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Strukturwandel im italienischen Parteiensystem | APuZ 34/1994 | bpb.de

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Strukturwandel im italienischen Parteiensystem

Ludger Helms

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das italienische Parteiensystem ist spätestens Ende der achtziger Jahre in eine Phase strukturellen Wandels eingetreten, die im Anschluß an die Parlamentswahlen von 1994 in eine radikale Strukturveränderung gemündet ist. Die entscheidenden Komponenten des Wandels stellen der Austausch der wichtigsten Akteure des Parteiensystems und eine deutliche Verlagerung des Schwergewichts der Parteienlandschaft nach rechts dar. Die Gründe für diesen Prozeß liegen zum einen in dem Bedeutungsverlust der jahrzehntelang extrem stabilisierend wirkenden Strukturbedingungen des italienischen Parteiensystems: der Subkulturen innerhalb der italienischen Wählerschaft und des ideologischen Gegensatzes zwischen Kommunismus und Antikommunismus. Hinzu kommt die in den neunziger Jahren schlagartig angewachsene Kritik an der „partitocrazia“, den Auswüchsen der italienischen Parteienherrschaft, welche vor allem den Erfolg neuer Parteien begünstigt hat. Zugespitzt wurde die Wirkung dieser Faktoren durch die Einführung eines Mehrheitswahlrechts bei den Wahlen von 1994.

I. Einleitung

Tabelle: Ergebnisse der Wahlen zur italienischen Abgeordnetenkammer 1983-1994 (in Prozent)

Der Versuch der theoretischen Erfassung und systematischen empirischen Analyse des Struktur-wandels von Parteiensystemen stellt seit den achtziger Jahren einen Schwerpunkt innerhalb der international vergleichenden Parteienforschung dar Während die Urteile über das Ausmaß des tatsächlich stattgefundenen Wandels von Land zu Land und von Autor zu Autor variieren, haben sich einige der methodisch-analytischen Zugänge und theoretischen Kategorien zur Beschreibung des strukturellen Wandels von Parteiensystemen weitgehend durchgesetzt. Dies gilt in besonderem Maße für die von Gordon Smith vorgeschlagene theoretische Differenzierung unterschiedlicher Veränderungsniveaus. Danach lassen sich unterscheiden: (1) temporary fluctuations, worunter vorübergehende Wandlungsprozesse ohne bleibende Veränderungen verstanden werden; (2) restricted change, bei dem lediglich einzelne Komponenten des Parteiensystems verändert werden; (3) general change, der sich auf die gleichzeitige oder rasch aufeinander folgende und dauerhafte Veränderung mehrerer Komponenten des Parteiensystems bezieht, sowie (4) transformation, welche den Zusammenbruch eines zentralen Strukturelements des Systems bezeichnet, durch den alle übrigen Komponenten des Parteiensystems ebenfalls nachhaltig verändert werden.

Die Klassifikation der Reichweite von Wandlungsprozessen richtet sich demnach vor allem nach dem Grad der Veränderung, die das core element (der „Strukturkern“) des jeweiligen Parteiensystems erfahren hat. Zum core eines Parteiensystems rechnet Smith (1) Parteien, die über einen längeren Zeitraum hinweg in einer führenden Position sind, (2) Parteien, die für das Funktionieren des Parteiensystems besonders einflußreich sind, und (3) die spezifischen Koalitionsmuster innerhalb eines Systems. Es ist notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß die Bestimmung des „Strukturkerns“ eines Parteiensystems das Urteil über das Ausmaß des stattgefundenen Wandels maßgeblich beeinflußt. Größere Probleme bereitet in der Regel die Identifikation des Kernelements von Parteiensystemen, die über eine große Anzahl unterschiedlicher Parteien mit häufig wechselnden Koalitionsformationen verfügen.

Gegenstand dieser Untersuchung ist der Struktur-wandel im italienischen Parteiensystem, wobei der Schwerpunkt vor allem auf den Wandlungsprozessen der letzten zehn Jahre liegt Hierzu ist im folgenden zunächst der „Strukturkern“ des traditionellen italienischen Parteiensystems nach 1945 zu bestimmen (II). Anschließend werden die wesentlichen Ursachen für die Auflösung des alten Parteiensystems analysiert und die wichtigsten Entwicklungen vom Beginn der achtziger Jahre bis zu den Parlamentswahlen vom März 1994 nachgezeichnet (III) . Der letzte Hauptabschnitt ist der Analyse der seit dem Frühjahr 1994 neu entstandenen Struktur des italienischen Parteiensystems und dem Versuch einer theoretischen Klassifikation der stattgefundenen Wandlungsprozesse gewidmet (IV) .

II. Das Strukturmuster des traditionellen italienischen Parteiensystems

Die Entwicklung des italienischen Parteiensystems nach 1945 ist als ein Prozeß gedeutet worden, der in erster Linie von den konkurrierenden Strategien der maßgeblichen Parteien bestimmt wurde Die stärker theoretisch orientierte Debatte über das italienische Parteiensystem hat demgegenüber eine Reihe unterschiedlicher Erklärungsmodelle hervorgebracht, die vor allem auf die Dynamik des Parteiensystems gerichtet waren. Als die beiden wichtigsten theoretischen Erklärungsmodelle lassen sich Giovanni Sartoris Modell des „polarisierten Pluralismus“ und Paolo Farnetis Modell des „zentripetalen Pluralismus“ nennen, die von je unterschiedlichen Gravitationszentren des Parteiehsystems und Logiken des Parteienwettbewerbs ausgehen Beiden gemeinsam ist die Betonung der pluralistischen Grundstruktur des Parteien-systems, verkörpert vor allem in der überdurchschnittlich hohen Anzahl parlamentarisch repräsentierter Parteien.

