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Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß | APuZ 27/1995 | bpb.de

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APuZ 27/1995 Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß Bericht zur (mentalen) Lage der Nation. Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken Zukunftsvorstellungen der Menschen als Erklärungsvariable für die Krise in der DDR und die gegenwärtige Situation in Ostdeutschland

Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß

Lothar Fritze

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Untersucht werden Haltungen der Bürger der vereinigten Bundesrepublik Deutschland zu den Problemen des Vereinigungsprozesses sowie daraus resultierende Fehlbeurteilungen und Ost-West-Mißverständnisse. Um Irritationen abzubauen, wird Westdeutschen geraten, die ambivalente Einstellung vieler Ostdeutscher zur früheren DDR zu bedenken. Dazu ist es notwendig, die Identifikationsmöglichkeiten zu analysieren, die selbst autoritäre oder totalitäre Systeme ihren Bürgern bieten können. Ostdeutschen, die nach wie vor starke emotionale Bindungen zu bestimmten DDR-Realitäten aufrechterhalten oder bestimmten Problemlösungen nachtrauern, wird empfohlen, entweder den Preis zu bedenken, mit dem bestimmte Vorzüge erkauft wurden, oder aber ihre Unvereinbarkeit mit der Wirtschafts-und Sozialordnung.der Bundesrepublik zu erkennen. Gleichwohl sollte man sich auf westlicher Seite um differenziertere Stellungnahmen zur DDR-Realität bemühen.

I. Lebensstandard ging eine große Anziehungskraft aus.

Wir sollten uns keiner Illusion hingeben: Hätte es die Partei-und Staatsführung der DDR geschafft, einen ähnlich hohen Lebensstandard (einschließlich Reisefreiheit) wie in der Bundesrepublik zu garantieren, wäre es dem normalen DDR-Staatsbürger, der politische, intellektuelle oder künstlerische Interessen nur in einem durchschnittlichen Maße verfolgt hat, wesentlich leichter gefallen, sich mit den diktatorischen Verhältnissen und deren freiheitsbeschneidendem Charakter abzufinden. (Dies gilt meines Erachtens auch unter der Annahme, daß ein höheres Konsumniveau nicht-materielle Bedürfnisse in den Vordergrund treten läßt. Eine andere, hier nicht zu erörternde Frage ist, inwieweit es unter Bedingungen weitgehender Konsumzufriedenheit überhaupt diktatorischer Verhältnisse bedurft hätte, um das Projekt „Sozialismus“ fortsetzen zu können.) Jedenfalls: Ohne das Ost-West-Gefälle im Lebensstandard hätte es weder eine derartige Massenflucht gegeben, noch hätten sich genügend Menschen für den Sturz der SED-Dikatur mobilisieren lassen. Selbst die Entscheidung für den Beitritt erfolgte maßgeblich aus ökonomischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Der Wille zur Demokratie jedenfalls kann kaum als ausschlaggebend betrachtet werden, denn schließlich war die DDR spätestens unter der Regierung von Lothar de Maiziere auf dem Wege, ein demokratischer Staat zu werden. Daraus folgt, daß der Wille zur Demokratie als Motiv für den Beitritt kaum entscheidend gewesen sein kann.

Dies wird nicht angemerkt, um die DDR-Bevölkerung zu diskreditieren (ich halte diese Einstellung eher für normal, wenn auch nicht für wünschenswert), sondern weil es etwas über die -allzugern verkannte -Erwartungshaltung aussagt, mit der die meisten DDR-Bürger in den deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß eingetreten sind.

II.

Diese Erwartungshaltung -durch uneinlösbare Versprechungen zur Bundestagswahl 1990 zusätzlich genährt -ist für einige der bestehenden Irritationen maßgeblich verantwortlich. Viele Ostdeutsche, vor allem natürlich diejenigen, die sich zu den Verlierern der deutschen Wiedervereinigung rechnen, glauben, daß Westdeutschland bzw. die Bundesregierung noch mehr tun müßten, als bisher getan wird, um die sozialen Folgen des Vereinigungsprozesses abzufedem und den wirtschaftlichen Aufschwung anzukurbeln. Viele scheinen darüber hinaus zu meinen, Ostdeutsche besäßen, nachdem sie gleichsam stellvertretend für alle Deutschen über vierzig Jahre lang eine gemeinsame Kriegsschuld „auszubaden“ gehabt hätten, eine Art moralischen Anspruch auf gleiche Lebensverhältnisse wie im Westen.

