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Jugend und Gewalt Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an Magdeburger Schulen | APuZ 38/1994 | bpb.de

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APuZ 38/1994 Zunehmende Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen Jugend und Gewalt Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an Magdeburger Schulen Jugend und Religion in den neuen Bundesländern

Jugend und Gewalt Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an Magdeburger Schulen

Thomas Claus/Detlev Heiter

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Zusammenfassung

Eine im Herbst 1993 vom Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien (ISIS) Magdeburg durchgeführte empirische Untersuchung sollte ermitteln, welchen Stellenwert Gewalt im Alltag Magdeburger Jugendlicher erlangt hat, welche Rolle sie in deren Lebensvollzug spielt, welche Ursachen und Anlässe für Gewaltanwendung durch Jugendliche veranwortlich sind, wo sich jugendliche Gewalt vor allem artikuliert und wer in welchem Ausmaße davon betroffen ist. Die wichtigsten Ergebnisse der Repräsentativ-erhebung werden im Beitrag referiert und bewertet. Etwa die Hälfte der Jugendlichen im Untersuchungsfeld hat bereits Gewalt erlebt bzw.selbst ausgeübt. Allerdings kam nur eine Minderheit häufiger mit Gewalt in Berührung, so daß die im Alltag zu findende Auffassung von einer generell hohen Gewalttätigkeit der Jugend nicht bestätigt werden kann. Allerdings besteht bei vielen Jugendlichen eine große Toleranz gegenüber Gewaltanwendung als Mittel der Konfliktlösung. Auffällig ist eine starke personelle Kongruenz zwischen Gewalttätern und -opfern: Jugendliche, die Gewalt angewandt haben, sind meist auch schon selbst Opfer von Gewalt geworden. Gewalt basiert nach den Ergebnissen der ISIS-Studie auf einem komplexen Motivationsgefüge. Aus der Sicht der Jugendlichen hat sie vor allem zwei Funktionen: Erstens geht es um den Abbau psychischer Spannungszustände, die sich aus Problemen mit der gesellschaftlichen Umwelt ergeben, zweitens fungiert Gewalt als Statussymbol, das heißt, sie dient der soziokulturellen Selbstdarstellung.

I. Die Studie „Jugend und Gewalt“: Intention und Methode

Tabelle 1: Was verstehst Du persönlich unter Gewalt? (Angaben in Prozent, nach Rang-plätzen geordnet) Quelle: Eigene Darstellung.

1. Anlaß und Ausgangspunkt der Studie

Tabelle 3: In welchem Maße sind Deiner Meinung nach die folgenden Probleme für Gewalt bei Jugendlichen verantwortlich? (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Am 9. Mai 1992 wurde die Magdeburger Öffentlichkeit durch ein folgenschweres Ereignis erschüttert: Bei einem Überfall politisch rechtsgerichteter Jugendlicher auf die Magdeburger Gaststätte „Elbterassen“ wurde der 23jährige Punker Thorsten Lamprecht mit einem Baseball-schläger so schwer verletzt, daß er an den Folgen starb. Diese Gewalttat dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, den für die Jugendarbeit und -politik in Magdeburg Verantwortlichen den akuten Handlungsbedarf in puncto Gewaltprävention bewußt zu machen. Vor allem Mitarbeiter des Jugendamtes sowie Praktiker vor Ort -Sozialarbeiter und Mitarbeiter von Jugendfreizeiteinrichtungen -zeigten sich an empirischen Ergebnissen zur Gewaltproblematik und daran anknüpfenden Handlungsempfehlungen für eine effizientere Gewaltprävention außerordentlich interessiert. So wurde die Idee einer regionalen Studie zur Gewalt unter Jugendlichen geboren und an das Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien (ISIS) Magdeburg herangetragen.

Tabelle 4: Was denkst Du, wie beliebt sind bei Jugendlichen gegenwärtig Bücher, Filme, Fernsehsendungen und Zeitschriften mit den folgenden Themen/Inhalten? (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung

Entsprechend den Erfordernissen der Jugendarbeit verfolgte die Studie in erster Linie praktische Ziele. Sie sollte Wissensdefizite hinsichtlich des Phänomens und der Handlungsorientierungen bezüglich der Jugendgewalt auffüllen und damit die Grundlage für eine fundiertere konzeptionelle und inhaltliche Arbeit in der jugendlichen Gewaltprävention liefern. Darüber hinaus wurde das o. g. praktische Anliegen der Untersuchung seitens des ISIS durch einen eigenen wissenschaftlichen Anspruch erweitert. Die Untersuchung war methodisch und inhaltlich so angelegt, daß sie Verallgemeinerungen über den einbezogenen Probanden-bzw. Testpersonen-kreis hinaus erlaubte, Vergleiche mit anderen Forschungsprojekten zum gleichen Untersuchungsgegenstand gestattete und weiterführende theoretische Implikationen zur Jugendgewalt ermöglichte.

Tabelle 5: Was meinst Du, wann neigen Jugendliche besonders zu Gewalt? (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

2. Methodische Aspekte

Tabelle 6: Welche der nachfolgend aufgeführten Gruppen würdest Du selbst als gesellschaftliche Randgruppe bezeichnen? (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Am Anfang der Studie standen Recherchen über theoretische und empirische Forschungsergebnisse zum Thema „Jugend und Gewalt“. Sie mündeten in eine theoretische Ausarbeitung mit hypothetischen Annahmen und Problematisierungen, die als inhaltliche Orientierung für die empirischen Erhebungen dienten. Dabei wurde mit Hilfe verschiedener Denkmodelle, insbesondere konflikt-und stratifikationstheoretischer Ansätze, der methodologische Grundstein für den Forschungsprozeß gelegt. Den Schwerpunkt des Projektes bildete eine Repräsentativerhebung, in deren Rahmen insgesamt 1265 Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren zufällig ausgewählt und befragt wurden. Die Genauigkeitsmaße für die Berechnung der Stichprobe entsprachen mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 0, 05 und einer maximalen Zufallsabweichung von 0, 03 dem allgemeinen Standard empirischer Untersuchungen in den Sozialwissenschaften. Die Datenerhebung wurde unter Verwendung eines halbstandardisierten Fragebogens in Form von Klausurbefragungen an 60 Magdeburger Schulen in der Zeit von September bis Oktober 1993 realisiert. Zur Erhärtung, Vertiefung und teilweisen Erweiterung der repräsentativen Befragungsergebnisse durch spezifische Sichtweisen fanden parallel dazu leitfadengestützte Tiefeninterviews mit Jugendlichen verschiedener Selbstverständnisse bzw. Gruppenzugehörigkeit (Stinos, Skinheads, SHARP-Skins, Autonome, Punks) sowie mit Personen statt, die über besondere berufliche Erfahrungen im Umgang mit jugendlicher Gewalt verfügen (Mitarbeiter des Sozialamtes, der Jugendgerichtshilfe, Streetworker, Schulräte und -leiter, Kriminalbeamte des Jugendkommissariats der Polizei). Ein ca. 150 Seiten umfassender Projektbericht, der neben einem theoretischen Exkurs zur Jugendgewalt und der Auswertung der quantitativen Erhebung sowie der Tiefeninterviews auch Schlußfolgerungen und Empfehlungen für die Jugendarbeit in der Stadt Magdeburg enthält, wurde dem Auftraggeber im Januar 1994 übergeben

