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Demographische Aspekte der vergangenen und zukünftigen Zuwanderung nach Deutschland | APuZ 48/1994 | bpb.de

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APuZ 48/1994 Einwanderung: Kernfrage unserer Gesellschaft und Herausforderung an die Politik Möglichkeiten und Grenzen der Eingliederung von Zuwanderern in den deutschen Arbeitsmarkt Demographische Aspekte der vergangenen und zukünftigen Zuwanderung nach Deutschland Europäische Asyl-und Zuwanderungspolitik

Demographische Aspekte der vergangenen und zukünftigen Zuwanderung nach Deutschland

Reiner Hans Dinkel/Uwe Lebok

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ohne daß dies von Politik und Öffentlichkeit entsprechend registriert wurde, ist die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung eines der weltweit größten Zuwanderungsländer. Seit 1950 wandelten jährlich im Durchschnitt 275 000 Menschen netto in das Bundesgebiet zu und erklären zu einem wesentlichen Teil den bis heute anhaltenden Bevölkerungsanstieg. Aus demographischer Sicht ist für die Stabilisierung der Bevölkerungszahl durch Außenwanderung nicht die jährliche Zahl der Zu-und Abwanderungen von Bedeutung, sondern vielmehr die jeweilige Alters-und Geschlechtsstruktur der Wandernden. Wenn Zuwanderer (wie in den letzten Jahren) im Durchschnitt sehr jung sind, können sie bei einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis langfristig gewichtige demographische Wirkungen verursachen. Dabei dürfen vor allem die in nachfolgenden Generationen zu erwartenden Kinder und Kindeskinder nicht vernachlässigt werden. Durch eine kontinuierliche (Netto-) Zuwanderung von vorwiegend jungen Familien kann in der Zukunft die Bevölkerungszahl in Deutschland langfristig stabilisiert werden. Auch die demographische Alterung und die daraus abzuleitenden sozialpolitischen Konsequenzen könnten mit einer solchen Entwicklung erheblich abgemildert werden.

I. Deutschland -ein Zuwanderungsland

Tabelle: Grenzüberschreitende Wanderungen für ausgewählte Länder Quellen: Statistische Jahrbücher Australiens, Belgiens, der Bundesrepublik, Frankreichs, Kanadas, Neuseelands, der Niederlande, Österreichs, Schwedens, der Schweiz und der USA sowie Veröffentlichungen des Statistischen Büros der EU (EUROSTAT) und der Vereinten Nationen (UN).

In der Bundesrepublik Deutschland wird keine demographische Fragestellung so kontrovers diskutiert wie die der Auswirkungen von Zu-und Abwanderungen. Daß selbst Wissenschaftler die unterschiedlichsten Schlußfolgerungen ziehen, dürfte nicht zuletzt an der politischen Brisanz des Themas liegen Es scheint wenig sinnvoll, hier auf die unterschiedlichen Positionen in Politik und Öffentlichkeit einzugehen. In diesem Beitrag werden statt dessen am Beispiel der Bundesrepublik verschiedene demographische Zusammenhänge angesprochen, die Grundlage für eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich sein können.

Im Sinne der amtlichen Statistik der Bundesrepublik findet Zuwanderung statt, wenn eine Person mit vorherigem Wohnsitz außerhalb der Grenzen des Bundesgebiets diesen in die Bundesrepublik verlegt; Abwanderung erfolgt, wenn der Wohnsitz vom Inland in das Ausland verlegt wird. Bei Zu-wie auch bei Abwanderern kann es sich sowohl um deutsche Staatsbürger als auch um „Ausländer“ in rein juristischem Sinne handeln. Die jährliche Differenz von Zu-und Abwanderern ist die Nettozu-oder -abwanderung (Wanderungssaldo). Seit Gründung der Bundesrepublik sind (in den jeweiligen Grenzen) im Jahresdurchschnitt mehr als 275 000 Personen netto zugewandert, was etwa der Einwohnerzahl der Stadt Karlsruhe im Jahr 1993 entspricht.

Der Anteil von deutschen Staatsbürgern an den Zu-und Abwanderern schwankte in der Vergangenheit stark. Verallgemeinernd läßt sich aber feststellen, daß der Anteil deutscher Staatsbürger an den Zuwanderern in der Regel höher gewesen ist als an den Abwanderern, so daß die Nettowanderungsströme zu einem größeren Anteil aus deutschen Staatsbürgern bestanden als die der Brutto­ wanderungsströme. Im Jahr 1993 lag der Anteil deutscher Zuwanderer an allen Zuwanderern bei 2, 2 Prozent, unter den Abwanderern waren 10, 9 Prozent deutsche Staatsbürger, unter den Nettozuwanderern dagegen 41, 3 Prozent 2. Bei den deutschen Zuwanderern handelte es sich in den frühen Jahren der Bundesrepublik zu einem großen Teil um Flüchtlinge, Vertriebene und ehemalige Kriegsgefangene, später um Übersiddler bzw. Flüchtlinge aus der DDR und gegenwärtig sind es Aussiedler im Sinne der Definition des Bundesvertriebenengesetzes bzw. um nach Deutschland zurückwandernde Personen, die vorher ihren Wohnsitz im Ausland hatten.

