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Das Verhältnis von Jugend und Politik in Deutschland | APuZ 19/1993 | bpb.de

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APuZ 19/1993 Das Verhältnis von Jugend und Politik in Deutschland Berufschancen von Jugendlichen in den neuen Bundesländern Jugend in der Krise. Ostdeutsche Jugendliche zwischen Apathie und politischer Radikalisierung Eine Vergleichsuntersuchung Ost-und Westberliner Jugendlicher

Das Verhältnis von Jugend und Politik in Deutschland

Ursula Hoffmann-Lange/Martina GillelHelmut Schneider

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die neueren Jugendstudien belegen, daß gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die in den sechziger Jahren ihren Anfang nahmen, inzwischen zu gravierenden Veränderungen in den politischen Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugendlichen geführt haben. Der vielfach konstatierte Wertewandel führte zu einer individualisierten Lebensauffassung und zu neuen politischen Partizipationsformen. Er trug zu einer größeren Sensibilisierung für politische Fragen bei, die sich auch in einem gestiegenen politischen Interesse niederschlägt. Sie ist jedoch nicht von einer entsprechenden Zunahme der kontinuierlichen Mitarbeit in traditionellen politischen Organisationen begleitet. Oft ist festgestellt worden, daß die jungen Menschen in den neuen Bundesländern einen gewissen Modernisierungsrückstand gegenüber ihren Altersgenossen im Westen aufweisen, da die Lebensbedingungen in den ehemaligen Ostblockstaaten noch sehr viel stärker von traditionalen Mustern geprägt sind. Dies zeigt sich nicht nur in den Wertorientierungen, sondern auch in ihren politischen Orientierungen. Allerdings hat der politische und soziale Umbruch im Osten zu qualitativ abweichenden Einstellungsmustern in zweierlei Hinsicht geführt. Einmal zeigt sich bei Jugendlichen in den neuen Bundesländern eine deutlich größere Bereitschaft zu direkten politischen Aktionsformen wie Demonstrationen, und zum anderen ist ihre politische Unzufriedenheit erheblich größer. Dies schlägt sich nach unseren Ergebnissen u. a. in einer höheren Unterstützung für linke und rechte Protestparteien nieder.

I. Zum Stand der Jugendforschung im vereinten Deutschland

Tabelle 1: Gesamtdeutsche Jugendstudien

In Westdeutschland wurden seit den fünfziger Jahren eine Vielzahl von allgemeinen Bevölkerungsumfragen und Jugendstudien durchgeführt. Das Informationsniveau über die Lebensbedingungen sowie die gesellschaftlichen und politischen Einstellungen von Jugendlichen ist daher relativ hoch. Zudem lassen verschiedentliche Replikationen früherer Fragestellungen und Untersuchungen vielfach auch Aussagen über Entwicklungen im Zeit-verlauf zu.

Tabelle 5: Parteipräferenzen 1 in den neuen und den alten Bundesländern (in Prozent) Quelle: vgl. Tabelle 2.

Demgegenüber sind erheblich weniger Informationen über die Jugendlichen in der ehemaligen DDR verfügbar. Aufgrund der restriktiven Wissenschaftspolitik der DDR-Führung ist die Datenlage hier sogar noch erheblich schlechter als für die übrigen Staaten des ehemals sozialistischen Blocks. Für viele Jahre war das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU), Leipzig, die einzige Einrichtung, die in der DDR überhaupt Umfrageforschung betreiben konnte, und auch dies nur unter großen Einschränkungen Von daher ist es begrüßenswert, daß seit der Wende 1989 geradezu ein Boom an gesamtdeutschen Umfragen zu verzeichnen ist, so daß zumindest für den Zeitraum seit Anfang 1990 ausreichend Daten über die Lebensbefindlichkeiten und Einstellungen der ost-und westdeutschen Jugendlichen vorliegen.

Unter den gesamtdeutschen Repräsentativumfragen sind vor allem die monatlichen Politbarometer, die ALLBUS-Befragungen, die Wohlfahrtssurveys und das Sozioökonomische Panel zu nennen. Seit 1990 wurden mehrere Jugendstudien durchgeführt, die in Tabelle 1 aufgelistet sind. Auch wenn alle der hier aufgeführten Jugend-untersuchungen zumindest einige Fragen zu politischen Einstellungen enthalten, so befassen sich doch nur wenige von ihnen schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis Jugendlicher zur Politik. Hierzu gehören neben der Untersuchung von Melzer die Schülerstudie und der Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts. Die im folgenden berichteten Ergebnisse entstammen hauptsächlich der letztgenannten Studie, die die bislang umfangreichste Erhebung zu den politischen Orientierungen Jugendlicher und junger Erwachsener im vereinten Deutschland darstellt.

Die öffentliche Diskussion des Verhältnisses Jugendlicher zur Politik kreist seit geraumer Zeit um die Schlagworte „Parteien-und Politikverdrossenheit“. Nach einer Aufbruchsphase in den siebziger Jahren, in der die politische Beteiligung junger Menschen sprunghaft zunahm (Stichwort: partizipatorische Revolution), scheint sich dieser Trend inzwischen ins Gegenteil verkehrt zu haben. Selbst die anfangs als neue Partizipationsstrukturen gerühmten Neuen Sozialen Bewegungen leiden heute unter Nachwuchsmangel, und das Mißtrauen gegenüber den etablierten Parteien ist beträchtlich. Bei der Beurteilung dieser Entwicklung wird häufig auf das Verhalten der Parteien und auf zahlreiche politische Skandale verwiesen, die zu einer Aushöhlung des Vertrauens in die Politik beizutragen geeignet waren, z. B. die großzügigen Regelungen der Parteienfinanzierung, hohe Politiker-einkommen oder Verfilzungen zwischen Politik und Großunternehmen. Ohne solche Erscheinungen herunterspielen zu wollen, berücksichtigt jedoch diese Interpretation zu wenig die Wandlungen in den modernen demokratischen Gesellschaften und damit die Voraussetzungen, unter denen Politik sich heute vollzieht.