Im folgenden werden einige der die Jugendgewalt tangierenden Problemkreise unter Bezugnahme auf die Studie „Jugend und Gewalt“ des ISIS aufgegriffen und erörtert. Allerdings beschränken sich unsere theoretischen Ausgangshypothesen und -postulate nicht auf die empirischen Ergebnisse dieser Studie; sie beruhen auch auf den bereits vorliegenden sozialwissenschaftlichen Klärungsansätzen zur Jugendgewalt.

II. Ergebnisse der empirischen Untersuchung

Abbildung: Meinungen Jugendlicher zum Verhalten der Mehrheit Jugendlicher angesichts von Gewaltanwendung (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

1. Der Stellenwert von Gewalt im Leben Magdeburger Jugendlicher Eine wichtige Aufgabe der empirischen Untersuchung bestand darin festzustellen, welche Rolle Gewalt im Alltag Magdeburger Jugendlicher spielt und welchen Stellenwert sie in deren Lebensvollzug besitzt. Dabei wurden bewußt keine bestimmten Gruppen oder Szenen focussiert, wie es in vergleichbaren Untersuchungen oft geschieht, sondern im Mittelpunkt des Interesses stand der „ganz normale“ Jugendliche und sein Verhältnis zur Gewalt. Zunächst erschien es unumgänglich zu sein, die Testpersonen nach ihrem Gewaltbegriff zu befragen. Zu seinem Inhalt -dazu, was sie im einzelnen unter Gewalt verstehen -äußerten sie sich wie folgt (vgl. Tabelle 1):

Wie Tabelle 1 zeigt, kongruiert das Rechtsbewußtsein der Jugendlichen bezüglich schwerer Gewalttaten einerseits weitestgehend mit den juristischen Normen des Rechtsstaates (Strafrecht), andererseits ist erkennbar, daß der bei vielen Jugendlichen gängige Gewaltbegriff umfangreicher ist, als die im Strafrecht fixierte Bestimmung von Gewalt Die Jugendlichen subsumieren darunter in größerem Maße auch solche Handlungen, die juristisch gesehen als Eigentumsdelikte, Ordnungs-Widrigkeiten oder gar als rechtlich erlaubtes Konkurrenzverhalten im ökonomischen Wettbewerb deklariert sind. Darüber hinaus werden Eingriffe in die psychische Integrität bzw. in soziopsychische Beziehungen in gleicher Weise als gewalttätig angesehen, wie Einflußnahmen auf finanzielle bzw. materielle Existenzgrundlagen. Dies ist unseres Erachtens zum einen Ausdruck einer hohen Sensibilität der Befragten sowie eines ausgeprägten Bedürfnisses nach intakten und stabilen Sozialbeziehungen, die auch den Rahmen einer gelungenen soziopsychischen Integration abgeben können. Zum anderen besteht ein nicht zu übersehender Dissens zwischen dem individuellen Verständnis, das viele Jugendliche von Gewalt haben, und dem öffentlich-rechtlichen Gewaltbegriff. Aufgrund dieser Konstellation -nämlich des Zusammenfallens jugendlichen Gerechtigkeitssinns mit einem umfassenden Gewaltverständnis -kann es zu gewalttätigen Handlungen kommen. Denn viele Jugendliche sehen keine andere Möglichkeit, als dem gegen sie in Form von Gewalt begangenen „Unrecht“ mit Gewalt („Gegengewalt“) zu begegnen.

Vor dem Hintergrund, daß die Mehrzahl der Jugendlichen mit dem Begriff Gewalt vorrangig physische Gewaltakte in der o. g. Form verbindet, erscheint der Tatbestand, daß annähernd 60 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben schon mindestens einmal Opfer einer derartigen Gewalttat und fast die Hälfte selbst schon in dieser Form gewalttätig geworden ist, beachtlich. Da aber nur jeweils ca. ein Viertel der Pröbanden wiederholt Gewalt erlebt bzw. angewandt hat, kann von einer ausgesprochenen Dominanz gewalttätigen Denkens und Handelns im Untersuchungsfeld nicht die Rede sein. Beim Vergleich der Täter-und Opfer-personen ergaben die Korrelationsberechnungen einen statistisch hochsignifikanten Zusammenhang. Das heißt, je häufiger Jugendliche Gewalt selbst erlebt haben, desto häufiger haben sie auch schon selbst Gewalt ausgeübt. Das rechtfertigt es, von einem mehr oder weniger geschlossenen personellen Kreislauf zwischen Gewalttätern und -opfern zu sprechen. Dieser Zusammenhang ist von großer Bedeutung, denn er postuliert für die Gewaltprävention eine stärkere Verknüpfung von Täter-und Opferperspektive.

Die bisher besprochenen Indikatoren behandeln Gewalt und die Anfälligkeit der Jugendlichen dafür in relativ abstrakter und kontemplativer Weise. Von einem großen praktischen Interesse ist es aber zu erfahren, wie sich Jugendliche gegenüber der Anwendung von Gewalt positionieren. Deshalb wurden die Testpersonen danach befragt, wie ihrer Meinung nach die Mehrheit der Jugendlichen als Augenzeugen einer Prügelei reagieren würde (vgl. Abbildung). Das Gron der Verteilung entfällt dabei auf passive Haltungen. Das heißt, die Mehrheit der Jugendlichen (57, 8 Prozent) würde sich einerseits zwar selbst nicht aktiv an der physischen Gewaltanwendung beteiligen, andererseits aber auch nichts für deren Beendigung tun. Wenn nach Auffassung von gut zwei Dritteln der Befragten die meisten Jugendlichen die Tätlichkeiten mit sichtlichem Interesse verfolgen würden, so bedeutet das nichts anderes, als daß gewaltsame Auseinandersetzungen in ihren Augen offenbar keine prinzipiell kulturlosen und abzulehnenden Handlungen sind, sondern Ereignisse mit einem gewissen Show-Effekt, Unterhaltungswert und/oder sportlichem Anstrich darstellen.

Auf Basis der Daten in der Abbildung läßt sich festhalten, daß Gewalt als lebensweltliches Problem der Mehrheit der Jugendlichen präsent ist. Gewaltanwendung stellt in ihren Augen keine Ausnahme bzw. Randerscheinung dar, sondern gehört weitestgehend zum Alltag und ist als solches Element in ihrem Bewußtsein auch vorhanden. Daher hat Gewalt im jugendlichen Moralverständnis auch keinen ausgesprochen pejorativen Beigeschmack.

