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Politische Partizipation und Wahlverhalten von Frauen und Männern | APuZ 11/1994 | bpb.de

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APuZ 11/1994 Was bewegt die Wähler? Das Volk und seine Vertreter: eine gestörte Beziehung Politische Partizipation und Wahlverhalten von Frauen und Männern

Politische Partizipation und Wahlverhalten von Frauen und Männern

Renate Köcher

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Beteiligung an Bundestagswahlen und den meisten Landtagswahlen ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Strukturveränderungen der Wählerschaft. Da die Wahlbeteiligung in der jungen Generation weit überproportional zurückgegangen ist, sind insbesondere unter 30jährige, begrenzt auch 30-bis 40jährige, bei Wahlen unterrepräsentiert. Die Wahlbeteiligung der 18-bis 24jährigen Westdeutschen ist seit 1983 um rund 20 Prozent zurückgegangen, die der 50-bis 59jährigen dagegen nur um rund 8 Prozent. In Ostdeutschland ist die Diskrepanz zwischen der Wahlbeteiligung der jüngeren und der der älteren Generation noch ausgeprägter als in den alten Bundesländern. Die Wahlbeteiligung wird zunehmend von dem politischen Interesse beeinflußt, da die soziale Norm, daß sich jeder Bürger unabhängig von seinem politischen Interesse an Wahlen beteiligen sollte, an Einfluß verliert. Die Wahlbeteiligung ist in erster Linie unter politisch Desinteressierten rückläufig, begrenzt auch unter politisch mäßig Interessierten, dagegen kaum unter politisch interessierten Bürgern. Damit nimmt der Einfluß politisch interessierter Kreise auf die Wahlentscheidung zu. Es ist zu erwarten, daß die Wahlbeteiligung künftig stärker schwanken wird, und zwar abhängig davon, wie spannungsgeladen und interessant die jeweilige politische Konstellation für die Bevölkerung ist. Das politische Interesse der Bevölkerung ist langfristig angestiegen, überproportional bei Frauen. Nach wie vor ist jedoch ein beträchtlicher Niveauunterschied im politischen Interesse von Männern und Frauen festzustellen -in Westdeutschland noch mehr als in Ostdeutschland. Die geschlechtsspezifischen Interessen-unterschiede sind jedoch in hohem Maße themenabhängig. Sozialpolitische und kommunale Fragen interessieren Männer und Frauen in ähnlichem Maße, während Frauen an wirtschaftlichen und außenpolitischen Themen unterdurchschnittlich Anteil nehmen.

Die Beteiligung bei den meisten Landtagswahlen wie den Bundestagswahlen ist seit Jahren kontinuierlich zurückgegangen. War die Wahlbeteiligung schon bei der Bundestagswahl von 1987 mit 84, 4 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 1949 abgesunken, gingen im Dezember 1990 in den alten Bundesländern gerade noch 78, 6 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung zur Wahl, in den neuen Bundesländern 74, 5 Prozent. Damit hatte sich der Rückgang der Wahlbeteiligung erneut beschleunigt: Betrug der Rückgang der Wahlbeteiligung in der alten Bundesrepublik zwischen den Bundestagswahlen 1983 und 1987 4, 7 Prozent, so lag die Wahlbeteiligung 1990 noch einmal um 5, 8 Prozent niedriger.

Abbildung 11

Nicht nur der Trend der rückläufigen Wahlbeteiligung setzte sich fort, sondern auch die Veränderungen der Struktur der Wahlberechtigten, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Bereits zwischen 1983 und 1987 ging die Wahlbeteiligung junger Wähler überproportional zurück. Diese Entwicklung hat sich auch mit der Bundestagswahl 1990 fortgesetzt. Dadurch sinkt der Einfluß der jungen Wähler und besonders der jungen Wählerinnen kontinuierlich. Während der Anteil 18-bis 29jähriger Frauen unter den Wahlberechtigten insgesamt angestiegen ist, ist ihr Anteil unter den Wählern rückläufig; die Diskrepanz zwischen ihrer Bedeutung unter den Wahlberechtigten und ihrem Anteil unter den Wählern hat kontinuierlich zugenommen.

