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Wittenberg auf dem Weg zur Normalität. Politischer und wirtschaftlicher Wandel in der Lutherstadt 1990 bis 1994 | APuZ 12/1995 | bpb.de

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APuZ 12/1995 Von der „sozialistischen“ zur „kapitalistischen“ Stadt Stadtentwicklung in den neuen Bundesländern: Der Sonderfall Leipzig Von der grauen zur bunten Stadt Folgen des Umbruchs in Gotha Wittenberg auf dem Weg zur Normalität. Politischer und wirtschaftlicher Wandel in der Lutherstadt 1990 bis 1994

Wittenberg auf dem Weg zur Normalität. Politischer und wirtschaftlicher Wandel in der Lutherstadt 1990 bis 1994

Elmar Lange/Steffen Roski/Peter Schöber

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Zusammenfassung

Der soziale Wandel in Ostdeutschland hat vielerorts ein Stadium erreicht, das mit dem Begriff der „Transformation“ allein nicht mehr hinreichend zu charakterisieren ist. Vielmehr kann am Beispiel der Luther-stadt Wittenberg, die zwischen 1990 und 1994 Gegenstand einer systematischen Längsschnittuntersuchung war, gezeigt werden, daß sich dort inzwischen die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse weitgehend normalisiert haben. Die Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten der Gemeinde sind von jenen vergleichbarer westdeutscher Kommunen kaum mehr zu unterscheiden. Auch die Wirtschaft Wittenbergs befindet sich in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Handwerk und Dienstleistung auf dem Weg zur Normalität. Der Wachstumskurs ist eingeschlagen, die Leistungsmotivation ist bei jenen, die Arbeit haben, hoch, immer mehr Bürger, inzwischen etwa 80 Prozent der Bevölkerung, nehmen am Aufschwung teil. Dies impliziert jedoch zugleich, daß etwa ein Fünftel der Wittenberger nicht in gleicher Weise beteiligt ist und deshalb eher zu den Verlierern des wirtschaftlichen Transformationsprozesses zählt. Hierzu gehören neben den Arbeitslosen, insbesondere den Langzeitarbeitslosen, auch die Bezieher niedriger Renten, die alleinerziehenden Mütter sowie die auf Sozialhilfe angewiesenen Problem-gruppen. Die Entwicklung einer demokratischen Ordnung beruht nicht zuletzt auf einer intakten kommunalen Selbstverwaltung. Dort nähert man sich in Wittenberg mittlerweile dem, was im deutschen Gemeindewesen als „normal“ gilt. Aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen kann die politisch-administrative Gemeindeelite in bestimmten Bereichen sogar gegenüber vielen Inhabern von Führungspositionen in westdeutschen Gemeinden einen Vorsprung an organisatorischen Fähigkeiten vorweisen.

I. Problemstellung

Gegenstand dieses Beitrags ist der politische und wirtschaftliche Wandel in der Lutherstadt Wittenberg zwischen 1990 und 1994 In politischer Hinsicht betrifft er die Transformation einer bürokratischen Parteidiktatur in eine repräsentative Mehrparteiendemokratie, in wirtschaftlicher Hinsicht die Umwandlung einer Zentralverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft oder eine bürgerliche Gesellschaft (civil society). Abstrakter läßt sich dieser Vorgang als Modernisierungsprozeß beschreiben, der in dem besonderen Fall, in dem die deutsche Einheit über dn Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erfolgte, als Transformationsprozeß betrachtet werden kann. Dieser Transformationsprozeß ist in der Lutherstadt bis Ende 1994 soweit fortgeschritten, daß von einer Normalisierung der Verhältnisse und des Verhaltens im Sinne westdeutscher Kommunen der gleichen Größenordnung gesprochen werden kann

II. Geschichte und Bürgerbewegung

Um zu verstehen, weshalb 1990 die Lutherstadt Wittenberg im besonderen und die Städte der untergehenden DDR im allgemeinen so waren, wie wir sie vorfanden, galt es zunächst -unter Rückgriff auf im Stadtarchiv verfügbare Materialien -, unser historisches Bewußtsein zu schärfen. Dabei wurde uns auch deutlich, an welche Momente ihrer Geschichte die Stadt auf dem Weg zur Normalität anknüpfen könnte und welche Fehlentwicklungen sie korrigieren müßte.

1. Gründungsphase, Blütezeit und Niedergang Die Gründungsphase der Stadt begann 1180 und endete im Jahre 1293 mit der Verleihung des Stadtrechts. Offensichtlich fiel diese in die Zeit der Entstehung des deutschen Städtewesens überhaupt und markiert damit den Beginn einer ,, neue(n) Epoche des Aufgangs der bürgerlichen Freiheit“

Als Stichworte für die Blütezeit im ausgehenden Hoch-und beginnenden Spätfeudalismus wären die Verwirklichung einer genossenschaftlichen Stadtverfassung, die Errichtung der kurfürstlichen Residenz (Kurfürst Friedrich III -„der Weise“) sowie, damit im Zusammenhang, die Errichtung einer Universität (1502) zu nennen. In diese konnte der neue Geist des Humanismus einziehen, Martin Luther konnte in ihr eine Wirkungsstätte finden und sie damit zum Ausgangspunkt der Reformation machen Hierbei ist noch bemerkenswert, daß die heutige Lutherstadt Wittenberg zu dieser Zeit weniger als 2150, Magdeburg dagegen (um 1550) 40000 Einwohner zählte. Hinsichtlich der Einwohnerzahl hinkte sie also hinter den anderen Städten dieses Zeitalters her und hat im übrigen auch bis heute nicht die Grenze einer mittleren Stadt überstiegen.

Mit der Stadtverfassung, die schon deutlich eine Gliederung in Gemeindevorstand, -Vertretung und -Verwaltung aufwies, zeigten sich die ersten Umrisse sowohl des modernen demokratischen Rechts-und Verfassungsstaates als auch der kommunalen Selbstverwaltung, wie sie sich später, nach Überwindung des absoluten Fürstenstaates, herausbilden sollten. Daß die Reformation eine weltgeschichtliche Bedeutung hatte, bedarf keiner weiteren Erörterung. Bekannt ist auch, daß es neben Luther noch weitere Neuerer in Wittenberg gab, so Philipp Melanchthon, der Luther geistig zur Seite stand, und Lucas Cranach, Künstler, Verleger, Kaufmann und Organisator. Und alle drei Innovatoren waren Fremde, angezogen von der kurfürstlichen Residenz und der Universität. Was erstere betrifft, so schloß sie einen ebenso einnahmen-wie ausgabenträchtigen Haushalt ein, dessen Nachfrage die Wirtschaftsentwicklung der Stadt nachhaltig förderte. Deshalb lassen sich auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durchaus Anzeichen einer frühbürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft ausmachen, doch den Rang einer Handels-oder Exportgewerbestadt erreichte Wittenberg nicht. Im wesentlichen blieb es eine „mittelständische“ Lokalgewerbestadt, woran sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wenig ändern sollte.

Möglicherweise begann bereits mit dem Tod Luthers (1546) der Niedergang der Stadt. Ganz sicher setzte er mit dem Verlust der fürstlichen Residenz ein Jahr nach Luthers Tod ein. Weitere Stufen des Abstiegs waren die Degradierung der Stadt -wie aller anderen Städte -zu einer bloßen Anstalt des keine Selbstverwaltung duldenden absoluten Fürstenstaates und schließlich -in der Folge der Einverleibung Wittenbergs in das Königreich Preußen -die Verlegung der Universität nach Halle (1816/17).