An dieser Stelle muß auf ein Problem von sowohl wissenschaftlicher als auch -und dies vor allem -praktischer Tragweite hingewiesen werden: Sowohl im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik als auch in wissenschaftlichen Ausarbeitungen trifft man häufig auf die mit der größten Selbstverständlichkeit vorgetragene, ziemlich apodiktische Formulierung, daß die heutigen Jugendlichen gewaltbereiter und -tätiger seien als diejenigen früherer Generationen, daß es eine generationsspezifische höhere Gewaltanfälligkeit der Jugend gegenüber Erwachsenen gebe und daß sich die Gewalt als legitimes Konfliktlösungsmittel unter Jugendlichen steigender Beliebtheit erfreue sowie regen Zuspruch finde Gerade letzteres wird aus kultursoziologischer Sicht mit wachsender Besorgnis vermerkt, da der im Verlaufe der Jahrhunderte gewonnene gesellschaftliche Konsens über gewalt-freie Formen von sozialer Konfliktregelung nichtselten als das eigentlich maßgebliche Kriterium für die Entwicklung der menschlichen Zivilisation bzw. als kultureller Fortschritt schlechthin angesehen wird

Sowohl aus methodischen Gründen als auch bei Berücksichtigung empirischer Befunde kann die Hypothese von der höheren Gewaltbereitschaft der heutigen Jugend gegenüber früheren Jugend-generationen sowie anderen Altersgruppen der Gesellschaft in dieser Absolutheit und Undifferenziertheit nicht geteilt werden. Im Kontext aller Untersuchungsergebnisse der ISIS-Studie muß diese Aussage zumindest stark eingeschränkt bzw. mit zusätzlichen Informationen „unterfüttert“ werden. Die Jugendlichen erscheinen heute gewalttätiger und -bereiter, weil sich zugleich mit den Veränderungen der Gesellschaft die Formen und Inhalte von Gewalt geändert haben:

Erstens läßt sich keine stark überhöhte Gewaltneigung bei den Jugendlichen generell konstatieren. Dies trifft nur auf eine bestimmte Klientel zu, nämlich Jugendgruppen und -szenen, die politisch extrem orientiert sind und/oder bei denen Gewaltanwendung Bestandteil ihres (sub) kulturellen oder ideologischen Selbstverständnisses ist. Gewalt spielt sich größtenteils innerhalb und zwischen diesen Gruppen ab. Dadurch ist der Täter-Opfer-Zusammenhang bei diesen Jugendlichen besonders stark ausgeprägt.

Zweitens haben sich die Formen und Mittel von Gewaltanwendung verändert, wodurch Gewalt heute spektakulärer erscheint als in der Vergangenheit. Bestimmte Regeln sowie ein gewisses Fair play wurden durch eine Tendenz verdrängt, die man durchaus mit dem Begriff der „Brutalisierung“ umschreiben kann. Das beinhaltet den zunehmenden Gebrauch von Schlag-, Stich-und. sogar Schußwaffen, der die Gefahr schwerer körperlicher, einschließlich tödlicher Verletzungen drastisch erhöht hat. Auch kennt der Sieger keine Gnade mehr: Von unterlegenen, verletzten bzw. wehrlosen Gegnern wird nicht abgelassen. Offenbar beseitigt der Anblick eines bereits geschlagenen Gegners noch die letzten Hemmschwellen, und tätliche Auseinandersetzungen münden dann nicht selten in wahre Exzesse.

Drittens kristallisieren sich außer den oben genannten Subkulturen weitere ganz bestimmte Zielgruppen als Opfer von Gewalttätigkeiten heraus. Zunehmend richtet sich jugendliche Gewalt gegen Schwächere: vor allem körperlich und geistig, aber auch sozial schwächere Personen. Es werden also solche Menschen zum Objekt der Gewaltanwen-düng auserkoren, bei denen sich die Täter ihres Erfolges ziemlich sicher sein können -sei es, weil keine oder wenig Gegenwehr zu erwarten ist, sei es, weil diese Menschen über keine gesellschaftliche Lobby verfügen, die sie wirksam schützen könnte. Deshalb sind die meisten sogenannten „gesellschaftlichen Randgruppen“ bzw. „sozialen Außenseiter“, z. B. Obdachlose, Behinderte, Ausländer, ethnische Minoritäten, mehr oder weniger als potentielle Gewaltopfer gefährdet.

Viertens ist ‘ Gewalt unter den Jugendlichen zu einem allgemein tolerierten bzw. legitimen und anerkannten Mittel der Konfliktlösung geworden. Selbst diejenigen, die Gewaltanwendung für sich als Mittel zur Konfliktlösung ablehnen, respektieren sie größtenteils als Normalität des Alltags und haben sich mit ihr abgefunden. Ihre Bemühungen richten sich dann meist nicht mehr darauf, Gewalt abzubauen, sondern sich mit ihr zu arrangieren, d. h. sich wirkungsvoll davor zu schützen, selbst Opfer von Gewalttaten zu werden. Letzteres aber trägt, wie bereits erörtert wurde, den Keim der Täterschaft („Gegengewalt“) in sich, schließt den Täter-Opfer-Kreis personell und leistet damit, gewollt oder ungewollt, der Gewalteskalation weiteren Vorschub.