Schaubild 1: Politisches Interesse von Männern und Frauen in verschiedenen Lebensphasen (Westdeutschland; in Prozent) Quelle: Aliensbacher Archiv, AWA ’ 93.

Vor diesem Hintergrund wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Frauen und Jugend die Entwicklung des Anteils, der Zusammensetzung und Motive junger Nichtwählerinnen analysiert und das Wahlverhalten und politische Interesse von jungen Frauen in den alten und neuen Bundesländern verglichen.

Schaubild 2: Politisches Interesse von Männern und Frauen in verschiedenen Lebensphasen (Ostdeutschland; in Prozent) Quelle: Aliensbacher Archiv, AWA ’ 93.

Die Analyse stützt sich zum einen auf die Auswertung der amtlichen Wahlstatistiken, zum anderen auf eine Sekundär-analyse von Repräsentativumfragen des Aliensbacher Archivs, insbesondere auf zehn Befragungswellen vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl auf der Basis von jeweils 2000 Interviews. Da die Stichprobe dieser Umfragen generell disproportional angelegt war und die alten und neuen Bundesländer mit der gleichen Fallzahl berücksichtigt wurden, stehen damit für die alten wie neuen Bundesländer jeweils 10000 Interviews zur Verfügung; durch das Zusammenspielen der Datensätze war es möglich, die Struktur und Parteisympathien von Frauen, die entschlossen waren, sich nicht an der Bundestagswahl zu beteiligen, auf 889 Fälle in den alten Bundesländern und 1106 Fälle in den neuen Bundesländern zu stützen; für die Analyse der 18-bis 29jährigen Nichtwählerinnen standen in Westdeutschland 256, in Ostdeutschland 261 Fälle zur Verfügung.

I. Rückläufige Wahlbeteiligung bei Bundestags-und Landtagswahlen

Tabelle 1: Wahlbeteiligung von Männern und Frauen nach Altersgruppen bei Bundestagswahlen: Alte Bundesländer (ohne West-Berlin) Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Wahl zum 12. Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990, Fachserie 1, Heft 4, S. 11.

Die Analyse der Wahlbeteiligung bei Bundestags-und Landtagswahlen zeigt auf breiter Front einen Rückgang der Wahlbeteiligung. Durchgängig lag die Wahlbeteiligung bei den letzten Landtagswahlen in den einzelnen Ländern der alten Bundesrepublik unter den Ergebnissen dW früheren Wahlen, mit Ausnahme der letzten Berliner Wahl, die jedoch durch die Kopplung mit der Bundestagswahl einen Sonderfall darstellt. So ist die Wahlbeteiligung in Schleswig-Holstein zwischen den Wahlen 1988 und 1992 um 5, 7 Prozent abgesunken, in Niedersachsen zwischen 1986 und 1990 um 2, 7 Prozent, in Bremen um 3, 4 Prozent, in Nordrhein-Westfalen um 3, 4 Prozent und in Bayern um 4, 2 Prozent.

Abbildung 14

Die Wahlbeteiligung von Männern und Frauen unterscheidet sich in den meisten der alten Bundesländer bei Landtagswahlen nur geringfügig; lediglich in Baden-Württemberg und begrenzt auch in Hessen sind größere Unterschiede festzustellen. So beteiligten sich bei der letzten hessischen Landtagswahl 70, 9 Prozent der Männer, aber nur 68, 6 Prozent der Frauen; in Baden-Württemberg betrug diese Relation 70, 3 zu 66, 1 Prozent. Für alle Länder gilt jedoch, daß sich die 18-bis 35jährigen Wähler unterdurchschnittlich an der Wahl beteiligten und speziell in der Gruppe der 18-bis 25jährigen Wählerinnen durchgängig die niedrigste Wahlbeteiligung festzustellen ist.

