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Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda. Ethnischer Klassenkonflikt und Bevölkerungswachstum | APuZ 31/1994 | bpb.de

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APuZ 31/1994 Die UNO in Somalia: Operation Enttäuschte Hoffnung Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda. Ethnischer Klassenkonflikt und Bevölkerungswachstum Flucht und Vertreibung in Afrika im Schatten der internationalen Policy-Krise. Das Beispiel Sudan Perspektiven der Wirtschaftsbeziehungen zu Südafrika nach Aufhebung der Sanktionen

Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda. Ethnischer Klassenkonflikt und Bevölkerungswachstum

Hartmut Dießenbacher

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Tod Präsident Habyarimanas am 6. April 1994 hat zur Explosion von Bürgerkrieg und Völkermord in Ruanda geführt. Der rassische Unterschied zwischen Hutu-Mehrheit und Tutsi-Minderheit war in vierhundert Jahren zentralistischer Tutsi-Monarchien kein Anlaß zu Krieg und Massenmord. Mit dem Kolonialeinfluß und der Missionierung erfährt der rassische Unterschied eine Umwertung: Aus der aristokratischen Oberschicht der Tutsi wird eine zum Herrschen befähigte und ausbeuterische Minderheit, aus der bäuerlichen Unterschicht der Hutu eine unterdrückte und demokratische Mehrheit. Ihr Emanzipationskampf führt 1960 zur Revolution gegen das Ancien regime. Tausende der Oberschicht werden ermordet, Abertausende in die Nachbarländer verjagt. Seitdem warten die Flüchtlinge auf Rückkehr ins „Land der Väter“.

I.

Abbildung 1

In Ruanda herrschen Bürgerkrieg und Völkermord. Mit 27000 Quadratkilometern umfaßt Ruanda ein Staatsgebiet etwa von der Größe Belgiens. Kann es eine bessere Gelegenheit für Bürgerkrieg und Völkermord geben, als wenn seit ungefähr vierzig Jahren unversöhnte Ethrtien wegen Übervölkerung und knappen Landes ihr natürliches Recht auf Leben verteidigen oder erkämpfen wollen? Geschieht das mit Waffengewalt und gegen geltende Gesetze, führt es zu Rebellion und Friedensbruch; schließlich zu Anarchie. Das ist in Ruanda der Fall.

Eine Zäsur in der Vorgeschichte des Krieges bildet das Jahr 1960. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte das Volk der Tutsi auf eine ruhmvolle vierhundertjährige Geschichte seiner Königreiche zurückblicken. Das vorkoloniale Ancien regime bestand aus zentralistischen Monarchien. Diese waren nie ganz frei von Stammesquerelen, sich bekämpfenden Eingeborenengruppen und ausbeuterischer Herrschaft arabischer Sultane. Doch entwickelten Hutu und Tutsi eine gemeinsame, dialektübergreifende Bantu-Sprache; eine gemeinsame Geschichte mit derselben Religion, mit geteilter Ökonomie und sozialen Regeln des Zusammenlebens. Mit etwa fünfzehn Prozent Bevölkerungsanteil stets in der Minderheit, hatten die Tutsi gleichwohl die Feudalherrschaft inne. König und Adel verfügten über das beste Land, den größten Bestand an Vieh und die einflußreichsten Posten.

Ihren stammesgeschichtlichen Ursprung führen die Tutsi auf die Hochkulturen Abessiniens und Ägyptens zurück; von dort wanderten sie im 14. oder 15. Jahrhundert ein. Obwohl von hoher Kriegskunst, erreichten sie ihre Vorherrschaft langsam und weitgehend friedlich. Den König („mwami“) an der Spitze betrachteten sie als ein Wesen von göttlichem Ursprung. Die Grenzen des Reichs wurden im späten 19. Jahrhundert von König Kigeri Rwabugiri dem Großen festgelegt. In der gemeinsamen Geschichte bildeten sie die aristokratische Oberschicht über die bäuerlichen und weniger hochwüchsigen Hutu; diese stellen mit ungefähr fünfundachtzig Prozent die Mehrheit. Der Volksstamm der Twa -die dritte der ethnischen Gruppen -umfaßt ein Prozent.

Die Hutu brachen 1960 in einer blutigen Revolution die Königsmacht der Tutsi. König Kigeri V. ging ins Exil. Tausende königstreuer Flüchtlinge ließen nach Schätzungen eine halbe Million ihrer Stammesmitglieder als Leichen zurück. Heute leben etwa 230000 ruandische Flüchtlinge im ugandischen Exil; andere in Zaire und Tansania; sie alle warten auf ihre Rückkehr ins Land. Dreißig Jahre später kehrten am 30. September und 1. Oktober 1990 zwischen fünf-und zehntausend Flüchtlinge aus ugandischem Exil bewaffnet zurück, nachdem der ruandische Staatspräsident Juvenal Habyarimana siebzigtausend Flüchtlingen wegen Übervölkerung die Rückkehr ins Land verweigert hatte.

Bis zum 4. Januar 1991 wurden etwa 350 Tutsi-Rebellen getötet. Am 23. Januar fielen 300 bis 600 Rebellen erneut aus Uganda ein. Sie verfehlten das Ziel eines gewaltsamen Machtwechsels und traten in Waffenstillstands-und Friedensverhandlungen ein. Diese Verhandlungen auf insgesamt sechsundzwanzig Konferenzen unter Beteiligung von Ruandas Nachbarn, von Frankreich, Belgien, den Vereinten Nationen, der OAU (Organisation für Afrikanische Einheit) und Äthiopien liefen auf eine vertragliche Machtteilung nach Beendigung einer Übergangsregierung hinaus. Französische und belgische Soldaten sowie 2600 Blauhelme wurden zu „peace-keeping“ -Maßnahmen eingesetzt. Zentrale Streitfragen waren die Zusammensetzung der Armee und die Teilung des Landes. Sechshundert Tutsi-Soldaten wurden in der Nähe des Parlamentsgebäudes in Kigali stationiert. Das zahlenmäßige Übergewicht der eigenen Armee ließ die ruandische Regierung diesen Kompromiß eingehen.