2. Ursachen und Anlässe für die Zunahme der Gewalt unter Jugendlichen

Zu den Voraussetzungen einer erfolgreichen Gewaltprävention gehört zweifellos die genaue Kenntnis der Beweggründe, die für Gewaltbereitschaft und gewaltsames Handeln verantwortlich sind. Eine in diesem Zusammenhang immer wieder aufgeworfene Frage ist die nach den dominanten bzw. wesentlichen Gründen/Motiven/Auslösern von Gewalt bei Jugendlichen. Für die praktische Gewaltprävention ist es beispielsweise von Bedeutung zu wissen, ob sich in der Regel einzelne, separat wirkende Faktoren ausmachen lassen, oder ob man größtenteils von einem komplexen und vielschichtigen Gefüge an Einflußgrößen auszugehen hat. Sowohl in wissenschaftlichen als auch alltäglichen Beschreibungsversuchen des Gewaltproblems sind eine Vielzahl von möglichen Ursachen teils empirisch belegt, teils hypothetisch aufgeworfen worden. Dabei ist oft schwer nachvollziehbar, ob es sich um wirklich bewiesene Fakten oder methodologische Anleihen bei unterschiedlichen Theoriekonzepten handelt. Legt man die in der ISIS-Studie gewonnenen Erfahrungen an, so müßte man jene Darstellungen von Gewaltursachen favorisieren, die sich um einen tiefergreifenden bzw. weiterführenden Erklärungsrahmen bemühen. Darunter scheinen, was plausible Gründe für die Jugendgewalt in den neuen Bundesländern angeht, besonders die soge-nannte „Individualisierungsthese“ (Wilhelm Heitmeyer) sowie sozialwissenschaftliche „Streßtheorien“ (insbesondere Bernhard Badura, Holger Pfaff, Jürgen Mansel, Klaus Hurrelmann) Erklärungspotenz zu besitzen Typisch für die beiden genannten Ansätze ist, daß sie die klassische Trennung von Gewaltursachen nach deren Provenienz (z. B. evolutionsbiologisch-anthropologische, soziokulturelle, kulturhistorische, psychologische) zugunsten einer integrativen Sichtweise zu überwinden suchen. Dem liegt der durchaus praxisrelevante Gedanke zugrunde, daß in der Regel nicht ein einzelner Grund, sondern ein komplexes Motivationsgefüge mit teils komplizierter Struktur für Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung verantwortlich ist. Des weiteren besagen Erfahrungen früherer Untersuchungen, daß es eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachen, Motive, Auslöser, Begleitumstände und begünstigender Faktoren von Gewalttaten gibt. Angesichts der Wichtigkeit einer möglichst genauen und umfassenden Kenntnis dieser Einflüsse für die Beurteilung der Gewalt unter Jugendlichen, wurden in der ISIS-Studie für ihre Erfassung mehrere Indikatoren verwandt, die sie von verschiedenen Standorten her ausleuchten sollten. Zunächst wurden die globalen Felder abgesteckt, in denen Gewalt wurzeln kann (vgl. Tabelle 2).

Die Verteilung der Motive in Tabelle 2 unterstreicht, daß unter den Funktionen, die gewalttätigem Handeln aus der Sicht von Jugendlichen zukommen, zwei herausragen: erstens der Abbau psychischer Spannungszustände, die aus Konflikten bzw. Problemen der Jugendlichen mit ihrer sozialen bzw. gesellschaftlichen Umwelt herrühren, und zweitens die Verwendung von Gewalt als Statussymbol zur soziokulturellen Selbstdarstellung. Im Vordergrund stehen also die eigene Problembereinigung sowie die Befriedigung eines soziokulturellen Bedürfnisses, nämlich die Kenntlichmachung eigener Bezugsgruppen.

Da der Abbau von Frustration bzw. die Bewältigung der sie verursachenden Probleme insgesamt offenbar ein wichtiges Motiv für die Anwendung von Gewalt ist, erscheint es von Bedeutung, die Herkunft dieser Probleme aufzuzeigen. Dazu wurde den Probanden die folgende Frage gestellt: „In welchem Maße sind Deiner Meinung nach die folgenden Probleme für Gewalt bei Jugendlichen verantwortlich?“ (vgl. Tabelle 3).

Auf Basis der Daten in Tabelle 3 ist festzustellen, daß die Konflikte bzw. Probleme und die dadurch bewirkten Frustrationen der Jugendlichen nicht von einzelnen Umweltdeterminanten herrühren, sondern multifaktoriell bedingt sind. Bei den benannten Problemursachen lassen sich nirgendwo eine absolute Priorität oder völlige Bedeutungslosigkeit ausmachen. Den relativ größten Einfluß auf die Gewaltbereitschaft haben Probleme, die im familialen Bereich wurzeln. Zum einen muß vermutet werden, daß Generationsprobleme in starkem Maße auch über Konfrontationen der Jugendlichen im Elternhaus zur Geltung kommen. Weiterhin deutet dies darauf hin, wie groß der Bedeutungsverlust sein muß, den die primäre Sozialisationsinstanz -Elternhaus bzw. Familie -in den neuen Bundesländern erlitten hat, wie nachhaltig das von vielen Jugendlichen empfunden wird und von welch besonderer Tragweite es für ihr Verhältnis zur Gewalt ist.

Ausgehend von der Annahme, daß eine verstärkte Gewaltbereitschaft bei den Jugendlichen auch durch die Darstellung von Gewaltszenen in den Medien gefördert wird, wurde die diesbezügliche Wirkung der Medien auf die Testpersonen überprüft (vgl. Tabelle 4).

Es spricht für sich, daß das Thema „Horror“ (vgl. Tabelle 4), das jederzeit für eine Versinnbildlichung von Gewalt hergenommen werden kann, den absoluten Spitzenwert auf der Beliebtheitsskala einnimmt. Andere Inhalte, die ebenfalls einen Symbolwert für Gewalt besitzen, werden allesamt jeweils von einer großen Mehrheit derBefragten als „(sehr) beliebt“ eingestuft. Demgegenüber erreichen Themen, die hinsichtlich ihrer psychologischen Wirkung weitestgehend als gewaltfrei gelten können, z. B. „Tierwelt“, „Technik“, „Landschaft/Reisen“, einen sehr niedrigen Beliebtheitsgrad. Insgesamt läßt sich aufgrund der empirischen Befunde ein starkes Interesse an gewalttätigen Darstellungen konstatieren, das durchaus mit einem Sinken der Hemmschwelle zur Gewaltanwendung einhergehen kann. Allerdings wäre es methodisch unzulässig, daraus den Schluß zu ziehen, daß jeder Jugendliche, der eine Vorliebe für Gewaltdarstellungen bzw. -szenen hat, zwangsläufig über kurz oder lang zum Gewalttäter werden muß.

Entsprechend der oben geforderten Unterscheidung zwischen Motiven und begünstigenden Bedingungen zur Gewaltanwendung sollte auch der Frage nachgegangen werden, in welchen Situationen Jugendliche verstärkt zu Gewalttätigkeiten neigen, bzw. welche Faktoren als unmittelbare Auslöser gewaltsamen Handelns in Erscheinung treten (vgl. Tabelle 5).