Abbildung 15

Dieses Muster gilt auch für die Bundestagswahlen. Analysiert man die Wahlbeteiligung nach Geschlecht und Altersgruppen auf der Basis von Wahlberechtigten ohne Wahlschein, so liegt die Beteiligung bei den 18-bis 34jährigen Wählern deutlich unter dem Durchschnitt, am ausgeprägtesten bei 18-bis 24jährigen Frauen. Die Wahlbetei-ligung ist in diesen Wählergruppen überproportional zurückgegangen. Nimmt man die Wahlbeteiligung von 1983 zum Maßstab, so erreicht die Wahlbeteiligung 1990 in den alten Bundesländern noch 86 Prozent des damaligen Niveaus, bei 25-bis 29jährigen Wählern jedoch nur 79 Prozent, bei 21-bis 24jährigen Frauen 75 Prozent und bei den Erstwählerinnen 76 Prozent. Damit liegt die Wahlbeteiligung bei den 18-bis 24jährigen wahlberechtigten Frauen heute um ein Viertel niedriger als am Beginn der achtziger Jahre, bei den 25-bis 34jährigen Frauen rund ein Fünftel niedriger.

Abbildung 16

Wie schon bei der Analyse nach der Bundestagswahl 1987 bestätigt sich erneut, daß sich die Wahlbeteiligung von Männern und Frauen nur bei den jungen Wählern im Alter zwischen 18 und 24 Jahren und bei der älteren Generation, den über 60jährigen, signifikant unterscheidet. Bei den 18-bis 24jährigen liegt die Wahlbeteiligung von Frauen in den alten Bundesländern rund 3 Prozent hinter der Wahlbeteiligung gleichaltriger Männer zurück, ebenso bei den 60-bis 69jährigen Wählern; nach dem 69. Lebensjahr öffnet sich die Schere weiter: In dieser Altersgruppe liegt die Wahlbeteiligung von Männern um 10 Prozent über der von Frauen (s. Tabelle 1).

Auffallend niedrige Wahlbeteiligung der jungen ostdeutschen Generation In den alten Bundesländern hat sich in den letzten Jahren bei der Wahlbeteiligung zunehmend eine Schere zwischen der jüngeren und älteren Generation geöffnet. Lag die Wahlbeteiligung der 18-bis 24jährigen Wähler 1983 knapp 10 Prozent unter der Wahlbeteiligung der 45-bis 59jährigen, so trennen mittlerweile diese beiden Wählergruppen rund 20 Prozent. Nur 60, 4 Prozent der 21-bis 24jährigen westdeutschen Frauen beteiligten sich an der letzten Bundestagswahl, aber 82 Prozent der 45-bis 49jährigen und 84, 2 Prozent der 50-bis 59jährigen Frauen. In Ostdeutschland ist die Diskrepanz zwischen der Wahlbeteiligung der jüngeren und älteren Generation noch ausgeprägter als in den alten Bundesländern. Dies geht ausschließlich auf die Wahlenthaltung der jungen Generation zurück.Die Beteiligung lag bei den 18-bis 20jährigen Wählerinnen gerade bei 55, 2 Prozent (gleichaltrige Männer: 58 Prozent), in der Altersgruppe der 21-bis 24jährigen bei 54, 2 (54, 8 Prozent) und blieb auch noch bei den 25-bis 34jährigen Wählerinnen hinter dem (niedrigen) westdeutschen Niveau zurück (s. Tabelle 2). Damit bleibt die Wahlbeteiligung junger Frauen wie auch junger Männer in den neuen Bundesländern bis zu 30 Prozent hinter der Wahlbeteiligung der älteren Generation, speziell der 50-bis 69jährigen, zurück. Die Daten zeigen, daß dies in den neuen Bundesländern kein geschlechtsspezifisches Phänomen ist, sondern ausschließlich durch das Alter gesteuert wird.

Die niedrigere Wahlbeteiligung in Ostdeutschland zeichnete sich bereits im Vorfeld der Bundestagswahl ab. Das Interesse der Bevölkerung in den neuen Bundesländern an der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl lag deutlich niedriger als das Interesse an der Volkskammerwahl, die von der Bevölkerung als die eigentliche Wahl der Befreiung, als die erste demokratische Wahl erlebt wurde. Die junge ostdeutsche Generation nahm auch weniger Anteil am Ausgang der ersten gesamtdeutschen Wahl als gleichaltrige Westdeutsche. Von den 18-bis 29jährigen Westdeutschen interessierten sich 35 Prozent sehr für die Wahl, von den gleichaltrigen Ostdeutschen lediglich 26 Prozent. Das unterdurchschnittliche Interesse der jungen ostdeutschen Generation an der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl ist nicht mit einem generell geringeren politischen Interesse zu erklären. Das Interesse der ostdeutschen Bevölkerung an Politik lag in den letzten zwei Jahren in der Regel über dem westdeutschen Interessenpegel. Das gilt auch für die junge Generation und speziell für junge ostdeutsche Frauen.