Am 28. April 1991 kündigte die Einparteienregierung Präsident Habyarimanas unter internationa-lern Druck, der dem Fall der weltideologischen Mauer von Sozialismus und Kapitalismus geschuldet war, für Juni ein Mehrparteiensystem mit demokratischer Gewaltenteilung an. Die schmachvolle Niederlage der Tutsi von 1960 war damit nicht rückgängig zu machen. Eine absolute Tutsi-Herrschaft würde es nicht geben. An die Stelle von kriegerischer Anarchie oder verklärter Monarchie würde eine demokratische „Mixarchie“ treten. Mit ihr war die Aufnahme rückkehrwilliger Tutsi-Flüchtlinge und die Wiederherstellung ihrer Eigentumsrechte keineswegs gesichert. Das hatten in den späten siebziger und Anfang der achtziger Jahre mehr als 100000 vor Pogromen in Uganda unter dem Diktator Idi Amin und dem Nachfolger Milton Obote geflohene Tutsi erfahren müssen. Die meisten blieben vor Ruandas verschlossenen Grenzen. Ihre Heimkehrwünsche stießen auf Beseitigungswünsche. Die Eingelassenen erhielten ihr Eigentum nicht zurück: Ruanda sei übervölkert; Land und Vieh seien verteilt.

Als Staatspräsident Juvenal Habyarimana bei einem Flugzeugabsturz -möglicherweise verursacht durch einen Abschuß -am 6. April 1994 ums Leben kam, verloren die Führer in Armee und Rebellentruppen die Nerven. Strebten die einen einen Machtwechsel an, so wollten die anderen die unbedingte Selbstbehauptung und die Erhaltung des Status quo. Die staatliche Souveränität, die nach der neuen Verfassung auf Parlamentspräsident Sindikubwabo überging, rissen Teile der Armee, die mit französischen Waffen ausgerüstet worden waren, und eine Präsidentengarde von zweitausend Mann, die der Staatschef zu seinem persönlichen Schutz äusgehoben hatte, an sich. Seit 1990 verstärkte sich die Armee mit umfangreicher Ausbildungshilfe und Militärberatung Frankreichs von 4000 auf 40000, die Rebellentruppen wuchsen im gleichen Zeitraum von 5000 auf 14000 Mann. Viele von diesen hatten ihr zukunftsloses Exil in den Flüchtlingslagern von Uganda, Zaire und Tansania verlassen und sich dem Kommando des in den USA militärisch ausgebildeten Paul Kagame unterstellt.

II.

Die Hutu hatten während der dreijährigen Verhandlungszeit, spätestens jedoch seit Dezember 1993, „local security meetings“ zur Identifizierung von Tutsis organisiert und die Zeit zum Aufbau von Milizen und Todesschwadronen bis in die Dörfer des Hinterlandes hinein genutzt. Todeslisten wurden angefertigt, in den Pässen die Volkszugehörigkeit vermerkt. Hintermänner waren Bürgermeister, Polizeibeamte und Armeeangehörige. Milizenführer Robert Kavuga und Lieut-Colonel Theomeste Bagasora aus der Armee waren die führenden Köpfe. Dorfbewohner ließen sich mit Todesdrohungen von ihnen einschüchtern und zum Totschlägen und Abschlachten, sogar von Nachbarn und Kindern, anstiften. Unter ihnen waren auch Hutu-Frauen und alte Hutu-Männer, die sich aus Angst ums eigene Überleben von Miliz und Todesschwadronen zu Verrat und Tötungsarbeit zwingen ließen. Sie folgten einer raffinierten und wohldurchdachten Propaganda, die die Ängste der Hutu-Mehrheit vor neuer Tutsi-Herrschaft schürte, und sie folgten den Aufrufen aus Rundfunkempfängern: „Die Gräber sind noch halbleer. Helft uns, sie zu füllen!“ Jedem war sein eigenes Leben lieber als das des Nächsten.

Knapp siebzig Prozent der Bevölkerung gehören der katholischen Kirche an. Doch das jüdisch-christliche Dogma von der Heiligkeit des Lebens erwies sich unter der staatenlosen Gewalt der Waffe als dünner Firnis des zentralsten aller Menschenrechte: des Rechts auf Leben. Im Schutze der legitimationslosen Hutu-Führungsclique nutzen Milizen, Todesschwadronen und terrorisierte Bürger den Krieg zwischen Armee und Rebellen-truppen zu gezieltem Völkermord. Innerhalb der ersten drei Kampfwochen sollen nach einem Schreiben von „Human rights watch“ an den UN-Sicherheitsrat bis zu 200000 Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben sein; nach fünf Wochen waren es bereits 500000; nach sieben Wochen wollen internationale Beobachter mehr als eine halbe Million Todesopfer nicht ausschließen. Anfang Juli schätzt der Arbeits-und Sozialminister, Jean de Dieu Habinege, ihre Zahl auf ein bis eineinhalb Millionen. Die große Mehrheit der Toten sind Tutsi; ihr Volk dürfte um zwei Drittel dezimiert worden sein.

III.

Nun entschließt sich der UN-Sicherheitsrat, 5500 Blauhelme nach Ruanda zu entsenden. Begleitet wird die Debatte vom Streit um die Verwendung der Begriffe „Bürgerkrieg“ und „Genozid“. Nach Art. 1 der Charta der Vereinten Nationen bestehtbei Genozid die völkerrechtliche Verpflichtung zur Intervention, bei Bürgerkrieg nicht. Die USA weisen ihre Botschaften an, den Begriff Genozid zu meiden. Doch in Ruanda herrscht beides. Über den genauen Auftrag der 5 500 Blauhelme ist keine Einigung zu erzielen: Die USA wollen die Grenze, der UN-Generalsekretär den Flughafen von Kigali als Einsatzort. Die Differenz ist zu diesem Zeitpunkt belanglos; der Einsatz wird mindestens zwei bis drei Monate auf sich warten lassen. Die 5 500 Blauhelme sollen ausschließlich Soldaten afrikanischer Länder sein. Doch sind sie für ihre Aufgabe weder ausgerüstet noch ausgebildet. Fünfzehn Tage nach Ausbruch des Krieges hatte der Sicherheitsrat am 21. April erst einer Resolution zur Verringerung der Blauhelme von 2 600 auf 270 zugestimmt. Bevor die neuen afrikanischen Blau-helme eintreffen können, hat sich Frankreich, anfangs im Alleingang, später mit Unterstützung der Westeuropäischen Union (WEU) und der Vereinigten Staaten, zu militärischer Intervention entschlossen.