Der in der Öffentlichkeit häufig zitierte (hohe) „Ausländeranteil an der bundesdeutschen Wohnbevölkerung“ ist aus wissenschaftlich demographischer Sicht keine sinnvolle Größe. Wir müssen berücksichtigen, daß nach deutscher Definition alle hier lebenden und geborenen Kinder und Kindeskinder früherer nichtdeutscher Zuwanderer „Ausländer“ sind, wenn diese nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, während beispielsweise in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion geborene und lebende Personen auch ohne deutsche Sprachkenntnisse Deutsche im Sinne der Gesetze sein können. Da in unseren Nachbarländern ganz andere Staatsbürgerschaftsdefinitionen gelten, errechnen sich beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien sehr viel geringere Ausländeranteile. Internationale Vergleiche sind allein aus diesem Grund kontraproduktiv. Für die Bundesrepublik muß festgehalten werden, daß der sogenannte „Ausländeranteil“ an der Bevölkerung letztlich so groß ist, wie wir selbst es wünschen: Durch die Handhabung unserer Regelungen zur Gewährung der deutschen Staatsbürgerschaft bestimmen wir diese für viele Personen so „bedrohlich“ anmutende Zahl selbst.

Aufgrund der zahlenmäßigen Entwicklung von Zu-und Abwanderung muß zuerst und entgegen stetswiederholten amtlichen Verlautbarungen konstatiert werden, daß die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung ein Zuwanderungsland ist, noch dazu eines der bedeutendsten in der Welt. In der Tabelle ist dieser Tatbestand für den jüngsten verfügbaren Zeitpunkt in Form eines internationalen Vergleiches dargestellt. In der Länderauswahl wurden europa-und weltweit wichtige Zuwanderungsländer berücksichtigt. Die absoluten Durchschnittswerte der jährlichen Nettozuwanderung in Deutschland im Zeitraum 1985 bis 1989 werden unter den in der Tabelle ausgewählten Zuwanderungsländern nur von den Vereinigten Staaten übertroffen und liegen weit oberhalb der Zahlen von klassischen Zuwanderungsländern wie etwa Kanada und Australien. Im Jahr 1992 beispielsweise wandelten 788000 Personen in die Bundesrepublik netto zu und auch 1993 -trotz eines Rückgangs der Bruttozuwanderung -zogen immerhin noch 470000 Personen netto in die Bundesrepublik. Relativ zur Bevölkerungsgröße ist die Bundesrepublik seit einigen Jahren sogar das weltweit größte Zuwanderungsland. Allein für das Jahr 1992 kamen in Deutschland 9, 7 Nettozuwanderer auf 1000 der Bevölkerung im gleichen Jahr, und auch 1993 lag die Nettomigrationsrate noch weit über 5 pro 1000 der Bevölkerung. In der Tabelle ist außerdem die durchschnittliche Nettozuwanderung für die Europäische Union (EU der 12) als Gesamtheit dargestellt, von der rund zwei Drittel allein auf die Bundesrepublik entfallen. Die Wanderungsströme zwischen den Mitgliedsländern der Union werden für die EU-Zahlen als Gesamtheit nicht als grenzüberschreitende Wanderungen erfaßt, da es sich in diesem Fall um Binnenwanderungen handelt. Seit Jahren ist im übrigen die Bedeutung der grenzüberschreitenden Wanderungen zwischen den EU-Mitglieds-ländern trotz der aufgehobenen Mobilitätsbarrieren rückläufig, wofür in erster Linie die sich angleichenden wirtschaftlichen Verhältnisse verantwortlich gemacht werden.

II. Die Bedeutung von Außenwanderungen für die deutsche Bevölkerungsentwicklung in der Vergangenheit

Abbildung 1: Zu-und Fortzüge über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland von 1950 bis 1993 Quelle: Eigene Darstellung.

Um gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen der Zuwanderung sinnvoll beurteilen zu können, lohnt ein Blick in die Vergangenheit. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Deutschland wie viele seiner Nachbarländer Auswanderungsland. Bereits nach der Reichsgründung 1871 nahm aber -mit Ausnahme einiger ökonomischer Krisenjahre -der vorausgegangene Auswanderungsdruck ab; es kam zur phasenweisen Nettozuwanderung. So verließen während dieser Zeit mehr Deutsche die USA in Richtung Deutsches Reich, als nach dorthin auswanderten. Im Jahr 1907 standen beispielsweise 31696 Auswanderer über deutsche Häfen 217812 Einwanderern über deutsche Häfen gegenüber. Die Gründe für diese Entwicklung lagen zum einen in der abnehmenden Attraktivität vor allem der USA, die zuvor das Zielland für mehr als 90 Prozent aller Auswanderer waren. Gleichzeitig entspannte sich mit der beginnenden Industrialisierung die wirtschaftliche Situation in Deutschland. Noch stärker als bei der Außenwanderung kam dieser Umstand bei der zahlenmäßig bedeutsameren und von Ost nach West verlaufenden Binnen-wanderung zum Tragen. In der Wanderungsstatistik wurden diese Ströme nicht registriert, weil die Zuwanderer (zumeist deutscher oder polnischer Nationalität) in die neuen industriellen Zentren aus Gebieten innerhalb der damaligen Grenzen des Deutschen Reiches stammten.

Aus heutiger Sicht erstaunlich gering waren die grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen, die im Gefolge der großen Gebietsabtretungen des Deutschen Reiches nach 1918 einsetzten. Der Bevölkerungszustrom aus abgetretenen Gebieten und die Remigration von Ausländsdeutschen wird in Schätzungen aus dieser Zeit auf etwas mehr als eine Million Menschen angesetzt, denen eine Abwanderung von Inländern in etwa gleich großer Höhe gegenübergestanden haben mußte. Auch in der nachfolgenden Zwischenkriegszeit beeinflußten grenzüberschreitende Wanderungen das deutsche Bevölkerungsgeschehen nur wenig.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kam die freiwillig motivierte Einwanderung zum Stillstand; mit zunehmender Dauer der Kriegshandlungen stieg aber der Arbeitskräftebedarf der NS-Wirtschaft rapide, so daß auf dem Höhepunkt der Kriegswirtschaft im Jahr 1944 im Deutschen Reich rund 7, 1 Millionen ausländische Arbeitskräfte (Zivilisten und Kriegsgefangene) gezählt wurden. Die Gesamtzahl der „displaced persons“ innerhalb des Deutschen Reiches wurde bei Kriegsende auf mehr als 10, 5 Millionen Menschen geschätzt. Unmittelbar nach Kriegsende trafen deshalb zwei anfangs chaotische Massenwanderungsbewegungen aufeinander: die Befreiung und Repatriierung der Zwangsverschleppten und Zwangsarbeiter aus den alliierten Besatzungszonen heraus (die sich über eine Reihe von Jahren erstreckt) und die anschwellende Zahl zuwandernder Flüchtlinge und Heimat-vertriebener.