Einen gewissen Wiederaufstieg der Stadt versprachen die Städtereform in Preußen, die bürgerlich-demokratische Revolution und schließlich die Industrialisierung. 2. Industrialisierung Die Industrialisierung begann in Wittenberg erst 1890; die meisten Industriebetriebe (21) wurden zwischen 1890 und 1913 gegründet. Es läßt sich sogar behaupten, daß die Industrialisierung in Wittenberg so richtig erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Über das Tempo geben die folgenden Zahlen Auskunft: Im Wittenberger Bezirk waren in den größeren Industriebetrieben im Jahre 1890 etwa 500 Arbeiter, 1900 rund 1200 und 1910 rund 5000 Arbeiter beschäftigt, was einer Verzehnfachung der Industriearbeiterschaft innerhalb von 20 Jahren entspricht.

Die Entwicklung zwischen 1870 und 1913 erscheint als Resultat eines vom Staat mit Vorbedacht geplanten Vorgangs: Sie begann mit der Entfestigungsperiode (1873), dem Abbau der militärischen Anlagen also, die dem wirtschaftlichen Handeln ein erweitertes räumliches Wirkungsfeld erschloß, und setzte sich 1887 mit der planmäßigen Herstellung diverser Verkehrseinrichtungen fort.

Gründer der Industriebetriebe waren vor allem auswärtige Unternehmer oder Unternehmen, was darauf schließen läßt, daß Wittenberg als günstiger Wirtschaftsstandort wahrgenommen wurde. Wirft man einen Blick auf die Zusammensetzung der Industrie in und um Wittenberg, so zeigt sich eine reiche Vielfalt: Industriezweig „Steine Erden“ (vier Firmen), Genuß-und Nahrungsmittelindustrie (drei Firmen) sowie einige Brauereien, chemische Industrie (fünf Firmen), Metallindustrie (drei Firmen), Lederindustrie (eine Firma), Papier-und Pappeindustrie (drei Firmen) und Druck-industrie (vier Firmen). Aus diesen Zahlen läßt sich zwar ein leichtes Übergewicht der chemischen Industrie herauslesen, aber von einer Chemie-region oder gar einer industriellen Monostruktur konnte zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede sein.

Gewiß veränderte die Industrie die Wirtschaftsstruktur von Stadt und Umland. Doch wurde dadurch das Handwerk keineswegs verdrängt. 3. Umbrüche im 20. Jahrhundert Mit dem Ersten Weltkrieg begann auch in Wittenberg eine wirtschaftliche Fehlentwicklung. So wurde aus kriegswirtschaftlichen Erwägungen heraus im Vorort Piesteritz durch die Bayerischen Stickstoffwerke AG im Verein mit staatlichen Instanzen ein Stickstoffwerk errichtet und als gemischtwirtschaftliches Unternehmen geführt. Für den Raum Wittenberg waren mit dem Riesenwerk gewiß mehr Nachteile als Vorteile verbunden, weil es ihn zu einer monostrukturellen Region verkommen ließ und damit -nach Rückkehr zur offenen Marktwirtschaft -besonders krisenanfällig machte.

Den wenigen Jahren der Weimarer Republik und der allerdings durch Kartelle und Syndikate vermachteten Marktwirtschaft folgten NS-Diktaktur und „Wirtschaftspolitik der Experimente“ (Walter Eucken -im Zweiten Weltkrieg in erneute Kriegswirtschaft einmündend -sowie nach 1945 die Umwandlung der Zentralverwaltungswirt-schäft mit in eine solche ohne Privateigentum. Das Stickstoffwerk, teilweise demontiert, wurde in eine sowjetische Aktiengesellschaft, später in den Volkseigenen Betrieb (VEB) Piesteritz umgewandelt. Große Unternehmen eignen sich besonders gut für zentrale Wirtschaftslenkung. Deshalb kann es nicht erstaunen, daß das Riesenwerk später, in den siebziger Jahren, zum größten Investitionsobjekt der chemischen Industrie der DDR avancierte. Die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftsstruktur der Region -im Ersten Weltkrieg angelegt, in der Zeit zwischen 1933 und 1945 bekräftigt -wurde nach 1945, vollends nach 1970 beibehalten, mehr noch, sie war nun sozialistisches Prinzip

Neben dem Stickstoffwerk Piesteritz waren -offensichtlich ohne dabei die möglichen Folgen für die Bedarfsdeckung der Bevölkerung zu bedenken -auch die anderen Industrieunternehmen der Region enteignet worden, und man hatte dabei auch Klein-und Mittelbetriebe nicht verschont.

4. „Wende“ und Rückkehr zur westeuropäischen Geschichte Unlösbar mit der politischen Wende im Herbst 1989 ist die Bürger-(rechts-) bewegung verbunden. Ihre Wurzeln lagen zweifellos auch in Wittenberg, und zwar im Bereich der evangelischen Kirche. Widersprüchlich in ihrer Haltung zum „sozialistischen Staat“ bot sie Gruppen, die sich mit den Fragen „Frieden“, „Dritte Welt“, „Schöpfung“, aber auch mit der Situation in der DDR kritisch beschäftigten, einen Freiraum. In ihren Seminaren konnte sich deshalb auch ein Teil der Meinungsführer herausbilden, die dann dem Bürgerprotest im Herbst 1989 Ausdruck verleihen und den organisatorischen Rahmen geben sollten Die offizielle Kirche selbst hatte beim Übergang zu offenem, organisiertem Protest und Widerstand zwar keine Anstoß gebende, aber doch eine moderierende Funktion

Die Bürgerbewegung, die in vielen Städten der damaligen DDR -am massivsten und wirkungsvollsten wohl in Leipzig -in Erscheinung trat, war rückblickend ein eher flüchtiges Phänomen, dessen Entwicklung sich weitgehend im Verborgenen vollzogen hatte. Als es schließlich in Organisationen, wie z. B.dem „Demokratischen Aufbruch“, konkrete Gestalt annahm, war es als Bürgerbewegung bald verschwunden.

Zwei Ziele standen bei aller Vielfalt der Anliegen der Bürgerbewegung im Vordergrund: Rechtsstaat und Demokratie, letztere jedoch nicht in der Form der westdeutschen Parteiendemokratie. Daß die deutsche Einheit nicht zu den vorrangigen Zielen gehörte, lag auch daran, daß dieses Anliegen zunächst für unrealistisch gehalten wurde. Auch ein „kapitalistisches Wirtschaftssystem“ wurde von der Bürgerbewegung nicht angestrebt -sei es, weil sie einen „Dritten Weg“ befürwortete, sei es, weil sie sich mit der Wirtschaftsverfassung nicht genügend beschäftigt hatte. Sowohl in dieser Frage als auch in der Frage der Wiedervereinigung hatte sie -wie wir heute wissen -den Wunsch vieler DDR-Bürger unterschätzt, endlich in Verhältnissen zu leben, wie sie in der Bundesrepublik und in Westeuropa selbstverständlich sind.

