlich zu weit. Aber es ist daran zu erinnern, daß man sich auf dem moralisch höheren Gelände mitunter verzweifelt allein finden kann; und es gibt Grenzen für einen Nationalegoismus, der sich unter Verweis auf die deutsche Geschichte aus allen Bitternissen heraushalten will. Ein hoher französischer Diplomat sagte unlängst, die Deutschen seien für den Frieden, „bis zum letzten Franzosen“.

Das Rendezvouz mit der Geschichte dauert an, und je länger es dauert, desto unüberschaubarer wird es. Deutschland findet sich nicht mehr geteilt durch die Mauer, aber unangenehm nahe an der Abbruchkante im Osten, wo für Politik und Gesellschaft der freie Fall beginnt. Logisch folgt daraus in der Sicherheitspolitik eine Atlantic-First-Strategie in klarer und mutiger Partnerschaft. Logisch folgt daraus auch, daß die westeuropäische Einigung in die Scheuer zu bringen ist, bevor der Wagen auseinanderfällt oder das große Gewitter kommt. Denn in die Waagschalen des Ostens kann Deutschland niemals mehr Gewicht werfen, als es in den Waagschalen des Westens besitzt.

Zuletzt und vor allem: Was deutsche Politik in vierzig Jahren aus der Katastrophe führte und was am Ende die Wiedervereinigung des Landes in Frieden und Freiheit ermöglichte, bildet die Logik deutscher Politik auch in alle Zukunft: Handlungsfähig wird das Land in der Mitte Europas nur sein, wenn es bündnisfähig bleibt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Michael Stürmer, Dr. phil., geb. 1938; o. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (beurlaubt); Direktor des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit (Stiftung Wissenschaft und Politik), Ebenhausen bei München. Veröffentlichungen u. a: Das ruhelose Reich -Deutschland 1866-1918, Berlin 19903; Wägen und Wagen: Sal Oppenheim jr. & Cie. -Geschichte einer Bank und einer Familie, München 1989; Die Grenzen der Macht: Begegnung der Deutschen mit der Geschichte, Berlin 1992.