Im folgenden werden wir uns mit diesen Wandlungsprozessen und ihren Auswirkungen auf die politischen Einstellungen und das politische Verhalten Jugendlicher in Deutschland befassen. Dabei kann die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen als „Avantgarde“ von Entwicklungsprozessen verstanden werden, die sich zunächst bei den jüngeren Alterskohorten manifestieren und sich dann nach und nach in der gesamten Gesellschaft verbreiten.

II. Der Wertewandel und seine Konsequenzen für die politischen Orientierungen

Tabelle 2: Postmaterialismus in den alten und den neuen Bundesländern (in Prozent) Quelle: DJI-Jugendsurvey 1992.

„Werte sind bewußte oder unbewußte Vorstellungen des Gewünschten, die sich in Präferenzen bei der Wahl zwischen Handlungsalternativen niederschlagen.“ Sie werden im Prozeß der Sozialisation vermittelt und von einer gesellschaftlichen Mehrheit oder zumindest von gesellschaftlichen Teilgruppen getragen. Damit stellen sie grundlegende soziale Orientierungen dar, denen verhaltens-determinierende Kraft bei der Herausbildung von Einstellungen und Verhaltensbereitschaften zukommt. Dies gilt auch in bezug auf politische Orientierungen und Aktivitätsbereitschaften.

In der politikwissenschaftlichen Diskussion haben Wertorientierungen seit Anfang der siebziger Jahre eine zunehmende Rolle gespielt. In seinem bahnbrechenden Artikel von „der stillen Revolution der Werte“ führte Ronald Inglehart erstmals die beobachtbaren Veränderungen im politischen Partizipationsverhalten, die sich in der vermehrten Hinwendung vor allem junger Menschen zu direkten und unkonventionellen politischen Aktionsformen manifestierten, auf neue Werthaltungen der heranwachsenden Generationen zurück Der von Inglehart konstatierte intergenerationeile Werte-wandel ist gekennzeichnet durch einen Bedeu-tungsverlust „materialistischer“, d. h. auf ökonomischen Wohlstand und Sicherheit abzielender Werte zugunsten eines Bedeutungsgewinns von „postmaterialistischen“, auf Selbstverwirklichung und eine stärkere Beteiligung hin orientierten Werten Inglehart erklärt diesen Wertewandel mit bedürfnistheoretischen und sozialisationstheoretischen Annahmen. Aus der Mangelhypothese von Abraham Maslow ergibt sich die Erwartung, daß die Befriedigung grundlegender materieller Bedürfnisse zur Entstehung „postmaterialistischer“ Bedürfnisse führt. Die Sozialisationshypothese besagt, daß die wirtschaftlichen Bedingungen in der Phase des Heranwachsens ausschlaggebend für die Herausbildung intraindividuell stabiler Bedürfnisse und Wertorientierungen sind. Diese Hypothesen lassen sich nach Inglehart auch auf ganze Gesellschaften übertragen. Die in den westlichen Industriegesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg in historisch beispielloser wirtschaftlicher Prosperität aufgewachsenen Generationen sind demnach zu Trägern neuer, postmaterialistischer Wertorientierungen geworden und unterscheiden sich grundlegend von den früher aufgewachsenen Alterskohorten, deren Sozialisation durch wirtschaftlichen Mangel geprägt war.

Ingleharts Untersuchungen sind vielfach in theoretischer und empirischer Hinsicht kritisiert worden Dabei ist nicht zuletzt die Kritik an der Eindimensionalität seines Konzepts zu erwähnen, wie sie beispielsweise von Klages/Herbert, Maag und Gille formuliert wurde Während Inglehart davon ausgeht, daß Werte in der Persönlichkeitsstruktur von Individuen hierarchisch angeordnet sind, gehen diese Autoren von einer Gleichrangigkeit von Werten aus. In ihren Arbeiten konnten sie empirisch nachweisen, daß die „materialistischen“ Pflicht-und Akzeptanzwerte auf der einen Seite und die „postmaterialistischen“ Selbstentfaltungswerte auf der anderen Seite von bestimmten Befragtengruppen zugleich als sehr wichtig (= Wertesynthese) oder als unwichtig (= Werte-verlust) eingestuft werden, wenn man den Befragten die Möglichkeit gibt, Werte unabhängig voneinander nach ihrer Wichtigkeit einzuschätzen.

Die gesamtdeutschen Jugendstudien zeigen eine verblüffende Ähnlichkeit in den Wertorientierungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den alten und den neuen Bundesländern, obwohl diese doch in vollkommen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen aufgewachsen sind. Die in früheren westdeutschen Jugendstudien nachgewiesene Verbindung von Selbstentfaltung und Hedonismus einerseits und von hedonistischen und materialistischen Wertorientierungen andererseits ist auch bei ostdeutschen Jugendlichen zu finden Gleichzeitig haben Werte der Selbstentfaltung für die meisten Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Neben Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede. Den Jugendlichen aus Ostdeutschland, die den Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und die deutliche Verschlechterung auf dem Arbeits-und Ausbildungsmarkt miterleben mußten, sind Sicherheit und materieller Wohlstand wichtiger als ihren Altersgenossen im Westen. Für die Mädchen spielt dabei der Sicherheitsaspekt eine größere Rolle, für die Jungen eher das hohe Einkommen. Die ostdeutschen Jugendlichen sind außerdem konventioneller, d. h. stärker an traditionellen Sekundärtugenden wie Pflicht und Anpassung orientiert. Auch ihre Familienorientierung ist ausgeprägter. Umgekehrt sind hedonistische Orientierungen im Westen weiter verbreitet.

Der DJI-Jugendsurvey 1992 bestätigt die in den vorangegangenen Untersuchungen gefundenen Ähnlichkeiten und Unterschiede. Er zeigt aber nicht die in anderen Studien nachgewiesene stärkere soziale Ausrichtung von Ost-Jugendlichen. Vielmehr verweisen bei dieser Frage unsere Ergebnisse stärker auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede: Mädchen sind eher bereit, anderen Menschen zu helfen, als Jungen.