Während die einem Parteiensystem eigene Dynamik jedoch kaum etwas über dessen feste Strukturen aussagt, ist die rein numerisch orientierte Charakterisierung eines Parteiensystems für die Ermittlung des hier interessierenden „Strukturkerns“ insofern wenig brauchbar, als die gleichbleibend hohe Fragmentierung eines Systems theoretisch auch durch die Präsenz vollkommen unterschiedlicher Akteure erreicht werden kann. Fragt man demgegenüber (in Anlehnung an die oben genannten Kriterien zur Bestimmung des strukturellen Kernelements von Parteiensystemen) zunächst nach der führenden Partei des traditionellen italienischen Parteiensystems, so läßt sich feststellen, daß Italiens Parteienlandschaft vom Ausgang der vierziger Jahre bis zum Beginn der neunziger Jahre vor allem von der christdemokratischen Democrazia Cristiana (DC) beherrscht war. Von der Konstituierung der Republik Italien im Jahre 1946 bis zu den Wahlen von 1994 war die DC stets die stärkste Fraktion im italienischen Parlament. Zugleich gab es keine Regierung, an der die DC nicht maßgeblich beteiligt gewesen wäre. Von den 46 Kabinetten, die es in Italien bis zur Wahl von 1994 gab, besaßen 40 einen christdemokratischen Regierungschef

Bei Hinzuziehung der beiden weiteren oben genannten Kriterien -der besonders einflußreichen Parteien und der spezifischen Koalitionsmuster -weitet sich der Kreis der relevanten Akteure des traditionellen italienischen Parteiensystems auf eine bzw. zwei weitere Parteien aus. Zunächst ist in diesem Zusammenhang die Kommunistische Partei Italiens (PCI) zu nennen. Diese größte kommunistische Partei der westlichen Welt stellte bis zu ihrer Auflösung bzw.demokratischen Umwandlung in eine moderne sozialdemokratisch orientierte Partei 1989-91 (vgl. III) stets die zweitstärkste Partei des Landes dar. Daß sie auch im Anschluß an die Überwindung ihrer Phase als „Anti-System-Partei“ (Sartori) nie in den Kreis der Regierungsparteien vorstoßen konnte, hat vor allem zu tun mit der sogenannten „conventio ad excludendum“, mit der sich die „bürgerlichen“ und sozialistisch/sozialdemokratischen Parteien stillschweigend darauf geeinigt hatten, die Kommunisten von jeder Regierungsbeteiligung fernzuhalten.

Gemeinsam mit den Christdemokraten vermochten die Kommunisten Mitte der siebziger Jahre fast drei Viertel (73, 1 Prozent der italienischen Wähler hinter sich zu scharen. Bereits in den sechziger Jahren hat Giorgio Galli mit Blick vor allem auf die elektorale Stärke dieser beiden Hauptantipoden von einem „bipartitismo imperfetto“ einem unvollständigen Zweiparteiensystem, gesprochen. Als Voraussetzungen dieses Parteien-Duopols wurden allgemein die traditionelle katholische und die kommunistische Subkultur innerhalb der italienischen Wählerschaft angesehen, mit denen entsprechend „gewachsene“ Parteipräferenzen einhergingen und welche durch die nach dem Zweiten Weltkrieg neu hinzugekommene Konfliktlinie zwischen Kommunismus und Antikommunismus gefestigt wurden Zu den besonders einflußreichen Parteien des traditionellen Parteiensystems Italiens sind drittens die Sozialisten (PSI) zu zählen. Ende der siebziger Jahre hatte der PSI eine strukturelle Position erreicht, die ihn zum unentbehrlichen Teilnehmer jeder politisch denkbaren Regierungskoalition machte, und noch Ende der achtziger Jahre wurde eine langfristige Ersetzung des traditionellen DC-PCI-Bipolarismus durch einen Bipolarismus zwischen DC und PSI von einzelnen Beobachtern durchaus für möglich gehalten Die angestrebte Umwandlung der „funktionellen Unverzichtbarkeit“ für den Regierungsbildungsprozeß in eine substantielle „strukturelle Zentralität“ (basierend auf politischer und elektoraler Stärke) gelang den Sozialisten jedoch bis einschließlich nach den Wahlen von 1987, bei denen der PSI mit 14, 3 Prozent den größten Stimmengewinn seiner Geschichte verbuchen konnte, nicht

Je nachdem, ob man den „Strukturkern“ des italienischen Parteiensystems vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den Wahlen von 1994 enger oder etwas weiter fassen will, sind hierzu zwei -DC und PCI/PDS -oder drei Parteien, also zusätzlich der PSI, zu zählen. Die Hinzuzählung der Sozialisten erscheint vor allem für den Zeitraum ab Mitte der siebziger Jahre gerechtfertigt. Mit Blick auf die zeitliche Schwerpunktsetzung dieser Studie wird von daher dem Schicksal des PSI im folgenden ebenfalls erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet.

III. Die Auflösung des alten Parteiensystems

Bereits seit Mitte der achtziger Jahre traten erste Anzeichen für die Veränderung der traditionellen Struktur des italienischen Parteiensystems zutage, die im Frühjahr 1994 schließlich zur Entstehung einer vollständig neu strukturierten Parteienlandschaft geführt haben. Die Gründe für diesen Auflösungsprozeß lagen zum einen schlicht in dem Bedeutungsschwund bzw. -verlust der zuvor extrem stabilisierend wirkenden Strukturbedingungen. So waren nicht nur die beiden , Subkulturen innerhalb der italienischen Wählerschaft -repräsentiert durch die DC und die PCI -einem kontinuierlichen Erosionsprozeß ausgesetzt. Mindestens ebenso große Bedeutung kam dem Zusammenbruch des kommunistischen Machtsystems in Ost-europa und dem Ende des Ost-West-Konflikts zu, wodurch die bis dahin innenpolitisch bedeutende Konfliktlinie zwischen Kommunismus und Antikommunismus ebenfalls obsolet wurde.

Ein weiterer wichtiger Katalysator des Wandels war nach einem ersten Höhepunkt des öffentlichen Mißbehagens in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die seit Beginn der neunziger Jahre stark zunehmende Kritik an der „partitocrazia“, an den Auswüchsen der italienischen Parteienherrschaft, die praktisch sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu ihren Einflußzonen machte. Während alle drei unterscheidbaren Motive den Niedergang der traditionellen Parteien -bzw. im Falle der Kommunisten deren grundlegende innere Reform -mitverursachten, eröffnete die abnehmende Fixierung der Wählerschaft auf ihre „Lagerparteien“ neuen Parteien günstige Aufstiegschancen, insbesondere dann, wenn sie als Kritiker der Parteienstaatlichkeit und der korrupten traditionellen Herrschaftselite auftraten. Die folgenden Abschnitte sind der Analyse der Entwicklung der wichtigsten Akteure des traditionellen italienischen Parteiensystems seit den achtziger Jahren und der Lega Nord als der wichtigsten neuen Kraft bis zu den Wahlen von 1994 gewidmet.