II. Wachsender Einfluß des politischen Interesses

Tabelle 2: Wahlbeteiligung von Männern und Frauen nach Altersgruppen bei der Bundestagswahl 1990 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Wahl zum 12. Deutschen Bundestag am 2. Dezember 1990, Fachserie 1, Heft 4, S. 11.

Die rückläufige Wahlbeteiligung der jungen Generation läßt sich mit Politikverdrossenheit allein nicht erklären. Junge Wähler und Nichtwähler unterscheiden sich bei kritischen Urteilen über Politik weitaus weniger als in bezug auf ihr politisches Interesse. Das politische Interesse steuert jedoch das Wahlverhalten von Männern ausgeprägter alsdas von Frauen, das Wahlverhalten westdeutscher Wähler stärker als das ostdeutscher Wähler. Dies zeigt ein Vergleich des politischen Interesses von jungen Wählern und Wählerinnen mit gleichaltrigen Wahlberechtigten, die sich der Stimme enthalten haben. Junge Wähler und Nichtwähler unterscheiden sich in bezug auf ihr politisches Interesse in Ost-wie in Westdeutschland stärker voneinander als junge Wählerinnen und gleichaltrige Nicht-wählerinnen. So interessieren sich 52 Prozent der jungen westdeutschen Wähler für Politik, aber nur 22 Prozent der gleichaltrigen Nichtwähler; bei jungen westdeutschen Frauen beträgt diese Relation 34 zu 16 Prozent; damit bekundet auch die Mehrheit der jungen westdeutschen Wählerinnen kein ausgeprägtes Interesse an Politik. Frauen beteiligen sich wesentlich stärker an Wahlen als nach ihrem politischen Interesse zu vermuten.

Die Trendanalyse legt den Schluß nahe, daß sich die Bedeutung des politischen Interesses für das Wahlverhalten im Zeitablauf verändert. Ein Vergleich der Beteiligung politisch Interessierter und Desinteressierter in den alten Bundesländern an den Wahlen von 1987 und 1990 zeigt, daß die Wahlbeteiligung nicht gleichmäßig gesunken ist, sondern in erster Linie bei den politisch Desinteressierten. Setzt man die Wahlbeteiligung in den Gruppen der politisch Interessierten, weniger Interessierten und Desinteressierten von 1987 gleich 100, so erreicht die Wahlbeteiligung bei den politisch Interessierten praktisch das Niveau von 1987, während der Indexwert in der Gruppe der Desinteressierten nur noch 83 erreichte; damit ist die Wahlbeteiligung in der Gruppe der politisch Desinteressierten um knapp ein Fünftel eingebrochen:

Hier deutet sich eine Entwicklung von außerordentlicher Tragweite an. Die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik lag über die letzten Jahrzehnte hinweg immer auf einem außerordentlich hohen Niveau; der Kreis der Wähler war immer wesentlich größer als der Anteil der politisch Interessierten. Die Minderheit der Nichtwähler zeichnete sich immer durch geringeres politisches Interesse aus, aber auch ein beträchtlicher Anteil der Wähler war und ist politisch nicht sonderlich interessiert. Dieser Kreis hat jedoch in den letzten Jahren seine Wahlbeteiligung beträchtlich reduziert. Damit wird der Einfluß des politischen Interesses auf die Wahlneigung größer. Dies erklärt die rückläufige Wahlbeteiligung bei stabilem bzw. sogar leicht gestiegenem politischen Interesse bei der letzten Bundestagswahl.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erhält der Niveauunterschied im politischen Interesse von Männern und Frauen besonderes Gewicht. Wenn der Einfluß des politischen Interesses auf die Bereitschaft, sich an Wahlen zu beteiligen, zunimmt, ist ein überproportionales Absinken der Wahlbeteiligung in der jüngeren Generation und insbesondere bei jungen Frauen zu befürchten.