Die Intervention wird als „humanitäre Aktion zum Schutz der Zivilbevölkerung“ bezeichnet. Eine Eingreiftruppe aus bis zu siebentausend französischen Besatzungssoldaten, die in der Zentral-afrikanischen Republik, in Gabun, der Elfenbeinküste und in Dschibuti stationiert sind, soll bis zum Eintreffen der Blauhelme ins Land geschickt werden. Tausend französische Soldaten könnten nach Auskunft des französischen UN-Botschafters „in Tagen oder Stunden“ ihre „politisch neutrale Mission“ in Ruanda beginnen. Sie sollen von Tansania und Zaire aus operieren -was eine Kooperation mit dem Diktator Mobutu in Zaire erforderlich macht. Am 24. Juni begann die Aktion unter dem Namen „Operation Türkis“. Eine Beteiligung senegalesischer, nigerianischer, kongolesischer Truppen und von Soldaten anderer afrikanischer Länder wird zugesagt. Der italienische Verteidigungsminister teilt mit, Italien wolle sich nicht an einer „einseitigen Aktion“ Frankreichs beteiligen; nur wenn es „eine internationale Vereinbarung“ gebe. China und Rußland wollen die Zustimmung der Bürgerkriegsparteien. Der südafrikanische Erzbischof und Friedesnobeipreisträger von 1984, D. Tutu, rät im Unterschied zum ebenfalls afrikanischen UN-Generalsekretär von einer französischen Intervention ab. Am 4. Juli nehmen die Rebellentruppen Kigali und Butare ein. Ihr militärischer Sieg ist kaum aufzuhalten. Tutsi demonstrieren gegen die französische Intervention mit Sprechchören: „Frankreich raus aus Ruanda“ und „Komplizen der Mörder“. Hutu jubeln ihnen mit französischen Fahnen als Befreiern zu. Die Franzosen richten eine Schutzzone für Armee, Milizionäre und Hutu-Flüchtlinge ein. Die humanitäre Absicht hat den politisch neutralen Boden verlassen. Sie ist zur Parteinahme geworden. Mit militärischer Gewaltandrohung wird den nach Süden und Südwesten vordringenden Rebellentruppen der Vormarsch verwehrt.

Vordergründig hatten die Befürworter der Intervention das Zeitargument, die Gegner das kulturelle und das psychologische auf ihrer Seite. Die Befürworter verweisen auf die große Afrika-erfahrung der Franzosen und hoffen, durch schnelles Handeln unnötige Todesopfer zu vermeiden. Die Warner dagegen berufen sich zutreffend auf die ablehnende Haltung der Rebellenfront. Frankreich sei eine alte Kolonialmacht; es habe das autoritär-patriarchalische Regime Habyarimanas unterstützt und die für die Tutsi-Massaker verantwortliche Armee und Hutu-Führungsclique mit Waffen versorgt. Es handle aus schlechtem Gewissen oder um der bedrängten Hutu-Herrschaft beizustehen. Eine „weiße“ Eingreiftruppe sei psychologisch nachteilig, weil sie Ressentiments gegen Neokolonialismus wecke. Sie plädieren für den Einsatz von ausschließlich afrikanischen Soldaten. Afrikaner sollen Afrikanern den Frieden bringen; ihnen zu staatlicher Souveränität verhelfen und ihnen mit den Menschenrechten wieder das Recht auf Leben sichern.

Immerhin gewinnt in dieser Kontroverse erstmals ein Grundgedanke klare Konturen: Die von weltpolitischen Vordenkern seit Jahren geführte Debatte über die Relativität von Kulturen wird durch friedenspolitische Pragmatik aufgelöst. Die Kulturrelativisten betonen die Eigenheit der Kulturen, ihres Wissens und ihrer Werte (Cliffort Geertz). Keine Kultur könne ihre Maßstäbe für andere geltend machen. Die Widersacher suchen nach einem kulturübergreifenden System von Werten und Normen, mit dem die Eigenheit der Kulturen in den Kontext der globalen Welt gestellt werden kann. Sie sehen das System in aufgeklärter Vernunft und der internationalen Ethik der Menschenrechte (Ernest Gellner): sei es, daß sie das Recht auf Leben aus der natürlichen Furcht aller Menschen vor gewaltsamem Tode ableiten, sei es, daß sie es mit dem universalistischen Siegeszug der aus jüdischem Monotheismus geborenen Ethik von der Heiligkeit des Lebens begründen (Gunnar Heinsohn). Afrikaner bringen Afrikanern das universale Recht auf Leben! Dieser im ruandischen Bürgerkrieg und Völkermord entstandene Grundgedanke der Einheit von Universalismus und Kultureigenheit ist für die UN-Friedensmissionen der Zukunft eine völkerrechtliche Herausforderung.

IV.

Zwischenzeitlich waren 350000 Überlebende ins größte Flüchtlingslager Benaco nach Tansania, eine Million in benachbarte Länder geflohen. Aus Angst vor Rache wegen der hingeschlachteten Tutsi flohen nach Angaben des UN-Truppenkommandeurs bis Anfang Juni etwa vier Millionen Hutu-Bürger in den von Armee und Führungsclique beherrschten Süden und Südwesten des Landes. Die landwirtschaftliche Nutzfläche hinter der Rebellenfront im traditionellen Hutu-Norden dagegen ist weitgehend entvölkert. Mit der legitimationslosen Herrschaft einer Hutu-Clique war die staatliche Souveränität an die Bürger zurückgefallen. Fortan herrschte Anarchie. Unter der staatenlosen Gewalt der Waffen hat jeder sein Recht auf Leben selbst zu verteidigen oder zu erkämpfen. Die Toten sind immer die Verlierer.

V.

Wie konnte sich der Bürgerkriegskeim über dreißig Jahre erhalten? Was geschah auf beiden Seiten? Es darf zur denkwürdigen Tradition der Tutsi-Exilanten gezählt werden, daß ihre „oral history“ die Erinnerung an aristokratische Vorrechte und das Trauma der Vertreibung von 1960 im kollektiven Gedächtnis speicherte und sogar an die nächste Generation weitergab. Die im Lande gebliebenen Tutsi begannen sich mit den Hutu zu mischen. Gleichwohl blieb das Unvermischte spürbar. Jeder merkte, ob ein Tutsi oder Hutu ins Gemeinschaftstaxi zustieg.