III. Der Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung

1. Aufgaben und Organisation Zu den wichtigsten Aufgaben nach der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 gehörte der Wiederaufbau der öffentlichen Verwaltung in den fünf neuen Bundesländern, insbesondere der kommunalen Selbstverwaltung. Auf der Grundlage der Kommunalverfassung der inzwischen „gewendeten“ DDR vom März 1990 und der Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990 wurde auch in der Lutherstadt Wittenberg mit dem Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung begonnen. Die Hauptaufgabe der nunmehr frei gewählten Stadtverordneten bestand darin, die grundlegenden normativen Ordnungen, wie Hauptsatzung und Geschäftsordnung, zu beschließen und damit die Gemeinde zu einem handelnden Subjekt zu machen. Für die zu besetzenden Ämter -den Gemeindevorstand (Bürgermeister, Dezernenten) und die Gemeindeverwaltung (Amtsleiter, weitere Mitarbeiter) -wurden politisch unbelastete und zugleich fachlich kompetente Personen benötigt. Angesichts der in den ersten Monaten des Jahres 1990 herrschenden Aufbruchstimmung war es vergleichsweise einfach, aus dem Spektrum der neuen, aus der Bürgerbewegung hervorgegangenen oder der „gewendeten“ Parteien Persönlichkeiten mit demokratischer und rechtsstaatlicher Gesinnung ausfindig zu machen. Schwieriger stellte es. sich dagegen dar, angesichts der Tatsache, daß es seit 1933 in Ostdeutschland keine kommunale Selbstverwaltung mehr gegeben hatte, ausreichend qualifizierte Anwärter zu finden. Die Gemeindevertretung hatte somit keine andere Wahl, als die Dezernenten-und die meisten Amtsleiterposten mit Personen zu besetzen, die keine für das Gemeindewesen erforderliche Qualifikation besaßen. Eine weitere Aufgabe für die Gemeindevertretung bestand in der Einübung der repräsentativen und der Parteiendemokratie auf der kommunalen Ebene.

Die Dezernenten und Amtsleiter standen vor zwei Hauptaufgaben: Zum einen mußten sie auf der Grundlage des von der Gemeindevertretung beschlossenen Strukturplans die bisherige Stadtverwaltung -eine staatliche Behörde -in eine moderne Stadtgemeinde westlichen Zuschnitts verwandeln, d. h., es galt, die heutigen Dezernate, Ämter und nachgeordneten Verwaltungen auf die Erfüllung freier Selbstverwaltungs-, weisungsfreier Pflicht-und Fremdverwaltungsaufgaben wirksam auszurichten. Zum anderen mußten sie -zumal die Dezernenten -die Verantwortung für die ordnungsgemäße und effiziente Erledigung der täglich anfallenden konkreten Aufgaben tragen. Für die gleichzeitige Erfüllung dieser Verpflichtungen waren jedoch angesichts fehlenden Fachwissens, zu geringer Finanz-und Sachmittel (Büroausstattung) sowie des enormen Zeitdruckes, unter dem alles geschah, die Voraussetzungen nicht gerade günstig. Dieser Umstand und die gesteigerten Erwartungen der Bevölkerung, dazu die in örtlichen Presseorganen geäußerte Kritik, mußten zu Streß und Frustration, kurz, zu psychischen Spannungen bei den Amtsträgern führen.

Etwa ein Jahr nach Amtsantritt der neuen Führungskräfte trat dann eine gewisse Entspannung im Verhältnis zwischen dem Ausmaß der Aufgaben und den verfügbaren Mitteln ein. Finanzielle Mittel von Land und Bund („Fonds Deutsche Einheit“ u. a.) waren zugewiesen worden und weitere absehbar. Vor allem aber war für die Akteure die Art und Weise der staatlichen Mittelzuweisung an die Gemeinden gegenüber 1990 übersichtlicher und durchschaubarer geworden; die Kenntnis der Finanzverfassung hatte zugenommen. Durch fachliche Schulung konnte systematisiertes Wissen erworben, durch konkretes Verwaltungshandeln konnten situationsspezifische Erfahrungen gesammelt werden.

So läßt sich festhalten, daß ungeachtet der unzureichenden Mittel die organisatorische Neuordnung -die Abgrenzung von Zuständigkeiten zwischen den Ämtern, die Einführung des neuen Besoldungsrechts, vorläufige Stellenbewertungen einschließlich Einstufung der Mitarbeiter, die Verbesserung der Kommunikation zwischen den Ämtern u. a. m. -bereits im ersten Jahr der Verwaltungstätigkeit bewerkstelligt wurde. Ferner konnten die Büros sukzessive mit modernen Geräten, z. B. zur elektronischen Datenverarbeitung, und die Verwaltung insgesamt mit einem Rechenzentrum ausgestattet und die tagtäglich anfallenden Aufgaben mehr und mehr routinemäßig erledigt werden, wodurch Zeit für Reflexion und Weiterbildung gewonnen wurde. Dementsprechend hatte sich bei den Amtsinhabern die kurz nach ihrem Amtsantritt geäußerte Unzufriedenheit ein Jahr später erheblich vermindert.

Ein Grund für die Erfolge bei der Umwandlung Wittenbergs von einer staatlichen Behörde in eine moderne Stadtgemeinde lag gewiß in der dem Normalisierungsprozeß gegenüber aufgeschlossenen Gesinnung der neuen Amtsinhaber, ein zweiter wohl darin, daß der größere Teil der Amtsinhaber -Organisationsfachleute der ehemals volkseigenen Industrie -sich über die notwendige Personal-reduzierung in diesem Bereich Rechenschaft abgelegt und in der kommunalen Selbstverwaltung ein neues, aussichtsreiches Berufsfeld erkannt hatte, ein dritter darin, daß die berufliche (meist akademische) Ausbildung der Amtsträger und ihre praktischen Erfahrungen teilweise -so etwa auf dem Gebiet der Informationsverarbeitung -für die neuen Aufgaben eingesetzt werden konnten. Ein vierter Grund schließlich ist in den vielfältigen Hilfen, die die Stadt von außerhalb -sei es von ihren Partnerstädten (Göttingen, Bretten), sei es vom Deutschen Städtetag -erhalten hat, zu sehen. 2. Die politisch-administrative Elite Die derzeitige Elite Ostdeutschlands läßt sich in „importierte“ Westdeutsche und in Einheimische teilen, die vorwiegend aus der Industrie der DDR in die neuen Spitzenämter von Staat und Gemeinde übergewechselt bzw. aufgestiegen sind. Ein Blick auf Wittenberg zeigt, daß der Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung hauptsächlich von dieser einheimischen Elitegruppe geleistet worden ist bzw. wird. Zwar gab es hierzu westdeutsche Unterstützung, aber von einer west39 deutschen „Überschichtung“ zu sprechen wäre ungenau, zumindest im Falle Wittenbergs

Interessant ist für uns das genuin ostdeutsche Elitesegment. Welchen politischen Standort hat die einheimische Elite, welche Erfahrungen hat sie gemacht, was hat sie geleistet bzw. was leistet sie? Eine Antwort darauf erfordert eigentlich einen Rückblick auf die „Kaderpolitik“ der DDR insgesamt doch wollen wir uns direkt der politisch-administrativen Elite Wittenbergs zuwenden: Die meisten ihrer Mitglieder zählten zur sozialen Schicht der Intelligenz. Mit einem zumeist technischen Hoch-oder Fachhochschulstudium versehen, wurden sie in verschiedenen Bereichen der Industrie eingesetzt. Als „Funktionskader“ standen sie nach den Positionskadern und den Funktionären an der Machtspitze des Regimes gleichsam im dritten Glied der DDR-Gesellschaft. Zwar waren ihre fachlichen Kompetenzen in der Planwirtschaft gefragt, aber um in der Hierarchie weiter aufzusteigen, hätten sie zusätzliche politische Aktivitäten im Sinne der SED-Doktrin entfalten müssen. Da sie dies nicht taten, erscheint ihr nach der „Wende“ erfolgter Aufstieg vom dritten Glied in der Verwaltung von Industriebetrieben ins erste Glied der kommunalen Selbstverwaltung plausibel. Ihre hohe formale Qualifikation bei gleichzeitiger politischer Abstinenz vor der „Wende“ prädestinierte diese Gruppe für den raschen Aufstieg in Spitzenämter. Bedenkt man, daß den ostdeutschen Führungskräften nach nunmehr fünf Jahren die institutionellen und rechtlichen Mechanismen eines modernen politisch-administrativen Systems vollauf vertraut sind, dann verbieten sich Zweifel an ihrer Kompetenz. Mehr noch, die Tatsache, daß diese sich einen Vorsprung an Wissen und Erfahrungen erarbeiten konnten, indem sie Lösungen für Probleme finden mußten, die sich in manphen westdeutschen Gemeinden jetzt erst stellen, wirft ein Licht auf ihre Fähigkeiten.