Auffallend ist, daß die ostdeutschen Jugendlichen stärker zu einer Wertesynthese neigen als die westdeutschen Jugendlichen. Behnken u. a. erklären das Nebeneinander von traditionellen und modernen Werten mit dem „selektiven Bildungsmoratorium“ ostdeutscher Jugendlicher, das z. T. die individualistischen Züge westlicher Länder, daneben aber auch Momente einer traditionellen Normal-biographie enthält. Gensicke, der bei seiner Analyse neuester Umfragedaten ebenfalls zu dem Schluß kommt, daß die Ostdeutschen stärker zur Wertesynthese neigen, begründet dies wie folgt: „Ich behaupte also, daß die ostdeutsche Mentalität zwar einerseits nach der Seite der Selbstentfaltungswerte hin offen ist, solche Werte aber eher integrativ anreichert und ausprägt. Auf der anderen Seite neigt sie dazu, traditionelle Werte gegebenenfalls nicht einfach , über Bord zu werfen, sondern damit instrumentell, also zweckrational umzugehen. Das ist der Grund, weswegen das Muster der Wertesynthese ihr näher liegt als das des »revolutionären Wertschubs.

Betrachten wir den klassischen Indikator für Wertorientierungen, nämlich die Kurzversion des Postmaterialismus-Indexes von Inglehart so zeigt sich, daß die ostdeutschen Jugendlichen stärker materialistisch orientiert sind als die westdeutschen (vgl. Tabelle 2). Vergleichbare Differenzen finden sich in verschiedenen anderen Repräsentativuntersuchungen

Bauer-Kaase wies anhand von 1990 und 1991 durchgeführten Repräsentativumfragen nach, daß die Wertorientierungen der Ostdeutschen, wie sie mit dem Postmaterialismus-Index gemessen werden, im Aggregat über die Zeit hinweg relativ stabil sind. Zugleich ergaben sich in den neuen und den alten Ländern die bekannten Beziehungen zu den soziodemographischen Faktoren.

Im Rahmen des DJI-Familiensurveys einer großen Repräsentativerhebung bei 18-bis 55jährigen, die 1988 in Westdeutschland und 1990/91 in den neuen Bundesländern durchgeführt wurde, wurden auch die Wertorientierungen der Befragten in bezug auf Familie, Ehe, Kinder und Beruf erhoben. Dabei ergab sich, daß Postmaterialismus in beiden Teilen Deutschlands mit den folgenden soziodemographischen Variablen verknüpft ist: einem hohen Bildungsniveau, einer gehobenen Berufsposition, einem hohen Einkommen, Kinder-und Ehelosigkeit sowie niedrigem Alter. Zudem zeigten sich Zusammenhänge mit Erziehungs-und Berufsorientierungen. Postmaterialisten verfolgen in einem höheren Ausmaß einen „kooperativen Individualismus“, d. h., sie weisen einerseits eine Orientierung an persönlicher Selbstentfaltung und Partizipation auf, andererseits jedoch auch Verantwortungsbereitschaft und den Wunsch nach sozialer Anerkennung.

Diese Ergebnisse sprechen dafür, daß sich auch in den neuen Bundesländern ein langfristiger Werte-wandel vollzieht. Bereits die Forschungsergebnisse des Zentralinstituts für Jugendforschung, Leipzig, für die Zeit vor 1989 weisen in diese Richtung. Sie belegen einen Bedeutungszuwachs von Werten der Selbstverwirklichung und des Hedonismus seit Mitte der siebziger Jahre Neben dem Einfluß der Westmedien, die eine Annäherung von Ost und West förderten, haben hierzu sicher auch eigenständige Wandlungsprozesse in den ehemaligen Ostblockstaaten wie beispielsweise die durch Gorbatschow ausgelösten Reformbewegungen beigetragen.

III. Politisches Interesse und politische Partizipation

Tabelle 3: Politisches Interesse verschiedener Altersgruppen (in Prozent) Quelle: vgl. Tabelle 2.

Medienwirksame Etikettierungen des jugendlichen Politikverhaltens mit Begriffen wie „Politikmüdigkeit“ und „Politikverdrossenheit“ haben in der politischen und öffentlichen Diskussion einige Irritationen ausgelöst, weil Veränderungen im politischen Verhaltens-und Interessensrepertoire Jugendlicher als Gefährdung der Loyalität gegenüber dem demokratischen System wahrgenommen und problematisiert werden. Die Wahl-und Partizipationsforschung lieferte bereits früher eine Reihe empirischer Belege dafür daß Jugendliche das politische System und seine Akteure in den letzten Jahren anders rezipieren und sich ihre politischen Aktionsformen gewandelt haben. Vor dem Hintergrund des deutschen Vereinigungsprozesses hat die Frage nach dem Gestaltwandel des Politischen im Lebenszusammenhang Jugendlicher darüber hinaus noch einen zusätzlichen Stellenwert erhalten. Politisches Interesse Die Stärke des politischen Interesses und die Bereitschaft zur politischen Partizipation nimmt mit dem Lebensalter zu. Betrachtet man die Ergebnisse des DJI-Jugendsurveys 1992 und weiterer gesamtdeutscher Jugenduntersuchungen so zeigen sich beim Grad des politischen Interesses die bekannten Zusammenhänge mit Geschlecht, Alter und Bildungsniveau. Es ist bei männlichen Jugendlichen stärker als bei weiblichen und nimmt mit dem Alter und dem Bildungsgrad zu.

Sowohl die Shell-Studie als auch der DJI-Jugendsurvey bestätigen zudem, daß die Ost-Jugendlichen etwas stärker politisch interessiert sind als ihre westlichen Altersgenossen (Shell: 61, 9% und 56, 2%). Dabei fällt vor allem das stärkere politische Interesse der ostdeutschen Mädchen und jungen Frauen gegenüber ihren Altersgenossinnen aus dem Westen auf (Shell: 60% zu 48%; DJI: 58, 4% zu 51, 6%). Die Autoren der Shell-Studie sehen die Gründe hierfür weniger in der politischen Umbruchsituation und einem damit verbundenen Politisierungsschub, als vielmehr in den geschlechtsspezifisch geringeren Differenzen bei der politischen Sozialisation in der ehemaligen DDR.