Ganz anders ist wohl die Stimmung in Westdeutschland. Unter der westdeutschen Bevölkerung, die Milliarden von Transferleistungen aufbringt, wird dieses Anspruchsdenken mit Argwohn betrachtet. Der Ostdeutsche gilt als undankbar und wohl auch als unverschämt. Man verweist auf die schwierigen Anfangsjahre der Bundesrepublik und darauf, daß der Wohlstand hart erarbeitet werden mußte.

Ein gegenseitiges Mißverstehen dieser Art führt zu Animositäten und vertieft letztlich die mentale Teilung. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang, daß die verschiedenen Prozesse der Übertragung des „Modells Bundesrepublik“ -so auch die Privatisierungspraktiken der Treuhandanstalt -für einen Außenstehenden teilweise undurchschaubar waren. Unter den Ostdeutschen regte sich der Verdacht, nicht immer sei hier alles mit rechten Dingen zugegangen. Kaum bestreitbar dürfte sein, daß mit der Niedrigpreisprivatisierung der Treuhand-anstalt (die Preise sinken, wird eine gesamte Volkswirtschaft zum Verkauf angeboten) ein Vermögenstransfer von Ost nach West stattgefunden hat. Gleichzeitig war etwa mit der Übernahme der westdeutschen Verwaltungsstrukturen und der westdeutschen Rechtsprechung ein Transfer von Beamten, Verwaltungsexperten, Richtern, Staats-anwälten usw. von West nach Ost verbunden. Dies war unvermeidlich, wird aber im Osten wiederum als eine Art Fremdbestimmung empfunden.

III.

Das DDR-Volk hat in einer friedlichen Revolution das SED-Regime abgeschüttelt und sich von der Diktatur befreit. Viele Westdeutsche scheinen daraus den Schluß zu ziehen, der frühere DDR-Bürger müßte alles, was an die DDR erinnert, geradezu mit Abscheu betrachten, er müßte sämtliche Insitutionen, jegliche institutionalisierten Formenvon Problemlösungen und dergleichen in Bausch und Bogen ablehnen. Bleiben nun auf seiten des früheren DDR-Bürgers entsprechende Verdammungsurteile aus, so können sich Westdeutsche irritiert fühlen. Der Weigerung, allzu pauschale Abwertungsurteile zu fällen, wird häufig entweder mit Unverständnis begegnet, oder man mutmaßt, es handele sich bei dem Betreffenden um einen Parteigänger des früheren Regimes.

Wer so denkt, unterliegt jedoch einem Fehlschluß. Die Ablehnung des Sozialismus diktatorischen schließt keineswegs aus, daß sozialistische Ideen, insbesondere sozialistische Wertvorstellungen, verinnerlicht wurden. Dies trifft für einen Großteil der früheren DDR-Bevölkerung zu. In einer „Spiegel“ -Umfrage vom August 1994 hielten 71 Prozent der Ostdeutschen die Idee des Sozialismus für gut, meinten jedoch, die Politiker seien unfähig gewesen, sie zu verwirklichen Hier gilt es folgendes im Auge zu behalten: Es ist widerspruchsfrei möglich, auf dem Wege einer Bilanzentscheidung ein System als Ganzes abzulehnen, gleichwohl aber bestimmte Regelungen oder Problemlösungsansätze für bewahrenswert zu halten.

IV.

Es ist ein Mißverständnis zu glauben, in autoritären oder totalitären Systemen herrschten grundsätzlich unerträgliche Lebensbedingungen. Viele Westdeutsche scheinen sich nicht vorstellen zu können, daß man es auch in einem solchen Gesellschaftssystem mehr oder weniger freiwillig aushalten und auch unter solchen Bedingungen ein mehr oder weniger normales bürgerliches Leben führen kann. Tatsächlich halten solche Systeme für ihre Bevölkerung nicht nur Repression bereit, sondern können ihr auch Identifikationsmöglichkeiten bieten. Die Identifikation der Bevölkerung mit einem sozialen System hängt davon ab, welche Bedürfnisse und in welchem Grade diese Bedürfnisse in der betreffenden Lebenswirklichkeit befriedigt werden können.

