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Interkulturelle Projektarbeit zur Integration von Aussiedlern. Wege zu Verständnis und Toleranz zwischen Fremden und Einheimischen | APuZ 48/1993 | bpb.de

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APuZ 48/1993 Heimatvertriebene, Aussiedler, Spätaussiedler. Rechtliche und politische Aspekte der Aufnahme von Deutschstämmigen aus Osteuropa in der Bundesrepublik Deutschland Aussiedler in Deutschland Aspekte ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung Interkulturelle Projektarbeit zur Integration von Aussiedlern. Wege zu Verständnis und Toleranz zwischen Fremden und Einheimischen Die deutschen Minderheiten in Polen heute Zwischen Bleiben und Gehen: Die Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion

Interkulturelle Projektarbeit zur Integration von Aussiedlern. Wege zu Verständnis und Toleranz zwischen Fremden und Einheimischen

Andreas Baaden

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die heute nach Deutschland kommenden Aussiedler sind stark von ihrer osteuropäischen Herkunftsregion geprägt, was sich vor allem in der Alltagskultur, in Verhaltensweisen, Werthaltungen und Mentalitäten äußert. Diese die Identität der Menschen bestimmenden soziokulturellen Faktoren müssen in der Integrationsarbeit ohne nationale oder inhaltliche Einengungen aufgegriffen werden. Identität ist nicht statisch, sondern wandlungsfähig, und Integration ist ohne behutsame Modifikationen der mitgebrachten Identität nicht möglich. Interkulturelle Integrationsmaßnahmen zwischen Migranten und Einheimischen müssen verstärkt werden gerade in einer Zeit, die geprägt ist von wachsendem Gruppenegoismus, Nationalismus und der Diskriminierung von Minderheiten. Die derzeitigen Mitteleinsparungen aber zerstören mühsam aufgebaute Strukturen der Integrationsarbeit. Besondere nachteilig werden sich die Kürzungen im Sprachförderbereich auswirken, denn Sprachkompetenz ist Grundlage der Integration. Auch Aussiedlerarbeit ist interkulturelle Arbeit, die zum Ziel hat, auf der Basis von Gleichberechtigung, Akzeptanz und Toleranz mitgebrachte und hiesige Kulturelemente in einen Austauschprozeß einzubeziehen. Das funktioniert nur über das Auflösen der Anonymität zwischen den einheimischen und den „fremden“ Gruppen. Zentrale Bedeutung haben deshalb auf das unmittelbare Wohnumfeld bezogene Aktionen. Die im Bereich der Aussiedlerintegration erworbenen interkulturellen Erfahrungen sind wertvoll für die notwendige Konzeption einer nicht nach überkommenen ethnischen Kriterien bestimmten Einwanderungsund Integrationspolitik.

Die Bundesrepublik wird nach auf Jahre hinaus mit einer Immigration von jährlich etwa 200000 Aussiedlern konfrontiert sein. Die gegenwärtigen politischen, ökonomischen und sozialen Mißstände und Unwägbarkeiten in der GUS tragen ebenso zum Entschluß zur Aussiedlung bei wie die nach wie vor vorhandene Angst vor ethnischen Konflikten, zu der angesichts des wachsenden Nationalismus durchaus Anlaß besteht, und schließlich sind vielen älteren Rußlanddeutschen die Deportationen dieses Jahrhunderts noch in schmerzlicher Erinnerung. Die alten Siedlungsstrukturen sind aufgebrochen, und viele Familien haben schon Verwandte in Deutschland.

Die Hilfen der Bundesregierung, die die Deutschen in Rußland und Kasachstan zum Bleiben ermuntern sollen, greifen unter diesen Umständen kaum und sind vielerorts gescheitert. Millionen-investitionen in fehlgeplante Projekte tragen oft noch zur Verfestigung der Hoffnungslosigkeit bei. Zudem besteht immer die Gefahr, daß die den Deutschen zugedachte Hilfe zu Verstimmungen zwischen den dortigen Nationalitäten führt. Auch die Hoffnungen auf Wiedererrichtung der Wolga-republik und eine Ansiedlung der Rußlanddeutschen in der Ukraine dürften eher Illusionen sein.

Während massiv ungewisse Projekte in den Herkunftsregionen gefördert werden, werden in der Bundesrepublik die mühsam aufgebauten Integrationsstrukturen beeinträchtigt, weil immer weniger Mittel zur Verfügung stehen. Dies ist eine höchst bedenkliche Entwicklung, denn neben Aussiedlern kommen weitere Einwanderer nach Deutschland, für die qualifizierte Integrationsangebote bereitstehen müssen -gerade angesichts zunehmender Fremdenfeindlichkeit. Die langfristigen positiven Effekte einer geregelten Einwanderung überwiegen die kurzfristigen Belastungen, vor denen wir zur Zeit stehen. Hilfe zur Integration ist deshalb extrem wichtig; sie kann aber nur dann greifen, wenn auf politischer Ebene endlich die Weichen für eine konsequente Integrationspolitik gestellt werden. Die Erfahrungen aus der Aussiedlerarbeit können hier wichtige Ansatzpunkte liefern in einer Zeit sinkender Solidarität und wachsender Diskriminierung von gesellschaftlichen und ethnischen Minderheiten. Deshalb werden hier grundlegende Konsequenzen aus erprobten interkulturellen Projekten mit Aussiedlern aufgezeigt, die zu Elementen für eine längst überfällige, alle Migrantengruppen berücksichtigende Integrationspolitik werden sollten.