• Auf mögliche Politisierungseffekte der massiven politischen Veränderungen in den neuen Bundesländern deuten die Zahlen des DJI-Jugendsurveys hin, wonach gerade in der jüngsten Altersgruppe der 16-bis 17jährigen die Unterschiede im politischen Interesse zwischen Ost und West beträchtlich sind: Während sich 55, 5% der Ostjugendlichen dieser Altersgruppe als mittel bis sehr stark politisch interessiert einschätzen, sind es im Westen nur 44, 6% (vgl. Tabelle 3). Es sch» eint, als habe diese Alterskohorte im Osten politisch besonders sensibel auf die gewaltfreie Revolution reagiert. Für diese Annahme finden sich auch in der Shell-Studie einige Hinweise

Sinkende Wahlbeteiligung Richtet man den Blick auf die Art und Weise, wie Jugendliche auf das politische System Einfluß nehmen, so stehen die institutionalisierten politischen Mitwirkungsmöglichkeiten wie beispielsweise die Beteiligung an Wahlen im Vordergrund des Interesses. Die stark sinkende Wahlbeteiligung besonders bei den Jungwählern zählt zu den brisanten Phänomenen in der politischen Partizipationslandschaft der letzten Jahre und hat zu einer kontroversen Diskussion geführt. Ist das Verhalten der jugendlichen Nichtwähler situativ oder strukturell zu erklären? Steht hinter dem dramatischen Rückgang der Wahlbeteiligung ein gewachsenes politisches Selbstbewußtsein, die Emanzipation von Milieu und Führungselitn, der bewußte Protest gegen Parteien, Kandidaten und Programme, mit denen man nicht mehr einverstanden ist? Oder sind das alarmierende Zeichen von Resignation und Orientierungsdefiziten, die als Nährboden für Anomie, Apathie oder Indifferenz wirken können

Mittels umfangreicher Wahlanalysen hat Hofmann-Göttig ein strukturelles Mobilisierungsdefizit bei den Jungwählern nachweisen können, das sich in den letzten Jahren noch erheblich verstärkt hat Das Phänomen der Altersgesetzlichkeit von Wahlbeteiligung hat sich dabei über die knapp vier Jahrzehnte bundesrepublikanischer Wahlgeschichte als erstaunlich stabil erwiesen. So beteiligten sich bei den Jungwählern im Durchschnitt immer rund 6% weniger an Wahlen als in der Gesamtwählerschaft. Bei der Bundestagswahl 1990 lag die Wahlbeteiligung der 21-bis 25jährigen sogar bereits ganze 14, 5%’ unter dem Durchschnitt.

Politisch brisant ist dieses Faktum besonders deswegen, weil sich die Nichtwähler in zunehmendem Maße aus der Gruppe der politisch informierten und interessierten Bürger zu rekrutieren scheinen. In der Wahlenthaltung artikuliert sich nicht nur politische Interesselosigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern sie ist teilweise auch das Ergebnis einer bewußten Entscheidung Dies deutet darauf hin, daß die jüngere Generation immer mehr auf Distanz zur repräsentativen Parteiendemokratie geht.

Sinkende Wahlbeteiligung ist somit weniger ein Indiz für einen demokratischen Normalisierungsprozeß, als vielmehr ein deutliches Signal für politische Unzufriedenheit und Entfremdungstendenzen der jungen Bürger. Die Ergebnisse der Shell-Studie 1992 liefern Hinweise für solche Entfremdungstendenzen. So vertreten über 80% der Jugendlichen aus Ost und West die Meinung, die Bevölkerung werde von Politikern betrogen. Außerdem glauben mehr als 80 % der Befragten, daß es in der Politik nur „ums Geld geht“.

Organisatorische Bindungen In der Diskussion um den Wandel der politischen Beteiligungsformen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der im größeren Zusammenhang mit dem Wertewandel und der Veränderung sozialer Strukturen gesehen werden muß, richtet sich der Blick auch auf die organisatorischen Bindungen der Jüngeren, also ihre Mitgliedschaft in Parteien und Verbänden oder ihre Zugehörigkeit zu den Neuen Sozialen Bewegungen. In beiden Regionen haben die Gewerkschaften unter den etablierten Organisationen die höchsten Mitglieder-zahlen, wobei die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den neuen Bundesländern geringer sind als in den alten. Sehr viel niedriger und ohne geschlechtsspezifische Differenzen liegen die Mitgliedschaftsquoten in den Jugendverbänden. Der deutlich niedrigere Organisationsgrad der Jugendverbände im Osten dürfte als Reaktion auf die Monopolstellung und politische Funktion der FreienDeutschen Jugend (FDJ) im ehemaligen DDR-Staat zu interpretieren sein

Politische Parteien und Bürgerinitiativen weisen für die untersuchte Altersgruppe (16-bis 29jährige) in beiden Regionen sehr niedrige Mitglieder-zahlen (ca. 2%) aus. Dies hängt zum einen mit grundsätzlichen Schwierigkeiten zusammen, Jugendliche für ein kontinuierliches Engagement in Organisationen und Verbänden zu mobilisieren, zum anderen zeigen diese Zahlen die relativ große Distanz zum traditionellen Politikbereich.

Politische Beteiligung im Wandel Die politische Mitwirkung in etablierten Organisationen ist seit Ende der sechziger Jahre durch neue Formen politischer Partizipation ergänzt worden. Die Erweiterung des politischen Partizipationsrepertoires durch unverfaßte, direkte Aktionsformen und das Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen sprengte den institutionell vorgegebenen politischen Handlungsrahmen und wurde daher zunächst als Bedrohung des demokratischen Prozesses und als Ausdruck eines grundsätzlich systemfeindlichen politischen Protestes betrachtet. Wie die Political-Action-Studie zeigte, schließen sich traditionelle und neue Partizipationsformen gegenseitig nicht aus. Die unkonventionellen direkten Beteiligungsformen wie beispielsweise Unterschriftensammlungen und Demonstrationen, finden insbesondere bei den Jüngeren großen Anklang und erfreuen sich nach einem kurzfristigen Sympathieabschwung Anfang der achtziger Jahre heute wieder einer breiten Zustimmung.