Wie Tabelle 5 zu entnehmen ist, bestätigt sich erneut, was bereits zu den Motiven und den Problemwurzeln von Gewalt gesagt wurde. Alle vorgegebenen Situationen kommen nach Auffassung der Testpersonen als Gewaltkatalysatoren in Frage. Dabei rangieren „Auftreten von Jugendlichen in Gruppen“ und „nach dem Genuß von Alkohol“ -an der Spitze der gewaltbegünstigenden Faktoren, was nicht nur den Sozialwissenschaftlern und den Psychologen seit langem bekannt ist, sondern schon fast zur Alltagserfahrung gezählt werden kann. Es wäre jedoch zu kurz geschlossen, gewaltsames Handeln von Jugendlichen ausschließlich und kausal als Folge institutioneilen Gruppendrucks und/oder des Einflusses von Alkohol zu interpretieren. Im Hinblick auf die in Tabelle 4 zum Ausdruck kommende geistige Interessenstruktur der befragten Jugendlichen kann angenommen werden, daß Gewalttätigkeiten aus einer bereits vorhandenen Disposition hervorgehen, d. h. daß die Bereitschaft bzw.der Vorsatz zur Gewaltausübung längst vorhanden waren. Die Anwesenheit Gleichgesinnter und der Einfluß von Alkohol verursachen deshalb primär keinen Handlungszwang, sondern wirken vielmehr als die letzten, hemmungslösenden Faktoren. Man wendet Gewalt an, weil man innerlich längst dazu bereit bzw. entschlossen war und bisher nur aufgrund noch bestehender rationaler und emotionaler Barrieren -z. B. Angst vor den Konsequenzen oder fehlende Selbstsicherheit -daran gehindert wurde.3. Wirkungsbereiche und Zielgruppen jugendlicher Gewalt

Ausgehend von einem komplexen Gewaltbegriff ging die ISIS-Studie auch den Fragen nach, in welchen gesellschaftlichen Lebensbereichen Jugend-gewalt überwiegend vorkommt, gegen wen sie sich vor allem richtet und warum welche Personen bzw. welche gesellschaftlichen Gruppen potentiell von ihr betroffen sind. In den voranstehenden Betrachtungen wurde bereits deutlich, daß gewalttätiges Handeln Jugendlicher in der Regel nicht einfach als Kulturbarbarei und sozialpathologische Entgleisungen abgetan werden kann, sondern daß es für sie bzw. für die meisten von ihnen durchaus eine Bedeutung hat, d. h., einen intrapsychischen, sozialen oder kulturellen Funktionswert besitzt. Dabei kann und soll an dieser Stelle nicht darüber befunden werden, welche Ingredienzien der Gewalt ganz oben rangieren, die psychologischen (z. B. Identitätsbrüche, Orientierungslosigkeiten und Selbstwertverluste), die sozioökonomischen (z. b. Existenzpröbleme, sozialer Abstieg) oder die soziokulturellen (z. B. gesellschaftliches Werte-vakuum, institutionelle „Umschaufelungen“).

Die Wurzeln jugendlicher Gewalt allein in gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen zu sehen -wie dies teilweise Wilhelm Heitmeyer tut -, greift nach unseren Erkenntnissen zu kurz und läßt vor allem im Unklaren, warum die Jugendlichen, die doch alle den gleichen Prozessen ausgesetzt sind, so unterschiedlich darauf reagieren. Auch eine Umschreibung von „Gewalt als Ausdruck eines umfassenden Gefühlsstaus im vereinten Deutschland“ verkennt weitestgehend die sozialisatorische Funktion der Gewalt und leistet, gewollt oder ungewollt, einer Mystifizierung Vorschub. Man kann diesem Phänomen u. E. wissenschaftlich nur gerecht werden, indem man sich zunächst jedes pejorativen (Vor-) Urteils enthält und es so behandelt, wie es sich soziologisch darstellt: als eine hochgradig expressive und kompromißlose Form der Konfliktlösung im sozialen Zusammenleben. Diese kommt in aktiven Auseinandersetzungen jedweder Art zwischen individuellen und über-individuellen Subjekten zum Ausdruck; ihre Expressivität beruht einerseits auf der Vernichtung, Zerstörung und/oder Schädigung der durch die Gewaltanwendung in Mitleidenschaft gezogenen Subjekte/Objekte, andererseits auf Erfolgserlebnissen, Bedürfnis-befriedigung und/oder der Funktionalität der die Gewalt ausübenden Subjekte.

Angesichts der in der öffentlichen Gewaltdiskussion häufig zu findenden Fokussierung der Gewaltanwendung auf bestimmte Zielgruppen (z. B.fremdenfeindliche Gewalt) erschien es uns von Interesse, diesen Sachverhalt im Alltagsverständnis der Jugendlichen empirisch zu überprüfen. Bei den Fragen „Wer ist Dir gegenüber bisher gewalttätig aufgetreten?“ bzw. „Wem gegenüber hast Du schon einmal Gewalt angewandt?“ wurden drei Personengruppen besonders favorisiert: „fremde Personen“, „Angehörige spezieller Jugendgruppen“ und „Mitschüler“ Das läßt auch auf die Lebensbereiche schließen, in denen gewaltsames Handeln unter Jugendlichen am häufigsten vorkommt: in der Schule bzw. in deren Umfeld und in der Öffentlichkeit, z. B. auf Straßen, Plätzen, in gastronomischen und Jugendfreizeiteinrichtungen.

Nimmt man die Schule näher in den Blick, so zeigt sich ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, daß Gewalt verstärkt in höheren Klassen auftritt bzw. mit dem Alter der Schüler zunimmt, belegen unsere empirischen Befunde, daß der Kulminationspunkt von Gewaltanwendung gegenwärtig in den unteren Klassen liegt; in der ISIS-Studie betraf das vor allem die 7. und 8. Klassen, also die 13-bis 14jährigen Schüler Aufgrund dessen beantwortet sich die Frage, wo, wann und bei wem Gewaltprävention ansetzen sollte, eigentlich von selbst: Erziehung zur Gewaltlosigkeit muß, wenn ihr dauerhafter Erfolg beschieden sein soll, bereits in der früh-kindlichen Sozialisation beginnen und müßte, wenn man das Alter der die jugendlichen Gewalttäter von Rostock unterstützenden (erwachsenen) Zuschauer in Betracht zieht, nach „oben“ offen sein.

Bei der Darstellung des Täter-Opfer-Zusammenhangs wurde indirekt auf ein Problem aufmerksam gemacht, das für humanistische Wertebildungsprozesse zusehends an Bedeutung gewinnt und das bei der Fokussierung potentieller Täter-bzw. Opfer-gruppen eine Schlüsselstellung einnimmt: die Existenz von „Feindbildern“. Auf die Frage, ob sie möglicherweise von anderen Menschen als „Feinde“ angesehen werden, antworteten immerhin zwei Drittel der befragten Jugendlichen mit „Ja“. Annähernd gleich viele Probanden, nämlich 60 Prozent, bejahten die Frage, ob sie selbst andere Personen als ihre Feinde betrachten. Diese Konstellationen sind für das Verhältnis der Betroffenen zur Gewalt von eminenter Bedeutung. Sie lassen vermuten, daß viele Jugendliche sowohl die gegen sie verübten als auch die von ihnen selbst begangenen Gewaltakte nicht als einmalige, zufällige oder spontane Handlungen, sondern als weitestgehend habituell (eben in Form von Feindbildern) verfestigte, damit also zielgerichtete, bewußte, organisierte und wiederholbare Aktionen ansehen.