Die meisten Rebellen, die 1990 und Anfang 1991 einfielen, waren nach 1960 geboren. Mütter und Väter müssen den Rachegedanken in sie gepflanzt haben, der, wie man vermuten darf, ihren Mut und Kampfeswillen schon im zukunftslosen Exil mit besonderer Bitternis würzte. Einmal bewaffnet, begann ihre Tötungsbereitschaft die in jedem von uns wohnende Furcht vor gewaltsamem Tod in eine „patriotische“ Todesbereitschaft zu verwandeln; doch man glaubte leidenschaftlich, den Gegner leichter mit der eigenen Waffe zu töten, als von dessen Waffen getötet zu werden: die einfache Psychologie des Waffenbesitzes. Als „Patriotische Front Ruanda“ (Front Patriotique Rwandais) würden sie in den Kampf ziehen.

Viele Soldaten der ruandischen Armee dagegen zogen als nichterbende Söhne kleiner Bauern nur die Soldatenexistenz einer unsicheren Lohnarbeiterexistenz auf überfüllten Arbeitsmärkten vor. Das kann für den Ausgang des Krieges von Bedeutung werden. Die exilierten Tutsi haben soldatische Ausbildung und praktische Kampferfahrung im ugandischen Bürgerkrieg als Mitglieder der benachbarten Armee hinter sich und verfügen über Führer, die sich dort im Gebrauch moderner Waffen, in Strategie Und Taktik üben konnten.

Große Hoffnungen hatten die Tutsi auf den herausgehobenen Fred Rwigyema gesetzt, der in der ugandischen Armee zum Generalmajor und Verteidigungsminister aufgestiegen und zum Freund und Vertrauten des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni geworden war. Dieser selbst hat Tutsi-Vorfahren und wurde im achtjährigen siegreich beendeten Bürgerkrieg gegen Milton Obote von den ruandischen Tutsi-Exilanten unterstützt. Nicht zuletzt deshalb wurde er jetzt der Komplizenschaft mit den Rebellen beschuldigt. Vermutlich kommt aus seinem Umfeld ein Großteil ihrer Waffen. Einige sahen in der Hochstimmung von 1990 in Rwigyema schon den ruandischen Staats-präsidenten. Er wurde aber in den ersten Kampf-tagen im Oktober getötet. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit sprechen hohe Heimkehr-Motivation, gute Ausbildung, Bürgerkriegserfahrung sowie sichere Waffenlieferung für einen militärischen Sieg der Tutsi-Rebellen. Der bisherige Verlauf des Krieges hat diese Einschätzung bestätigt. , Als hauptsächliche Opfer des Völkermordes haben sie in der Weltöffentlichkeit trotz ihrer gesetzlosen Rebellion moralisch Pluspunkte sammeln können. Daneben wird ihnen traditionell besondere Intelligenz hachgesagt, mit der sie große Teile der Hutu-Intellektuellen für sich gewonnen haben. Sie sei das durchdringende Element ihres historischen Bewußtseins und des militärischen Willens, ihr dreißigjähriges Exil durch Rückkehr ins „Land der Väter“ zu überwinden. Was die Juden seit dem Reichsbürgergesetz von 1934 für das Naziregime, die Armenier bis 1915 für die türkische Regierung waren und die bosnischen Muslime für die Serben sind, scheinen die Tutsi für die Hutu-Führungsclique zu sein.

VI.

Mit dem Aufstand von 1960 kamen die regierungsunerfahrenen Hutu zur Herrschaft. Das Land ist von 1890 bis 1916 unter schwachen deutschen Kolonialeinfluß geraten. Nach dem Ersten Weltkrieg geht dieser 1921 unter dem Mandat des Völkerbundes auf Belgien über. Wie zuvor die deutsche unternimmt nun die belgische Kolonialverwaltung das politisch Nächstliegende: Sie bedient sich der traditionellen Herrschaftsstrukturen. Zwar büßen König und Adel an formaler Macht ein; doch sie können ihre wirtschaftliche und soziale Vorrang-stellung stärken. Das geschieht durch den Einsatz von Tutsi als Landverwalter; durch fortgesetzte Privilegierung in der Ausbildung, der Staatsverwaltung und der Wirtschaft; durch Land-und Viehbesitz zu ihren Gunsten. Nur wenige der Hutu können dazu aufschließen. Die anderen bleiben Bauern, Landarbeiter, Viehhirten, kleine Pächter; sie zahlen Steuern und stellen mit Frondienst und harter Arbeit die Ernährung der Bevölkerung sicher. Die Belgier übernehmen mit den bestehenden Herrschaftsstrukturen eine zweite Tradition: den einfachen Rassismus des Landes.

In der internationalen Literatur gelten Ruanda und Burundi als klassische Fälle von „racism in nonliterate societies“. Unter Rassismus wird „the dose relation between physical stature and social Status“, wie es die Encyklopaedia Britannica definiert, verstanden. Überwiegend körperliche Merkmale werden als Zeichen einer rassischen Über-bzw. Unterlegenheit gewertet. Unter dem Einfluß europäischer Rassentheorie und Eugenik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unterstützt die belgische Kolonialverwaltung diesen Rassismus, wie Jose Kagabo in einem Interview mit der portugiesischen Zeitung „Püblico“ vom 20. Juni 1994 ausführt.

Tutsi wurden unter dem Generalgouverneur von Belgisch-Kongo und Ruanda-Urundi, Pierre Ryckmas, als die höher entwickelte und zum Herrschen geeignete Rasse betrachtet. So wurde „das Bewußtsein der Stammeszugehörigkeit von den Kolonialmächten ... aufgestachelt, welche die beiden Gemeinschaften ideologisierten und gegeneinander aufhetzten“. Die katholische Kirche schließt sich mit ihrem Bischof, Monseigneur Leon Classe, bei ihrer Missionierung und Christianisierung des Landes der rassischen Tradition an. Sie ist vor allem an der Missionierung der Tutsi-Oberschicht und ihres Königs als vom Volk geachtete Vorbilder interessiert. Als König Musinga die Taufe verweigert, wird er abgesetzt; dafür sein getaufter Sohn Rudahigwa 1931 als König Mutara III. inthronisiert. Die Missionierung der Hutu verläuft erfolgreicher, so daß der folgenden Generation von Missionaren Tutsi als religiöse Minderheit erscheinen.