I. Was heißt „kulturelle Integration“ im Kontext von Aussiedlerarbeit?

Für die praktische Kulturarbeit mit Aussiedlern ist zunächst eine Abklärung des Kulturbegriffs notwendig In der Integrationsarbeit wird ein erweiterter Begriff bevorzugt, d. h., man lehnt es ab, streng zwischen sozialen, ökonomischen und kulturellen Inhalten zu trennen. Es ist unverzichtbar, auch erfahrene Sozialarbeiter in die Kulturarbeit mit Aussiedlern einzubeziehen, da diese die spezifischen Probleme der unterschiedlichen Aussiedlergruppen gut kennen und insbesondere die den Neuanfang begleitenden psychischen Belastungen realistisch einschätzen können. Eine künstliche Abgrenzung birgt die Gefahr in sich, daß ein in der Realität ganzheitlicher Prozeß zum Nachteil der Betroffenen in unterschiedliche „Zuständigkeitsbereiche“ aufgeteilt wird. Genau das aber geschieht in der Verwaltungs-und Projektförderungspraxis mit der Aufteilung in verschiedene Ressorts, was die Integrationsarbeit erheblich erschwert Auf derartige grundlegende Konflikte zwischen Eingliederungsarbeit und Verwaltung wird schon seit langem hingewiesen

Grundsätzlich gilt, daß „Integration“ ein sich im sozialen Interaktionsgefüge vollziehender Prozeß zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist. Deshalb steht auch „kulturelle Integration“ im Gesamtzusammenhang des Integrationsprozesses und keinesfalls isoliert von sozialen und ökonomischen Faktoren. Dennoch lassen sich gewisse Schwerpunkte und spezifische Besonderheiten herausarbeiten, die den Prozeß der kulturellen Integration und die Aufgaben der Aussiedlerkulturarbeit determinieren.

In der allgemeinen Soziologie wird Integration verstanden als sozialer Prozeß, der beiderseitigen Wandel erfordert -sowohl auf Seiten der Migranten wie der Aufnahmegesellschaft Langfristiges Ziel von Integration ist nicht Gleichförmigkeit, sondern Gleichberechtigung, und zwar auf der Grundlage von gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz. Umstritten ist die Begrifflichkeit von „Integration“ vor allem im sozialpolitischen Bereich, wenn es um die programmatische und praktische Ausgestaltung der Arbeit mit Einwanderungsminderheiten geht, die sich im Spannungsgefüge zwischen Forderungen nach vollständiger Assimilation an die Normen und Werte der Aufnahmegesellschaft einerseits und Gleichstellung unter Wahrung der kulturellen Identität andererseits vollzieht Auch zum Begriff der „kulturellen Integration“ gibt es eine Fülle von Ansätzen

Die Erfahrungen aus vielen unterschiedlichen Projekten haben gezeigt, daß „Kultur“ bei Integrationsmaßnahmen kein Selbstzweck sein darf. Die bloße Kultur-Darstellung, etwa bei Konzerten, bewirkt wenig. Anstatt passiven Kulturkonsum zu bieten, wäre es wichtiger, aktive Beteiligung anzuregen sowie Kreativität und Kommunikation zu fördern, d. h., die Maßnahmen zur kulturellen Integration sollten als dem Gesamtprozeß der psychosozialen Integration untergeordnet begriffen werden -sie sind untrennbarer Bestandteil dieses Prozesses. Entscheidend ist, ob eine Maßnahme den Teilnehmern helfen kann, gesellschaftspolitisehe Handlungsfähigkeit und Selbstverantwortliches Handeln zu entfalten. Deshalb wird der Begriff der kulturellen Integration hier verstanden als Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Integration von Aussiedlern unter Zuhilfenahme kultureller Mittel und am Gegenstand mitgebrachter sowie in der Aufnahmegesellschaft vorhandener Kultur-elemente über den Prozeß des interkulturellen Austausches

Nach Bewältigung der „Basis-Integration“, d. h.des Erlernens der deutschen Sprache, des Auffindens einer eigenen Wohnung, der Etablierung am Arbeitsplatz sowie der Deckung des Nachholbedarfs im Konsumbereich, besteht ein erhöhter Bedarf nach weitergehender Erforschung des Lebensumfeldes, Austausch mit der einheimischen Bevölkerung und Stabilisierung der personalen und kulturellen Identität. Hier müssen Maßnahmen zur kulturellen Integration ansetzen. Nach dem von Kossolapow entwickelten idealtypischen Ablauf des Integrationsprozesses gewinnen Maßnahmen der Kulturarbeit nach der sogenannten „Einstiegsphase“, also bereits ab dem zweiten Aufenthaltsjahr, an Bedeutung. Die große Zahl der 1989/90 nach Deutschland gekommenen Aussiedler (jeweils fast 400000) befindet sich bereits seit längerem in der „Kontaktnahmephase“ (nach bis zu drei Jahren Aufenthalt) bzw. am Beginn der „Einbezugsphase“ (im vierten und fünften Aufenthaltsjahr). Aussiedlerkulturarbeit kann in diesen für das ganze weitere Leben der betreffenden Personen entscheidenden Phasen Wertvolles leisten, wenn es um die Stärkung des Selbstwertgefühls, der Eigeninitiative sowie um die Wahrung der lebensgeschichtlichen Kontinuität geht

II. Kulturelle Identität und Aussiedlerintegration

In kulturellen Integrationsprojekten ist ein zentrales Problem, daß Aussiedler aufgrund ihrer osteuropäischen Herkunft hierzulande Schwierigkeiten im alltäglichen Umgang mit Einheimischen haben, die oftmals osteuropäische Varianten kultureller Identität geringschätzen Das beginnt schon bei der Sprache: Ein östlicher Akzent gilt unter vielen Bundesdeutschen als Kennzeichen von kultureller Minderwertigkeit. Krasser noch als im ost-westdeutschen Zusammenwachsen zeigt sich, daß sich unter anderen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen spezifische kulturelle Charakteristika herausgebildet haben, die die Identität der Menschen bestimmen. Wird diese Identität belächelt oder als minderwertig eingeschätzt, können schwere psychische Krisen die Folge sein.