Im Wahljahr 1990 erreichte das politische Interesse westdeutscher Frauen einen Höhepunkt. Über die vorhergehenden vier Jahrzehnte hinweg stieg das politische Interesse von Frauen langsam, aber kontinuierlich an; der Kreis politisch interessierter Frauen weitete sich zwischen dem Beginn der fünfziger und dem Ende der sechziger Jahre von 11 auf 27 Prozent aus, stieg bis zum Ende der siebziger Jahre geringfügig weiter auf 31 Prozent, bis Mitte der achtziger Jahre auf 34 Prozent. Heute beträgt der Anteil politisch interessierter Frauen in den alten Bundesländern 40 Prozent; der Anteil völlig desinteressierter Frauen ist von 50 Prozent am Beginn der fünfziger Jahre auf den Tiefstwert von 12 Prozent gefallen. i Durch diesen kontinuierlichen Anstieg des politischen Interesses von Frauen hat sich das Gefälle im politischen Interesse von Männern und Frauen verringert, wenn auch nicht annähernd eingeebnet. Am Beginn der fünfziger Jahre lag der Anteil politisch Interessierter unter Männern um 35 Prozent über dem Anteil politisch interessierter Frauen, 1994 immerhin noch um 28 Prozent. Auch das politische Interesse von Männern hat sich zwischen den frühen fünfziger Jahren und Ende der siebziger Jahre deutlich erhöht, von 46 auf 64 Prozent; seit dem Ende der siebziger Jahre war das Niveau des politischen Interesses von Männern weitgehend stabil.

In den drei Jahren seit der letzten Bundestagswahl ist das politische Interesse von Männern wie Frauen wieder abgesunken; der Abstand im politischen Interesse von Männern und Frauen wurde durch diese Entwicklung nicht tangiert.

Die Hoffnung, daß gleiche Bildungschancen die Unterschiede im politischen Interesse von Männern und Frauen einebnen würden, hat sich bisher nicht erfüllt. Zwar interessieren sich junge Frauen mit höherer Schulbildung mehr für Politik als unter 30jährige Frauen mit einfacher Schulbildung; ein Vergleich mit dem politischen Interesse von jungen Männern mit einfacher und höherer Schulbildung zeigt jedoch, daß das Interesse von Männern an Politik unabhängig von der Schulbildung größer ist als bei Frauen. Von den unter 30jährigen Männern mit einfacher Schulbildung interessieren sich 37 Prozent für Politik, von den gleichaltrigen mit höherer Schulbildung 63 Prozent; bei Frauen unter 30 erhöht sich das politische Interesse bei höherer Schulbildung von 19 auf 47 Prozent.

In Ostdeutschland weicht das politische Interesse von Männern und Frauen weniger stark voneinander ab als in Westdeutschland. Dies gilt für die jüngere Generation wie für die ältere, besonders ausgeprägt jedoch für die Altersgruppe der 40-bis 60jährigen. Analysiert man die Entwicklung des politischen Interesses mit zunehmendem Alter, so zeigt sich zunächst in den alten wie neuen Bundesländern das gleiche Muster. Das politische Interesse baut sich ganz allmählich zwischen dem 14. und 40. Lebensjahr auf. Von den 18-bis 19jährigen westdeutschen Männern interessieren sich lediglich 34 Prozent für Politik, von den 25-bis 29jübrigen 49 Prozent, von den 35-bis 39jährigen 64 Prozent. Ähnlich entwickelt sich das Interesse junger ostdeutscher Männer. Ab dem 40. Lebensjahr liegt das politische Interesse bei west-wie ostdeutschen Männern in der Regel über 60 Prozent.

Auch das politische Interesse von Frauen nimmt mit zunehmendem Alter zu, jedoch keineswegs vergleichbar steil wie bei Männern. Auffallend ist, daß sich das politische Interesse von jungen westdeutschen Frauen zwischen Anfang und Ende Zwanzig kaum erhöht, während das politische Interesse von Männern in dieser Lebensphase immerhin von 34 auf 49 Prozent ansteigt; von den 18-bis 19jährigen westdeutschen Frauen interessieren sich dagegen nur 25 Prozent für Politik, von den 20-bis 24jährigen 26 Prozent und von den 25-bis 29jährigen 29 Prozent, und erst nach dem 35. Lebensjahr nimmt das politische Interesse von Frauen dann deutlich zu (s. Schaubild 1).