1. Die Christdemokraten

Der „Abstieg“ der italienischen Christdemokraten in der Wählergunst begann mit den Parlamentswahlen von 1983, bei denen die DC, die nach anfänglich noch höheren Ergebnissen seit den sechziger Jahren stets ein extrem stabiles Stimmenniveau zwischen 38 und 39 Prozent gehalten hatte, einen Stimmenverlust von 5, 4 Prozent hinnehmen mußte. Bei dieser Wahl machten sich tiefgehende soziale Wandlungsprozesse wie Säkularisierung, Modernisierung und ein angewachsenes Potential höher gebildeter Wähler, begleitet von einer im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen gemäßigten anti-kommunistischen Wahlkampfstrategie der DC, erstmals in Form von vergleichsweise deutlichen Veränderungen in der Parteiorientierung der Wählerschaft bemerkbar Eine Rolle spielte ferner der schleichende Zerfall der katholischen Subkultur. Die Erosion der „weißen“ (christdemokratischen) Subkultur begann schon zu Beginn der siebziger Jahre und damit bedeutend früher als die Auflösung der „roten“ (kommunistischen) Subkultur in der Toskana und der Emilia-Romagna. Die traditionell „weißen“ Provinzen Venetien und die östliche Lombardei waren jene Landstriche, in denen Modernisierungsprozesse wie Säkularisierung, Industrialisierung, materieller Wohlstand und ein daraus resultierendes verändertes Lebensgefühl am stärksten wirksam wurden. Die Differenz des erreichten Stimmenanteils im Norden gegenüber dem Süden des Landes, wo Stimmengewinne der DC vor allem auf der Existenz klientelistischer Beziehungsmuster beruhten, entwickelte sich bis zu den Wahlen von 1992 stetig in Richtung eines wachsenden „Süd-Nord-Gefälles“

Nach einer weitgehenden Konsolidierung bei den Wahlen 1987, in deren Vorfeld die DC gegenüber 1983 wieder stärker auf traditionale Konzepte der Wählermobilisierung zurückgegriffen hatte, markierte das Wahlergebnis von 29, 7 Prozent vom April 1992 das historische Tief für die „alte“ italienische Christdemokratie. Neben dem sich fortsetzenden Bedeutungsschwund der katholischen Subkultur ist hierfür vor allem der Verlust der antikommunistischen Legitimationsstrategie verantwortlich zu machen, durch die die DC bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein bedeutende Wählergruppen an sich zu binden vermochte Spätestens nach der Auflösung der Kommunistischen Partei bzw. nach Gründung der daraus hervorgehenden sozialdemokratisch orientierten Linkspartei 1990/91, des Partito Democratico della Sinistra (PDS), mußte sich die DC erstmals -bar ihrer Rolle als angeblicher Garant eines pluralistisch-demokratischen Gemeinwesens -für die offensichtlichen Schwächen des politischen Systems direkt verantworten.

Nach den weitgehend erfolglosen Reformversuchen De Mitas in den achtziger Jahren begann im Anschluß an das Wahldebakel 1992 Anfang 1993 ein grundlegender Emeuerungsprozeß der Partei von innen Trotz großer Mühe gelang es dem im Oktober 1992 zum neuen DC-Parteisekretär gewählten (Ende März 1994 zurückgetretenen) Mino Martinazzoli jedoch nicht, die Partei zusammenzuhalten. Bereits Ende 1992 hatte das ehemalige DC-Mitglied Mario Segni -einer der Hauptvertreter der Referendums-Bewegung zu Anfang der neunziger Jahre -seine Bewegung „Popolari per la Riforma“ gegründet, in der sich in der Folge Christdemokraten und Katholiken zusammenfanden, denen die innerparteilichen Reformen Martinazzolis nicht radikal genug waren. Im Wahlkampf 1994 trat Segnis Vereingung unter dem Namen „Patto Segni“ an. Die Mitte Februar 1994 vollzogene offizielle Umbenennung der DC in Partito Popolare Italiano (PPI) ging zugleich einher mit der Abspaltung einer stärker rechtsorientierten Gruppierung, die den Wahlkampf unter der Bezeichnung Centro Cristiano Democratico (CCD) bestritt.

2. Die Kommunisten

Die Zeit nach dem Scheitern des „compromesso storico“ -des „historischen Kompromisses“ (1976-79), in dessen Rahmen sich der PCI bereit gezeigt hatte, DC-Minderheitsregierungen unter Aldo Moro und Giulio Andreotti zu stützen -war für die Kommunisten eine Phase innerparteilicher Stagnation. Nach außen konnte der PCI sich weder als Regierungspartei noch als überzeugte und überzeugende Oppositionspartei präsentieren, was sich folgerichtig auch in Form eines kontinuierlichen Stimmenrückgangs bei Wahlen niederschlug. Ein strategischer Neubeginn begann im wesentlichen erst unter der personellen Führung Achille Occhettos, der im Juli 1988 zum PCI-Generalsekretär gewählt wurde und die Partei binnen kurzer Zeit in eine moderne sozialdemokratische Massenorganisation umwandeln sollte, während sich der linke Flügel in die „alt-kommunistisch“ -orthodoxe Rifondazione Comunista (RC) abspaltete.

Bereits ab 1987 gab es erste umfangreiche programmatische Neuerungen, die den organisatorischen Zusammenhalt des PCI allerdings noch nicht gefährdeten. Die wichtigsten Änderungen erfolgten dabei auf den Gebieten der Politik zur Gleichstellung von Mann und Frau, der Umweltpolitik und in Fragen institutioneller und konstitu-tioneller Reform Auslöser für die im März 1990 erfolgte Auflösung des PCI und die offizielle Neugründung des PDS auf dem 20. Parteitag des PCI im Januar 1991 war der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa, der weitere Reformen unumgänglich machte, sofern man sich nicht in ein historisches Abseits begeben wollte Von den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien Westeuropas, an denen man sich während der Umbruchphase orientierte, hatte die deutsche SPD den stärksten Vorbildcharakter, da in ihr die Kombination von Meinungspluralismus und Parteidisziplin im Rahmen einer Massenorganisation am besten verwirklicht zu sein schien. Zu den wichtigsten im Anschluß an die Konstituierung des PDS in Angriff genommenen organisatorischen Reformen können der Versuch einer Ersetzung territorialer Strukturprinzipien durch thematisch bestimmte Strukturen, eine drastische Reduzierung des Anteils vollzeitbeschäftigter Parteifunktionäre sowie eine über Quotenregelungen garantierte Berücksichtigung von Frauen bei der Besetzung von innerparteilichen Leitungspositionen gezählt werden

Unter Occhetto entwickelte der PCI/PDS wieder stärker das Bewußtsein, als „Regierungsalternative“ zur DC zu agieren. In diesen Zusammenhang gehörte auch die Vorstellung des ersten Schatten-kabinetts im Juli 1989, noch vor Beginn der programmatisch-organisatorischen Neugründung der Partei Die Auflösung des traditionellen ideologischen Gegensatzes zwischen (reformierten) Kommunisten und Christdemokraten zugunsten des Gegensatzes von Reformbefürwortern und Verteidigern des alten Systems bei den Wahlen von 1992 machte dem PDS -stimmenmäßig betrachtet -allerdings noch schwerer zu schaffen als der ebenfalls angeschlagenen DC

3. Die Sozialisten

Für die italienischen Sozialisten begannen die achtziger Jahre überaus erfolgreich. Gemeinsam mit den übrigen kleineren Koalitionsparteien der DC konnte der PSI erreichen, daß die bis dahin ungebrochene Reihe christdemokratischer Nachkriegs-Premiers 1981 ihr Ende fand. Im Anschluß an zwei von dem Republikaner Giovanni Spadolini geführten Kabinetten (1981-83) stellte der PSI von 1983 bis 1987 mit Bettino Craxi erstmals selbst den Ministerpräsidenten. Stimmenmäßig hatte sich der PSI vom Ende der siebziger Jahre an kontinuierlich von 9, 8 Prozent (1979) bis auf 14, 3 Prozent (1987) zur mit Abstand stärksten Regierungspartei nach der DC hochgearbeitet.