Vor allem die Vertreibungen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, dem Sudetenland und anderen deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-und Südosteuropa nahmen aber in den Folgejahren noch an Stärke zu. In der Volkszählung 1950 wurde eine Bilanz der Vertriebenen (ehemalige Bewohner der erwähnten deutschen Siedlungsgebiete) sowie der ehemaligen und in den Westen geflüchteten Bewohner der Sowjetischen Besatzungszone gezogen. Beide Personengruppen addierten sich danach im früheren Bundesgebiet (ohne Berlin und Saarland) auf 9, 43 Millionen Menschen mit einem Anteil von 19, 8 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Auf dem Gebiet der früheren Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) lebten nach einer Zählung aus dem Jahr 1946 etwa 3, 6 Millionen Vertriebene mit einem Anteil von 20, 8 Prozent an der Bevölkerung Aufgrund der unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges beginnenden Abwanderungswelle aus der ehemaligen DDR stieg bis zum Jahr 1953 die Zahl der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen im früheren Bundesgebiet weiter auf 10, 6 Millionen Menschen an. Die Vertriebenen verteilten sich dabei sehr unterschiedlich auf die einzelnen Bundesländer: Während im Westen beispielsweise Schleswig-Holstein mit mehr als 30 Prozent die höchsten Vertriebenenanteile an der Wohnbevölkerung aufwies, besaß Mecklenburg-Vorpommern im Osten sogar noch etwas höhere Vertriebenenanteile.

Berücksichtigt man das Fehlen einer funktionierenden Verwaltung, die mangelnde wirtschaftliche Versorgung und den allein für die einheimischeBevölkerung unzureichenden Wohnraum nach Kriegsende, werden die kurzzeitig extremen Folgen dieser Entwicklung mit zahlreichen sozialen Anpassungsproblemen noch heute nachvollziehbar. Nicht nur wegen der Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials oder der erhöhten Nachfrage erwies sich die Zuwanderung von Vertriebenen und Flüchtlingen langfristig als strukturförderndes Element der wirtschaftlichen Entwicklung -besonders in vormals agrarischen Regionen wie etwa in Nordbayern.

Auch nachdem die kriegsbedingten Zwangswanderungen abebbten, wuchs die Wohnbevölkerung der alten Bundesländer im Durchschnitt jährlich durch Nettozuwanderung um die Kopfzahl einer Großstadt. Nur in einigen wenigen Jahren fand eine Nettoabwanderung statt (vgl. Abbildung 1). Nach dem im Jahr 1961 stark gebremsten Zustrom von Zuwanderem aus der DDR setzte eine arbeitsmarktpolitisch bedingte Zuwanderung von Arbeitskräften aus den sechs Anwerbestaaten Portugal, Spanien, Italien, Jugoslawien, Griechenland und Türkei mit dem Höhepunkt in den Jahren 1969 und 1970 mit jeweils über einer Million Zu-wanderern ein. In den nachfolgenden Rezessionsjahren wanderte ein großer Teil dieser Personen wieder ab, was für die Jahre 1967, 1974 bis 1976 und 1982 bis 1984 eine negative Wanderungsbilanz bewirkte. Nach Vollzug des Anwerbestopps 1973 bestand die Zuwanderung zu einem erheblichen Anteil aus dem Familiennachzug hier lebender ausländischer Arbeitskräfte.

Anfang der achtziger Jahre begann die bis heute andauernde Aussiedlerzuwanderung zunächst von Deutschen aus Polen, später aus Rumänien, und in der Gegenwart immer stärker aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die in Form einer Familienzuwanderung und einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis stattfindet und ihren bisherigen Höhepunkt im Jahr 1990 mit 397000 Aussiedlern hatte. Die in der öffentlichen Diskussion hochgespielten Asylbewerberzahlen fallen erst inden Jahren 1990 bis 1993 zahlenmäßig ins Gewicht (vgl. Abbildung 1). Für die Außenwanderungsstatistik spielen sie aber auch weiterhin eine eher untergeordnete Rolle, weil sie im gleichen oder spätestens in dem der Zuwanderung folgenden Jahr bei negativem Ausgang des Asylverfahrens wieder als Abwanderung auftauchen.

Am konkreten Beispiel der Bundesrepublik läßt sich zeigen, wie groß der Bevölkerungsbestand der alten Bundesländer heute wäre, wenn es nach dem Krieg überhaupt keine Zu-und Abwanderung auf allen Altersstufen gegeben hätte: Würden aus dem Volkszählungsbestand des Jahres 1950 die Vertriebenen und Flüchtlinge abgezogen und die verbleibenden Personen mit den jährlichen Fertilitätsraten und den Sterbewahrscheinlichkeiten fortgeschrieben werden, wie sie in der Bundesrepublik seit 1950 gemessen wurden, dann hätte die Wohnbevölkerung der alten Bundesländer im Jahr 1989 nur rund 41 Millionen betragen. Wir dürfen somit konstatieren, daß heute etwa jeder dritte Bürger der alten Bundesländer nicht hier leben würde, wenn in der Vergangenheit keine Zuwanderungen stattgefunden hätten. Der hohe „Zuwanderungsanteil“ an unserer Bevölkerung seit dem Bestehen der Bundesrepublik wird für uns vor allem deshalb nicht spürbar, weil die große Anzahl von Kindern und Kindeskindern von früheren Zuwanderem sich selbst natürlich nicht als Zuwanderer verstehen und auch von niemandem sonst so beurteilt werden. Diese Personen würden aber heute nicht in Deutschland leben, wenn ihre Eltern oder Großeltern nicht zugewandert wären.