Die an anderer Stelle bereits erwähnte Instrumentalisierung von Gewalt wird damit neuerlich ebenso unter Beweis gestellt, wie die ebenfalls schon mehrfach angesprochene personelle Geschlossenheit des Täter-Opfer-Kreislaufes. Damit gewinnt die bereits erhobene Forderung nach einer zunächst neutralen Betrachtung von jugendlicher Gewalt über ihren forschungsmethodischen Wert hinaus eine unmittelbar praktische Bedeutung für die Gewaltprävention. Mit einer bloßen Stigmatisierung und Verketzerung von Gewalt kommt man dem praktischen Anliegen -ihrer Zurückdrängung bzw. Verhinderung -keinen Schritt näher. Vielmehr steigt die Gefahr ihrer zunehmenden Instrumentalisierung auch im Konnex eines sich wahrscheinlich verschärfenden Generationenkonflikts. Gewalt präsentiert sich dann als „ehrlicher Zeitgeist“ der Kinder und Enkel gegenüber einem „verlogenen Humanismus-Konservatismus“ der Väter und Großväter. Denn letztere sind durchaus nicht frei von Frustrationen und gewalttätigen Neigungen. Sie kompensieren sie nur in einer seichten Variante: als Konsumrausch, Arbeitswut, Alkoholismus, Umweltsünden und Entfremdung familialer Beziehungen.

Wenn festgestellt wurde, daß gesellschaftliche Minoritäten immer potentiell als Opfer in Frage kommen, so heißt das nicht automatisch, daß die Mehrheit der Jugendlichen gegenüber Minderheiten feindselig eingestellt ist bzw. diesen gegenüber stets gewalttätig auftritt. Die konkrete Haltung der Magdeburger Jugendlichen gegenüber Minoritäten bzw.den sogenannten „gesellschaftlichen Rand-gruppen“ zu beleuchten, war auch ein Anliegen der ISIS-Studie. Zunächst sollten die Testpersonen ihren Standort gegenüber verschiedenen jugendlichen Subkulturen artikulieren. Die Skala der vorgegebenen Werte reichte dabei von „gehöre dazu“ und „finde sie gut“ über „sind mir egal“, bis zu „lehne sie ab“ und „sind Gegner“; die aus dem oben genannten Spektrum herausfallende, methodisch trotzdem unverzichtbare Antwortmöglichkeit „Kenne ich nicht“ vervollständigte die Vorgaben. Insgesamt ergab sich ein breit gefächertes Einstellungsspektrum, das sich von Identifikation über Gleichgültigkeit bis zur Ablehnung erstreckte. Bezeichnenderweise erfuhren jene Gruppierungen, für die Gewalt auch Bestandteil ihres kulturellen Selbstverständnisses ist, z. B. „Hooligans“, „Faschos“ und „Skinheads“, überwiegend Ablehnung. Da für das Verhältnis der Jugendlichen zu gesellschaftlichen Randgruppen selbstverständlich ausschlaggebend ist, welche Gruppierungen in ihrem Selbstverständnis als Randgruppen gelten, wurde diesem Sachverhalt eigens eine Frage gewidmet (vgl. Tabelle 6).

Was die Etikettierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als „Randgruppen“ betrifft, nehmen die befragten Jugendlichen eine differenzierte Haltung ein. In der Regel ist mit der intrapsychischen Einordnung als „Randgruppe“ auch eine moralische Vorverurteilung, Stigmatisierung und damit Ausgrenzung der betroffenen Minorität verbunden. Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß bei einem großen Teil der Probanden keine grundsätzlich negativen Vorurteile bestehen, folglich potentiell günstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gewaltprävention bei den Jugendlichen im Untersuchungsfeld bezüglich ihrer Haltung zu Minoritäten vorhanden sind.

Eine spezifische Gruppe mit Minoritätencharakter -die der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer -wurde aus unseren Überlegungen bisher weitgehend ausgeklammert, obwohl die von Jugendlichen gegen sie gerichtete Gewalt in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht hat. Leider hat gerade die Stadt Magdeburg mit den Ereignissen am „Herrentag“ 1994 besonders traurige Berühmtheit erlangt. Nach den Aussagen der Jugendlichen in der ISIS-Untersuchung nimmt Gewalt gegen Ausländer -was die Häufigkeit ihres Auftretens betrifft -innerhalb der Gewalttaten insgesamt einen untergeordneten Rang ein. Allerdings gab die Mehrheit der Befragten bei einer anderen Frage an, daß sie die Zahl der gegenwärtig in Deutschland lebenden Ausländer für zu hoch hält. Obwohl also Gewalttaten gegen Ausländer nur von einer Minderheit der Jugendlichen, insbesondere von rechtsgerichteten Gruppen begangen werden, ist ein gewisser Grad an Xenophobie bei vielen Jugendlichen mehr oder weniger latent vorhanden. Deshalb fordern letztlich auch die Autoren der ISIS-Studie, für die Gewaltprävention bei Jugendlichen verstärkt Maßnahmen einzuleiten, die die Toleranz der Jugend gegenüber Ausländern erhöhen, Ausländerfeindlichkeit zurückdrängen und Gewaltakte gegen Ausländer verhindern.

III. Schlußfolgerungen und Empfehlungen für die Gewaltprävention in der Jugendarbeit

Tabelle 2: Was meinst Du, warum wenden Jugendliche Gewalt an? (Angaben in Prozent) Quelle: Eigene Darstellung.

Bezugnehmend auf die hypothetischen Ausgangslagen lassen sich anhand der empirischen Befunde der ISIS-Sudie einige Überlegungen für die Gewaltprävention bei Jugendlichen ableiten. Zunächst sollen einige Schlußfolgerungen allgemeineren Charakters gezogen werden:

1. Grundsätzlich muß das Ziel von Gewaltprävention und Gewaltdeeskalation darin bestehen, Alternativen für jugendliche Lebensstile und Identifikationsmöglichkeiten mit subkulturellen Lebensentwürfen zu unterbreiten. Ordnungspolitische Maßnahmen -z. B. eine strengere Sanktionierung von Gewalttaten, ein schärferes Vorgehen der Polizei gegen Gewalttäter, eine stärkere Disziplinierung der Jugendlichen in öffentlichen Einrichtungen bzw. durch Sozialisationsinstanzen für Jugendliche -können demgegenüber nur zweitrangig sein bzw. sind als Hilfsmittel anzusehen.

2. Methodisch gesehen erscheinen vereinzelte, sporadische oder kurzfristige Maßnahmen wenig erfolgversprechend. Da für Gewaltbereitschaft immer ein biographischer Langzeitprozeß und ein komplexes Ursachengefüge verantwortlich sind, muß den die Gewalt verursachenden bzw. auslösenden Faktoren unter Berücksichtigung ihrer gegenseitigen Verschränkung und Langzeitwirkung begegnet werden. Das erfordert den komplexen und langfristigen Einsatz vielgestaltiger Präventiv-mittel.