Von bundesdeutscher Seite wird oft vergessen, daß die Deutschen in Osteuropa z. T.seit Jahrhunderten in räumlicher Trennung von Deutschland mit Menschen verschiedener Völker in enger Nachbarschaft zusammengelebt haben und deshalb multi-kulturell geprägt sind. Dieses Phänomen äußert sich vor allem in alltäglichen Gewohnheiten (Wohnungseinrichtung, Kleidung, Eßkultur etc.), in verbalen und nonverbalen Kommunikationsmustern (Dialekt, Akzent, Gestik, Mimik) sowie in bestimmten Verhaltensweisen und in der Mentalität. Auch die deutschen Kulturanteile haben sich gegenüber den hiesigen unterschiedlich entwickelt, so daß sie hier unvertraut oder „veraltet“ erscheinen, wenn sie nicht ganz verlorengegangen sind. Aussiedler sehen in diesen hier fremd erscheinenden Elementen zunächst keinerlei Widerspruch zu ihrem Selbstbild als Deutsche. Kritisch wird es, wenn sie, um als Deutsche akzeptiert zu werden, viele der an ihre osteuropäische Herkunft erinnernden, aber zur existentiellen Basis ihrer kulturellen Identität gehörenden Charakteristika verdrängen und sich dem hiesigen Bild des Deutschen assimilieren. Um schweren psychosozialen Problemen vorzubeugen, die oft die Folge unbewältigter Kulturbrüche sind, sollte die kulturelle Identität der jeweiligen Aussiedlergruppen bei Integrationsmaßnahmen immer in ihrer ganzen Vielfältigkeit berücksichtigt werden.

Die von Einheimischen als fremd empfundenen kulturellen Merkmale von Aussiedlern sind je nach Alter, Bildung und den spezifischen Sozialisationsbedingungen im Herkunftsland unterschiedlich ausgeprägt:

AuSsiedler-Jugendliche sind stark durch ihre Sozialisation im Herkunftsland und in ihren kulturellen Gewohnheiten durch die dortige Majoritätskultur gekennzeichnet, weshalb in kulturellen Integrationsmaßnahmen ohne falsche ideologische oder nationale Scheuklappen polnische, russische, kasachische und rumänische Kultureinflüsse einbezogen werden müssen, wie es etwa die Jugendgemeinschaftswerke praktizieren oder wie es z. B. das Kreativ-Haus in Münster in einem kulturellen Workshop-Projekt mit jugendlichen Aussiedlern aus Polen gezeigt hat. Der Einfluß der Majoritätskultur ist ebenfalls besonders ausgeprägt bei Aussiedlern, die aus städtischen Regionen stammen.

Bei älteren Aussiedlern, insbesondere wenn sie aus ländlichen Gebieten kommen, sind die nichtdeutschen Kulturelemente oftmals eine überraschende Symbiose eingegangen mit aus westdeutscher Sicht altertümlich, romantisch und bisweilen nationalistisch anmutenden, auf einer alten deutschen Tradition fußenden Werthaltungen und Überzeugungen.

Von grundsätzlicher Bedeutung im Hinblick auf die kulturelle Integration von Aussiedlern ist deshalb, die Menschen in ihren Grundüberzeugungen ernst zu nehmen und behutsam auf langfristige, kontinuierliche Veränderungs-und Lernprozesse hinzuarbeiten, die Rücksicht nehmen auf gewachsene persönliche und familiäre Werthaltungen sowie ethisch-moralische Prinzipien. Dies zeigt deutlich, daß man im Umgang mit Aussiedlern keinesfalls eine enge nationale Definition des „Deutschen“ gebrauchen darf, und es wird ebenso deutlich, wie schwierig und überhaupt fragwürdig eine krasse Differenzierung deutsch -nicht deutsch ist. Hieraus folgt, daß hinsichtlich der hier erlebten Fremdheitserfahrungen Aussiedler und ausländi sehe Einwanderer ähnliche Probleme haben. Der psychische Druck, unter dem Migranten aufgrund der Fremdheitserfahrungen stehen, ist enorm und von Einheimischen, denen die Migrationserfahrung fehlt, zumeist nur schwer nachzuvollziehen. Deshalb ist es wichtig, in stadtteilbezogenen Projekten die Migrationsgeschichte der Neubürger zu thematisieren und den Nachbarn zu präsentieren.

Auch auf die regional äußerst mannigfaltigen kulturellen Eigenschaften, die die Identität der jeweiligen Aussiedlergruppen bestimmen, sei an dieser Stelle hingewiesen Es sei ferner betont, daß in den nächsten Jahren noch einiges an kultureller Erfassungsarbeit zu leisten ist, wenn es etwa darum geht, die kulturellen Bestände allein der Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu erforschen. Es geht dabei nicht nur um die Aufarbeitung regionalspezifischer deutscher Volksgruppengeschichte, sondern ganz besonders auch darum, über das Verständnis von Aussiedler-kultur eine Annäherung an die kulturellen Ausprägungen der osteuropäischen Völker zu erreichen. Das kulturelle Überlegenheitsgefühl, das im Westen gegenüber Osteuropa mitschwingt, ist -wie sich zur Zeit beispielhaft am Prozeß der deutschen Einigung zeigt -ein wesentlicher Hinderungsgrund für das Zustandekommen der notwendigen Austauschprozesse in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Die Schwierigkeiten von Aussiedler-Künstlern, sich im hiesigen Kulturbetrieb zu etablieren, ohne sich zu verbiegen, sind dafür ein Beispiel