Bei den Einstellungen der Jugendlichen zu den Neuen Sozialen Bewegungen belegen die Ergebnisse der Shell-Studie, daß die Sympathien der ostdeutschen Jugendlichen für Organisationen, Aktionen und Themen der „neuen Politik“ denen ihrer westdeutschen Altersgenossen nicht nachstehen. Die Befunde des DJI-Jugendsurveys bestätigen dies. In beiden Regionen engagieren sich die weiblichen Jugendlichen in den Neuen Sozialen Bewegungen stärker als ihre männlichen Altersgenossen, während umgekehrt in traditionellen Organisationen die jungen Männer dominieren. Zudem zeigt sich deutlich, daß sich politische Aktivitäten Jugendlicher in konventionellen Verbänden und ihr Engagement im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen nicht wechselseitig ausschließen.

Vergleicht man die Bereitschaft zu verschiedenen politischen Aktivitäten sowie die Angaben zum tatsächlichen Verhalten, so weisen die Jugendlichen im Westen eine leicht höhere Wahlbereitschaft auf als ihre Altersgenossen im Osten. Ganz ähnlich, nur auf einem viel niedrigeren Niveau, ist das Verhältnis bei der Bereitschaft zum Engagement in einer Partei, wobei sich Parteiarbeit in beiden Regionen nach wie vor als klare Männer-domäne erweist.

Die gravierendsten Unterschiede zwischen Ost und West ergeben sich bei der Bereitschaft zur Teilnahme an genehmigten Demonstrationen. Während 79% der Ost-Jugendlichen daran teilnehmen würden, sind es im Westen nur 62%, wobei in beiden Regionen diese Aktionsform bei der jüngsten Alterskohorte am populärsten ist. Die hohe Demonstrationsbereitschaft der 16-bis 17jährigen Ost-Jugendlichen (80, 6%) könnte ein weiterer Hinweis auf eine besondere politische Sensibilität dieser Altersgruppe sein. Schließlich spielten Demonstrationen bei der „friedlichen Revolution“ in der damaligen DDR eine größere Rolle als andere politische Aktionsformen. Daneben finden auch andere unkonventionelle Aktionsformen wie Unterschriftensammlungen und Streiks im Osten mehr Anhänger als in den alten Bundesländern. Während sich die Jugendlichen im Westen etwas stärker als ihre östlichen Altersgenossen an konventionellen politischen Aktivitäten beteiligen, sind die östlichen Jugendkohorten also im Bereich der unkonventionellen Partizipationsformen aktiver (vgl. Tabelle 4).

Die in Tabelle 4 enthaltenen Ergebnisse verweisen gleichzeitig auf einen engen Zusammenhang zwischen Wertorientierungen und politischer Partizipationsbereitschaft. Postmaterialistisch orientierte Jugendliche zeigen eine deutlich höhere Bereitschaft zur Mitgliedschaft in politischen Organisationen, ebenso jedoch auch eine größere Demonstrationsbereitschaft. Während sich die Unterschiede zwischen den Jugendlichen in den alten und den neuen Ländern in der Bereitschaft zur Mitgliedschaft in politischen Organisationen offensichtlich primär auf den höheren Anteil von Materialisten im Osten zurückführen lassen, spielen die Wertorientierungen bei der Demonstrationsbereitschaft nur in den alten Bundesländern eine ausschlaggebende Rolle. In den neuen Ländern hingegen zeigt sich der weiter oben konstatierte Politisierungseffekt aus der Zeit der Wende von1989: Hier ist der Anteil derjenigen, die politische Demonstrationen als Mittel der politischen Artikulation betrachten, auch bei den materialistisch orientierten Jugendlichen deutlich höher und gleichzeitig die Differenz zwischen Materialisten und Postmaterialisten geringer als im Westen.

Gewaltbereitschaft Politisch motivierte Gewalt unterscheidet sich insofern von anderen Gewaltformen, als sie von politischen Einstellungen und Handlungsstrategien her begründet, legitimiert und in politischen Konflikt-situationen eingesetzt wird. Die Befunde der neuen Shell-Studie bestätigen die in der Öffentlichkeit häufig geäußerte Meinung nicht, das Gewaltpotential bei Jugendlichen steige und ostdeutsche Jugendliche zeigten eine größere Gewaltbereitschaft als die Jugendlichen aus dem Westen.

Immer wieder provoziert die Frage nach Gewalt-affinitäten Jugendlicher in der öffentlichen Diskussion Mißverständnisse. Das hängt damit zusammen, daß die verbale Zustimmung zu gewaltförmigen Aktionen direkt mit entsprechendem Handeln gleichgesetzt wird. Zwar läßt die Zustimmung eines Jugendlichen zu einer Gewalt bejahenden Aussage erkennen, daß dieser eine solche Verhaltensweise persönlich für legitim hält; sie bedeutet aber nicht, daß er auch tatsächlich so handelt. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor liegt im wissenschaftlichen Erhebungsinstrumentarium: Mit den Mitteln der Umfrageforschung kann die tatsächliche Gewaltbereitschaft in konkreten Situationen kaum sicher erfaßt werden Diese hängt nicht nur von den Einstellungen zur Gewalt, sondern auch stark von den allgemeinpolitischen Rahmenbedingungen und situationsspezifischen Faktoren ab. Schon aus diesem Grunde ist es wichtig, daß die Politik-und Jugendforschung ihr Erkenntnisinteresse nicht weiterhin nahezu ausschließlich auf die Gruppengröße der „gewaltbereiten“ Jugendlichen konzentriert, sondern vielmehr die kulturellen und sozialen Lebenskontexte der „Gewaltbefürworter“ stärker ins Blickfeld nimmt

IV. Verhältnis zum Parteiensystem und Demokratieverständnis

Tabelle 4: Wertorientierungen und politische Partizipationsbereitschaft (Befragte in Prozent, für die die entsprechende Partizipationsform in Frage kommt) Quelle: vgl. Tabelle 2.