3. Da Gewalt für viele Jugendliche ein Alltagsproblem geworden ist, muß sich das Schwergewicht der Gewaltprävention auf die Lösung jener Probleme richten, die für die Mehrheit der Jugendlichen zutreffen. Das betrifft vor allem die Unterbreitung von Verhaltensangeboten zum gewaltfreien Frustrationsabbau, die Erhöhung jugendlicher Kompetenz zur friedlichen Konfliktregelung, die Verhinderung eines weiteren Absinkens der Hemmschwelle zur Gewaltanwendung, die Herausbildung eines Rechtsbewußtseins im Sinne rechtsstaatlicher Grundsätze und die Stabilisierung der primären jugendlichen Sozialisationsinstanzen, der Elternhäuser bzw. Herkunftsfamilien und informellen soziopsychischen Beziehungsstrukturen, bzw.deren verstärkte Einbindung in die Sozial-arbeit.

4. Da politisch orientierte Jugendliche und Gruppen mit einem ausgeprägten subkulturellen Hintergrund eine besonders hohe Gewaltbereitschaft aufweisen, ist bei der Gewaltprävention besonderes Augenmerk auf diese Klientel zu richten. Derartige Gruppen und Szenen haben für ihre Mitglieder eine hohe sozialintegrative und identitätsstiftende Bedeutung, weshalb sie nicht stigmatisiert, isoliert und ausgegrenzt werden dürfen. Gewaltprävention muß vielmehr verstärkt in ihnen bzw. über sie realisiert werden.

Im einzelnen können für die Gewaltprävention in der Jugendarbeit folgende Empfehlungen gegeben werden:

1. Gesellschaftliche Institutionen, die einen Einfluß auf die Wertbildung von Jugendlichen haben -z. B. Elternhaus, Schule, Massenmedien -, sind aufgefordert, mit ihrer Arbeit stärker auf diesbezügliche Prozesse einzuwirken. Insbesondere sollten gewaltverherrlichende Szenen -vor allem in Filmen, Fernsehspielen, Zeitschriften, aber auch in erzieherischen Interaktionsprozessen -eingeschränkt, die positive Darstellung von Gewalt als kultureller Selbstdarstellung oder legitimem Konfliktlösungsmit­ tel vermieden, der Aufbau von Feindbildern unterlassen bzw. bestehende Feindbilder abgebaut und den Jugendlichen prononciert rechtsstaatliche und pluralistische Wertorientierungen vermittelt werden.

2. Da sich die Handlungsmaximen der Straßensozialarbeit -Zuhören, Verstehen, Ernstnehmen, Ins-Gespräch-Kommen -als außerordentlich wirkungsvoll beim Abbau jugendlicher Gewaltverherrlichung und bei der Erziehung zu demokratischen Formen von Gesellschaftsprotest erwiesen haben, sollte die Straßensozialarbeit personell und etatmäßig ausgebaut werden und sich verstärkt der Gewaltprävention zuwenden Darüber hinaus können die o. g. Grundsätze auf andere Bereiche der Jugendarbeit übertragen werden. Dazu gehört auch die Einrichtung „runder Tische“, an denen Jugendliche gemeinsam mit Vertretern aus Politik, Verwaltung, Polizei und Justiz über die Zurückdrängung jugendlicher Gewalt beraten und direkten Einfluß auf politische bzw. administrative Entscheidungsfindungen haben können.

3. Da Jugendgewalt vor allem an den Schulen zu finden ist, muß durch die Träger der Jugendhilfe die Schulsozialarbeit verstärkt werden. Dabei darf diese Tätigkeit nicht auf die höheren Klassenstufen beschränkt bleiben, sondern muß in der Unterstufe beginnen und sich kontinuierlich über alle Altersgruppen erstrecken.

4. Da viele Gewalttaten von Jugendlichen in der Freizeit begangen werden, sollte dem weiteren Abbau von Jugendfreizeiteinrichtungen in den neuen Bundesländern entgegengewirkt werden; vielmehr sollten zusätzliche materielle und finanzielle Mittel für Einrichtungen bereitgestellt werden. Dabei ist es besonders wichtig, daß entsprechende Angebote bei den Jugendlichen auf Akzeptanz stoßen, d. h. sie dürfen nicht von vornherein mit Bedingungen verknüpft werden, die einen sichtbaren Eingriff in die Autonomie und Selbstorganisation von jugendlichen Beziehungsstrukturen bedeuten.

5. Um die fehlende bzw. mangelhafte Einbindung Jugendlicher in stabile soziopsychische Beziehungsstrukturen und das damit verbundene Vakuum in ihrer soziopsychischen Orientierung zu überwinden, sollten die dafür kompetenten Bezugspersonen -insbesondere Sozialarbeiter und Streetworker -zielgerichtet am Aufbau derartiger Strukturen (z. B. Netzwerke, Freizeitcliquen) arbeiten.

6. Da der Mangel an gewünschten beruflichen Ausbildungs-und Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern einen nachweislichen Grund für soziopsychische Orientierungslosigkeit vieler Jugendlicher darstellt, sollten die von den Bundesländern sowie der Bundesanstalt für Arbeit und den Kommunen getragenen spezifischen Förderprogramme in der Berufausbildung und auf dem Arbeitsmarkt ausgebaut werden.

7. Da Gewaltanwendung oft aus einer „Opfer-lage“ heraus als „Gegengewalt“ erfolgt, sollten Jugendliche darüber informiert werden, wie sie sich vor Gewalt schützen bzw. Situationen vermeiden können, in denen Gewalt erfahrungsgemäß eskaliert. Eine Verknüpfung von Täter-und Opferperspektive ist vor allem dadurch möglich, daß die Jugendlichen über die Jugendarbeit präventiv mit den Folgen schwerer Gewalttaten vertraut gemacht werden sowie der vielerorts bereits praktizierte Täter-Opfer-Ausgleich erweitert wird.

8. Um gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Jugendgruppen zu verhindern, gilt es, vermittels integrativer Jugendarbeit territoriale und kulturelle Abgrenzungen zwischen den Gruppen und Szenen aufzubrechen und Formen des Dialogs, der Verständigung, der Durchführung gruppenübergreifender Maßnahmen und, nach Möglichkeit, der gemeinschaftlichen Betreuung zu finden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jugend und Gewalt. Lebensrealität und Lebensperspektiven Magdeburger Jugendlicher nach der Deutschen Einheit, hrsg. vom Jugendamt beim Magistrat der Stadt Magdeburg/Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien Magdeburg, Magdeburg 1994.