Die Beschäftigung mit der mitgebrachten Kultur und Identität der als Aussiedler zu uns kommenden Osteuropäer ist nicht zuletzt im Kontext des Verhältnisses zwischen West-und Osteuropa von großer Bedeutung. Schließlich nimmt Deutschland mit den Aussiedlern das Gros der Zuwanderer aus den osteuropäischen Staaten auf und ist somit in der Lage, Erfahrungen zu sammeln, die andere westeuropäische Staaten nicht in diesem Ausmaß gewinnen können. Diese europäische Perspektive erhöht also noch die Verantwortung, unter der sich in Deutschland die Integrationsarbeit vollzieht. Es wäre daher falsch, Aussiedler-Kulturarbeit als eine ausschließlich deutsche Aufgabe zu betrachten in einer Zeit der westeuropäischen Integration und der osteuropäischen Desintegration, in einer Zeit, in der der Europäischen Gemeinschaft eine entscheidende Rolle zukommt, in Osteuropa notwen-dige Aufbauarbeit gegen den erwachenden Un-geist des Nationalismus zu leisten. Diese Aufbau-arbeit kann aber nur auf der Basis gegenseitigen Verständnisses erfolgreich sein, und zu einem solchen Verständnis trägt in erster Linie der kulturelle Austausch bei. Die Beteiligung von Aussiedlern an den internationalen europäischen Kultur-beziehungen -vor allem mit den Herkunftsländern -ist gezielt zu fördern, denn sie besitzen spezifische landeskundliche und sprachliche Vorkenntnisse.

Allzuoft wird übersehen, daß sich auch unter totalitären Regimen eine -oft im Verborgenen blühende -Kultur herausgebildet hat, die heute wesentlich das Selbstwertgefühl der Menschen bestimmt. Daß dies keine öffentliche Kultur sein konnte, darf heute den Menschen nicht zum Nachteil gereichen. Schließlich stand die offizielle Kultur in sozialistischen Systemen nur zu oft unter politisch-ideologischen Zwängen. Deshalb ist es besonders wichtig, auf die alltäglich gelebte Kultur der Menschen einzugehen, zu ergründen, welche Strategien entwickelt wurden, um im schwierigen Alltagsleben zurechtzukommen, welche improvisatorischen Fähigkeiten ausgebildet wurden, um mit Mangelsituationen fertig zu werden, welche Rolle solidarisches Verhalten in der eigenen Gruppe und zwischen Gruppen gespielt hat, um systembedingte Nachteile abzuschwächen. Wichtige Themen der Kulturarbeit sind deshalb alltägliche Verhaltensweisen, Werte, Normen und Ziele der Aussiedler. Solche zentralen, alltagskulturellen Ausdifferenzierungen bestimmen die kulturelle Identität nachhaltiger als die „Artefakte der Kultur“, die in der Hoch-und Volkskultur zelebriert werden 12. Nur durch die Ausweitung des Kulturbegriffes auf die Bereiche der Alltags-und Soziokultur ist gewährleistet, daß Identitätskrisen und psychosoziale Probleme des Einlebens in der fremden Umwelt in der kulturellen Integrationsarbeit aufgegriffen werden können.

Identität ist wandlungsfähig und nicht statisch; sie ist ein Resultat des Konfliktes zwischen eigenen Zielen und fremden Erwartungen ebenso wie „Kultur“ immer das Produkt verschiedener ethnischer Einflüsse ist. Folkloristisch-traditionalistische Verharrungen, denen bisweilen nationalistische Motive zugrunde liegen können, behindern diesen Wandel. Modifizierungen in der kulturellen Identität von Aussiedlergruppen, die für ein Sich-zurechtfinden in dieser Gesellschaft wichtig sind, müssen gefördert werden, ohne daß sich aus dieser Notwendigkeit eine Selbstaufgabe und ein Verlust des Selbstwertgefühls ergibt.

Es ist notwendig, den Weg zwischen den Extremen zu finden: Die Bemühungen zur kulturellen Integration bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen Assimilation (vollständige Anpassung unter Verlust der Identität) und Isolation (Abschottung in der eigenen Gruppe). Zu erwarten, die kulturelle Identität von Aussiedlergruppen unverändert bewahren zu können, ist eine ebenso gefährliche Illusion, wie anzunehmen, zentrale Identitätselemente von hohem emotionalen Gehalt könnten ohne weiteres zugunsten in der Aufnahmegesellschaft gängiger Wertsysteme aufgegeben werden.

Dabei ist zu differenzieren zwischen traditionsbewahrenden, religiösen Aussiedlerfamilien (z. B. Baptisten und Mennoniten), die oft aus ländlichen, kompakten deutschen Siedlungsgemeinschaften stammen, und gegenüber neuen Lebenskonzepten offenen Familien, die meist aus großen Städten kommen. Besonders die erste Gruppe bedarf einer behutsamen, intensiven Unterstützung durch Integrationsmaßnahmen, da traditionsorientierte und von einem verklärten Volkstumsbegriff geprägte Familien oft schwere familiäre Konflikte durchstehen müssen, wenn die jüngeren Mitglieder sich hiesigen gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen öffnen.