Ein entscheidender Grund für die auch heute noch große Kluft im politischen Interesse von Männern und Frauen ist die Stagnation des politischen Interesses vieler Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. In dieser Lebensphase steht für die große Mehrheit Ausbildung, Beruf, Familie und Freundeskreis im Mittelpunkt. Das gilt für Männer wiefür Frauen. Bei Männern nehmen jedoch auch Interessen, die über den Nahbereich hinausführen, in dieser Lebensphase weitaus stärker zu als bei Frauen.

Vor dem Hintergrund der Umbruchsituationen, die Männer wie Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr durchlaufen und die das Interessen-spektrum erkennbar prägen, stellt sich die Frage, wieweit sich diese Umbruchsituationen für Männer und Frauen unterschiedlich gestalten und damit die unterschiedliche Entwicklung des Interessen-spektrums erklären. Die Umbruchsituationen Ausbildung, Berufseinstieg, Partnerschaft und Familiengründung vollziehen sich bei Frauen in einer gedrängteren Zeitspanne, da Frauen zu einem früheren Zeitpunkt eine Ehe eingehen (und Kinder bekommen) als Männer. Entsprechend fehlt bei vielen Frauen eine Konsolidierungsphase, in der der Einstieg in den Beruf gelungen ist und die Kräfte und Aufmerksamkeit zunächst einmal frei werden für die Konzentration auf andere Themen und Interessen. Das Leben von Frauen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr ist stärker von Umbrüchen gekennzeichnet als das der Männer.

Die Entwicklung des Interessenspektrums von Männern und Frauen unterscheidet unter anderem, daß sich das Interessenspektrum von Männern zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr überwiegend verbreitert, während das Interessen-spektrum von Frauen stärker als bei Männern durch einen Wechsel von Interessen gekennzeichnet ist, bedingt durch einen Wechsel von Erfahrungswelten. Der berufliche und gesellschaftliche Bereich, teilweise auch individuelle private Interessen werden durch die Anforderungen der Organisation des Nahbereichs verdrängt.

Auch für Männer bedeutet die Gründung einer Familie einen tiefen Einschnitt in ihr Leben, doch liegt dieser Einschnitt nicht nur einige Jahre später als bei Frauen, sondern er bindet auch deutlich weniger Aufmerksamkeit und Kräfte, da die Organisation des gemeinsamen Haushalts überwiegend von Frauen geleistet wird. Auch heute noch verändert die Gründung eines gemeinsamen Haushalts -auch ehe eigene Kinder vorhanden sind -das Leben von Frauen deutlich stärker als das von Männern. Dadurch wird das Interessenspektrum von Frauen ab Mitte 20 in hohem Maße von den Aufgaben geprägt, die mit dem Aufbau und der Organisation des gemeinsamen Haushalts verbunden sind. Im Interessenspektrum von Frauen zwischen Mitte 20 und 30 schieben sich Aufgaben immer mehr in den Vordergrund, die die Aufmerksamkeit von Männern nur begrenzt absorbieren: Wohnen und Einrichten, Haushaltsführung, gesunde Ernährung und Lebensweise, Kochen, Pflege sozialer Kontakte, Kindererziehung.

Die Interessen von Frauen werden also wesentlich stärker von dem Nahbereich und der Alltagsorganisation aufgesogen. Dies behindert den Aufbau von Interessen, die außerhalb dieses Bereichs liegen, baut sie sogar teilweise ab. Untersuchungen zum Leseverhalten von Männern und Frauen zeigen, daß die weitaus stärkere Lesemotivation von Frauen in der Phase der Familiengründung erkennbar behindert wird, so daß anders als bei Männern bei Frauen „gebrochene Lesekarrieren“ weit verbreitet sind.