Das Wahlverhalten der Jungwähler wird gemeinhin mit großer Aufmerksamkeit beobachtet, da es Hinweise auf Generationsbrüche gibt und als ein „Frühwarnsystem“ für eine politische Umorientierung in der Gesamtwählerschaft betrachtet wird. Dies gründet auf der Annahme, daß die politischen Erfahrungen in der jugendlichen Sozialisationsphase die Angehörigen einer Generation auch im weiteren Lebensverlauf prägen. Belege dafür gibt es sowohl im Hinblick auf das Ausmaß als auch auf die Ausrichtung ihrer Parteibindungen

Auch wenn die Unzufriedenheit der Jugendlichen mit dem Parteiensystem und den Politikern in den letzten fünfzehn Jahren zugenommen hat und politische Parteien und Wahlen nur einen geringen Stellenwert in den Lebensprioritäten junger Menschen einnehmen, so bleiben die Parteien in parlamentarischen Demokratien dennoch die zentralen politischen Akteure. Daher sollen im folgenden auch noch die Affinitäten zu den politischen Parteien betrachtet werden.

Die repräsentative Wahlstatistik zeigt, daß die Stimmenanteile der etablierten Parteien seit Beginn der achtziger Jahre vor allem bei den Jungwählern zurückgegangen sind. Dieser Trend wird noch deutlicher, wenn man die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung niedrigere Wahibeteilung berücksichtigt und die Nichtwähler in die Prozentuierung einbezieht Während sich die Jungwähler in den sechziger und siebziger Jahren zunehmend von den Unionsparteien abwandten und mehrheitlich für die Sozialdemokraten votierten, verlor die SPD im Verlauf der achtziger Jahre ihre führende Rolle in dieser Wählergruppe. Der CDU/CSU gelang es hingegen nicht, verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen. Ihre Altersstruktur bleibt unausgewogen mit einem Schwerpunkt bei den älteren Wählern. Die Hauptnutznießer dieses Trends waren die Grünen. Allerbeck/Hoag wiesen allerdings darauf hin, daß auch die jüngeren Ko-Parteienpräferieren und wählen Bei der Bundestagswahl 1990 stimmten insgesamt 80, 5% der Jungwähler (18-25 Jahre) für sie, im Vergleich zu 10, 2 % für die Grünen bzw. das Bündnis ’ 90.

Dabei unterschätzt man bei einer Betrachtung des tatsächlichen Wahlverhaltens den Bedeutungsrückgang der etablierten Parteien ganz erheblich. Nimmt man statt des Wahlverhaltens die Partei-präferenzen junger Menschen (eindeutig ermittelter erster Rang für eine Partei des Parteienskalometers) und bezieht dabei auch diejenigen ohne klare Parteipräferenz ein, so liegen nach den Daten des DJI-Jugendsurveys CDU/CSU, SPD und FDP zusammen bei unter 50%, nämlich bei 45, 4% in den alten und sogar bei nur 34, 5% in den neuen Bundesländern. Dagegen kommen die Grünen auf 20, 2 % bzw. 20, 6 %, die Republikaner auf 5, 1 % bzw. 8, 0% und die PDS auf 1, 2 % bzw. 7, 1% (vgl. Tabelle 5) Die Werte für die Parteipräferenz zeigen, daß die Ausdifferenzierung des Parteiensystems während des letzten Jahrzehnts zu einer stärkeren politischen Polarisierung in Deutschland geführt hat, die durch die Vereinigung Deutschlands noch erhöht wurde. Dies wird deutlich, wenn man die durchschnittliche Selbsteinstufung der verschiedenen Parteianhängergruppen auf der Links-Rechts-Skala betrachtet. Während sich die Positionen der Anhänger der Unionsparteien, der SPD, der FDP und der Grünen gegenüber Anfang der achtziger Jahre kaum verändert haben, sind inzwischen auf der Rechten die Republikaner und auf der Linken die PDS hinzugetreten. Die Mittelwerte reichen auf einer Skala von 1 (links) bis 10 (rechts) im Westen von 2, 7 (PDS-Anhänger) bis 7, 3 (Republikaner-Anhänger), in den neuen Bundesländern von 3, 6 bis 7, 9. Von links nach rechts ergeben sich die folgenden Werte für die Anhänger der anderen Parteien: Grüne 4, 2 (4, 4), SPD 4, 5 (4, 6), FDP 5, 6 (5, 4), CDU/CSU 6, 4 (6, 4).

Die zunehmende politische Polarisierung in Deutschland mag zwar Regierungsbildungen und die Konsensfindung bei politischen Entscheidungen erschweren, sie spielt sich jedoch im Rahmen demokratischer Institutionen ab, die bei den Jugendlichen durchweg Unterstützung finden. Dies zeigt sich bei der Beurteilung der Idee der Demokratie, die von der überwältigenden Mehrheit von etwa 90 % der Jugendlichen befürwortet wird. Die Idee des Sozialismus findet demgegenüber nur bei 15, 9% in den alten und bei 39, 8% in den neuen Bundesländern Anklang, während der in der ehemaligen DDR praktizierte Sozialismus fast einhellig abgelehnt wird. Der Nationalsozialismus wird nur von 8, 1% bzw. 10, 6% befürwortet. Dies zeigt, daß es keine nennenswerte Unterstützung für alternative politische Ordnungsmodelle unter den jungen Menschen in Deutschland gibt. Die neueren Zahlen bestätigen das von Schmidtchen Anfang der achtziger Jahre in der alten Bundesrepublik gefundene Ergebnis, daß die Demokratie in der Bundesrepublik -bei aller Kritik im einzelnen -von den Jugendlichen insgesamt positiv bewertet wird. Sie erhielt damals einen Mittelwert von 7, 8 auf einer 11-Punkte-Skala, die USA einen von 6, 9 und die DDR einen von 1, 2. Lediglich die Schweiz lag in der Einschätzung der jungen Menschen noch vor der Bundesrepublik