Auch die Bevölkerungsentwicklung der neuen Bundesländer wurde seit 1950 stark durch Wanderungen beeinflußt, in diesem Fall überwiegend durch Abwanderung. Ohne jede Außenwanderung hätte die Gesamtbevölkerung der DDR im Jahr 1987 bei 19, 9 Millionen gelegen Tatsächlich hatte die DDR aber in diesem Jahr nur 16, 7 Millionen Einwohner. Daß die DDR von einer ansonsten wachsenden zu einer schrumpfenden Bevölkerung wurde, liegt wiederum nicht nur an den Abgewanderten selbst, sondern auch an deren fehlenden Kindern und Kindeskindern. Auch nach.dem Mauerbau im August 1961 siedelten weiterhin Bürger der DDR in die Bundesrepublik über. Allerdings wurde nunmehr die Auswanderung staatlich kontrolliert und betraf stärker als vorher ältere Personen. In der Folgezeit wanderten dann Personen vorwiegend aus anderen sozialistischen Ländern zu, so daß die DDR mit dem „Rest der Welt“ (ausgenommen die alten Bundesländer) zeitweise sogar einen positiven Nettowanderungssaldo hatte.

Die Abwanderungswelle in Richtung Westen nach der Öffnung der Grenzen verstärkte die demographische Alterung und auch die Schrumpfung des Bevölkerungsbestandes in den meisten Regionen der neuen Bundesländer. Seit 1991 weisen aber die neuen Bundesländer gegenüber dem Ausland einen leicht positiven Außenwanderungssaldo auf (im Jahr 1992 z. B. bereits 89817 Personen). Auch der negative Wanderungssaldo gegenüber den alten Bundesländern ging von 383000 Personen im Jahr 1989 auf 53000 Personen im Jahr 1993 zurück.

III. Könnte Zuwanderung die zukünftige Bevölkerungsentwicklung stabilisieren?

Abbildung 2: Entwicklung der bundesdeutschen Bevölkerung unter bestimmten Annahmen über die Entwicklung der demographischen Parameter Quelle: Eigene Darstellung.

Mit dem Ende des „Babybooms“ vor etwa 20 Jahren brachten Demographen das Szenario einer „aussterbenden“ Bevölkerung der Bundesrepublik in die Diskussion, die sich nach jeweils 40 bis 45 Jahren im Bestand halbieren würde. Während die Geburtenzahlen tatsächlich nahezu auf dem damals angenommenen sehr niedrigen (und weit unterhalb des Bestandserhaltungsniveaus liegenden) Niveau blieben, hat die anhaltende (Netto-) Zuwanderung einen absoluten Bevölkerungsanstieg und eine Abmilderung der demographischen Alterungsprozesse in der bundesdeutschen Wohnbevölkerung verursacht. Die deutsche Einigung hat im übrigen die demographischen Zukunftsaussichten kaum verändert, da die bestehenden Alters-strukturen in Ost und West sehr ähnlich waren und die Fertilität in den neuen Bundesländern seit der Vereinigung im Oktober 1990 besonders niedrig ist. Ein Wiederanstieg der Geburtenzahlen ist bis dato nicht erkennbar.

Da durch Geburten und Sterbefälle auch in der Zukunft keine demographische Bestandserhaltung gesichert werden wird, folgt auch unter den neuen Ausgangsbedingungen, daß die deutsche Wohnbevölkerung zwar noch einige Jahre wachsen, jenseits des Jahres 2000 aber eine zunehmende Schrumpfung einsetzen wird -falls keine Zuwanderung stattfindet. In amtlichen BevölkerungsPrognosen wurde in der Vergangenheit stets die zukünftige Wanderung mit Null oder nahe Null angesetzt und dadurch regelmäßig die spätere Bevölkerungsentwicklung deutlich unterschätzt. Erstmals in der kürzlich publizierten 8. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird bis zum Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2040 eine dauerhafte (Netto-) Zuwanderung in die Bundesrepublik angenommen, deren Zahl zwischen 100000, 200000 oder 300000 jährlichen Nettozuwanderern variiert Entsprechend höher wird dann auch gegenüber den vorherigen Prognosen die Bevölkerungsentwicklung angesetzt.

Bei der wissenschaftlichen Bewertung der Frage, ob und mit welchen jährlichen Zahlen von (Netto-) Zuwanderern eine zukünftige Schrumpfung der bundesdeutschen Bevölkerung verhindert werden könnte, müssen aber einige bisher unbeachtete demographische Zusammenhänge betont werden. Die langfristigen Konsequenzen der Zu-und Abwanderung einer bestimmten Person hängen vor allem von deren Alter und Geschlecht ab. Wandert beispielsweise eine fünfzigjährige Frau ab oder zu, wird weitere fünfzig Jahre später die Gesamtbevölkerung von dieser Entwicklung zwangsläufig nicht mehr beeinflußt sein. Die fehlende Abwanderin (oder hinzugekommene Zuwanderin) wird dann -wie die damals fünfzigjährigen Einheimischen auch -gestorben sein.