Der entscheidende Unterschied zu früheren Regierungsbeteiligungen des PSI bestand darin, daß die Sozialisten in den achtziger Jahren in verstärktem Maße Kontrolle über Entscheidungen im öffentlichen Sektor erlangten, was ansonsten eine Domäne der Christdemokraten blieb. Ebenso wie die DC bestimmte der PSI somit faktisch mit über die Marktchancen einzelner Gruppen im sozio-ökonomischen System, als deren „Schleusenwärter“ die Regierungsparteien innerhalb des hochgradig klientelistisch organisierten politischen Systems Italiens jahrzehntelang fungierten. In den achtziger Jahren, die allgemein durch einen drastischen Anstieg der finanziellen Bedürfnisse und Ausgaben der italienischen Parteien charakterisiert waren mußten sich die größeren Firmen bedeutende Positionen im öffentlichen Sektor zunehmend durch Bestechungszahlungen an die führenden Parteien erkaufen.

Stärker noch als die hartnäckige Weigerung des damaligen PSI-Chefs Craxi, sich gegenüber jenen Reformwünschen zu öffnen, die später im Rahmen der Referenden Anfang der neunziger Jahre eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung fanden erklärt die Aufdeckung dieses Sachverhalts den „Einbruch“ von PSI und DC zuerst bei regionalen Wahlen nach dem Frühjahr 1992 und dann bei den Parlamentswahlen von 1994. Die durch die Enthüllungen der sogenannten „Tangentopoli“ -Affaire ab Februar 1992, des größten politischen Korruptionsskandals in der Geschichte der italienischen Republik, entfesselte Kritik an der offensichtlichen Korrumpiertheit der beiden „Staatsparteien“ traf Christdemokraten und Sozialisten in gleichem Maße. Für den PSI kam seit Beginn der neunziger Jahre der erschwerende Umstand hinzu, daß sich der schon traditionelle Anspruch, die einzige „regierungsfähige“ Partei der Linken zu sein, nach der erfolgten Demokratisierung der ehemaligen Kommunisten nicht mehr länger aufrechterhalten ließ.

4. Die Lega Nord

Keine andere italienische Partei hat die internationale Sozialwissenschaft in der jüngeren Vergangenheit so stark beschäftigt wie die Lega Nord im Anschluß an die Parlamentswahlen von 1992, bei der sie mit 8, 7 Prozent zur viertstärksten Partei des Landes aufstieg Bevor die Neofaschisten ab Ende des Jahres 1993 mit aufsehenerregenden Stimmengewinnen zunächst auf regionaler Ebene und dann bei den Wahlen von 1994 verstärkt in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit traten (vgl. IV), wurde die Lega insbesondere von ausländischen Beobachtern häufig als die neue rechtsradikale Partei klassischen Musters im italienischen Parteiensystem angesehen, die sie niemals war. Sie verkörpert weitaus mehr den Prototyp jener zahlreichen populistischen regionalen Ligen, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in großer Zahl entstanden In ihrer heutigen Form besteht die Lega Nord erst seit November 1989. Sie ging hervor aus einer Vereinigung der als Protestbewegung gegründeten Lega Lombarda mit den unbedeutenderen Ligen Norditaliens. Ein zweiter häufiger Irrtum bestand darin, die Lega als eine der Ursachen für den Zusammenbruch des alten Systems anzusehen. Zutreffender könnte man sie als die erste bedeutendere parteipolitische Kraft ein-stufen, die sich in der Lage zeigte, Kapital aus dem Verschwinden der alten Stabilisierungsfaktoren des Parteiensystems zu schlagen

Mit der häufig bemühten Protestwähler-These läßt sich nur ein Teil der elektoralen Erfolge der (rechts-) populistischen Lega Nord erklären. Bereits die Lega Lombarda begann im Laufe der Jahre damit, ihr anfangs rein „negatives“ Identifikationsangebot durch „positive“ Komponenten -wie insbesondere die materiellen Interessen ihrer Wählerschaft -zu flankieren Robert Leonardi und Monique Kovacs haben insgesamt vier Mobilisierungspotentiale unterschieden, über die die Lega verfügt: Die Lega stellt demnach vorrangig eine gegen die „partitocrazia“, die Auswüchse der Parteienstaatlichkeit, gerichtete Bewegung dar. Zweitens ist die Lega anzusehen als eine politische Kraft mit stark immigrantenfeindlichen Zügen und ausgeprägten Vorbehalten gegen die süditalienische Bevölkerung, wobei diese beiden Komponenten ebenfalls in Verbindung mit ihrer Gegnerschaft gegenüber der „partitocrazia“ gesehen werden müssen und sich damit deutlich vom stärker ideologisch geprägten Rassismus und der Fremden-feindlichkeit neofaschistischer oder anderer rechter Gruppierungen unterscheiden. Drittens ist die Lega eine stark föderalistisch und regional orientierte Partei, die für ein Föderalismus-Modell eintritt, das die kulturellen Unterschiede und die (vor allem steuerliche) Autonomie der Regionen bei einer gleichzeitigen drastischen Beschränkung der Steuerungskompetenzen der zentralstaatlichen Ebene betont. Schließlich ist die Lega eine gegen den politischen Status quo gerichtete soziale Bewegung mit einer schwerpunktmäßigen Verankerung in der jüngeren Generation von Handwerkern, Facharbeitern, Angestellten und Kleinunternehmern.