Die Entwicklung von auf die tatsächlichen kulturellen Identitätsvarianten der jeweiligen Herkunftsgruppen abgestimmten Maßnahmen wird erschwert durch verschiedene Bestimmungen des Bundesvertriebenen-und Flüchtlingsgesetzes (BVFG). Insbesondere ist dies § 6 BVFG, der die „Volkszugehörigkeit“ definiert und den Aussiedlerstatus von der alleinigen Zugehörigkeit der Person zum Deutschtum abhängig macht und der jetzt strikter als zuvor angewandt wird, um die Aussiedlerzahlen zu begrenzen De facto wird damit den Menschen auch die Möglichkeit erschwert, nichtdeutsche Elemente ihrer Identität in der Bundesrepublik selbstbewußt und ohne die irrationale Angst, den Aussiedlerstatus wieder zu verlieren, weiter zu pflegen. Hier wäre es im Interesse der Aussiedler wichtig, gemischtkulturelle Kulturausprägungen ausdrücklich zu fördern, damit der Assimilierungsdruck verringert wird. Aussiedler-kultur ist ohne den Kontext des Herkunftslandes undenkbar. Auch der § 96 BVFG, der die Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge festschreibt, müßte eine entsprechende Änderung erfahren, die die Aussiedlerkulturarbeit aus dem gegenwärtigen Dilemma befreit, unter national-kulturellen gesetzlichen Bestimmungen interkulturelle Arbeit leisten zu müssen

III. Wohnumfeldbezogene interkulturelle Arbeit

Es liegt auf der Hand, daß für das Zustandekommen eines integrativen Austausches zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft besonders das unmittelbare Wohnumfeld gefordert ist, also der Stadtteil oder die Kommune. Ein grundsätzliches Kriterium, das über den Erfolg kultureller Integrationsmaßnahmen entscheidet, ist deshalb die Initiierung von dauerhaften Kontakten zwischen allen am Ort lebenden Bevölkerungsgruppen. Diese selbstverständlich erscheinende Zielsetzung erweist sich in der Realisierung von Projekten als zumeist außerordentlich schwierig. Auf die Aktivierung lokaler kultureller Träger, die in unmittelbarer Nähe zu den Adressaten aktiv sind, ist dabei großer Wert zu legen. Fortschritte in der kulturellen Integration können insbesondere dann erzielt werden, wenn die Projekte langfristig angelegt sind und sich an feste Personenkreise richten. Die in einigen Kommunen gesammelten Erfahrungen beim Aufbau kommunaler Betreuerkreise sollten dokumentiert und anderen Städten und Gemeinden zugänglich gemacht werden. Das West-Ost-Kulturwerk führt gegenwärtig in Bonn ein institutionenübergreifendes Projekt durch, das viele lokale Kulturinitiativen vereint.

Je größer die kulturellen Unterschiede und Fremdheitserlebnisse zwischen einheimischen Gruppen und zugewanderten Migrantenminoritäten sind,desto dringlicher werden Maßnahmen des Kulturaustausches zwischen diesen Gruppen, um die Abschottung gegeneinander zu überwinden und zu gegenseitiger Akzeptanz der kulturellen Besonderheiten zu kommen. Dies machen die anhaltenden fremdenfeindlichen Ausschreitungen sehr deutlich. In stadtteilbezogenen Projekten der kulturellen Jugendarbeit muß verstärkt mit den rivalisierenden Gruppen gearbeitet werden, vor allem in den sozialen Problemgebieten der Kommunen. Dabei darf es keinesfalls isolierte Angebote nur für Aussiedler geben, da jede Bevorzugung einer Gruppe neue Konflikte mit anderen bedürftigen Gruppen schürt.

Bei der Intensivierung der interkulturellen Integrationsarbeit kann zurückgegriffen werden auf eine in den westlichen Bundesländern nahezu flächendeckende Betreuungsinfrastruktur der Wohlfahrtsverbände und auch der Jugendgemeinschaftswerke. Hier gibt es bereits einige Initiativen, an deren Erfahrungen angeknüpft werden sollte 16.

IV. Sprachförderung als Grundlage soziokultureller Integration

Die vorgenommenen drastischen Kürzungen im Sprachförderbereich werden sich langfristig fatal auswirken, denn die sprachliche Integration ist wesentliche Voraussetzung für alle folgenden Integrationsschritte. Die kurzfristig hier eingesparten Gelder müßten dann an anderen Stellen wieder aufgewendet werden, wenn etwa die berufliche Integration darunter leidet -langfristig wären um ein Vielfaches höhere Kosten zu erwarten, etwa infolge von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit. Anstatt hier den Rotstift anzusetzen, wäre eine Reform der Sprachkurspraxis vonnöten und die gezielte Sprachförderung auch ausländischer Migranten. Grundvoraussetzung für gute Sprachintegrationsmaßnahmen ist jedoch ein Stamm qualifizierter und erfahrener Dozenten, den man aber mit der gängigen Praxis schlechtbezahlter Honorarverträge niemals bekommt. Deshalb ist die Mitarbeiterfluktuation sehr hoch, worunter natürlich die Qualität der Kurse stark leidet.

Die Aussiedler sind mit oft sieben Stunden reinem Sprachunterricht pro Tag völlig überfordert. Nach zwei, spätestens wohl drei Stunden ist die Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht. Zudem befinden sich Aussiedler in einer Situation der völligen Neuorientierung, in der herkömmliche Sprachschulungsmethoden, bei denen der bloße Sprach-erwerb dominiert, nicht greifen. Dementsprechend ineffektiv sind viele Sprachkurse. Hier sollten Möglichkeiten erarbeitet werden, den Sprachunterricht mit kulturellen Mitteln aufzulokkern, ihn abwechslungsreicher und interessanter zu gestalten. Durch das Angebot von kulturellen Aktionsmöglichkeiten und durch kulturelle Begleitveranstaltungen im Rahmen der Sprach-kurse könnte ein höherer Integrationseffekt erzielt werden. Enge bürokratische Richtlinien der einseitig auf Berufsförderung ausgerichteten Curricula behindern jedoch die Dozenten in ihrer Kreativität bezüglich der interessanteren Gestaltung ihrer Kurse.