Wandert dagegen eine zwanzigjährige Frau zu (oder ab), gilt für sie selbst zwar auch, daß sie nach spätestens 80 Jahren gestorben sein wird. Mit ihr wandern aber implizit ihre potentiellen Kinder und Kindeskinder zu (oder ab), die ansonsten später nicht im Inland leben (fehlen) würden, wenn heute nicht deren potentielle Mutter zu-(bzw. ab-) wandern würde. Die Wanderung einer Frau während oder vor den reproduktiven Altersstufen hinterläßt somit aus langfristiger bevölkerungsdynamischer Sicht -anders als die Wanderung einer Frau in nachreproduktiven Altersstufen -dauerhafte Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung.

Sowohl die Alters-als auch die Geschlechtsstruktur bei Zu-und Abwanderern waren in der Vergangenheit starken Schwankungen unterworfen. Es ist aber ein sehr großer Unterschied, ob beispielsweise überwiegend Rentner aus der DDR, junge männliche Arbeitnehmer aus den Anwerbeländern oder junge Familien aus Kasachstan zu­ wandern. Alters-und Geschlechtsstruktur der grenzüberschreitenden Wanderung sind unter den konkreten Bedingungen der Bundesrepublik jedenfalls grundsätzlich gestaltbar. Mit der Frage, ob wir überhaupt Zuwanderung wünschen oder zulassen wollen, können oder müssen wir gleichzeitig die Frage behandeln, in welcher Alters-und Geschlechterzusammensetzung diese Wanderung stattfinden wird.

Da nur Frauen Kinder gebären können und da in den nächsten Jahrzehnten in Deutschland in den reproduktiven Altersstufen ein heute schon spürbarer Männerüberschuß bestehen wird, ist die Zuwanderung von jungen Frauen demographisch wesentlich folgenreicher als die von Männern. Die größere Bedeutung von Frauen für den „Partnerschaftsmarkt“ entsteht dadurch, daß stets mehr Männer als Frauen geboren werden. Noch wichtiger aber ist ein anderes Faktum: Seit langer Zeit wählen in Deutschland Männer Partnerinnen, die im Durchschnitt etwa drei Jahre jünger sind als sie selbst Seit 1970 hat ein starker Geburtenrückgang eingesetzt, der zur Folge hatte, daß die später geborenen Jahrgänge der potentiellen Partnerinnen im Bestand deutlich geringer besetzt sind als die der (älteren) Männer.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fand wegen des großen Überschusses an jüngeren Frauen in den alten Bundesländern eine nicht unerhebliche Abwanderung von (deutschen) Frauen aus familiären Motiven statt, deren Ziel häufig die Heimatstaaten der westlichen Besatzungsmächte waren. Durch die zu erwartende Veränderung der Geschlechterproportionen dürfte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deshalb eine verstärkte Nettozuwanderung junger Frauen allein aus familiären Gründen stattfinden.

Von den in den letzten Jahrzehnten zugewanderten Frauen türkischer Nationalität oder von den momentan zuwandernden Familien aus Osteuropa wissen wir, daß sie im Durchschnitt deutlich mehr Kinder hatten und haben als hier aufgewachsene Frauen. Auch wenn sich mit dem Aufenthalt in der Bundesrepublik die Fertilität relativ schnell an die Verhältnisse der einheimischen Bevölkerung annähert (was für einige Zuwanderergruppen wie die Aussiedler stärker gilt als für andere), sollte doch davon ausgegangen werden, daß Zuwanderer (und vermutlich auch Abwanderer) ein anderes demo-graphisches Verhalten aufweisen als die stets hier lebende Bevölkerung. Dies gilt auch für die Sterblichkeit, wobei zu konstatieren ist, daß Wandernde im Durchschnitt gesünder sind als stationäre Personen.

Wenn sich Fertilitäts-und Mortalitätsraten von Zuwanderern von den entsprechenden Raten der einheimischen Population unterscheiden, dann entsteht ein überraschendes Ergebnis: Bei einem gleichen jährlichen Nettowanderungssaldo von beispielsweise 300000 Personen kann es sich in einem Fall um 400000 Zu-und 100000 Abwanderer, im anderen Fall beispielsweise um 800000 Zu-und 500000 Abwanderer handeln. Im ersten Fall gibt es beispielsweise unter 400000, im zweiten dagegen unter 800000 jährlich neu hinzukommende Personen Frauen mit höherer Fertilität. Wenn sich Zu-und Abwanderer auch noch in ihrer Alters-und Geschlechterstruktur unterscheiden (was für die Bundesrepublik stets der Fall war), wird der Unterschied zwischen verschiedenen Brutto-bei identischen Nettowanderungsströmen langfristig noch sehr viel wichtiger.

Die vorgetragenen Zusammenhänge sollten auch allen jenen, die nicht über demographisches Fachwissen verfügen, klarmachen: Es gibt nicht „die“ langfristigen Wirkungen eines bestimmten Wanderungssaldos. Man kann folglich unter keinen Umständen schlußfolgern, es wäre eine ganz bestimmte. Zahl von jährlichen Zuwanderern erforderlich, um die deutsche Bevölkerungsentwicklung stationär zu halten. Wir müssen vielmehr ganz exakt beschreiben, in welcher Alters-und Geschlechterverteilung und mit welchem demographischen Verhalten welche jährliche Zahl von Zu-und Abwanderern betrachtet werden soll.