Gekoppelt mit dem Kolonialimport demokratischen Mehrheitsdenkens beginnt die Hutu-Mehrheit im Namen der Freiheit der Tutsi-Minderheit die Legitimation ihrer Herrschaft zu entziehen. Ihr Herrschaftsglaube wird brüchig. Im berühmten „Bahutu-Manifest“ ist das neue Denken niedergelegt. In ihm wird nicht die rassische Überlegenheit der Tutsi angegriffen; doch werden sie als „eine fremde Rasse von Invasoren“ (Jose Kogabo) bezeichnet, gegen die zur Gewalt aufgerufen wird.

VII.

Die Belgier bereiten die Unabhängigkeit Ruandas vor. Aus Ruanda-Urundi werden die selbständigen Staaten Ruanda und Burundi. Noch unter dem Eindruck der Siegesstimmung rufen die Hutu in einem Coup d’Etat im Januar 1961 Ruanda als Republik aus. Im September desselben Jahres finden unter Aufsicht der Vereinten Nationen Wahlen statt. In Ruanda gewinnt die „Partei zur Emanzipation der Hutu“; in Burundi erringen die Tutsi die Regierungsmehrheit. Beide Regierungen lehnen den UN-Vorschlag einer föderativen Vereinigung ab. Wie in vielen der 160 nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig gewordenen Staaten muß auch in Ruanda die republikanische Staatsform der traditionellen Gesellschaft dienstbar gemacht werden. Die Hutu besitzen weder Regierungs-noch Republikerfahrung. Sie wahren Kontinuität. Einmal an der Macht, knüpfen sie an die Tutsi-Tradition der zentralistischen Monarchien an. Wie die Geschichte Deutschlands vom Kaiserreich über den Reichspräsidenten Hindenburg und den Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung bis zur nationalsozialistischen Diktatur als „historische Kontinuität“ (H. U. Wehler) gefaßt worden ist, so führten die beiden ruandischen Hutu-Staatspräsidenten Kayibanda (1962-1973) und Habyarimana (1973-1994) die Tradition des monarchischen Zentralismus in Form einer patriarchalisch-zentralistischen Republik fort.

Besonders unter Habyarimana „entstand eine um die Person des Staatschefs zentrierte personelle Herrschaft“ (P. Molt). Eine neue Elite wuchs heran. Ihr Einfluß bemaß sich -im Muster konzentrischer Kreise -nach der Nähe zum Staatschef. Loyalität wurde zum entscheidenden Kriterium. Auch Tutsi hatten eine Chance oder „hutuisierten“ aus Vorteilsabsicht. Erheblicher Nepotismus und Korruption griff um sich. Machtbalancen zwischen Süd-und Zentralruanda und dem traditionellenHutu-Norden, den Präfekturen Gisenyi und Ruhengeh und den südlichen Präfekturen Butare und Gitamara, mißlangen. Machtkämpfe in der Armee, dem Rückgrat seiner Macht, gerieten dem Staatschef außer Kontrolle. Die souveräne Gewalt der Republik, die den Bürgern Frieden, Sicherheit und Wohlstand bringen sollte, unterlag in Exekutive, in Verwaltung und Armee von innen einem schleichenden Verfall. Gleichzeitig jedoch wurde der 1960 aufgebrochene Rassenkonflikt durch die Ökonomie, knappe landwirtschaftliche Nutzfläche und das starke Bevölkerungswachstum zum ethnischen Klassenkonflikt des Landes radikalisiert. Es fehlt die Kraft, die sich öffnende Lücke zwischen Nahrungsproduktion und Bevölkerungswachstum zu schließen. Weder kann die Nahrungsproduktion gesteigert noch das rapide Bevölkerungswachstum gedrosselt werden.

VIII.

Die ersten Jahre der jungen Republik verrieten dem Blick von außen nichts von dieser Konflikt-struktur. Gemeinsam mit dem Königreich Swaziland galt Ruanda bis in die achtziger Jahre als die Schweiz Afrikas. Doch die zwei bis drei Jahrzehnte der unabhängigen Republik erweisen sich im nachhinein als Jahre der Scheinblüte. Aus Belgien, Frankreich, Deutschland, von der Europäischen Gemeinschaft, der Weltbank, den Vereinten Nationen und von anderen Gebern fließen jährlich mehrere hundert Millionen Dollar ins Land. Durch Straßenbau erhielt Ruanda Anschluß ans Transportnetz und Zugang zum Hafen Mombasa; die Zinnindustrie wurde modernisiert; Trinkwasserversorgung und Telekommunikation ausgebaut; Kirchen und private Organisationen engagierten sich im Bereich der Gesundheit, der Bildung und der zwischenmenschlichen Hilfen.

In den sechziger und siebziger Jahren wird das vom internationalen Agrarwissenschaftler und Friedensnobelpreisträger von 1970, N. E. Bourlaug, entworfene Konzept der „Grünen Revolution“ zum Hoffnungszeichen der Entwicklungsexperten. Ruanda ist ein grünes Land mit mildem Klima und einer Durchschnittstemperatur von 19 Grad Celsius; mühevoll terrassierte Hänge und Hügel machen auf den Betrachter den Eindruck einer paradiesischen Landschaft. Und in der Tat schien sich Ruandas Landwirtschaft unter Mithilfe vieler Agrarexperten zu einem Musterfall unter den schwarzafrikanischen Staaten zu entwickeln.

In diesen Jahren hätte sich keine Tutsi-Rebellion eine breite Unzufriedenheit im Lande zunutze machen können, nicht einmal unter der eigenen Bevölkerung. Dagegen entlud sich ihr Haß 1972 im benachbarten Burundi; nach einem erfolglosen Hutu-Aufstand wurden in einem blutigen Völkermord aus Rache 100000 Hutu abgeschlachtet. Im August 1988 flammt die bittere Volksfeindschaft erneut auf, als sich die von Tutsi dominierte Armee für erlittene Mordanschläge rächte. In und um Bujumbura, der burundischen Hauptstadt, massakriert sie etwa dreitausend Hutu-Familien; im Hinterland sollen es mehr gewesen sein. Die Zahl der Opfer wird auf 20000 geschätzt.