Der Prozeß der kulturellen Integration beginnt direkt nach der Aussiedlung. Dies wird oftmals bei den Erstunterstützungsmaßnahmen übersehen, die sich zumeist und naheliegenderweise mit materiellen Fragen im Zusammenhang mit Wohnungs-und Arbeitsplatzproblemen beschäftigen. Auch im subjektiven Empfinden der Aussiedler stehen zunächst materielle Wünsche im Vordergrund, die sie sich erfüllen möchten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß unmittelbar nach der Ankunft aufgrund der Fremdheitserfahrungen, der belastenden Aufnahmesituation sowie der Angst vor einer ungewissen Zukunft erhebliche Schwierigkeiten in psychischer Hinsicht auftreten, die sich je nach Herkunft, Alter und Geschlecht unterschiedlich äußern.

Differenzierte Angebote von Maßnahmen aus dem kulturellen Bereich, die auch die Kulturelemente der jeweiligen Aussiedlergruppen einbeziehen und die psychischen Umstellungsschwierigkeiten der Teilnehmer berücksichtigen, sind deshalb schon am Anfang wichtig und sollten auch in die Curricula für die Sprachkurse aufgenommen werden. Neben kultureller Gruppenarbeit im Kurs könnten Kooperationsmaßnahmen mit geeigneten kulturellen Institutionen praktiziert werden.

Ein Konzept von höchstens zwei Stunden reinem Sprachunterricht am Tag und ergänzenden sprach-fördernden gemeinschaftlichen Aktionen wäre sinnvoll. Auf diese Weise könnte der Lerneffekt sogar gesteigert werden. Vielversprechend wäre auch die Kontaktaufnahme mit Einheimischen im Rahmen kultureller Begleitangebote, denn Sprachkompetenz läßt sich am effektivsten durch aktive Kommunikation gewinnen.Zu bedenken ist, daß bei Sprachkursen über einen Zeitraum von mehreren Monaten eine Gruppe von Aussiedlern zusammenbleibt. Hier ergibt sich die Möglichkeit, persönliche Lernprozesse in Gang zu setzen und das Fundament für eine sozio-kulturelle Integration zu legen. Dieses große Potential wird bislang nicht adäquat genutzt. Wenn sieben Stunden unterrichtet wird, die Unterrichteten aber bereits nach kurzer Zeit abschalten, heißt das mit anderen Worten, daß der größte Teil der zur Verfügung stehenden Zeit nicht genutzt und daß nur ein kleiner Teil des möglichen Integrationseffektes erzielt wird. Es ist sogar wahrscheinlich, daß ein so gestalteter Sprachunterricht kontraproduktiv wirkt, denn es ist für die Sprachkursteilnehmer keine gute Erfahrung, wenn ihnen sieben Stunden am Tag Deutsch „eingepaukt“ wird und sie am Ende des Kurses nur wenig gelernt haben. Viele Aussiedler erwarten vom Sprachkurs, daß sie nach Abschluß der Maßnahme „perfekt“ Deutsch sprechen. Tritt dieser erwartete Effekt dann nicht ein, ist das für sie eine schlimme Enttäuschung, die in Resignation und Isolation münden kann mit negativen Konsequenzen für den weiteren Integrationsprozeß.

In einer mehrmonatigen Sprachintegrationsmaßnahme sollte es bei gut konzipierten Kursen unter Leitung qualifizierter, mit der spezifischen Problematik vertrauter Pädagogen möglich sein, mehr als nur Sprachfertigkeiten und beruflich verwertbare Kenntnisse zu vermitteln. Es ist deshalb zu fordern, nicht die finanziellen Kapazitäten’ der Bundesanstalt für Arbeit für die Sprachförderung zu kürzen, sondern diese Mittel für effektivere Sprach-Begegnungs-Integrationskurse einzusetzen.

V. Mitarbeiterschwund trotz unveränderten Bedarfs

Für alle in der Integrationsarbeit engagierten Vereine, Verbände und Institutionen sind Projekte im Bereich der Kulturarbeit ein Aufgabenfeld, dem man sich in den kommenden Jahren kaum wird entziehen können. Allerdings ist jetzt infolge von beträchtlichen Mittelkürzungen ein massiver Stellenabbau im Bereich der Sprachintegrationsmaßnahmen und der Aussiedler-Integrationsarbeit der Verbände zu verzeichnen. Diese Entwicklung ist bedenklich, sind doch die in der sozialen Betreuung von Aussiedlern gewonnenen Erfahrungen der Mitarbeiter von unschätzbarem Wert für die anstehenden Aufgaben im Bereich der kulturellen Integration. Es ist also nicht zu bestreiten, daß schwerwiegende Hindernisse für den Auf-und Ausbau von Angebotsstrukturen bestehen. Um so dringlicher ist, daß wenigstens der bestehende Mitarbeiterstamm erhalten bleibt. Langfristige Nützlichkeitserwägungen sollten hier auf politischer Ebene Vorrang haben vor weiteren Einschnitten ins soziale Netz, insbesondere wenn es um die Integration von Migranten geht -eine Aufgabe, die von entscheidender Bedeutung für unsere gesellschaftliche Zukunft ist.