Wenn zum Beispiel jährlich 500000 Jugendliche mit leicht zugunsten von Frauen verschobenen Geschlechterproportionen und einer überdurchschnittlich hohen Fertilität zuwandern würden, dann begänne die bundesdeutsche Bevölkerung dauerhaft in Dimensionen zu wachsen, über deren Folgen aufgrund der Realitätsferne gar nicht diskutiert werden sollte. Wanderten andererseits jährlich 500000 Personen mittlerer und oberer Altersstufen zu, käme es trotz der gleich hohen Zuwanderungszahlen später zu einer Bevölkerungsschrumpfung, und die demographische Alterung mit ihren weitreichenden sozialen Konsequenzen würde sich sogar gegenüber der Situation ohne jede Zuwanderung weiter verschärfen. Wir wollen den Zusammenhang an einem konkreten Beispiel für die Entwicklung der deutschen Bevölkerung verdeutlichen.

Annahme A: Würde ab 1989 niemand mehr zu-oder abgewandert sein und würden von diesem Zeitpunkt an Fertilität und Mortalität bei den bundesdeutschen Werten von 1989 bleiben, begänne der Bestand der Wohnbevölkerung relativ schnell zu schrumpfen und läge im Jahr 2050 unter 50 Millionen Einwohnern (Population A in Abbildung 2) mit fortdauernder Schrumpfungstendenz.

Annahme B: Wir wollen nun annehmen, daß von 1990 an jährlich 800000 Personen zu-und gleichzeitig 500000 Personen abwandern, deren Alters-und Geschlechtsstruktur genau so ist, wie im Jahr 1989 konkret beobachtet -d. h., die Zuwanderer sind im Durchschnitt etwas jünger als die Ab-wanderer, und das Geschlechterverhältnis der (Netto-) Zuwanderer ist annähernd ausgeglichen. Wenn ausschließlich die Zu-und Abwanderer bis zum Jahr 2050 betrachtet werden (ohne Berücksichtigung der hinzukommenden oder fehlenden Kinder und Kindeskinder der Migranten) entsteht Population B in Abbildung 2, die im Jahr 2050 einen Bestand von über 68 Millionen ergäbe, wenn die Sterblichkeit der Ab-und Zuwanderer dauerhaft Werte wie die der einheimischen Population hätte.

Annahme C: Wenn wir zusätzlich annehmen, die Zu-und Abwanderer hätten in den Jahren nach ihrem Grenzübertritt Fertilitätsraten wie die Bevölkerung der Bundesrepublik im Jahr 1989, und wenn dies eine Generation später auch für die Kinder dieser Zu-und Abwanderer gelten würde, dann entstünde zusätzlich eine Population von Kindern und Kindeskindern, wobei die fehlenden Kinder und Kindeskinder der jährlich 500000 Abwanderer von den hinzukommenden Kindern und Kindeskindern der 800000 Zuwanderer abgezogen wurden. Die Gesamtbevölkerung würde zwar auch unter Berücksichtigung der Kinder und Kindeskinder (Population C in Abbildung 2) ab dem Jahr 2010 dem Bestand nach schrumpfen, die Schrumpfungstendenzen wären aber stark abgemildert.

Das Beispiel von Abbildung 2 lehrt, daß eine Nettozuwanderung von 250000 bis 300000 Personen, wie sie in der Bundesrepublik seit ihrem Bestehen bereits stattfindet, eine ganz wesentliche Änderung der langfristigen demographischen Entwicklung gegenüber einer Entwicklung ohne Zuwanderung bewirken kann. Die Wirkung einer bestimmten Zahl von jährlichen Nettozuwanderem ist dabei um so größer, je jünger die Zuwanderer im Durchschnitt sind, je größer der Frauen-anteil (besonders angesichts des zu erwartendenUngleichgewichts am „Partnerschaftsmarkt“) und relativ je höher die Fertilität der Zuwanderer und/oder ihrer Kinder und Kindeskinder ist.

Auch wenn natürlich keine exakte Steuerung nach diesen Kriterien möglich oder gewünscht sein dürfte, ist eine Verdeutlichung dieses Zusammenhangs durchaus sinnvoll. Es wird daraus auf jeden Fall erkennbar, daß aus rein demographischer Sicht die Zuwanderung kompletter und überwiegend junger Familien (wie bei rußlanddeutschen Aussiedlem) eine weit größere dauerhafte Wirkung hat als zum Beispiel die zahlenmäßig gleiche Zuwanderung nur männlicher Arbeitskräfte oder Rentner.

IV. Wie verändert Zuwanderung die Altersstruktur?

Die Furcht vor einer zukünftigen Schrumpfung der bundesdeutschen Bevölkerung basiert normalerweise nicht auf Betrachtungen der absoluten Zahlen, sondern sie speist sich in der Hauptsache aus der Analyse der damit einhergehenden Verschiebungen in der Altersstruktur und deren Konsequenzen. Die vielzitierte „demographische Alterung“ würde zwar allein schon durch die systematische Reduktion der Sterblichkeit ausgelöst werden, wie wir sie in der Vergangenheit erlebthaben und sicherlich auch in der Zukunft erleben werden. Das in den letzten Jahrzehnten beobachtete „Umkippen der Bevölkerungspyramide“ ist aber die Folge des starken Rückgangs der Fertilität nach 1970, mit dem eine ganz wesentliche Verschärfung des Prozesses der demographischen Alterung in Deutschland ausgelöst wurde.