5. Zusammenfassung

Entgegen zahlreichen anderslautenden Urteilen der italienischen und der internationalen Presse, die beinahe übereinstimmend von einem elektoralen „Erdbeben“ sprach, ließen die Parlamentswahlen vom April 1992 die äußeren Strukturmerkmale des traditionellen Parteiensystems noch weitgehend unangetastet. Trotz der markanten Stimmen­ einbußen der DC und des reformierten PDS, die bereits das Ende des „bipartitismo imperfetto“ signalisierten blieben diese beiden Parteien die stärksten Akteure des, Systems. Konsolidiert, sogar vergrößert hatte sich auch der Stimmenabstand zwischen beiden Parteien, so daß die DC noch einmal als Partei der relativen Mehrheit aus den Wahlen hervorging. Während die kleineren Regierungsparteien -Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberale -im wesentlichen stagnierten, fiel ferner, gerade im Vergleich zum westlichen Ausland, das Nichterstarken neofaschistischer oder neonazistischer Parteien auf

Der offensichtliche Zusammenbruch des alten Parteiensystems erfolgte zuerst auf regionaler Ebene im Gefolge der zahlreichen kommunalen Wahlen, die nach dem Frühjahr 1992 stattfanden. Am deutlichsten wurde dies bei den Kommunalwahlen vom Spätherbst 1993, an denen insgesamt rund neun Millionen Wähler teilnahmen. Die Parteien des „quadripartito“ -der regierenden Vierparteienkoalition aus Christdemokraten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberalen -konnten hier zusammen nur noch rund 15 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Als Gewinner dieser letzten „Testwahl“ vor den Parlamentswahlen 1994 gingen der PDS einerseits und die Neofaschisten andererseits hervor, während die Lega -für viele durchaus überraschend -nur im Norden des Landes nennenswerte Stimmengewinne erzielen konnte.

IV. Das italienische Parteiensystem nach den Wahlen von 1994

Die Wahlen vom März 1994 wurden unter einem neuen Wahlrecht abgehalten, welches das traditionelle italienische Verhältniswahlrecht ablöste Wahlsysteme stellen nicht die einzigen institutioneilen Faktoren dar, die die Struktur des Parteien-wettbewerbs und des Parteiensystems beeinflussen können, wohl aber jene mit der unmittelbarsten Wirkung Das Wahlsystem, nach dem die Wahlen vom März 1994 durchgeführt wurden, verband eine dominante Mehrheitswahlrechts-mit einer schwächeren Verhältniswahlrechtskomponente. Danach wurden 75 Prozent der Mitglieder beider Kammern des italienischen Parlaments, Senat und Abgeordnetenkammer, nach dem Mehrheitsprinzip in Einerwahlkreisen ermittelt. Die übrigen 25 Prozent der Mitglieder der Abgeordnetenkammer wurden gemäß dem erzielten Zweitstimmenanteil der Parteien -bei Geltung einer 4-ProzentSperrklausel -über Parteilisten bestimmt. Für die Wahlen zum Senat besaß jeder Wähler (der das 25. Lebensjahr vollendet hatte) nur eine Stimme; das durch Proporz bestimmte Viertel der Senatoren wurde aus der Reihe der besten Zweitplazierten ausgewählt.

Mit Blick auf die Gewinnung von Parlamentsmandaten war mit dieser Wahlrechtsänderung für die Parteien (insbesondere die zahlreichen italienischen Kleinparteien) die faktische Notwendigkeit zur Bildung von Wahlallianzen verbunden. Die Tatsache, daß nach wie vor ein Viertel der Mandate für die Abgeordnetenkammer über die separaten Parteilisten vergeben wurde, ist dabei verschiedentlich als institutionelles Hemmnis für die Herausbildung zweier politisch konsistenter Parteiblöcke gewertet worden die dem relativen Mehrheitswahlsystem britischen Musters ansonsten zugeschrieben wird.

Tatsächlich ist aus den Wahlen des Frühjahrs 1994 kein bipolares Parteiensystem wie in Großbritannien hervorgegangen, was jedoch nicht nur mit den Wirkungen des Wahlrechts erklärt werden kann, sondern im Gegenteil auch auf die sozio-kulturellen Voraussetzungen des Funktionierens von Wahlsystemen verweist. Eine beträchtliche Fragmentierung des Parteiensystems blieb nicht nur unterhalb der parlamentarisch repräsentierten Ebene bestehen, sondern zeigt sich ebenso innerhalb des Parlaments, wo sich im Anschluß an langwierige Fraktionsbildungsprozesse Ende April 1994 immerhin noch elf größere parlamentarische Gruppierungen fanden Das von der DC beherrschte Gravitationszentrum des traditionellen Parteiensy-stems hat sich zugunsten einer schärfer konturierten Links-rechts-Konfrontation weitestgehend verflüchtigt. Als die wesentlichen Veränderungen im italienischen Parteiensystem nach den Wahlen von 1994 lassen sich daher identifizieren (1) der grundlegende Austausch der maßgeblichen Akteure des Parteiensystems, (2) das faktische Verschwinden des Zentrums, einhergehend mit deutlichen Tendenzen einer neuartigen Bipolarisierung, sowie (3) eine deutliche Verschiebung des Schwergewichts innerhalb des Parteiensystems nach rechts. Der Umstand, daß kaum noch eine der wahlwerbenden Gruppierungen unter einem Namen auftrat, der die offizielle Bezeichnung „Partei“ beinhaltet, ist demgegenüber nicht zu den strukturverändernden Faktoren zu zählen, wenngleich sich hierin eine bemerkenswerte Anpassung an den vollzogenen Wandel der politischen Kultur in Richtung einer fundamentalen Skepsis gegenüber den politischen Parteien zeigt.

Anm.: Die aufgeführten Parteien sind nach den Wahl-allianzen von 1994 -Linke, Mitte und Rechte -angeordnet. Die in Klammern stehenden Zahlen geben die Gesamtzahl der 1994 über Direktmandate und Parteilisten gewonnenen Sitze an. Vergleichszahlen früherer Wahlen sind für den PDS die Wahlresultate des PCI, für den PPI die Ergebnisse der DC, für die Alleanza Nazionale die Stimmen des MSI und für die Lista Pannella die Resultate des Partito Radicale (PR).

Quellen: La Repubblica vom 30. 3. 1994, S. 2 und vom 16. 4. 1994, S. 5; G. Trautmann (Anm. 12), S. 119.

Im Vorfeld der Wahlen hatten sich zunächst drei größere Allianzen -Linke, Rechte und Zentrum -formiert. Das aus PPI und dem „Patto Segni“ gebildete Zentrum erreichte jedoch, insbesondere wegen des miserablen Abschneidens in den Einer-wahlkreisen, nur 46 der insgesamt 630 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Die Wahlallianz der Linken, gebildet aus dem PDS und den kleineren Parteien -RC, PSI, Grüne (Verdi), Alleanza Democratica,La Rete und den Cristiano Sociali -erzielte demgegenüber insgesamt 213 Sitze in der Kammer, wovon mehr als die Hälfte allein auf das Konto des PDS gingen. Die deutliche absolute Mehrheit der Mandate ging hingegen an die Rechtsallianz, die sich aus den drei größeren Kräften Forza Italia, Alleanza Nazionale und Lega Nord sowie dem kleineren, vor allem eng mit Forza Italia paktierenden CCD zusammensetzte. Obwohl die Eigentümlichkeiten des Wahlrechts und die Notwendigkeit der kurzfristigen Einstellung der Parteien darauf dafür sorgten, daß die Anzahl der von einer Partei insgesamt erzielten Mandate zum Teil extrem stark von den Stimmen-gewinnen für deren Parteiliste abwich lassen sich vor allem zwei Parteien als eindeutige Gewinner der Wahlen von 1994 bezeichnen: Forza Italia und deren Bündnispartner Alleanza Nazionale, die sowohl nach Listenstimmen als auch nach Mandaten in den Kreis der bestimmenden Akteure des Parteiensystems gerückt sind.