3. Zwischenbilanz und Ausblick

Ein Blick auf den Stand des Wiederaufbaus der kommunalen Selbstverwaltung Ende des Jahres 1994 zeigt, daß dieser zwar noch nicht abgeschlossen ist, die Neuerer aber einigermaßen normale Verhältnisse herstellen konnten. Die Stadt steht jetzt noch vor der Aufgabe, die Verwaltung so zu ordnen, daß sie stärker der Funktion eines Dienstleistungsbetriebes gerecht wird. Man ist deshalb im Begriff, in der Innenstadt ein neues Verwaltungszentrum zu errichten und ein bürgerfreundlicheres Verwaltungsangebot zu entwickeln. Sorgen bereitet, wie bei der Förderung städtischen Lebens ein Ausgleich zwischen der schon belebten Innenstadt und den Außenbezirken geschaffen werden, ferner wie der Anspruch der Bürger auf eine angemessene Infrastruktur mit ihrer Bereitschaft, dafür auch einen Preis zu zahlen, verknüpft werden kann. Es wurden natürlich auch Fehler gemacht, so bei der Gestaltung des öffentlichen Personen-nahverkehrs oder bei der Abfallentsorgung. Vielleicht lag es auch an der zu geringen Beachtung der politischen Kräfte im Landtag, daß Wittenberg bei der Neugestaltung der Hochschullandschaft zu kurz kam und bei der Verlegung des Bundesumweltamtes leer ausging. Zwar wurde, anknüpfend an ihre Vorgängerin, die Stiftung „Leucorea“ -so der Name der ehemaligen Universität Wittenbergs -gegründet, die als Stiftung öffentlichen Rechts des Landes Sachsen-Anhalt der Martin-Luther-Universität zu Halle-Wittenberg zugeordnet wurde. Ihr Ziel besteht in der Förderung von Bildung und Wissenschaft in einer Weise, wie sie an einer Universität nicht üblich ist. So sollen in ihrem Rahmen mehrere Studiengänge, so die Medizinpädagogik, aufgebaut werden. Ein Ausgleich für die relative Benachteiligung der Stadt ist damit aber nicht erreicht worden.

Natürlich klagt Wittenberg, wie jede Gemeinde, über zu knappe Mittel. Gleichwohl hat es sich auf die verfügbaren Einnahmen eingestellt und einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Verzeichnet es ein relativ ansehnliches Gewerbesteueraufkommen (elf Millionen DM), so fallen die Zahlen im Vermögenshaushalt bescheiden aus. Die Pro-Kopf-Verschuldung liegt unter 1000 DM, alles in allem ist sie also kein drückendes Problem. Und der Wiederaufbau der lokalen Wirtschaft ist zwar noch nicht abgeschlossen, er gehört aber nicht mehr zu den vordringlichen Aufgaben der Stadt; konnte sie doch ihre Gewerbegebiete inzwischen fast vollständig verkaufen. Allerdings steht Wittenberg noch vor dem Problem, das durch Eingemeindung dreier Dörfer hinzugewonnene Gewerbegebiet für die Ansiedlung weiterer Betriebe zu erschließen. Die Eigentumsfragen bei innerstädtischen Grundstücken konnten weitgehend geklärt werden, viele Grundstücke gingen in neue Hände über.

Die neue Gemeindeordnung Sachsen-Anhalts verleiht dem (Ober-) Bürgermeister aufgrund der „Volkswahl“ eine große Autorität und Steuerungskapazität gegenüber der Gemeindevertretung und -Verwaltung. Er kann nun besonders wirkungsvoll kontrollieren und Neuerungen durchsetzen. Heftige Konflikte zwischen Gemeindeorganen oder Personen hat dies in Wittenberg noch nicht verursacht. Dagegen sieht sich der derzeitige Oberbürgermeister vor dem Problem, Zustimmung bei der Bevölkerung für wichtige Entscheidungen zu finden, weil viele Bürger ihren individuellen Interessen den Vorrang geben. Trotzdem blickt er optimistisch in die Zukunft, indem er auf die gelungene Privatisierung des Stickstoffwerkes, den Verkauf des Gewerbegebietes, die differenzierte Wirtschaftsstruktur und den Bekanntheitsgrad der Kulturstadt Wittenberg verweist.

IV. Wirtschaftlicher Wandel

1. Die Rahmenbedingungen Mit der Wirtschafts-und Währungsunion am 1. Juli 1990 änderten sich die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Wittenberger Betriebe -wie der Betriebe in der ehemaligen DDR insgesamt -radikal.

In rechtlicher Hinsicht wurden die bisherigen volkseigenen Betriebe nach der „Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften“ (Umwandlungsverordnung) vom 1. März 1990 und nach dem Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 der Treuhandanstalt als der weltweit größten Holding unterstellt. Die größten Betriebe wurden in Aktiengesellschaften, die mittleren und kleinen Betriebe in GmbHs umgewandelt. Alleinige Eigentümerin und Gesellschafterin war zunächst jeweils die Treuhandanstalt, die den Auftrag hatte, die Betriebe entweder zu privatisieren oder aber zu liquidieren; der Sanierungsauftrag wurde erst später erteilt Damit wurden auch die Wittenberger Betriebe in all ihren wirtschaftlichen Entscheidungen von der Treuhandanstalt abhängig.

In wirtschaftlicher Hinsicht gerieten die Betriebe teils mit geringer, teils ganz ohne Vorbereitung in eine Konkurrenzsituation zu denjenigen der alten Bundesländer und damit auch zu auf dem Weltmarkt operierenden Unternehmen. Viele waren dieser Situation aufgrund zu arbeitsaufwendiger Wirtschafsweisen, veralteter Produktionsverfahren und unzureichenden Managements nicht gewachsen.

Die veränderten Marktbedingungen erforderten eine grundlegende Neuorientierung auch des ökonomischen Denkens; überkommene Wertmaßstäbe mußten in den Hintergrund treten oder durch neue ersetzt werden, die Umstellung vom bisherigen Verkäufer-zum Käufermarkt verlangte neue Unternehmensstrategien, so die Bildung von Vertriebs-und Marketingabteilungen. Der zuvor vom Staat garantierte Bestand der Betriebe mußte jetzt auf dem freien Markt durch eigene Anstrengung stets von neuem erkämpft werden.

Die Währungsunion bedeutete für die ostdeutsche Wirtschaft eine extreme Aufwertung der Ost-Mark.

Dadurch verteuerten sich die Produkte für die traditionellen Kunden, die RGW-Länder - mehr noch, diese waren aufgrund ihres Devisen-mangels kaum noch in der Lage, Waren aus Ostdeutschland zu beziehen. Hinzu kam alsbald der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ auch in den „Bruderstaaten“ der DDR, was vollends zu einem Verlust dieser Länder als Absatzgebiete für ostdeutsche Güter führte.