Die Entwicklung des politischen Interesses bei ostdeutschen Frauen läuft dagegen stärker parallel zur Entwicklung des politischen Interesses bei Männern und erreicht auch gerade in der Altersgruppe über 30 Jahre ein signifikant höheres Niveau als bei westdeutschen Frauen. Frauen in Ostdeutschland interessieren sich schon frühzeitig stärker für Politik als westdeutsche Frauen. So bekunden 13 Prozent der 16-bis 17jährigen westdeutschen, aber 18 Prozent der gleichaltrigen ostdeutschen Frauen Interesse an Politik; von den 18-bis 19jährigen ostdeutschen Frauen interessieren sich 29 Prozent, von den gleichaltrigen westdeutschen Frauen 25 Prozent für Politik (s. Schaubild 2).

Ein Vergleich des Informationsverhaltens junger ost-und westdeutscher Frauen läßt allerdings den Schluß zu, daß sich das überdurchschnittliche Interesse ostdeutscher Frauen an Politik auf die Innenpolitik beschränkt. Innenpolitische Meldungen werden von ostdeutschen Frauen intensiver verfolgt als von gleichaltrigen westdeutschen; so lesen 60 Prozent der ostdeutschen, aber nur 47 Prozent der westdeutschen Frauen unter 30 Jahren in der Tageszeitung regelmäßig innenpolitische Meldungen. Das Interesse an außenpolitischen Informationen, an Leitartikeln und Wirtschaftsnachrichten bleibt dagegen bei jungen ostdeutschen Frauen hinter dem Interesse junger westdeutscher Frauen zurück. Junge westdeutsche Frauen trennen nicht nennenswert zwischen Innen-und Außenpolitik, gleichaltrige ostdeutsche Frauen dagegen extrem: Während jeweils 47 Prozent der 16-bis 29jährigen westdeutschen Frauen regelmäßig innen-und außenpolitische Meldungen verfolgen, interessieren sich 60 Prozent der ostdeutschen Frauen für innenpolitische Meldungen, aber nur 28 Prozent für außenpolitische Nachrichten. Verglichen mit gleichaltrigen Männern nutzen Frauen von den Rubriken der Tagespresse signifikant unterdurchschnittlich die Berichte über Innen-und Außenpolitik, Wirtschaftsnachrichten und Artikel über Technik und Wissenschaft.

Die Nutzung der einzelnen Rubriken der Tagespresse ist ein wichtiger Indikator, aber als isolierterMaßstab nicht ausreichend für die Beurteilung politischen Interesses. Die Analyse des Interesses anhand von aktuellen politischen Problemen und Themen läßt erkennen, daß junge Frauen an vielen aktuellen Fragen und an politischen Problemen, die das eigene Leben unmittelbar betreffen, ähnlich interessiert sind wie gleichaltrige Männer. Das gilt beispielsweise für die Kontroverse um die Regelung der Asylfrage, für den Krieg in Jugoslawien, Entsorgungsprobleme, die Situation auf dem Wohnungsmarkt, die Gesundheitsreform und die Regelung der Pflegeversicherung:

An der Diskussion um die Neuregelung des Paragraphen 218 nehmen junge Frauen weit überdurchschnittlich Anteil. Aber auch Themen wie die Bekämpfung von Radikalisierung und zunehmender Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen und Maßnahmen gegen die wachsende Kriminalität interessieren junge Frauen mehr als gleichaltrige Männer:

An aktuellen wirtschaftlichen und außenpolitischen Themen nehmen junge Frauen jedoch weitaus weniger Anteil als gleichaltrige Männer. Das gilt für so zentrale Themen wie die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern, die Eindämmung der Staatsverschuldung, die europäische Integration oder auch die Kontroverse um den Einsatz deutscher Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes:Das gilt selbst für die Minderheit der ausgeprägt politisch interessierten jungen Frauen. Junge politisch interessierte Frauen haben andere Interessen-schwerpunkte als gleichaltrige politisch interessierte Männer: Viele innenpolitische und kommunalpolitische Themen interessieren junge Frauen mehr, wirtschaftliche und außenpolitische Themen dagegen signifikant weniger als junge Männer. Extrem ausgeprägt ist das Desinteresse an wirtschaftlichen, außenpolitischen und auch an sozialpolitischen Fragen bei jungen Nichtwählerinnen. Themen wie die Gesundheitsreform, Pflegeversicherung, die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern interessieren die große Mehrheit junger Wählerinnen, aber nur eine Minderheit der jungen Nichtwählerinnen. Nur bei wenigen Themen reicht das Interesse junger Nichtwählerinnen an das junger Wählerinnen heran. Das gilt in bezug auf die Asyldiskussion, die Neuregelung des Paragraphen 218 und Maßnahmen zur Beseitigung der Wohnungsnot. Das Spektrum der Themen, an denen junge Nichtwählerinnen Anteil nehmen, ist also wesentlich enger als bei jungen Frauen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.