Die vom amtierenden Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi geführte und von diesem 1993/94 begründete Forza Italia hat erst nach den Wahlen vom März 1994 die Organisationsstruktur einer politischen Partei mit einem Vorsitzenden, einem Generalsekretär und einem fünfköpfigen ständigen Parteisekretariat angenommen. Die „Basiseinheiten“ der Organisation werden gebildet von einer Kette von Tausenden politischer Clubs, die ab Sommer 1993 in ganz Italien entstanden. Im Wahlkampf 1994 kam den Clubs die Rolle der entscheidenden Mobilisationsstruktur für die stark auf persönliche Ausstrahlung ausgerichtete Wahlkam­ pagne Berlusconis zu. Als Rekrutierungsbasis für Forzo-Zto/zfl-Kandidaten dienten sie hingegen nicht; die Mehrzahl der bis zu ihrer Nominierung politisch zumeist vollkommen unerfahrenen Forza-Kandidaten wurde zentral über eine Werbeagentur Berlusconis angeworben. Die stimmenmäßig stärkste Partei im italienischen Parteiensystem steht an der Spitze der bei den Wahlen siegreichen Rechtsallianz und bezeichnet sich selbst als Partei des Zentrums. Programmatisch tritt sie wie ihre Verbündeten vor allem für eine neoliberale Wirtschaftsordnung und die drastische Reduktion des gegenwärtigen Sozialstaats ein. Repräsentative Nach-Wahlumfragen ergaben, daß mehr als die Hälfte der Forza-Italia-Wähler zur früheren Klientel der Christdemokraten und Sozialisten zählen und bei den Wahlen von 1992 noch für die DC und den PSI gestimmt hatten

Anders als Forza Italia stellt die Alleanza Nazionale, die mit 13, 5 Prozent der Stimmen für ihre Liste zur drittstärksten Partei aufgestiegen ist, keine neue Partei im italienischen Parteiensystem dar. Sie ist die direkte Nachfolgeorganisation des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI), der sich 1993 kurzfristig umbenannte. Sichtbarstes Zeichen der politischen Kontinuität ist die Person des Alleozizo-Führers Gianfranco Fini, der bereits seit 1987 an der Spitze des MSI stand. In der Vergangenheit war der MSI die einzige Partei im italienischen Parlament, die sich selbst ausdrücklich als rechts bezeichnete Ab den sechziger Jahren geriet der MSI bei einem durchschnittlichen Unterstützungsniveau von rund sechs Prozent der Stimmen bei nationalen Wahlen zunehmend in die politische Isolation aus der heraus seine Nachfolgeorganisation Alleanza Nazionale gleichsam über Nacht zur Regierungspartei aufstieg. Auch im neustrukturierten Parteiensystem Italiens stellt die Alleanza die am weitesten rechts stehende Partei dar. Sie tritt vor allem für die Aufrechterhaltung der zentralistischen Struktur der staatlichen Ordnung und ein stark am Law-and-order-Prinzip orientiertes Gesellschaftsmodell ein. Mit ihren Koalitionspartnern Forza Italia und Lega Nord verbinden sie insbesondere ähnliche wirtschaftspolitische Vorstellungen und die kritische Einstellung gegenüber der „partitocrazia“, die auch schon den MSI auszeichnete. Ihre Wählerhochburgen hat sie eindeutig im Süden des Landes, wo sich monarchistische Traditionen und eine besonders enge Identifikation mit den „Errungenschaften“ des faschistischen Mussolini-Regimes mit Abstand am stärksten erhalten haben.

Von einer Tendenz zur Bipolarisierung im neuentstandenen Parteiensystem läßt sich nicht nur im Sinne einer automatischen Folgeerscheinung der Auflösung des traditionellen Zentrums sprechen. Bereits im Wahlkampf 1994 trat der programmatische Grundkonflikt zwischen einem neoliberalen Gesellschaftsmodell und der Idee eines neokorporatistisch organisierten Wohlfahrtsstaates, vertreten von der Rechtsallianz bzw. von den progressiven Kräften, klar hervor. Die Distanz zwischen den sachpolitischen Zielorientierungen der beiden -in sich selbst stark zerklüfteten -Hauptpole des Parteiensystems wird im übrigen durch die ideologische Konfrontation zwischen „Post-Kommunisten“ und „Post-Faschisten“ noch verstärkt. Insgesamt gesehen hat sich das Schwergewicht der italienischen Parteienlandschaft mit den Wahlen vom Frühjahr 1994 deutlich nach rechts verlagert. Dies ist nicht nur eine Folge der starken Stimmengewinne rechter und rechtsorientierter Parteien, sondern hängt auch zusammen mit der fortgesetzten Zentrumsbewegung des PDS als der nach wie vor mit Abstand bedeutendsten Partei auf der Linken. Spätestens mit der Veröffentlichung des PDS-Wahlprogramms vom Februar 1994 wurde deutlich, daß heute zumindest drei kleinere Parteien -RC, La Rete und die Grünen -deutlich links vom PDS angesiedelt sind.

Faßt man zusammen, so läßt sich feststellen, daß das italienische Parteiensystem spätestens Ende der achtziger Jahre in einen Prozeß grundlegenden Strukturwandels eingetreten ist, der mit den Wahlen von 1994 -verstärkt durch die Wirkungen eines neuen Wahlrechts -zu radikalen Strukturveränderungen geführt hat. Hierbei wurde nicht nur der „prädominante“ Akteur des traditionellen Parteiensystems (die DC) verdrängt, sondern zugleich eine neue Bipolarität des Systems geschaffen, die an die Stelle des traditionellen Zentrums getreten ist. Darüber hinaus hat auch der zweite Hauptakteur des alten Parteiensystems -der PCI/PDS -bedeutende Entwicklungen durchlaufen und dabei seine Position innerhalb des Gesamtsystems kontinuierlich zur Mitte hin verschoben, während schließlich der dritte ehemals wichtige Akteur, der PSI, zu einer unauffälligen Kleinpartei abgesunken ist. Etwa die Hälfte des Parteienfeldes (auf Stimmen und Mandate bezogen) wird heute von Parteien beherrscht, die bis vor kurzem keine größeren Stimmengewinne verbuchen konnten bzw. in der jüngsten Vergangenheit überhaupt erst entstanden sind.