Die Völkermorde der siebziger und achtziger Jahre in Burundi erklärt die Genozidforschung als „Explosion von Völkerhaß“ (R. Lemarchand). Völkerhaß ist nicht nach Kulturen teilbar. Europäischer, asiatischer oder afrikanischer Völkerhaß haben eines gemeinsam: menschlicher Haß zu sein. Er gehört wie die Liebe zur Affektausstattung unserer Gattung. Völkerhaß ist unpersönlicher Haß, der bestimmter Nahrung und Beeinflussung bedarf, um sein persönliches Objekt zu finden. Die Nahrung findet sich da, wo Ethnien (und Glaubensgemeinschaften) trotz Zusammenlebens und sozialräumlicher Nähe „Unterschiede, Barrieren, Asymmetrien“ fühlen, „die auf Privilegien und Rechte, in der Regel auf die Verteilung von Vermögen und Machtposten zurückzuführen sind“ (M. Foucault). Die Mutigen, Starken und Ehrgeizigen unter denen, denen die Verteilung von Vermögen und Posten Nachteile bringt, beginnen, sie zu ihren Gunsten verändern zu wollen. Am Beginn stehen Phantasien und Pläne; es folgt ein öffentlicher Kampf um Begriffe: in Schule und Universität, in Presse und Kirche. Am Ende steht eine „Ideologie“ -Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie, Ehrlichkeit (= gegen Korruption) -, mit der die jeweilige Elite in Militär, in Politik und Ökonomie attackiert wird. Die Nachdenklichen unter den Attackierten sind die Schwachen. Sie werden von den anderen mit unbedingtem Machtanspruch aussortiert, bis sie resignieren, überlaufen oder verschwinden. Das hat vielen oppositionellen Hutu und gemäßigten Ministern der Regierung Habyarimanas in Ruanda das Leben gekostet.

Nichts hassen unbedingte Machthaber mehr als Widerstand und Angriff, weil es eine natürliche Leidenschaft ist, eine einmal erlangte Macht erhalten oder vergrößern zu wollen. Fühlen sie sich durch die Attacken geschädigt, mischt sich in den Haß die Rachsucht, um den Schädiger seine Tat eines Tages bereuen zu lassen. Ihre Gewaltbereitschaft hat einen affektiven Unterbau. Obwohl in der Minderheit, hatten burundische Tutsi ihre traditionelle Vorrangstellung auch unter republikanischer Staatsform behaupten können. Sechzig Prozent des Geschäftslebens lag in ihrer Hand; sie stellten und stellen achtzig Prozent der Universitätsstudenten in Bujumbura. Vielen war das ruandische Trauma der Vertreibung von 1960 ein Teil ihrer Identität geworden. Die anderen standen im Austausch mit Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn, die in den Flüchtlingslagern unter dem Trauma litten. Eine instinktive ethnische Opfer-solidarität gehörte zum Alltagsleben.

Den burundischen Hutu dagegen steckte der Emanzipationsgeist des Bahatu-Manifests wie ein Stachel im Fleisch. Sie wollten nicht immer unterprivilegiert bleiben. Ihr Emanzipationskampf konnte nur bewaffnet gewonnen werden. Waffen bedeuten im Bürgerkrieg alles. Wer Waffen hat, hat Geld, und wer Geld hat, zieht Habenichtse an. Im Kampf um die Neuverteilung von Vermögen und Posten setzten sich die Stärksten durch, und sie zahlten 1972 und 1988 mit viel Blut. Es bedurfte oft nur eines Auslösers: einer Korruption, eines Anschlags oder Racheakts, in jedem Fall eines ersten Toten. Oft wurde jemand in einem Akt unpersönlichen Hasses niedergestreckt, um den Stein des Bürgerkrieges ins Rollen zu bringen. Der erste Tote ist es, der alle mit dem „Gefühl der Bedrohtheit“ (E. Canetti) ansteckt. Das war auch beim Tod Präsident Habyarimanas der Fall.

IX.

In den drei Jahrzehnten nach 1960 ereignete sich in Ruanda noch keine Explosion des Völkerhasses. Aber die Zündschnur glimmte. Es ist eine Explosion ganz anderer Art, die die strukturell tiefste Ursache für den neu entbrannten Bürgerkrieg und Völkermord sein dürfte: die Bevölkerungsexplosion. Mit durchschnittlich zehn Schwangerschaften und 8, 3 Lebendgeburten pro gebärfähige Frau gehört Ruanda zu den fruchtbarsten Ländern der Welt. Von 1960 bis 1993 hat sich die Bevölkerung von ungefähr drei auf 7, 5 Mio. Einwohner mehr als verdoppelt. Spätestens in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wird erkennbar, daß das wirtschaftliche Wachstum der Blütezeit hinter dem Bevölkerungswachstum zurückbleibt; dessen Blütezeit steht mit einer weiteren Verdoppelung auf 15 Mio. Einwohner in den kommenden einundzwanzig Jahren bevor.

Insbesondere stößt die Nahrungsproduktion an Grenzen; die Exporterlöse aus Rohstoffen, Kaffee und Tee waren und sind zu gering, um den Mangel durch Nahrungsmittelimporte auszugleichen. 92, 9 Prozent der Bevölkerung lebten 1986 auf dem Land; 50 Prozent des Bodens bestehen aus landwirtschaftlicher Nutzfläche; der Rest ist Wald und Weideland für Ziegen, Kühe und Schafe. Im Erbrecht gilt das Prinzip der Realteilung für Söhne; die Töchter werden in der Regel über den Heiratsmarkt versorgt. Bei einer Durchschnittsgröße von weniger als einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche und vier erbberechtigten Söhnen pro Bauernfamilie bleibt innerhalb einer Generationenfolge für jeden Sohn ein viertel Hektar übrig. Diese Parzelle wirft für eine Familie nicht genug ab; weder fürs Essen, noch zum Füttern des Viehs. Es gibt kaum Überschüsse für den Markt, um vom Erlös das, was die Menschen für ihr Leben als erstrebenswert ansehen, kaufen zu können. Sie werden arm.