Bei der Mehrheit der jungen Nichtwählerinnen ist das Desinteresse an Wahlen nur eine Facette ihrer generell weit unterdurchschnittlichen Anteilnahme an Politik. 59 Prozent der Nichtwählerinnen unter 30 Jahren in den alten Bundesländern und 54 Prozent der gleichaltrigen Nichtwählerinnen in den neuen Bundesländern interessierte der Ausgang der letzten Bundestagswahl nur wenig; generell interessieren Bundestagswahlen nur 8 Prozent der jungen Nichtwählerinnen sehr, weitere 31 Prozent zumindest begrenzt. Noch weniger finden Landtagswahlen und besonders Kommunalwahlen ihre Aufmerksamkeit: Landtagswahlen interessieren gerade 22 Prozent, Kommunalwahlen lediglich 6 Prozent der jungen Nichtwählerinnen. Auch in der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung ist ein Gefälle zwischen der Anteilnahme an bundesweiten, landesweiten und kommunalen Wahlen gegeben; die Bevölkerung differenziert jedoch nicht annähernd so scharf zwischen den verschiedenen Wahlen wie junge Nichtwählerinnen. Insgesamt halten 51 Prozent der jungen Nichtwählerinnen für bedeutungslos, ob sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen oder nicht -aus der Überzeugung heraus, daß es auf die einzelne, auf ihre Stimme nicht ankomme. Diese Überzeugung trennt junge Nichtwählerinnen scharf von jungen Wählerinnen, von denen nur 8 Prozent die eigene Stimmabgabe vergleichbar geringschätzen. Generell unterscheiden sich die Einstellungen von jungen Männern und Frauen zur Teilnahme an Wahlen stärker als bei Männern und Frauen insgesamt. Weniger als Männer haben Frauen den Eindruck, über ihre Stimmabgabe die Zusammensetzung der Regierung zu beeinflussen; weniger als Männern ist ihnen auch wichtig, die favorisierte Partei bei einer Wahl zu stärken. Besonders groß sind jedoch die Unterschiede in der jungen Generation: Nur jede dritte junge Frau, aber die Mehrheit der gleichaltrigen Männer wählen mit der Überzeugung, durch die eigene Stimmabgabe die Zusammensetzung der Regierung zu beeinflussen. Die Ergebnisse legen nahe, die politische Partizipation von Frauen gezielter als bisher zu fördern und zu prüfen, wie dem Empfinden politischer Ohnmacht entgegengewirkt werden kann.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Renate Köcher, Dr. phil., Dipl. -Volksw., geb. 1952; Studium der Volkswirtschaftslehre, Publizistik und Soziologie in Mainz und München. Seit 1977 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Demoskopie Allensbach. Forschungsschwerpunkte: Untersuchungen zum Aufgabenverständnis von Journalisten und international vergleichende Untersuchungen zu den Wertvorstellungen der Bevölkerung in Europa; 1988 Eintritt in die Geschäftsführung des Instituts. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Elisabeth Noelle-Neumann) Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987; Werte und Erwartungen: Die Industriegesellschaft gestern, heute, morgen, in: Arbeit und Freizeit. Perspektiven der Sozialen Marktwirtschaft, hrsg. von der Ludwig-Erhard-Stiftung, 1990; Frauen in Deutschland. Lebensverhältnisse, Lebensstile und Zukunftserwartungen. Die Schering-Frauenstudie ’ 93, Köln 1993; Frauen und Kirche. Eine Repräsentativbefragung von Katholikinnen, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1993.