So, wie Zuwanderung die Entwicklung der absoluten Bevölkerungszahl beeinflußt, kann -muß aber nicht unbedingt -auch die Altersstruktur zeitweise oder dauerhaft verändert werden. Die Auswirkungen von Zu-und Abwanderung auf die Alters-struktur sind aber noch schwieriger zu beurteilen als die entsprechenden Auswirkungen auf die absoluten Bevölkerungszahlen. Grundsätzlich gilt: Die Entwicklung der Altersstruktur hängt noch viel stärker als die der absoluten Bevölkerungszahl von der Alters-und Geschlechtsstruktur sowie von der Fertilität der zukünftigen Zu-und Abwanderer ab. Nimmt man das Verhältnis der Bevölkerung oberhalb von Alter 60 in Relation zur Population zwischen Alter 20 und 60 als einfache Maßzahl zur Charakterisierung der demographischen Alterung, dann kann im Extremfall (wenn alle Zuwanderer selbst schon oberhalb von Alter 40 wären) eine jährliche Nettozuwanderung von 500000 Personen die Entwicklung sogar verschlechtern Die gleiche Zahl von Zuwanderern mit günstigerer Alters-und Geschlechtsstruktur kann dagegen eine erhebliche Abmilderung der demographischen Alterungsprozesse bewirken und diese unter allerdings ebenfalls extremen Annahmen über die Altersverteilung der Zuwanderer (wenn es sich ausschließlich um Jugendliche handeln würde) sogar ganz verhindern.

Insgesamt läßt sich zusammenfassen: Da die demographische Alterung ein säkulares Phänomen nicht nur in Deutschland ist, wird sich auch durch eine Nettozuwanderung bei realistischen Annahmen über die dabei auftretenden demographischen Parameterkonstellationen die demographische Alterung nicht völlig vermeiden lassen. Zuwanderer altern ebenso wie die einheimische Bevölkerung. Aber auch eine nur teilweise Reduktion zukünftiger aus der Alterung resultierender Zusatzlasten durch Zuwanderung würde eine von mehreren sinnvollen Strategien zur Milderung der zu erwartenden Probleme darstellen, die letztendlich kombiniert untereinander eingesetzt werden könnten oder müßten.

V. Die Beurteilung von Zuwanderung: Kurz-versus langfristige Perspektive

Über die langfristige Notwendigkeit von Zuwanderung nach Deutschland ist im Grunde genommen eine breitere Übereinstimmung zu erzielen, als es die so kontrovers geführte öffentliche Diskussion erwarten läßt. Umstritten ist vor allem die Frage, ob unter den momentanen Gegebenheiten heute und in den nächsten Jahren Zuwanderung sinnvoll oder tragbar ist in einer Größenordnung, wie wir es gegenwärtig erleben. Im Moment sind es vor allem die Ungleichgewichte am Arbeits-und Wohnungsmarkt, die als zentrale Probleme alle anderen Themen der Wirtschafts-und Sozialpolitik dominieren. Zumindest unter den heutigen Voraussetzungen werden die angesprochenen Ungleichheiten durch die bestehende Zuwanderung noch verschärft.

Wenn sich in einigen Jahrzehnten die Verhältnisse -insbesondere am Arbeitsmarkt -wieder umkehren werden, was die Arbeitsmarktprognosen beispielsweise des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB) erwarten lassen oder wenn es zu den befürchteten hohen Finanzierungsbelastungen durch die sozialen Sicherungssysteme kommen wird, wird sich sicherlich auch die Bewertung von Zuwanderung ändern. Man könnte deshalb die in der Öffentlichkeit unausgesprochene Beurteilung von Zuwanderung durchaus verkürzen auf den Slogan: „Zuwanderung ja -aber bitte nicht heute/“ Dabei gilt, daß das, was kurzfristig als „schädlich“ oder „bedrohlich“ angesehen wird, langfristig durchaus anders zu beurteilen ist.

Tatsächlich wäre es im Prinzip denkbar, Zuwanderung heute zu beschränken und morgen (d. h. zu Beginn des nächsten Jahrhunderts) zu fördern. Da in diesem Beitrag allein die demographischen Fragestellungen der Zuwanderung im Mittelpunkt stehen sollen, müssen wir von den moralischen oder politischen Aspekten einer solchen Strategie abstrahieren. Aber auch aus rein demographischer Sicht wäre eine „Stop-and-go-Politik“ für Zuwanderung nicht angemessen. Heute bereits bestehende Umbrüche der Altersstruktur kann man nur durch langfristige Kontinuität der Parameter beseitigen. Würde man heute für einige Jahrzehnte eine Entwicklung ohne jede Zuwanderung realisieren,dann wären später jährliche Zuwanderungszahlen in einer Größenordnung notwendig, die kaum zu verkraften wären und die Integration der Hinzukommenden ebenso erschweren wie das Lebensgefühl der einheimischen Bevölkerung belasten würden.

Langfristig ist für eine möglichst kontinuierliche Entwicklung der (Netto-) Zuwanderung zu plädieren, auch wenn Kontinuität nicht gemäß der exakten Definition verstanden werden muß. Alle anderen demographischen Parameter (Fertilität, Mortalität) variieren ständig. Selbstverständlich ist deshalb auch für die Außenwanderung und deren Zusammensetzung zu erwarten, daß sie jährlichen Schwankungen unterliegen wird.

Aber auch kurzfristig muß die Beurteilung von Zuwanderung weit weniger negativ sein, als es oft den Anschein hat. Abgesehen vom Arbeitsmarkt (der allerdings durch zusätzliche Nachfrage und die reallohndämpfende Wirkung zusätzlichen Angebots der Zuwanderer auch entlastet wird treten mit Zuwanderung verbundene Schwierigkeiten überwiegend in Ballungszentren auf, in denen sich Binnen-und Außenwanderung kumulierend treffen. In einer ganzen Reihe von Regionen (besonders deutlich wird das in Mecklenburg-Vorpommern) bestünde bereits heute die Bereitschaft und Notwendigkeit, der absehbaren Bevölkerungsschrumpfung entgegenzutreten, wofür praktisch nur die Zuwanderung als Potential zur Verfügung steht.