Um den Boden intensiver zu nutzen, wird der traditionelle Brachezyklus nicht eingehalten; das laugt den Boden aus und führt zu Ertragsrückgängen. Einzig durch Rodung der 22, 6 Prozent des Bodens an Wäldern und Naturparks könnte die Nutzfläche vergrößert werden. Da durch Erbfolge auf die Enkelgeneration ein Sechzehntel des großväterlichen Besitzes überginge, suchen nicht-erbende Hutu und Tutsi nach anderen Formen der Existenzsicherung. So wie sie die Zukunftslosigkeit ihrer bäuerlichen Existenz empfinden, so empfinden die verjagten Tutsi die Zukunftslosigkeit ihrer Exilantenexistenz. Für beide Gruppen ist die Verteilung des knappen Landes durch die Machtfrage zu entscheiden. Hier droht der Krieg zwischen Hutu und Tutsi zum Krieg eines jeden gjbfegen jeden zu werden.

Beim Recht auf Leben wählt jeder die Mittel, die Aussicht geben, es erfolgreich zu erkämpfen oder zu verteidigen. So laufen Hutu zu Tutsi und Tutsi zu Hutu über -je nach Vorteils-und Siegeserwartung. Präsident Habyarimana hatte die Rückkehr der Tutsi-Exilanten wegen Überbevölkerung abgelehnt. Er spürte die Gefahr des Bürgerkrieges und den Verlust staatlicher Souveränität. Pläne, den Bevölkerungsdruck nach dem Modell eines demographischen „Verschiebebahnhofs“ durch Zwangsumsiedlungen in Nachbarländer zu verringern, ließ er aus den gleichen Gründen fallen.

X.

Jährlich werden in Ruanda etwa 250000 Kinder geboren. Daraus folgt, daß in jedem Jahr eine neue Altersgruppe von mindestens 50000 bis 100000 nichterbenden Söhnen nach einer Lohnarbeiterexistenz sucht; Töchter, die nicht als mithelfende Familienangehörige daheim bleiben, drängen auf den Arbeitsmarkt. Sie geraten früher oder später in die Sogwirkung der Städte. Ruanda hat keine rasant wachsenden Megastädte; es hat die niedrigste Urbanisierungsrate in Afrika. Land-flüchtige müssen für einen „permis de residence“ (Aufenthaltserlaubnis) in Kigali eine feste Anstellung vorweisen. Diese Politik hat den illegalen Zuzug überschüssiger Arbeitskraft vom Lande rapide erhöht. Immerhin verdoppelte die Hauptstadt Kigali ihre Bevölkerung zwischen 1978 und 1991 auf etwa vierhunderttausend in der Hälfte der Zeit, die ganz Ruanda für den prozentual gleichen Anstieg seiner Bevölkerung benötigte. Ein kleiner Teil von ihnen hat das Glück, dort vom Arbeitsmarkt aufgenommen zu werden. Andere schlagen sich als Studierende, als Gelegenheitsarbeiter, Händler oder Dienstleister durch. Wenige von ihnen folgen den Verlockungen des Wohlstands-nordens dieser Welt; als Wirtschaftsflüchtling oder Asylant hoffen sie, dort Arbeit, Wohlstand, Glück und ein besseres Leben zu finden. Was geschieht mit den Hunderttausenden, die im eigenen Lande Arbeit und Brot, eine Zukunft, ein besseres Leben suchen, es aber nicht finden können?

Xl

Ein Augenzeuge berichtet vom 12. April 1994: „Haumesser und Keulen schwingende Jugendliche durchziehen die Straßen, zerhacken oder zerschlagen jene, mit denen sie alte Rechnungen zu begleichen haben.“ Nach einer Agenturmeldung ist „in den Straßen, in denen Banden Bewaffneter mit Macheten, Knüppeln und Speeren umherzogen, Gefechtslärm von Mörsern und schweren Maschinengewehren zu hören.“ Ein anderer Augenzeuge berichtet von jugendlichen Banden, die in Armeeuniform und mit Handgranaten die Stadtviertel von Kigali terrorisieren. Es sind die aus vielen Bürgerkriegen bekannten Hasadeure, Glücksritter, Stadtplünderer, Möchtegernsoldaten; junge Männer zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren; mit Geld, Waffen und Versprechen gekaufte Handlanger der kämpfenden Parteien. Unter ihnen das Heer nichterbberechtigter Bauernsöhne vom Lande, die nicht viel mehr als ihre Zukunftslosigkeit zu verlieren haben. Sie hoffen auf Beute; sie hoffen auf Vorteile und Posten; sie erhoffen sich von den Bürgerkriegswirren eine Wende zum Besseren.

Jeder dünkt sich wie die Soldaten, die Präsidenten-garde und die Rebellen ein Souverän des Tötens. Hier kämpfen nicht nur Hutu gegen Tutsi und Tutsi gegen Hutu; hier kämpfen auch Hutu gegen Hutu und Tutsi gegen Tutsi. Der Krieg der Völker hat sich zu einem „bellum omnium contra omnes“ (Th. Hobbes) erweitert. Der Koordinator der Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda, P. Molt, schreibt in der „Frankfurter Rundschau“ vom 20. Juni 1994: „Die extreme Landnot und Armut... erklärt den gerade auf dem Lande herrschenden Sozialneid, die Aggressivität, Kriminalität ... Es entstand ein Ausmaß sozialer Desintegration, wie es sonst nur in den Elendsvierteln der großen Städte... zu finden ist... Das erklärt die Disposition für ein bedingungsloses Freund-Feind-Verhalten und zu anarchischer Gewalt. Nur wer die bittere und ausweglose Lage der Armen in Ruanda kennt, vermag zu ermessen, wie leicht sie mit radikalen Parolen aufgehetzt und zu sinnloser Gewalt verführt werden können.“

Das gleiche muß für die gewaltsame Landnahme gelten. Es wird berichtet, daß bewaffnete Banden auf nächtlichen Mordzügen ins Hinterland ziehen, um Bauernfamilien zu töten. Dabei findet der Unterschied zwischen Hutu-Familien und Tutsi-Familien kaum Beachtung. Das Ziel ist die Entvölkerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Zum Schutz verkriechen sich die Familien zum Nachtschlaf in sichere Verstecke. Je mehr Land genommen wird, um so mehr Land kann der Sieger in diesem Krieg verteilen und nutzen. Die Unerbittlichkeit der demographischen Logik ist vielen Beteiligten präsent: Wenn die 250000 bis 500000 Tutsi-Exilanten ins Land zurückkehren, müssen andere Platz machen, durch Flucht oder Tod. So bestätigt Rebellenführer Rudasingwa im „Spiegel“: „Überbevölkerung und knappes Land sind ganz sicher die Hauptprobleme unseres Landes.“ Nach einer Inspektionsreise resümiert der Direktor der amerikanischen Behörde für Entwicklungshilfe B. Atwood: „Eine Lücke zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelversorgung bedeutet Instabilität, Konflikt, Leiden, Tod.“ Ruanda sei der „schlimmste Beweis“ dafür.