Allerdings ist nur eine Minderheit der jungen Deutschen mit der Demokratie in der Bundesrepublik uneingeschränkt zufrieden (Skalenwerte + 2 und + 3), und dieser Anteil ist in den neuen Bundesländern deutlich geringer als in den alten. Dies ist auch auf die wahrgenommenen Leistungsschwächen der bundesdeutschen Politik zurückzuführen. Wie die Studie von Schmidtchen von 1980 und die Schülerbefragung des DJI von 1990 zeigen, werden von den Jugendlichen vor allem Versäumnisse im Umweltschutz, beim Minderheitenschutz, in der Realisierung der Gleichheit der Bildungschancen und der Gleichberechtigung der Frau, beim Recht auf Arbeit sowie bei den politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger wahrgenommen Beide Studien zeigen zudem, daß für die Jugendlichen die Realisierung sozialer Rechte und der Wohlfahrtsstaat integraler Bestandteil ihres Demokratieverständnisses sind. Auch wenn die Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen Verhältnissen nicht unmittelbar in politische Entfremdung umschlägt, so ist doch nicht auszuschließen, daß sie zur Politikverdrossenheit beiträgt. In solchen Situationen dienen die politischen Randparteien als Sammelbecken der Unzufriedenen. Dies ist nach den Ergebnissen des DJI-Jugendsurveys auch gegenwärtig der Fall. Die Anhänger der PDS und der Republikaner weisen im Hinblick auf verschiedene Lebensbereiche signifikant geringere Zufriedenheitswerte auf als der Durchschnitt der befragten Jugendlichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Walter Friedrich/Hartmut Griese (Hrsg.), Jugend und Jugendforschung in der DDR, Opladen 1991.

  2. Jürgen Friedrichs, Werte und soziales Handeln, Tübingen 1968, S. 113.

  3. Ronald Inglehart, The Silent Revolution in Europe -Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: American Political Science Review, 65 (1971), S. 991-1017.

  4. Die Verknüpfung direkter unkonventioneller politischer Beteiligungsformen mit postmaterialistischen Orientierungen ist vielfach überprüft worden; vgl. Samuel H. Barnes/Max Kaase u. a., Political Action, Beverly Hills-London 1979; Hans Martin Uehlinger, Politische Partizipation in der Bundesrepublik, Opladen 1988; M. Kent Jennings/Jan van Deth, Continuities in Political Action. A Longitudinal Study of Political Orientations in Three Western Democracies, Berlin-New York 1989.

  5. Vgl. R. Inglehart, The Silent Revolution, Princeton 1977; ders., Kultureller Umbruch, Frankfurt/M. -New York 1989.

  6. Vgl. Abraham Maslow, Motivation and Personality, New York 1954.

  7. Vgl. Thomas Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in den westlichen Industriegesellschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 31 (1979), S. 282-302; ders., Politische Konflikte, Wertwandel und Modernisierung, in: Heinz Otto Luthe/Heiner Meulemann (Hrsg.), Wertwandel -Faktum oder Fiktion?, Frankfurt/M. -New York 1988, S. 48-72; Jan van Deth, Ranking the Ratings: The Case of Materialist and Post-Materialist Value Orientations, in: Political Methodology, 9 (1983), S. 407-432; Wolfgang Jagodzinski, Gibt es einen intergenerationellen Werte-wandel zum Postmaterialismus?, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 5 (1981) 1, S. 71-88; Scott C. Flanagan, Changing Values in Advanced Industrial Societies, in: Comparative Political Studies, 14 (1982) 4, S. 403-444; ders., Value Change in Industrial Societies, in: American Political Science Review, 81 (1987), S. 1303-1319.

  8. Vgl. Helmut Klages/Willi Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug, Frankfurt/M. -New York 1983; Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel: Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/M. -New York 1984; Willi Herbert, Wertwandel in den 80er Jahren: Entwicklung eines neuen Wertmusters?, in: H. O. Luthe/H. Meulemann (Anm. 7), S. 140-160; Gisela Maag, Gesellschaftliche Werte, Opladen 1991; Martina Gille, Lebensziele und Politikvorstellungen von Jugendlichen in Ost und West, in: Deutsches Jugendinstitut, Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit, Opladen 1992, S. 18-41.

  9. Vgl. SINUS, Die verunsicherte Generation, Opladen 1983; Heinz Bonfadelli u. a., Jugend und Medien, Frankfurt/M. 1986.

  10. Vgl. I. Behnken u. a. (Tab. 1), S. 47.

  11. Thomas Gensicke, Sind die Ostdeutschen konservativer als die Westdeutschen?, in: Rolf Reißig/Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Das Ende eines Experiments: Umbruch in der DDR und deutsche Einheit, Berlin 1991, S. 277.

  12. Die Kurzversion des Postmaterialismus-Indexes von Inglehart basiert auf einer Rangreihe von vier Zielen. Die beiden materialistischen Ziele sind „Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in diesem Lande“ und „Kampf gegen die steigenden Preise“. Die beiden postmaterialistischen Ziele sind „Mehr Einfluß der Bürger auf die Entscheidungen der Regierung“ und „Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung“. Als Postmaterialisten bzw. Materialisten werden diejenigen Befragten klassifiziert, die entweder beide postmaterialistischen oder beide materialistischen Ziele auf die ersten beiden Ränge setzen.

  13. Vgl. Petra Bauer-Kaase, Die Entwicklung politischer Orientierungen in Ost-und Westdeutschland seit der deutschen Vereinigung, in: Oskar Niedermayer/Richard Stöss (Hrsg.), DDR-Parteien im Umbruch, Opladen 1993 (i. E.).

  14. Vgl. Hans Bertram, Einstellung zu Kindheit und Familie, in: ders., (Hrsg.), Die Familie in Westdeutschland, Opladen 1991, S. 429-460; ders., Selbstverwirklichung im Beruf-Kinder und Ehe als Lebenssinn, in: ders. (Hrsg.), Die Familie in den neuen Bundesländern, Opladen 1992, S. 215-238.

  15. Vgl. Walter Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/90, S. 25-37.

  16. Vgl. Samuel H. Bames/Max Kaase u. a. (Hrsg.), Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills 1979; Klaus R. Allerbeck, Politische Ungleichheit. Ein Acht-Nationen-Vergleich, München-Zürich 1980.

  17. Vgl. Tabelle 1.

  18. Vgl. Meredith W. Watts, egitimität unkonventioneller politischer Beteiligung: Unterschiedliche Spuren der „partizipatorischen Revolutionen“ in West und Ost, in: Jugend-werk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend ’ 92, Bd. 2, S. 73-89.