Die zunehmende Entvölkerung einiger Regionen (besonders in manchen Landkreisen im Nordosten Deutschlands) führt dort -bei gleichzeitig zusätzlicher Ballung in anderen Regionen (vor allem in den städtischen Kemregionen des Westens) -zu einer Unterauslastung der Infrastruktur, zu ausbleibenden Investitionen in das Infrastrukturkapital und langfristig zu sich selbst verstärkenden Ungleichentwicklungen bei Einkommen und Wohlstand. Die Politik der ersten Nachkriegsjahre hat unter sehr ungünstigen Voraussetzungen gezeigt, daß die Steuerung von Zuwanderung ein effektives regionalpolitisches Instrument sein kann. Auch wenn ein solcher Erfolg unter den heutigen gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen nicht in gleicher Weise wiederholbar sein dürfte, müßte die Außenwanderung als regionalpolitisches Instrument doch stärker berücksichtigt werden.

Als Fazit bleibt folglich festzuhalten, daß eine langfristige Aufrechterhaltung von Nettozuwanderung in einer Größenordnung, wie wir sie bereits seit rund fünfzig Jahren kennen, eine wichtige Voraussetzung zur Stabilisierung der demographischen Entwicklung in Deutschland ist. Dies gilt um so mehr dann, wenn die Alters-und Geschlechts-struktur der Zuwanderer ähnlich günstig wie in den letzten Jahren bleibt. Eine kontinuierliche Zuwanderung von im Durchschnitt jungen vollständigen Familien erleichtert nicht nur die Integration dieser Bevölkerungsgruppen, sondern kann einen erheblichen Anteil zur Lösung der zu erwartenden Probleme im Zusammenhang mit der sich verschärfenden demographischen Alterung beitragen.

Hin und wieder wird auch in wissenschaftlichen Abhandlungen gefragt, wie groß denn überhaupt das Potential jener Menschen ist, die nach Deutschland kommen wollen. Aber bereits bei der Erhebung des noch relativ klar abgrenzbaren Potentials der in den Grenzen der ehemaligen Sowjetunion lebenden Deutschstämmigen gibt es große Unsicherheiten. Diese potentielle Zuwanderergruppe muß dabei nicht identisch sein mit der Kopfzahl der in früheren sowjetischen Volkszählungen als „deutsch“ oder „deutschstärflmig“ deklarierten Personengruppen.

Angesichts der auch in Zukunft bestehenden großen Wohlstandsunterschiede beispielsweise zwischen Mittel-und Westeuropa auf der einen und Ost-und Südosteuropa auf der anderen Seite ist die Frage müßig, wie viele Personen insgesamt bereit wären, nach Deutschland zu wandern, wenn wir dies nur wünschen oder zulassen würden. Wir dürfen davon ausgehen, daß auch in den nächsten Jahrzehnten die Zahl potentieller Zuwanderer nach Deutschland größer sein wird als die Zahl derer, die tatsächlich in die Bundesrepublik ziehen oder die dann zu irgendeinem Zeitpunkt „benötigt“ oder „gewünscht“ sein könnten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu den Beitrag von Beate Winkler in diesem Heft.

  2. Von den 1268004 Zuzügen waren 281132 Deutsche, unter den 796859 Fortzügen befanden sich 86619 Deutsche, so daß unter den 471145 Nettozuwanderern 194513 Deutsche einen Anteil von 41, 3 Prozent ergaben.

  3. Vgl. Peter H. Seraphim, Die Heimatvertriebenen in der Sowjetzone, Berlin 1954.

  4. Vgl. Reiner Hans Dinkel/Erich Meinl, Die Komponenten der Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zwischen 1950 und 1987, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 17 (1991) 2, S. 115-134.

  5. Vgl. Bettina Sommer, Entwicklung der Bevölkerung bis 2040. Ergebnisse der achten koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, in: Wirtschaft und Statistik, (1994) 7, S. 497-503.

  6. Vgl. Reiner Hans Dinkel/Erich Meinl/Ina Milenovic, Die demographische Entwicklung als Auslöser von zukünftigen Gleichgewichten bei der Familienbildung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Familienforschung, 4 (1992) 2, S. 147-159.

  7. Vgl. Reiner Hans Dinkel/Uwe Lebok, Könnten durch Zuwanderung die Alterung der Bevölkerung und die daraus resultierenden Zusatzlasten der Sozialen Sicherung aufgehalten oder abgemildert werden?, in: Deutsche Rentenversicherung, (1993) 6, S. 388-400.

  8. Vgl. Manfred Thon, Perspektiven des Erwerbspersonenpotentials in Gesamtdeutschland bis zum Jahr 2030, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt-und Berufsforschung, (1991) 4, S. 706-712.

  9. Anmerkung der Redaktion: Siehe dazu auch den Beitrag von Bernd Hof in diesem Heft.

  10. Nach der regionalisierten Bevölkerungsprognose der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BfLR) wird praktisch in allen Raumordnungsregionen der neuen Bundesländer (mit Ausnahme von Berlin) im nächsten Jahrzehnt Bevölkerungsschrumpfung erwartet. Vgl. Hansjörg Bucher/Mathias Siedhoff/Gerhard Stiens, Regionale Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis zum Jahr 2000, in: Informationen zur Raumentwicklung, (1992) 11/12, S. 827-862.

Weitere Inhalte

Reiner Hans Dinkel, Dr. rer. pol., geb. 1946; Studium der Wirtschaftswissenschaften in München; Professor-für Quantitative Verfahren der Demographie an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen zu Fragen der Ökonomie, Sozialpolitik, Politikwissenschaften, Demographie und Epidemiologie, u. a.: Demographie, Band 1: Bevölkerungsdynamik, München 1989. Uwe Lebok, Dipl. -Geogr., geb. 1965; Studium der Sozial-und Geowissenschaften in Bamberg; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Münchner Forschungsverbund Public Health.