  2. Vgl. ebd.

  3. In der theoretischen Ausarbeitung, die der empirischen Erhebung als Forschungsorientierung vorangestellt wurde, bemühten sich die Verfasser der ISIS-Studie um eine Begriffsexplikation von „Gewalt“. Sie definierten sie als erstens eine hochgradig expressive und kompromißlose Form der Konfliktlösung im sozialen Zusammenleben von Menschen, die zweitens in aktiven Auseinandersetzungen jedweder Art und verschiedener Intensität zwischen individuellen sowie über-individuellen Subjekten, sozialen Gebilden und Systemen, Ideologien und Institutionen mit-und untereinander über ideologische und politische Ziele, Status-, Macht-und Verteilungsverhältnisse zum Ausdruck kommt und deren Expressivität drittens auf der Vernichtung, Zerstörung und/oder Schädigung der durch die Gewaltanwendung in Mit-leidenschaft gezogenen Subjekte und/oder Objekte einerseits, sowie durch Erfolgserlebnisse Bedürfnisbefriedigung und/oder Funktionalität der die Gewalt ausübenden und/oder initiierenden Subjekte, Systeme und/oder Institutionen andererseits beruht.

  4. Im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik wird der Gewalt-begriff zwar nicht expressis verbis definiert, steht aber sinngemäß in enger begrifflicher Nähe zum Tatbestand der „Nötigung“ (§ 24). Davon ausgehend wird im Sachverzeichnis unter den Stichworten „Gewalt“ und „Gewalttätigkeit“ vor allem auf folgende Tatbestände verwiesen: Notstand (§§ 34 und 35), Hinderung in Ausübung staatsbürgerlicher Rechte (§ 107), Meuterei (§ 121), Nötigung zum Beischlaf (§ 177), Nötigung zu sexuellen Handlungen (§ 178), Zusammenrottung (§ 124, 125), Erpressung (§ 253) und Bedrohung von Menschen (§ 125).

  5. Dies trifft beispielsweise auf den Beitrag von Hans-Joachim Maaz zu, der zwar eine sehr komplexe Analyse des Gewaltproblems in Deutschland liefert, aber die erforderlichen Differenzierungen und empirischen Bezüge vermissen läßt (vgl. Hans-Joachim Maaz, Gewalt in Deutschland -Eine psychologische Analyse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2-3/93, S. 26-32). Auch in der ansonsten ausgezeichneten Publikation von Götz Eisenberg und Reimer Gronemeyer, Jugend und Gewalt. Der neue Generationenkonflikt oder der Zerfall der zivilen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1993, hätte man sich statt der pauschalen Etikettierung „Jugend und Gewalt“, die größtenteils intentional so gemeint ist, wie sie expressiv verbis zum Ausdruck kommt, eine subtilere Zuschreibung gewünscht. Denn „Jugend“ als gesellschaftliche Gruppe ist viel zu komplex und in sich zu differenziert, als daß die von den Verfassern getroffenen Einschätzungen zum Verhältnis von Jugendlichen zur Gewalt auf die gesamte Jugend global zutreffen könnten.

  6. Siehe auch den Beitrag von Heidrun Bründel/Klaus Hurrelmann in diesem Heft.

  7. Vgl. u. a. Wilhelm Heitmeyer/Thomas Olk (Hrsg.), Individualisierung von Jugend, Weinheim -München 1990, S. 195-218; Wilhelm Heitmeyer, Desintegration und Gewalt, in: deutsche jugend, (1992) 3, S. 109-122; ders., Gesellschaftliche Desintegrationssprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2-3/93, S. 3-13; Bernhard Badura/Holger Pfaff, Streß, ein Modernisierungsrisiko? Mikround Makroaspekte soziologischer Belastungsforschung im Übergang zur postindustriellen Zivilisation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 41 (1989), S. 644-668; dies., Für einen subjektorientierten Ansatz in der soziologischen Streßforschung, in: ebd., 44 (1992), S. 354-363; Jürgen Mansel/Klaus Hurrelmann, Alltagsstreß bei Jugendlichen, Weinheim -München 1991; Jürgen Mansel (Hrsg.), Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohungen. Untersuchungen zu ökologischen Krisen, internationalen Konflikten und politischen Umbrüchen als Stressoren, Weinheim -München 1992.

  8. Vgl. u. a. Wilhelm Heitmeyer, Gesellschaftliche Desintegrationsprozesse als Ursachen von fremdenfeindlicher Gewalt und politischer Paralysierung, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 2-3/93, S. 33-44.

  9. Vgl. Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau -ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.

  10. Als Opfer ihrer eigenen Gewaltanwendung wurden darüber hinaus von den befragten Jugendlichen auch häufiger „Geschwister“ genannt.

  11. Aus methodischen Gründen konnten darunter liegende Klassenstufen nicht in die Repräsentativerhebung einbezogen werden. Aber die parallel dazu durchgeführten Tiefen-interviews belegen, daß Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung innerhalb der kindlichen bzw. jugendlichen Sozialisation schon bedeutend früher einsetzen.

  12. Vgl. u. a. Manfred Pabst/Klaus-Dieter Schuster, Jugend -Gewalt -Extremismus in Sachsen-Anhalt. Ergebnisse eines Forschungs-und Bildungsprojektes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/93, S. 10-15.

  13. Vgl. u. a. Reinhard Koch, Deeskalation von Jugend-gewalt. Praktische Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/93, S. 16-23; Ulrich Piaszczynski, Mobile Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen in Baden-Württemberg. Ein sozialpädagogischer Ansatz zur Konfliktbearbeitung, in: ebd., 5. 24-31.

Weitere Inhalte

Thomas Claus, Dipl. -Soz., geb. 1961; seit 1992 Geschäftsführer des Instituts für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien (ISIS) Magdeburg. Veröffentlichungen u. a.: Empirische Sozialforschung -ihre Ausgangspunkte, Ziele und Anwendungsbereiche, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität „Otto von Guericke“ Magdeburg, (1991) 6; Magdeburger Kinder-und Jugendreport 1992, in: Jugendamt der Stadt Magdeburg (Hrsg.), Magdeburg 1992; (zus. mit Detlev Herter u. a.) Jugend und Gewalt. Lebensrealität und Lebensperspektiven Magdeburger Jugendlicher nach der Deutschen Einheit, hrsg. vom Jugendamt der Stadt Magdeburg/Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien Magdeburg, Magdeburg 1994. Detlev Herter, Dr. phil. habil., geb. 1948; seit 1993 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien (ISIS) Magdeburg. Veröffentlichungen u. a.: Der heuristische Wert anomietheoretischer Ansätze für die Beschreibung sozialer Zustände beim Übergang Ostdeutschlands von der DDR zu den neuen Bundesländern, Konferenzprotokoll Berlin 1991; (zus. mit Thomas Claus u. a.) Jugend und Gewalt. Lebensrealität und Lebensperspektiven Magdeburger Jugendlicher nach der Deutschen Einheit, hrsg. vom Jugendamt der Stadt Magdeburg/Institut für sozialwissenschaftliche Informationen und Studien Magdeburg, Magdeburg 1994.