Mit diesen veränderten Rahmenbedingungen mußten auch die Betriebe der Lutherstadt Wittenberg fertig werden. Die wichtigsten waren Industrie-, speziell Chemiebetriebe, war doch jeder zweite Industriebeschäftigte der Region in der Chemie tätig. Die zweitwichtigste Branche nach Beschäftigung und Umsatz war der Maschinen-und Anlagenbau, es folgte die Mühlen-, Nahrungsmittel- und Backwarenindustrie. Betrachtet man die Verteilung der Erwerbstätigen in der Wirt-schäft insgesamt, dann waren vor der Wirtschaftsund Währungsunion rund 55 Prozent im produzierenden Gewerbe, 35 Prozent im Dienstleistungsbereich und 10 Prozent in der Landwirtschaft beschäftigt. Fragen wir nun, wie die Unternehmen -zuerst die landwirtschaftlichen -auf diese veränderten Rahmenbedingungen reagiert haben und wie sich die Wirtschaftsstruktur bis Ende 1994 verändert hat. 2. Die Landwirtschaft Im Bereich der Landwirtschaft -in der Region Wittenberg ist auf fruchtbaren Böden besonders der Gemüseanbau vertreten -haben sich die großen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) zu mittelständischen Unternehmen in den Rechtsformen einer Genossenschaft oder GmbH gewandelt. Eigentümer bzw. Gesellschafter wurden dabei in der Regel die ehemaligen Landwirte. Die Reprivatisierung konnte rasch, nämlich bis Ende 1991, erfolgen, da die früheren Eigentümer während der Kollektivierungsprozesse in der DDR zwar zu LPGs zusammengefaßt, nicht aber grundbuchmäßig enteignet worden waren. Die Landwirte erkannten schnell, daß sie auf dem europäischen Markt nur dann eine Überlebenschance haben würden, wenn sie als mittelständische Unternehmen auftreten, die mechanisiert und automatisiert im industriellen Stil produzieren. Deshalb kam eine Rückkehr zum bäuerlichen Familienbetrieb für die meisten Landwirte nicht in Frage. Die Unternehmen richteten darüber hinaus neue Verarbeitungsstrecken ein, um neben den landwirtschaftlichen Rohprodukten auch halb-und ganzveredelte Produkte auf den Markt bringen zu können. Die Umstellung auf moderne Produktionstechnologien begann bereits 1992. Die Investitionen wurden teils aus eigenen Rücklagen, teils über Kredite finanziert, die durch Grundbucheintragungen abgesichert werden konnten. Das Personal mußte bis 1992 bereits um die Hälfte reduziert werden; gegenwärtig sind nur noch rund drei Prozent der Wittenberger Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. Durch weitere umfangreiche Investitionen in Maschinen und Gebäude sind im Wittenberger Raum bis Ende 1994 somit leistungsfähige mittelständische landwirtschaftliche Betriebe entstanden, die auf industrielle Weise produzieren und damit im europäischen Rahmen konkurrenzfähig erscheinen. Wenngleich die Gewinne in den letzten zwei Jahren aufgrund der Preispolitik der EU ähnlich wie in anderen Ländern rückläufig waren, reichen sie offensichtlich aus, um die Unternehmen zu erhalten und die Investitionskredite zu bedienen. 3. Die Industrie Ganz anders verlief die Entwicklung im Bereich der Industrie, vornehmlich der chemischen Industrie, deren Betriebe nach 1945 enteignet und in Staats-bzw. Volkseigentum überführt worden waren. Damit war aufgrund der Vereinbarung zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen, die Rückübertragungen aus der ersten Enteignungswelle zwischen 1945 und 1949 ausschloß eine direkte Reprivatisierung der Betriebe nicht mehr möglich und eine neue Privatisierung durch die Treuhand, falls sie überhaupt noch machbar erschien, aus mehreren Gründen äußerst schwierig.

Die großen Kombinate mußten nach der Wirtschafts-und Währungsunion auf ihre wirtschaftlichen Grundfunktionen und auf einen den westlichen Betrieben entsprechenden Personalbestand reduziert werden. Diese Maßnahmen setzten zunächst bei den Einrichtungen an, die die Betriebe im Rahmen ihrer sozialpolitischen Aufgaben in der DDR mit zu unterhalten hatten: Kinderhorte, Kindergärten, Polikliniken, Ferienanlagen, Kultur-häuser usw. Sie wurden in der Regel mitsamt ihrem Personal ausgegliedert und zumeist der Kommune als Träger angeboten. Auch die peripheren Dienstleistungsbereiche der Betriebe, von den Maurerbrigaden bis hin zu den eigenen Wäschereien, wurden ausgegliedert und zum Teil als neue selbständige Handwerksbetriebe auf dem früheren Betriebsgelände angesiedelt. Ferner wurden diejenigen Beschäftigten aus dem Bereich der Verwaltung freigesetzt, die mit Versicherungs-und Versorgungsaufgaben betraut waren; sie kamen überwiegend in den neu auf den Markt drängenden privaten und öffentlichen Versicherungsund Versorgungsunternehmen unter. Schließlich mußte -um auf westliches Produktionsniveau zu kommen -die Zahl der in der eigentlichen Produktion tätigen Arbeiter verringert werden. Auf die geschilderte Weise wurde z. B. im größten Chemiebetrieb Wittenbergs -den „Stickstoffwerken“ -die Belegschaft von 8700 zur Zeit der Wirtschafts-und Währungsunion schrittweise auf etwa 2800 Mitte März 1992 reduziert. Ende 1994 waren im eigentlichen, jetzt privatisierten Kernbetrieb nur noch 800 Personen beschäftigt. Ein ähnlicher Abbau fand in den meisten anderen Betrieben statt. Insgesamt haben seit der Wirtschafts-und Währungsunion die großen Industriebetriebe Wittenbergs etwa drei Viertel bis vier Fünftel ihrer Belegschaft abgebaut, d. h. ausgegliedert, in den Vor-ruhe-bzw. Ruhestand versetzt, in andere Betriebe bzw. in die Umschulung oder Weiterbildung geschickt oder in die Arbeitslosigkeit entlassen.

Ein großes Hemmnis für die betriebliche Entwicklung stellte ihre rechtliche Einbindung in die Treuhandanstalt als Eigentümerin dar, mit der alle wichtigen Entscheidungen, besonders auch bezüglich der Investitionen und ihrer Finanzierung, abzustimmen waren. Erlöse mußten abgeführt, Mittel für Investitionen und zur Erhaltung der laufenden Liquidität jeweils beantragt, Kredite über Bürgschaften abgesichert werden, was anfangs über die Treuhand gar nicht möglich war, später aber über spezielle Bürgschaftsbanken erreicht wurde. Die Vorstände und Geschäftsführer der Treuhandbetriebe taten zwar so, als würden sie ihre Betriebe selbständig führen, waren aber faktisch von der Treuhand in ähnlichem Maße abhängig wie vordem von der Staatlichen Plankommission der DDR und deren Vorgaben. Solange die Betriebsleitungen nicht die Folgen ihrer Entscheidungen zu tragen hatten, konnten sich auch in ihren Reihen keine selbständigen Unternehmer entwickeln Je länger dieser Zustand andauerte, desto schwieriger wurde die Situation im Bereich von Produktion und Absatz.

Die meisten Betriebe konnten nicht in ihrer Gesamtheit privatisiert, sondern mußten zerlegt und verschiedenen Interessenten angeboten werden, die dann auch nur zum Teil die ursprüngliche Produktpalette übernahmen. Solange man aber nicht wußte, wer einen Betrieb übernehmen würde und welche Interessen er damit verfolgte, dienten Investitionen nur der Bestandserhaltung bzw. einer vorsichtigen Sanierung.