VI. Ausblick

Die Mehrzahl der mit der Integration von Migranten befaßten Verbände ist bereits damit beschäftigt, die kategorische Trennung zwischen Aussiedler-und Ausländerarbeit aufzuheben und eine inhalts-und problemorientierte Eingliederungsarbeit aufzubauen. Die Praxis ist also der Politik weit voraus, die immer noch diskutiert, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, und die dadurch fatalerweise den Eindruck erweckt, die Immigration nach Deutschland aufhalten zu können. Es ist einleuchtend, daß die praktische Integrationsarbeit massiv durch diese politischen Grabenkämpfe behindert wird. Deshalb ist die Zusammenfassung der mit Integrationsfragen befaßten Bundesbehörden in einem Bundesministerium oder zumindest einem Bundesamt für Migration und Integration notwendig, wie es seit langem schon von Experten gefordert wird inklusive einer Abteilung, die bundesweit interkulturelle Projekte initiiert und koordiniert. Notwendig ist auch die Intensivierung der Integrationsforschung, insbesondere zur Ausarbeitung von Integrationskonzepten.

Die Geschichte lehrt uns, daß Migration aus und nach Deutschland ein normaler Vorgang ist. Erforderlich ist jetzt ein sachlicher Umgang mit diesem Thema denn gerade wegen der immensen und auf absehbare Zeit nur mit großen Anstrengungen aller Kräfte der Gesellschaft zu bewältigendenProbleme bei der Wohnungssituation und auf dem Arbeitsmarkt ist es gefährlich, die Lasten der Zuwanderung zu dramatisieren, ohne die langfristigen Vorteile zu demonstrieren: So ist die Zuwanderung junger Familien wichtig gegen die zunehmende Überalterung Deutschlands, und trotz der Rezession und wachsender Arbeitslosigkeit gibt es in vielen Bereichen einen Arbeitskräfte-mangel, etwa im Handwerk, bei kommunalen Dienstleistungen, im Einzelhandel, im Gastgewerbe oder im Pflegebereich.

Nicht Polemik, sondern mehr Nüchternheit und Tatsacheninformationen sind dringend erforderlich, um der wachsenden Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu begegnen. Hier besitzen die Medien eine herausragende Verantwortung, die sie allerdings auch nur dann effektiv wahrnehmen können, wenn von politischer Seite her die Richtlinien für eine Steuerung der Einwanderung nach Deutschland und eine ebenso konsequente Integrationspolitik erarbeitet werden.

Die Tatsache, daß selbst hier geborene Ausländer keine Chancengleichheit haben, zeigt, daß von einer Integrationspolitik keine Rede sein kann. Die Integration von Aussiedlern (als Deutsche) ist dagegen politisch gewollt und wurde jahrzehntelang massiv unterstützt. Diese Rechte werden Ausländern weitgehend vorenthalten, und es wird ihnen sogar mangelnde „Integrationsfähigkeit“ vorgeworfen. Die Konsequenz dieser Politik ist die Marginalisierung mittlerweile der dritten Einwanderergeneration.

Ein rechtlicher Sonderstatus von Aussiedlern ist in einer nicht nach ethnischen Auslesekriterien bestimmten Einwanderungspolitik nicht mehr plausibel. Anstatt aber bei der Aussiedlerintegration zu kürzen, sollten die Integrationsschemata, die bisher Aussiedlern zugute kamen (volle Staatsbürger-rechte, Sprachförderung, berufliche Qualifikation, kulturelle Integration etc.), im Rahmen eines umfassenden Integrationsprogramms allen aufgenommenen Immigranten, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland sehen, offenstehen, um sie so schnell wie möglich auf eigene Füße zu stellen. Statt dessen werden Familien sogar noch nach mehreren Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik in die Herkunftsländer abgeschoben, was vor allem für Kinder sehr problematisch ist. Die Erleichterung von Einbürgerungen und die doppelte Staatsbürgerschaft sind eminent wichtig, aber nur erste Schritte zur Integration.

Das Migrationsproblem ist vielleicht das größte Zukunftsproblem für die westlichen Gesellschaften überhaupt. Die Zuwanderung von Menschen aus den von Bürgerkriegen, Nationalitätenkonflikten, Menschenrechtsverletzungen, Hunger-und Umweltkatastrophen und sozialem Elend betroffenen Regionen der Welt wird auf absehbare Zeit anhalten, selbst wenn gewaltige Hilfsprogramme für die Herkunftsländer beschlossen werden sollten. Es liegt auf der Hand, daß weder Deutschland noch die EG unbegrenzt Migranten aufnehmen können. Dies zu fordern ist ebenso unrealistisch wie die Wunschvorstellung, die Einwanderung allein mit restriktiven Maßnahmen stoppen zu können; dies führt zu einem Ansteigen der illegalen Einwanderung und macht damit die Problematik noch unberechenbarer. Einwanderung ist zu einem wesentlichen Bestandteil unserer gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Also wird die Bevölkerung der Bundesrepublik lernen müssen, mit der Zuwanderung zu leben und die größer werdende Vielfalt zum Positiven zu nutzen.

Die Politik muß jetzt ein Zeichen setzen gegen Fremdenhaß und Nationalismus, indem sie a) für die Bundesrepublik als Hauptzielland der Migration nach Westeuropa -notfalls ohne die EG-Partner -ein Migrationskonzept entwickelt, das die Einwanderung unter Beachtung humanitärer Grundsätze und der Aufnahmemöglichkeiten steuern hilft und b) basierend auf Erfahrungen u. a. aus der Aussiedlerintegration eine konsequente Integrationspolitik verwirklicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine Darstellung der unterschiedlichen hierarchischen Ebenen (Hochkultur, Volkskultur, Massenkultur) und der inhaltlichen Differenzierung (Soziokultur, Alltagskultur, Subkultur, Kontrakultur) des Kulturbegriffes findet sich bei: Hermann Bausinger, Kulturelle Identität, Tübingen 1982, S. 3-10.