Alles in allem könnte der Wandel grundlegender kaum sein und fällt von daher ohne Zweifel in die oben definierte, in den stabilisierten westlichen Demokratien ansonsten extrem selten vorfindbare Kategorie der party System transformation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. insbesondere Peter Mair, Adaption and Control: Towards an Understanding of Party and Party System Change, in: Hans Daalder/Peter Mair (Hrsg.), Western European Party Systems: Continuity and Change, London 1983; Peter Mair/Gordon Smith (Hrsg.), Understanding Party System Change in Western Europe, London 1990; ferner den einschlägigen Special Issue des Journal of Theoretical Politics, 1(1989) 3.

  2. Vgl. Gordon Smith, A System Perspective on Party System Change, in: Journal of Theoretical Politics, 1 (1989) 3, S. 353 f.

  3. Vergl.ders., Core Persistence: Change and the „People’s Party“, in: P. Mair/G. Smith (Anm. 1), S. 161.

  4. Als Überblicksdarstellung des italienischen Parteien-systems bis 1983 vgl. Wolfgang Merkel, Das Parteiensystem Italiens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/83, S. 3-14.

  5. Vgl. Mark Donovan, Party Strategy and Centre Domination in Italy, in: P. Mair/G. Smith (Anm. 1).

  6. Giovanni Sartori, European Political Parties: The Gase of Polarized Pluralism, in: Joseph LaPalombara/Myron Weiner (Hrsg.), Political Parties and Political Development, Princeton 1966, S. 137-176; ders., Parties and Party System: A Framework for Analysis, Cambridge u. a. 1976, S. 125ff.; ders., II pluralismo polarizzato: critiche e repliche, in: Rivista Italiana di Scienza Politica, 12 (1982) 1, S. 3-44.

  7. Paolo Farneti, II sistema dei partiti in Italia 1946-1979, Bologna 1983, S. 228f.

  8. Vgl. zur Kritik der wichtigsten älteren theoretischen Modelle Wolfgang Merkel, Die Sozialistische Partei Italiens. Vom Oppositionssozialismus zur Staatspartei, Bochum 1985, S. 14 ff.

  9. Vgl. zu den wichtigsten Aspekten der DC als Regierungspartei Mario Caciagli, Doomed to govern? Christian Democracy in the Italian Political System, in: Institute d’Edicions de la Diputaciön de Barcelona (Hrsg ), Christian Democracy in Europe, Barcelona 1992, S. 7-27; ausführlicher Robert Leonardi/Douglas A. Wertman, Italian Christian Democracy. The Politics of Dominance, Basingstoke u. a. 1989, S. 47ff.

  10. Bei diesen wie bei allen folgenden Stimmenangaben handelt es sich um die jeweiligen Ergebnisse von Wahlen zur italienischen Abgeordnetenkammer, vgl. Tabelle S. 35.

  11. Giorgio Galli, II bipartitismo imperfetto. Comunisti e democristiani in Italia, Bologna 1966.

  12. Vgl. ebd., S. 120f.; Günter Trautmann, Stabilität durch Wandel. Die politische Kultur und das Parteiensystem Italiens, in: Rupert Breitling/Winand Gellner (Hrsg.), Machiavellismus, Parteien und Wahlen, Medien und Politik. Politische Studien zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Erwin Faul, Gerlingen 1988, S. 118-143, 131 f.; Martin J. Bull/James L. Newell, Italian Politics and the 1992 Elections: From „Stahle Instability“ to Instability and Change, in: Parliamentary Affairs, 46 (1993) 2, S. 203-227, 203 f.; Gianfranco Pasquino, Italy: The Twilight of the Parties, in: Journal of Democracy, 5 (1994), 1, S. 18-29, 21.

  13. Vgl. M. Donovan (Anm. 5), S. 123.

  14. Vgl. W. Merkel (Anm. 8), S. 57ff.; 379.

  15. Protagonist der „anti-partitocrazia“ -Kampagne der späten siebziger Jahre war der Partito Radicale (PR), der bei seinem Versuch, über ein Referendum die öffentliche Parteienfinanzierung in Italien abzuschaffen, nur knapp gescheitert war. Vgl. M. Donovan (Anm. 5), S. 120.

  16. Zur Analyse der Wahl von 1983 vgl. Jean Besson/Genevi& ve Bibes, La Ddmocratie Chrötienne ou les infortunes de la vertu, in: Revue Frangaise de Science Politique, 33 (1984) 2, S. 259-294.

  17. Vgl. Mario Caciagli, Erosioni e mutamenti nell’elettorato democristiano, in: ders. /Alberto Spreafico (Hrsg.), Vent’anni di elezioni in Italia. 1968-1987, Padua 1990, S. 3-30.

  18. Vgl. Mark Donovan, A Party System in Transformation: The April 1992 Italian Election, in: West European Politics, 15 (1992) 4, S. 170-177, 171.

  19. Am bislang ausführlichsten dargestellt findet sich der innerparteiliche Reformprozeß der DC bis Sommer 1993 bei Jörg Seißelberg, Die „blockierte Demokratie“ bewegt sich -Veränderungen im politischen System Italiens, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 24 (1993), S. 498-524, 515ff.

  20. Vgl. hierzu Patrick McCarthy, The Referendum of 9 June, in: Stephen Hellmann/Gianfranco Pasquino (Hrsg.), Italian Politics. A Review, London u. a. 1992, S. 11-28, sowie Martin J. Bull/James L. Newell, The Italian Referenda of April 1993. Real Change at Last?, in: West European Politics, 16(1993) 4, S. 607-615.

  21. Vgl. Gianfranco Pasquino, Programmatic Renewal, and Much More: From the PCI to (he PDS, in: Richard Gillespie/William E. Patterson (Hrsg.), Rethinking Social Democracy in Western Europe, London 1993, S. 156-173, 164ff.

  22. Eine präzise Detailanalyse des innerparteilichen Entwicklungsprozesses bietet Stephen Hellman, The Difficult Birth of the Democratic Party of the Left, in: ders. /G. Pasquino (Anm. 20), S. 68-86; vgl. ferner Martin J. Bull, Whatever Happened to Italian Communism? Explaining the Dissolution of the Largest Communist Party in the West, in: West European Politics, 14 (1991) 4, S. 96-120, sowie Piero Ignazi, Dal PCI al PDS, Bologna 1992.