Im März 1992 waren von den insgesamt noch existierenden 44 Industriebetrieben Wittenbergs erst einige Betriebe privatisiert oder reprivatisiert, davon keiner der großen Chemiebetriebe; vier mittelgroße Betriebe waren bereits liquidiert worden. Bis Ende 1994 sind jedoch sämtliche Treuhandbetriebe nach ihrer Sanierung entweder privatisiert oder aber, sofern eine Privatisierung nicht möglich war, liquidiert worden. Die heute existierenden 32 Industriebetriebe erscheinen durchweg über-lebensfähig; sie produzieren zwar auf einem quantitativ erheblich niedrigeren Niveau und mit viel weniger Personal als vor der „Wende“, dafür hat sich aber ihre Produktivität erhöht. In den „Stickstoffwerken“ wird nun hauptsächlich Harnstoff produziert, und zwar an der oberen Kapazitätsgrenze. Auf dem Gelände dieses ehemaligen Chemiegiganten haben sich neue Firmen niedergelassen, die weiterhin chemische Spezialprodukte herstellen oder mit ihnen handeln. Das „Gummiwerk“, welches als Gummiwerke „Elbe“, AG. 1950 in DDR-Volkseigentum überging und der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt war, wurde auf mehrere Investoren aufgeteilt, die das Betriebsgelände und zum Teil auch die alten Produktionsanlagen nutzen. Bestehen blieben die Produktionsbetriebe für Maschinen, Mühlen, Krane, Transportmechanik und Spezialbehälter. Auch im Stahl-und Rohrleitungsbau, Metall-, Elektro-und Anlagenbau geht es mit neuen Firmen weiter. In den Betrieben der traditionellen Lebensmittelindustrie werden nunmehr Backwaren, Fleisch und Wurst produziert; die Margarinefabrik in Pratau bei Wittenberg konnte sogar ihre Produktionskapazität verdoppeln. Ein neues Werk für innovative Verpackungssysteme hat in einem gerade ausgewiesenen Gewerbegebiet die Produktion aufgenommen. Weitere Betriebe werden in diesem Gebiet, das bis Ende August 1994 bereits zu mehr als drei Viertel verkauft worden war, angesiedelt. Durch die Eingemeindung von drei Umlandgemeinden stehen der Stadt, wie erwähnt, weitere umfangreiche Gewerbegebiete zur Verfügung, die nach und nach erschlossen und potentiellen Investoren angeboten werden sollen.

Wittenbergs Industrie, und hier speziell die chemische Industrie, hat in den letzten vier Jahren damit zwar ihre beherrschende Stellung eingebüßt, sie bleibt aber ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor und ist nach den schweren Produktionseinbrüchen zwischen 1990 und 1992 seit 1993 durchweg wieder auf Wachstumskurs. 4. Das Handwerk Im Bereich des Handwerks hatte die restriktive Politik der DDR bis 1990 zu einer deutlichen Verringerung der selbständigen Handwerksbetriebe geführt. Statt dessen waren die Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGHs) gefördert worden; am Ende waren nur noch zwei Prozent aller Beschäftigten der DDR in selbständigen Handwerksbetrieben tätig. Mit der Wirtschafts-und Währungsunion erstarkte das Handwerk wieder. Die in den PGHs organisierten Handwerker, deren Betriebe man -ähnlich wie die der Bauern -seinerzeit zwar nicht enteignet, aber zu „sozialistischen Genossenschaften“ zusammengeschlossen hatte, machten sich erneut selbständig. Zu diesen traditionellen Handwerksbetrieben kamen die aus den großen Kombinaten ausgegliederten Betriebe hinzu, deren Handwerker sich in Form von GmbHs auf den Werksgeländen der ehemaligen Kombinate neu ansiedelten.

Mit der Wirtschafts-und Währungsunion verlor das Handwerk in Wittenberg wie überall in der (damals noch existierenden) DDR bzw. nach dem 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern den größten Teil seiner bisherigen Aufträge zur handwerklichen Fertigung und Reparatur. Deshalb verlegte es sich auf den Handel mit hochwertigen Gütern aus industrieller Produktion. Die Umsätze, die in Fertigung und Reparatur verlorengegangen waren, wurden durch den Handel zumeist über-kompensiert; letzteres galt z. B. für das Kfz-Handwerk, die Rundfunk-und Fernsehtechnik und das Bekleidungshandwerk. Im Bauhauptgewerbe und in den Baunebengewerben stagnierte die Nachfrage 1991 noch, weil größere öffentliche Aufträge fehlten und Aufträge von Privaten entweder aufgrund ungeklärter Eigentumsverhältnisse, zu hoher Preise oder drohender Arbeitslosigkeit noch kaum vergeben wurden. Bis März 1992 verbesserte sich die Situation im Handwerk insgesamt zwar nur langsam, danach jedoch schnell. Inzwischen erlebt das Handwerk insgesamt und besonders das Bau-und Ausbauhandwerk aufgrund des vor allem aus öffentlichen, aber auch privaten Aufträgen resultierenden Baubooms einen nachhaltigen Aufschwung. Die noch 1992 stagnierende Zahl der Beschäftigten hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht; inzwischen sind in Wittenberg fast zehn Prozent aller Beschäftigten im Handwerk tätig. Damit sind Verhältnisse erreicht, wie wir sie auch in den alten Ländern vorfinden. 5. Der Dienstleistungsbereich Im Bereich der Dienstleistungen, wie Handel und Verkehr, private Versicherungen und Banken, ist die Anpassung an die neuen Marktverhältnisse in Wittenberg relativ rasch gelungen. Die (schon im März 1992) positive Bilanz stellt sich folgendermaßen dar:

-Die Betriebe sind entweder privatisiert oder als Privatbetriebe (Versicherungen, Banken) aus Westdeutschland zugezogen. -Der Lebensmitteleinzelhandel wird nach dem Verkauf der Geschäfte von „HO“ und „Konsum“ -den beiden entscheidenden Organisationsformen des Einzelhandels der DDR -von wenigen großen westdeutschen Ketten und Supermärkten beherrscht. Da sie zumeist „auf der grünen Wiese“ angesiedelt worden sind, drohen sie dem Lebensmitteleinzelhandel in der Innenstadt die Existenzgrundlage zu entziehen.

Im übrigen Einzelhandel, insbesondere im Textilbereich, schießen dagegen die Boutiquen und Fachgeschäfte im Stadtzentrum wie Pilze aus dem Boden.

-Die traditionellen Gaststätten werden renoviert, neue Gaststätten mit modernster Inneneinrichtung eröffnet; die Hotelkapazität wird langsam erweitert, um die erwartete Nachfrage im Tourismusbereich decken zu können. -Versicherungen und Banken sind flächendekkend vertreten und haben einen großen Teil des aus den großen Industriebetrieben entlassenen Verwaltungspersonals absorbiert. Die Führungskräfte stammen jedoch durchweg aus dem Westen. Das Geschäft geht gut bis sehr gut.

-Das Güternah-und Fernverkehrsgewerbe boomt; erste Ansätze einer Übersättigung sind zu erkennen.

-Die öffentlichen Dienstleistungsaufgaben haben insgesamt stark zugenommen; Wittenberg beherbergte 1992 bereits zehn verschiedene kommunale und staatliche Verwaltungs-und Dienstleistungseinrichtungen, von denen die Stadtverwaltung, die Kreisverwaltung, das Arbeitsamt und das Finanzamt den stärksten personellen Ausbau erfahren haben; in der öffentlichen Verwaltung sind überwiegend Frauen aus den Verwaltungen der Industriebetriebe untergekommen.