XII.

Die internationale Staatengemeinschaft sollte'-über humanitäre Hilfe hinaus -an der raschen Wiederherstellung einer kraftvollen staatlichen Autorität arbeiten, um dem Land Frieden und den Menschen das universale Recht auf Leben bringen zu können. Das Verhalten der Vereinten Nationen im Fall Ruanda läßt folgendes erkennen:

Erstens lag die Entscheidungsschwäche des UN-Sicherheitsrates an seiner völkerrechtlichen Konstruktion: Ihm fehlt die klare Trennung von Rat und Befehl. Ein Gremium, das Befehle erteilt, berät sich selbst; dabei gehen die Interessen der Ratgeber in den Befehl ein; das hat einen Befehl zur Herstellung des Friedens in Ruanda bisher verhindert. Der Tötung Tausender wurde tatenlos zugeschaut. Die Regeln einer demokratischen Diskurs-ethik stoßen im UN-Sicherheitsrat grundsätzlich an ihre politische und zeitliche Friedensgrenze, hinter der sich eine Toleranz gegenüber Bürgerkrieg und Genozid verbergen kann. Aus den Erfahrungen weltweiter Friedensbemühungen spürt der Generalsekretär das deutlicher als Regierungsvertreter im Sicherheitsrat. In einem Ruanda-Interview über neue Entscheidungsstrukturen der UN befragt, antwortet B. Boutros-Ghali ausweichend: „Dazu werde ich mich nicht äußern, denn was ich mir vorstelle, ist noch nicht zu verwirklichen.“ Doch man weiß: Er denkt an die Trennung von Rat und Befehl, um die globalen Friedensmissionen durchführen und ihre sozial-ökologischen Hintergründe -Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung -bereits im voraus bekämpfen zu können.

Zweitens fehlt zum klaren Friedensbefehl eine im Einsatzgebiet akzeptable, gut ausgerüstete und ausgebildete Truppe. Um ihre Akzeptanz im Einsatzgebiet zu erhöhen, ist die Kultureigenheit des jeweiligen Gebietes zu beachten. Sie können nach den in der Zivilisationstheorie von Huntington unterschiedenen Kulturkreisen geschnitten werden (S. P. Huntington). Aus diesen Kulturkreisen werden die Soldaten der jeweiligen Einsatztruppe rekrutiert. Beim weltweiten Problem der überschüssigen Arbeitskraft werden junge Männer und Frauen diese Friedensaufgabe gegen die Zukunftslosigkeit auf heimischen Arbeitsmärkten eintauschen.

Drittens ist der Grundsatz politischer und ethnischer Interventionsneutralität aufzugeben. Parteinahme gilt einzig dem Frieden und der Rettung von Leben. Das setzt voraus, sich so früh wie möglich mit der Partei zu verbünden, mit der ein schneller Frieden zu erzwingen ist. Ein Bündnis mit dem Schwachen verringert zumeist allerdings die Chance zum Friedenszwang und es würde in den häufigsten Fällen das Todesrisiko vieler Menschen erhöhen. Dieser Grundsatz ist der „realistic school“ (C. Offe) der Friedenstheoretiker zuzurechnen. Das Risiko einer falschen Einschätzung muß durch neutrale Beratung erfahrener Experten des Konfliktgebietes verringert werden.

Zur Wiederherstellung staatlicher Souveränität in Ruanda sollten deshalb politische und ethnische Wahrheiten Nachrang zum Frieden haben. Kann eine ethnische oder politische Wahrheit, wenn das Festhalten an ihr zur Fortsetzung von Bürgerkrieg und Völkermord führt, wahrer sein als der Frieden? Damit ein Waffenstillstand kein Scheinfrieden wird, sind zur dauerhaften Friedenssicherung außer der Regelung der ethnisch bedingten Probleme zwei Ziele vorrangig: erstens in einem Pionierprojekt die landwirtschaftliche Nutzfläche -trotz ökologischer Bedenken -kurzfristig so weit wie möglich zu vergrößern, zweitens -trotz ethischer Bedenken -ein wirkungsvolles nationales Geburtenkontrollprogramm zu implementieren. Die »Arbeit der im Volksmund „Kondombehörde“ genannten ONAPO („Office National de la Population“) sollte ausgebaut und um eine Arbeitslosen-, Kranken-und Rentenversicherung ergänzt werden, damit arme Bauernfamilien zum Schutz gegen Notfälle des Lebens nicht auf viele Kinder angewiesen sind. Den Kampf gegen Armut in den Dienst eines Kampfes gegen das Bevölkerungswachstum zu stellen ist das Ziel.der von den Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages eingebrachten Beschlußempfehlung „Ausbau und Entwicklung von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern“.

Wären diese Maßnahmen mit einem Teil der Entwicklungsgelder in den Dekaden nach 1960 begonnen worden, hätte Ruanda heute auf einer erweiterten landwirtschaftlichen Nutzfläche eine Million Einwohner weniger. Vielleicht wäre Ruanda dann zu einem Musterfall für bevölkerungsexplosive Bürgerkriegsländer in Schwarzafrika geworden. Denn die Logik des gesunden Menschenverstandes sagt: „Und ist das ganze Land von Bewohnern überfüllt, so bleibt als letztes Mittel der Krieg, der für jedermann Sieg oder Tod bereit hat“, wie der scharfsinnige Bürgerkriegs-theoretiker Thomas Hobbes schon 1651 im Leviathan niederschrieb.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hartmut Dießenbacher, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1942; Leiter des Instituts für interdisziplinäre Alternsforschung und Mitglied des Raphael-Lemkin-Instituts für Xenophobie-und Genozidforschung an der Universität Bremen. Veröffentlichungen zu Fragen des Generationenvertrages, Geburtenrückganges und der Altersversicherung.