  23. Vgl. G. Pasquino (Anm. 21), S. 159.

  24. Vgl. Jörg Seißelberg, Republik Italien, in: Winfried Steffani (Hrsg.), Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen 1991, S. 243-265, 258.

  25. Vgl. Luca Ricolfi, La geometria dello spazio elettorale in Italia, in: Rivista Italiana di Scienza Politica, 23 (1993) 3, S. 433-474, 460f.

  26. Vgl. Francesco Sidoti, The Italian Political dass, in: Government and Opposition, 28 (1993), S. 339-352, 341 f.

  27. Vgl. Martin Rhodes, II declino dell’ „onda lunga“ e la fine del craxismo, in: Stephen Hellman/Gianfranco Pasquino (Hrsg.), Politica in Italia. Edizione 93. I fatti dell’anno e le interpretazioni, Bologna 1993, S. 103-122, 106.

  28. Vgl. Sarah Waters, „Tangentopoli“ and the Emergence of a New Political Order in Italy, in: West European Politics, 17 (1994) 1, S. 169-182; Donatella della Porta, La capitale immorale: le tangenti di Milano, in: S. Hellman/G. Pasquino (Anm. 27), S. 219-240.

  29. Vgl. etwa Tom Gallagher, Rome at Bay: The Challenge of the Northern League to the Italian State, in: Government and Opposition, 27 (1992) 4, S. 470-485; Mark Gilbert, Warriors of the New Pontida: The Challenge of the Lega Nord to the Italian Party System, in: Political Quarterly, 64 (1993) 1, 5. 99-106; Bernard Poche, La Ligue Nord face ä l’Etat nahen: entre la däcomposition territoriale et la recomposition institutioneile, in: Revue Politique et Parlementaire, 95 (1993) 965, S. 21-33; Hans-Georg Betz, Lega Nord -ein Paradigma für Westdeutschland?, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 40 (1992) 2, S. 123-128; für einen Über-blick über die italienischsprachige Literatur zum Thema siehe die Sammelbesprechung von Tom Gallagher, Regionalem and Party System Change: Italy’s Northern League, in: West European Politics, 16 (1993) 4, S. 616-621.

  30. Vgl. Dwayne Woods, The Centre No Longer Holds: The Rise of Regional Leagues in Italian Politics, in: West European Politics, 15 (1992) 2, S. 56-76.

  31. Vgl. G. Pasquino (Anm. 12), S. 22.

  32. Vgl. Paul Furlong, The Extreme Right in Italy: Old Orders und Dangerous Novelties, in: Parliamentary Affairs, 45 (1992) 3, S. 345-356.

  33. Vgl. Robert Leonardi/Monique Kovacs, L’irresistibile ascesa della Lega nord, in: S. Hellman/G. Pasquino (Anm. 27), S. 123-141, 128ff.

  34. Vgl. J. Seißelberg (Anm. 19), S. 502.

  35. Vgl. Jean Besson/Geneviäve Bibes, Nd maggioranza, nd opposizione: le elezioni politiche di 5 e 6 aprile 1992, in: S. Hellman/G. Pasquino (Anm. 27), S. 57-82, 70.

  36. Zu der komplexen Struktur der politischen Auseinandersetzung bis zur parlamentarischen Entscheidung über die Wahlrechtsänderung vgl. Mauro Calise, Remaking the Italian Party System: How Lijphart Got It Wrong by Saying It Right, in: West European Politics, 16 (1993) 4, S. 545-560, 554ff.

  37. Grundlegend hierzu Dieter Noblen, Wahlrecht und Parteiensystem. Über die politischen Auswirkungen von Wahl-systemen, München 19902; neuerdings auch Arendt Lijphart, Electoral Systems and Party Systems. A Study of Twenty-Seyen Democracies 1945-1990, Oxford 1994.

  38. Vgl. Roberto D’Alimonte/Alessandro Chiaramonte, II nuovo sistema elettorale: quali opportunitä?, in: Rivista Italiana di Scienza Politica, 23 (1993) 3, S. 513-547, 523 ff.

  39. Der einzige bemerkenswerte Zusammenschluß zwischen Parteien, die auch schon den Wahlkampf gemeinsam bestritten hatten, war die Bildung einer gemeinsamen Fraktion aus PDS, La Rete, Cristiano Sociali und den Grünen. Vgl. hierzu La Repubblica vom 20. 4. 1994, S. 11.

  40. Am deutlichsten ist dies im Falle der Lega Nord, die mit lediglich 8, 4 Prozent der Stimmen für ihre Liste die nach Mandaten stärkste Einzelfraktion in der Kammer stellt. Dies hängt damit zusammen, daß die Lega als die im Norden etabliertere Kraft trotz bereits während des Wahlkampfs schwindender Attraktivität fast 70 Prozent der gemeinsam mit Forza Italia präsentierten Kandidaten aus ihren Reihen stellen durfte und damit unmittelbar von der elektoralen Anziehungskraft Forza Italias profitierte. In anderen Fällen führten bündnisinteme Absprachen auch dazu, daß Parteien, die die Vier-Prozent-Sperrklausel mit ihrer eigenen Liste nicht überwanden, zum Teil erhebliche Anteile der Mandate des Gesamtbündnisses zugewiesen erhielten.

  41. Vgl. La Repubblica vom 31. 3. 1994, S. 6.

  42. Vgl. Francesco Sidoti, The Extreme Right in Italy: Ideological Orphans and Countermobilization, in: Paul Hainsworth (Hrsg.), The Extreme Right in Europe and the USA, London 1992, S. 151-174, 157.

  43. Vgl. Mario Caciagli, The Movimento Sociale Italiano-Destra Nazionale and Neo-Fascism in Italy, in: Klaus von Beyme (Hrsg.), Right-Wing Extremism in Western Europe, London 1988, S. 19-33, 19f.

Weitere Inhalte

Ludger Helms, M. A., geb. 1967; Studium der Politischen Wissenschaft und der Neueren deutschen Literaturgeschichte an den Universitäten Freiburg i. Br., Heidelberg und an der Freien Universität Berlin; Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung; seit 1993 Doktorand am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Parteienregierung im Parteienstaat. Strukturelle Voraussetzungen und Charakteristika der Parteienregierung in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich (1949 bis 1992), in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 24 (1993); „Machtwechsel“ in der Bundesrepublik Deutschland. Eine vergleichende empirische Analyse der Regierungswechsel von 1966, 1969 und 1982, in: Jahrbuch für Politik, 4 (1994), Halbband 2; Euro-Skeptizismus -Aspekte der neueren deutschsprachigen Europa-Literatur, in: Zeitschrift für Politik, 41 (1994) (i. E.). Zwischen Rechtsruck und Reform: Italien auf dem Weg in die „Zweite Republik“, in: Gegenwartskunde, 43 (1994) (i. E.).