Auch nach 1992 hat der Dienstleistungsbereich weiterhin stark expandiert: Handelsunternehmen aller Handelsstufen, Dienstleistungsbetriebe für Gewerbe und Private haben sich in „symbiotischer Nachbarschaft“ etabliert -neue Geschäftszentren sind entstanden. Die Zahl der gastronomischen Betriebe hat sich erheblich erhöht; inzwischen sind auch hier Sättigungsgrenzen zu erkennen. Das gilt auch für den Neubau moderner Hotels aller Kategorien, die allerdings noch darauf warten, daß ihre Kapazitäten durch Tagungen und Tourismus auch ausgelastet werden. Ende 1994 dürften bereits rund 55 Prozent aller Beschäftigten Wittenbergs im Dienstleistungsbereich tätig gewesen sein; damit sind auch hier westdeutsche Verhältnisse hinsichtlich der Beschäftigung erreicht.

Betrachtet man die Veränderungen im Beschäftigungssystem insgesamt, dann hat sich der Schwerpunkt der Beschäftigung schon in den Jahren von 1990 bis 1992 vom primären und sekundär-industriellen Sektor hin zum tertiären Sektor der sachlichen und personellen Dienstleistungen verschoB ben; damit wurde in Wittenberg die bis dahin immer wieder beklagte Lücke im Dienstleistungsbereich innerhalb von nur zwei Jahren geschlossen. Zugleich ist aber in diesem Zeitraum die Gesamtzahl der Erwerbstätigen bereits um schätzungsweise 20 Prozent zurückgegangen; diese sind entweder in den Ruhestand gegangen, in die „stille Reserve“ versetzt worden oder in den Westen abgewandert

6. Der Arbeitsmarkt Sorge bereitete und bereitet (auch) in Wittenberg der Arbeitsmarkt. Während im Februar 1992 in der Lutherstadt „nur“ 14 Prozent aller Erwerbs-personen arbeitslos waren (in den neuen Bundesländern insgesamt 16 Prozent), stieg nach dem Auslaufen der Arbeitsbeschaffungs-(ABM) und Umschulungsmaßnahmen sowie den Entlassungen der bisher in Treuhandbetrieben noch von Kurz-arbeit Aufgefangenen die Arbeitslosigkeit bis Anfang 1994 auf über 20 Prozent. Zwar sank die Arbeitslosenquote im Jahr 1994 von 20, 3 Prozent im Januar auf 15, 5 Prozent im Oktober. Da gleichzeitig aber die Zahl der Teilnehmer an beruflichen Weiterbildungs-und AB-Maßnahmen im Laufe des Jahres anstieg, kann von einer Entlastung des Arbeitsmarktes nur insofern die Rede sein, als nunmehr für diejenigen, die sich in Weiterbildungsmaßnahmen und in ABM befinden, eine größere Chance besteht, zukünftig wieder integriert zu werden. Ein weiterer Indikator für eine leichte Entspannung am Arbeitsmarkt ist die Verdoppelung der Zahl der neu gemeldeten offenen Stellen im Laufe des Jahres, allerdings nur von 365 im Januar auf 808 im Oktober 1994. Wie in den meisten Regionen der anderen Bundesländer Ostdeutschlands, ist auch in Wittenberg die Arbeitslosenquote der Frauen mehr als doppelt so hoch wie die der Männer (Oktober 1994: Männer 9, 3 Prozent, Frauen 22, 2 Prozent).

Unter den Arbeitslosen wird bereits seit langem eine Zunahme der Zahl der Langzeitarbeitslosen beobachtet, die sich vornehmlich aus un-bzw. angelernten Arbeitern zusammensetzen und für die eine Wiedereingliederung ins Beschäftigungssystem ebenso schwierig werden wird, wie sie es für diese Gruppe in den alten Bundesländern ist.

Sorge bereitet darüber hinaus die Abwanderung der jungen und qualifizierten Fachkräfte in die alten Bundesländer. Bis Mitte 1992 hatten fast zehn Prozent der ehemals in der DDR Beschäftigten, also etwa 800 000 Personen, dort eine Beschäftigung gefunden. Für die Lutherstadt Wittenberg dürfte der Anteil aufgrund der geographischen Mittellage, wodurch das Pendeln zwischen westdeutschem Arbeits-und ostdeutschem Wohnort erleichtert wird, etwas niedriger liegen. Zurück bleiben die älteren und weniger qualifizierten Arbeitnehmer. Mit der Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage im Jahr 1994 wird nach Einschätzung von Experten aber auch in Wittenberg die Zahl der Abwanderungen zurückgehen, während die Zuwanderung aus Westdeutschland steigt. Gleichwohl dürfte auch für Wittenberg der Wanderungssaldo in den nächsten Jahren noch negativ sein

V. Fazit

In der Lutherstadt Wittenberg haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse normalisiert. Die Wirtschaft befindet sich, wie in den neuen Bundesländern insgesamt, auf Wachstumskurs Die Produktivität ist hoch und entspricht weitgehend derjenigen im Westen: Wer Arbeit hat, der hat meist davon sehr viel. Aufgrund der neuen und gegenüber Westdeutschland schärferen Konkurrenzverhältnisse und ihres im Vergleich mit westdeutschen Beschäftigten niedrigeren Lebensstandards sind ostdeutsche Beschäftigte typischerweise leistungsmotiviert und effizient und übertreffen darin in vielen Bereichen ihresgleichen im Westen. Die Erwerbstätigen erleben, daß sich Leistung in Einkommen, Vermögen und Ansehen auszahlt. Denjenigen, die am Aufschwung teilhaben, und diese Gruppe dürfte nach unseren Ergebnissen insgesamt etwa 80 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger umfassen, geht es gut und wird es künftig noch besser gehen.

Dementsprechend erkennen wir nach unseren Umfragen und anhand der amtlichen Statistiken, daß etwa 20 Prozent der Bevölkerung Wittenbergs vom Aufschwung nicht in gleichem Maße profitieren, vielmehr von ihm ausgeschlossen sind und deshalb eher zu den Verlierern des wirtschaftlichen Transformationsprozesses zählen. Hierzu gehören die Arbeitslosen, speziell die Langzeitarbeitslosen, und die älteren, in den (Vor-) Ruhestand versetzten Arbeitnehmer mit geringen Rentenansprüchen. Hierzu zählt aber auch ein Großteil der ehemals berufstätigen Frauen; insbesondere alleinerziehende Mütter mit kleinen Kindern sind betroffen. Nicht nur aufgrund heute fehlender Einrichtungen zur Kinderbetreuung haben sie vorerst nur geringe Chancen, wieder in ihren Beruf zu gelangen. Hinzu kommen seit 1990 auch in Ostdeutschland die neuen, überwiegend auf Sozialhilfe angewiesenen Gruppen, z. B. Strafentlassene, Alkoholiker, Drogenabhängige und Obdachlose.

Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Entwicklung nach der „Wende“ sind eine zunehmende soziale Differenzierung und die Gefahr einer Polarisierung zwischen denen, die am Aufschwung teilhaben, und denjenigen, die davon ausgeschlossen sind. Diese Tendenz stellt in einem höheren Maße als im Westen Deutschlands eine Herausforderung für die Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik dar.