  2. Vgl. Andreas Baaden, Kulturarbeit mit Aussiedlern. Projekte, Erfahrungen, Handlungsbedarf. Ein Handbuch für die soziokulturelle Integrationsarbeit mit Migrantenminoritäten, Bonn 1992, S. 31f. u. 248f.

  3. Vgl. Stanislaus Stepien, Jugendliche Umsiedler aus Schlesien. Eine empirische Untersuchung über Konsequenzen der Wanderung, Weinheim-Basel 1981, S. 13.

  4. Vgl. Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1989, S. 307f.

  5. Eine ausführliche Diskussion verschiedener Integrationskonzepte bietet u. a.: Annette Treibei, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung und Gastarbeit, Weinheim-München 1990.

  6. Vgl. A. Baaden (Anm. 2), S. 33.

  7. Analog wird hier der Begriff der „Aussiedlerkulturarbeit“ verwendet, wie ihn Kossolapow/Mannzmann definieren: „Aussiedler-Kulturarbeit heißt... Herausarbeiten all jener kulturellen Charakteristika und Präferenzen, die über Sozialisation, Erziehung und gesellschaftliche Placierung bei den Adressaten ausgebildet wurden, damit das, was Aussiedler kulturell mitbringen, und das, was sie hier vorfinden, in einen integrativen Kontext gebracht werden kann. Es geht darum, auf lokaler und regionaler Ebene Erfassungsmöglichkeiten für eine kulturelle Angebotsstruktur zu entwikkeln.. (Line Kossolapow/Anneliese Mannzmann, Vortlager Modell. Aussiedlerkulturarbeit. Kulturarbeit als Medium der Integration von Aussiedler-Frauen. Mutter-Kind-Projekt, Lengerich 1991, S. 3). Grundsätzliches zu Inhalten und Zielen interkultureller Arbeit u. a. bei: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.), Fremdheit überwinden. Theorie und Praxis interkulturellen Lernens in der Erwachsenenbildung, Opladen 1990.

  8. Vgl. Line Kossolapow, Kulturarbeit mit Aussiedlern als phasenspezifischer Prozeß, in: Walter Althammer/Line Kossolapow (Hrsg.), Aussiedlerforschung. Interdisziplinäre Studien, Köln u. a. 1992, S. 23-27.

  9. Der Terminus „kulturelle Identität“ wird hier nach Bausinger wie folgt verstanden: Im Gegensatz zur „personalen Identität“ ist „kulturelle Identität“ ein überindividuelles Konstrukt. Die kulturelle Dimension von Identität ist in den sozialen Interaktionen enthalten. Die Identifikation mit einer Gruppe ist nicht nur an interaktives Verhalten gebunden, sondern schließt auch gemeinsame Regeln des Verhaltens ein und zielt auf gemeinsame Inhalte: Ziele, Werte und Normen. Auffällige Herausstellungen von Zugehörigkeiten durch ideologische Bekenntnissignale wie Trachten, Fahnen, Volkslieder etc. rücken die kulturelle Identität demonstrativ ins Blickfeld. Wichtiger sind aber die unauffälligen Muster kultureller Identität im Bereich der Alltagsbefindlichkeiten: sprachliche Besonderheiten, Formen des Wohnens, der Kleidung, der Ernährung usw. Vgl. H. Bausinger (Anm. 1), S. 13 ff.

  10. Zu den Aspekten Religion, Traditionalismus, Alltags-kultur und Identitätscharakteristika der verschiedenen Herkunftsgruppen vgl.den Literaturüberblick bei: A. Baaden (Anm. 2), S. 36f.

  11. Vgl. ebd., S. 175.

  12. Vgl. H. Bausinger ebd., S. 12.

  13. § 6 BVFG lautet: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Schon eine „Zuwendung der Person zum anderen Volkstum“ soll nach dem neuen „Kriegsfolgenbereinigungsgesetz“ zu einer Ablehnung des Aussiedlungsantrags führen. Diese Auslegungsverschärfung des § 6 BVFG mißachtet die ethnische Realität in den Herkunftsgebieten und zieht behördliche Willkür und erhebliche Belastungen der betroffenen Menschen nach sich.

  14. Ein interkultureller Ansatz sowie die Förderung von Bilingualität und Bikulturalität ist besonders in der Arbeit mit Aussiedler-Jugendlichen wichtig und wurde als eine Voraussetzung für ein Gelingen der Integration z. B. von Kossolapow schon 1987 auf der Basis empirischer Untersuchungen gefordert: Line Kossolapow, Aussiedler-Jugendliche. Ein Beitrag zur Integration Deutscher aus dem Osten, Weinheim 1987, S. 241 f.

  15. So etwa Klaus J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland, Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 451 f. Bade fordert ferner für die Länder mit umfassenden Kompetenzen ausgestattete Beauftragte für zugewanderte Minderheiten sowie für die Kommunen ein Netz von Einwandererberatungsstellen.

  16. Zu empfehlen ist in dieser Hinsicht der Sammelband des Migrationsforschers K. J. Bade (Anm. 17).

Weitere Inhalte

Andreas Baaden, M. A., geb. 1959; Referent bei transfer -Gesellschaft für kooperative Regionalentwicklung in Europa mbH in Dortmund; zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter des West-Ost-Kulturwerkes in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Kulturarbeit mit Aussiedlern. Projekte, Erfahrungen, Handlungsbedarf. Ein Handbuch für die soziokulturelle Integrationsarbeit mit Migrantenminoritäten, Bonn 1992.