  19. Vgl. Wilhelm Bürklin, Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Beteiligung, in: Karl Starzacher u. a. (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie, Köln 1992, S. 18-39.

  20. Vgl. Joachim Hofmann-Göttig, Die Mehrheit steht links. Die jungen Wähler in der Bundesrepublik Deutschland (1953-1989), in: Materialien des SPD-Bundesvorstandes (1989).

  21. Vgl. Ursula Feist, Niedrige Wahlbeteiligung -Normalisierung oder Krisensymptom der Demokratie in Deutschland?, in: K. Starzacher u. a. (Anm. 19), S. 40-57.

  22. Nicht gemeint sind dabei die grundsätzlichen Nichtwähler wie z. B. die Zeugen Jehovas.

  23. Aufgrund erster Auswertungen einer schriftlichen Befragung von mehr als 13 000 Stuttgarter Bürgern und Bürgerinnen im Jahre 1991 -dabei sind erst knapp 7000 Fragebogen ausgewertet worden -weisen die Nichtwähler zwar ein deutlich geringeres politisches Interesse auf, gleichwohl schätzen sich 74% von ihnen als politisch interessiert ein, 41 % sogar als sehr stark oder stark interessiert. Vgl. dazu Michael Eilfort, Sind Nichtwähler auch Wähler?, in: K. Starzacher u. a. (Anm. 19), S. 169-175.

  24. Vgl. W. Melzer, Jugend und Politik (Tab. 1), S. 104.

  25. Da Bürgerinitiativen oft in eine mehr oder weniger feste Organisationsstruktur eingebunden sind, die meist in eine Vereinsform mündet, werden sie in diesem Kontext zusammen mit konventionellen Organisationen thematisiert.

  26. Damit sind Themen und Politikfelder gemeint, die vor allem von den Neuen Sozialen Bewegungen und den Grünen vertreten werden.

  27. Einerseits lassen sich situative Faktoren mittels Umfragen nicht umfassend eruieren, und zum anderen ist die Anzahl der angeblich gewaltbereiten Personen von den in die Konstruktion des entsprechenden Index eingegangenen Items abhängig.

  28. Vgl. hierzu auch Wolfgang Kühnel, Orientierungen im politischen Handlungsraum, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Anm. 18), Bd. 2, S. 70.

  29. Zur Stabilität des Ausmaßes der Parteibindungen vgl. Paul Allen Beck, The Dealignment Era in America, in: Rus-" sei J. Dalton/Scott C. Flanagan/Paul Allen Beck (Hrsg.),. Electoral Change in Advanced Industrial Democracies, Princeton 1984, S. 240-266; zur Konstanz politischer Grundorientierungen vgl. M. Kent Jennings, Residues of a Movement: the Aging of the American Protest Movement, in: American Political Science Review, 81 (1987), S. 367-382.

  30. Vgl. Hans-Ludwig Mayer, Wählerverhalten bei der Bundestagswahl 1990 nach Geschlecht und Alter, in: Wirtschaft und Statistik, (1991) 4, S. 248-260 und S. 138*-141*.

  31. Vgl. Klaus Allerbeck/Wendy Hoag, Jugend ohne Zukunft, München 1985, S. 137.

  32. Die Parteipräferenz wurde im DJI-Jugendsurvey mittels des sog. Parteienskalometers erhoben, bei dem sieben Parteien (CDU und CSU getrennt) nach Sympathie auf einer Skala von + 5 bis -5 eingestuft wurden. Die in unserer Studie hier gefundenen Werte weichen vor allem für den Anteil der SPD und der Grünen deutlich von denen der Shell-Jugendstudie ab, wo im Westen 28 % und im Osten 17 % für die SPD, für die Grünen hingegen nur 14 % bzw. 11 % votierten. Dies kann durch das andere Meßinstrument, die andere Stichproben-technik oder durch Veränderungen im Zeitverlauf bedingt sein. In der Shell-Studie wurde direkt danach gefragt, welcher Partei die Befragten am nächsten standen. Wie Wendy Hoags Analyse ferner zeigte, kann das Quotenverfahren zu beträchtlichen Verzerrungen in der Stichprobe im Hinblick auf zentrale Einstellungen führen; vgl. dazu Wendy Hoag, Der Bekanntenkreis als Universum, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38 (1986), S. 123-132. Schließlich ist auch nicht auszuschließen, daß politische Entwicklungen die gefundenen Verteilungen beeinflussen.

  33. Vgl. Gerhard Schmidtchen, Jugend und Staat, in: Ulrich Matz/G. Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, Opladen 1983, S. 135.

  34. Vgl. ebd., S. 129ff.; Ursula Hoffmann-Lange, Politische Zufriedenheit und die Legitimität des politischen Systems, in: Deutsches Jugendinstitut (Anm. 8), S. 88-99.

Weitere Inhalte

Ursula Hoffmann-Lange, Dr. phil. habil., geb. 1943; Privatdozentin für Politische Wissenschaft an der Universität Mannheim und Leiterin der Abteilung „Jugend und Politik“ am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: (Mitautorin) Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit, hrsg. vom Deutschen Jugendinstitut, Opladen 1992; Eliten, Macht und Konflikt in der Bundesrepublik, Opladen 1992; (Hrsg, und Mitautorin) Social and Political Structures in West Germany, Boulder 1991. Martina Gille, Dipl. -Soz., geb. 1954; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinstitut, München. Veröffentlichungen u. a.: (Mitautorin) Schüler an der Schwelle zur deutschen Einheit, hrsg. vom Deutschen Jugendinstitut, Opladen 1992; (zus. mit Hans Bertram) Datenhandbuch zur Situation von Familien, Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland, Band 4 der Materialien zum 8. Jugendbericht, München 1990. Helmut Schneider, Dipl. -Soz. -Päd., geb. 1949; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Jugend-institut, München. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Frank Braun und Heiner Schäfer) Betriebliche Sozialisation und politische Bildung von jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, München 1984; (zus. mit Frank Braun) Berufliche und politische Orientierungen von Jugendlichen; in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Politische Bildung an Berufsschulen, Bonn 1987.