Der Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung nähert sich dem, was im deutschen Gemeindewesen als „normal“ gilt. Mit anderen Worten, die Gemeinde Wittenberg wird bald genauso „funktionieren“ wie eine vergleichbare westdeutsche Gemeinde. Die politisch-administrative Elite Wittenbergs kann inzwischen sogar in bestimmten Bereichen einen Vorsprung an organisatorischen Fähigkeiten gegenüber westdeutschen Kollegen vorweisen, die mit vergleichbaren Problemen bislang nicht konfrontiert waren. Unter Einsatz ihrer vor der „Wende“ erworbenen Kenntnisse und Berufserfahrungen mußten sie in der äußerst schwierigen Aufbausituation Lösungen für Aufgaben finden, die vielerorts in westdeutschen Kommunen erst jetzt deutlich erkannt werden, wie z. B.der Aufbau einer effizienten und bürgernahen Verwaltung, der sparsame Umgang mit den sehr knapp gewordenen Finanzmitteln, eine systematische Wirtschaftsförderung und innovative Beschäftigungspolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag basiert auf einer empirischen Längsschnittstutlie, die zwischen September 1990 und März 1992 in Wittenberg durchgeführt wurde, sowie auf Expertengesprächen in Wittenberg Ende 1994. Vgl. Elmar Lange/Peter Schöber, Sozialer Wandel in den neuen Bundesländern. Beispiel: Lutherstadt Wittenberg, Opladen 1993.

  2. Zum modernisierungstheoretischen Ansatz vgl. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, München 1972, sowie Wolfgang Zapf, Modernisierung und Modernisierungstheorien, in: ders. (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen. Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt am Main 1991, S. 23-39; ders., Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung, MPIFG Discussion Paper 92/4, Köln 1992.

  3. Karl v. Hegel, Die Entstehung des deutschen Städtewesens, Aalen 1964, S. 37.

  4. Vgl. Karlheinz Blaschke, Wittenberg -die Lutherstadt, Berlin 1977, S. 12-14.

  5. Auch vor der Reformationsstadt machte der (Un-) Geist der Zeit nicht Halt. So hatte es bereits zu Beginn der Weimarer Republik Zeichen eines offenen Antisemitismus gegeben. Und auf der ersten „Deutschen Nationalsynode" der evangelischen Kirche in Wittenberg 1933 wurde der preußische Landesbischof Ludwig Müller („Reichsleiter der deutschen Christen“) als „Reichsbischof“ inthronisiert.

  6. Vgl. 'Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen-Zürich 19552, S. 55ff.

  7. Das Stickstoffwerk -der VEB Piesteritz -hatte im Jahre 1990 (zum Zeitpunkt der Wirtschafts-und Währungsunion) 8700 Beschäftigte; 3500 Beschäftigte waren es 1933/34 und 2000 in den Jahren 1926/27.

  8. Stellvertretend seien hier die auch außerhalb Wittenbergs bekannten Pfarrer Friedrich Schorlemmer und Gottfried Keller genannt.

  9. So diente der Wittenberger Superintendent Albrecht Steinwachs als Moderator am „Runden Tisch“.

  10. Vgl. Rainer Geißler, Die ostdeutsche Sozialstruktur unter Modernisierungsdruck, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/92, S. 15-28.

  11. Die Kaderpolitik der DDR stand in scharfem Gegensatz zum okzidentalen Bürokratie-Idealtypus, den Max Weber wie kein zweiter in seiner Anatomie bloßgelegt hat. Als Pendant zur okzidentalen Fachverwaltung bildete sich im „realen Sozialismus“ die Kaderverwaltung heraus. Unter der Führung der SED leiteten sogenannte Kader sämtliche Verbände des Systems. Unter , Kader'verstehen wir, Otto Stammer folgend, solche Personen, „denen bestimmte niedere oder höhere Funktionen im tiefgestaffelten Führungs-und Lenkungsapparat des Herrschaftssystems ... und des Mechanismus der Planwirtschaft übertragen werden...“ (Zitiert in: Peter C. Ludz, Parteielite im Wandel, Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung, Köln 19682, S. 124-125.) Die Partei bediente sich der Kaderorganisation, um ihre Herrschaft zu sichern. Ihre Personalpolitik zielte darauf ab, die technische Sachdimension (Planwirtschaft, Wissenschaft etc.) sowie Humanisierungsfunktionen (Ideologie, Erziehung, Recht, Kultur usw.) der Machtanwendung strikt unterzuordnen. Vgl. Bahnt Balla, Kaderverwaltung, Versuch einer Idealtypisierung der „Bürokratie“ sowjetischvolksdemokratischen Typs, Stuttgart 1972.

  12. Die Informationen hierzu entstammen einem „Experteninterview“, das die Verfasser mit dem Oberbürgermeister Wittenbergs, Eckhardt Naumann, am 24. 11. 1994 geführt haben. >

  13. Zur institutionellen Entwicklung der Treuhandanstalt vgl. Wolfgang Seibel, Das zentralistische Erbe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43-44/94, S. 3-13; vgl. auch die weiteren Beiträge zur Treuhandanstalt in diesem Themenschwerpunktheft.

  14. Vgl. Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990.

  15. Vgl. hierzu die relativ günstige Situation der Verwaltungsleiter im politisch-administrativen System.

  16. In den neuen Bundesländern findet sich in den ersten zwei Jahren nach der Wirtschafts-und Währungsunion insgesamt ein Beschäftigtenrückgang von 1, 6 Millionen; das entspricht bei früher 8, 6 Millionen Beschäftigten ebenfalls einem Rückgang von etwa 20 Prozent.

  17. Zu den Wanderungen vgl. auch Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1994; Klaus Freitag u. a., Regionale Bevölkerungsentwicklung in den neuen Bundesländern, Graue Reihe der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) 94-5, Berlin 1994; Winfried Hansch, Wanderungen aus den alten Bundesländern in die Region Berlin/Brandenburg, in: Deutschland Archiv, (1993) 3, S. 286-296; Siegfried Grundmann, Studie: Migrationsbereitschaft und Wohnortbindung der Bevölkerung von ausgewählten Regionen des Landes Sachsen-Anhalt im November 1992, Berlin 1994.

  18. So wuchs die Wirtschaft in den neuen Bundesländern 1994 real um 8, 5 Prozent, davon die Industrieproduktion allein zwischen September/Oktober 1993 und September/Oktober 1994 um 16, 8 Prozent; bei den Investitionsgütern belief sich die Steigerung im gleichen Zeitraum auf 28 Prozent, vgl. dpa vom 2. 1. 1994; für 1995 wird von den Konjunkturforschungsinstituten für die neuen Länder ein reales Wachstum des BIP von durchschnittlich 9 Prozent erwartet. Vgl. „Die Zeit“ vom 30. Dezember 1994, S. 15.

Weitere Inhalte

Elmar Lange, Dr. soz., geb. 1943; Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Psychologie in Münster und Wien; seit 1980 Professor für Soziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Marktwirtschaft, Opladen 1989; Gegenwartsgesellschaften: Die Wirtschafts-und Sozialstruktur der Bundesrepublik, Stuttgart 1990; Jugendkonsum, Opladen 1992; (zus. mit Peter Schöber) Sozialer Wandel in den neuen Bundesländern. Beispiel: Lutherstadt Wittenberg, Opladen 1993; (Hrsg.) Der Wandel der Wirtschaft, Berlin 1994. Peter Schöber, Dipl. -Volksw., Dr. rer. pol., geb. 1936; Professor für Soziologie, insbesondere politische Ökonomie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Die Wirtschaftsmentalität der westdeutschen Handwerker, Köln-Opladen 1968; (zus. mit Johann-Christof Küchemann) Soziale Kreativität und soziale Entwicklung in der Dritten Welt. Das Beispiel Peru, Frankfurt am Main-New York 1980; Kommunale Selbstverwaltung. Die Idee der modernen Gemeinde, Stuttgart-Berlin 1991; (zus. mit Elmar Lange) Sozialer Wandel in den neuen Bundesländern. Beispiel: Lutherstadt Wittenberg, Opladen 1993. Steffen Roski, Dipl. -Soz., geb. 1965; wiss. Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.