Bestimmte Bedürfnisse werden in autoritären oder totalitären Systemen unter Umständen sogar besser befriedigt, als dies in pluralistischen Demokratien der Fall ist. Beispielsweise können solche Systeme -trotz ihres freiheitsbeschneidenden Charakters und trotz des Umstandes, daß sie immer auch durch Angst, zumindest aber durch Vorsicht stabilisiert sind -ein Gefühl emotionaler Geborgenheit vermitteln. Die kollektivistische Vereinnahmung des Individuums muß nicht nur negativ erlebt werden, sondern sie kann ebenso positive Gemeinschaftserlebnisse ermöglichen. In dem Maße, in dem propagierte gesellschaftliche Zukunftsentwürfe in der Bevölkerung akzeptiert werden und eine entsprechende Mobilisierung zu gemeinsamem und gleichgerichtetem Handeln gelingt, kann ein Wir-Gefühl entstehen, das dem einzelnen inneren Halt gibt, weil es das wohl jedem Menschen -als sozialem Wesen -eigentümliche Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach geistiger Übereinstimmung und seelischer Nähe befriedigt.

Ein weiteres Bedürfnis, dem autoritäre oder totalitäre Systeme Rechnung tragen können, ist das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit. Speziell im Real-sozialismus konnte in der Verbindung von Diktatur und Zentralplanwirtschaft dieses Bedürfnis auf durchaus hohem Niveau befriedigt werden. Wenn heute noch etwa 60 Prozent der Ostdeutschen meinen, ihnen ginge es unter den neuen Lebensbedingungen in puncto sozialer Sicherheit „schlechter“ als vor der Wende (nur 16 Prozent sagen „besser“), so deutet dies darauf hin, daß ein solches Sicherheitsgefühl tatsächlich verbreitet war.

Während viele Politiker, aber auch Wissenschaftler dazu neigen, die Lebenswirklichkeit im Real-sozialismus in einem möglichst dunklen Licht erscheinen zu lassen, plädiere ich dafür, vorurteilsfrei auch die „Stärk'en“ des Realsozialismus herauszuarbeiten -und zwar nicht, um ihn zu rechtfertigen oder zu beschönigen, sondern aus folgenden Gründen: Erstens können wir nur auf diesem Wege begreifen, wieso diese Systeme überhaupt existieren und so lange stabil bleiben konnten; zweitens könnten wir ansonsten nicht nachvollziehen, wie sich in diesen Systemen -zumindest zeitweise -so etwas wie eine partielle Loyalität der Bevölkerung herausbilden konnte; drittens könnten wir ohne Kenntnis der Stärken des Realsozialismus die Affinitäten zur Idee des Sozialismus oder zu bestimmten Lebensformen im realen Sozialismus nicht verstehen -es sei denn, wir unterstellen hier ausschließlich ideologische Indoktrination oder repressive Sozialisation; viertens kann sich der frühere DDR-Bürger in Schilderungen, die ausschließlich die Schattenseiten seines früheren Lebens erfassen, nicht wiederfinden; und fünftens wird mit einem fragmentarischen Bild der untergegangenen Lebenswirklichkeit die Grundlage gelegt, daß letztlich auch sein Verhalten in diesem System mißdeutet wird.

V.

In öffentlichen Diskussionen, die sich mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beschäftigen, scheinen nach wie vor oberflächliche Urteile und populistische Platituden die Oberhand zu behalten. Besonders beliebt sind Übertreibungen mit wahrem Kern. Ich habe hier etwa Aussagen folgender Art im Auge: In der DDR habe es überhaupt keine Freiheit gegeben, die konkreten Lebensbedingungen hätten den Alltag unerträglich werden lassen, das nachstalinistische Regime hätte für die in ihm lebenden Bürger permanent ein tiefes Gefühl der Demütigung bedeutet, die Herrschaft der Staatsbürokratie über die Individuen sei allgegenwärtigund allmächtig gewesen, das bürokratische Kommandosystem habe jedes individuelle Verantwortungsgefühl und jeden Leistungswillen vernichtet, die gesamte Wirtschaft sei völlig marode gewesen -und dergleichen mehr.

Derartige Übertreibungen sind in ihrer Einseitigkeit tendenziell falsch. Ihr deskriptiver Gehalt ist außerordentlich gering. Sie erzeugen falsche Vorstellungen bei demjenigen, der sie wörtlich nimmt. Es handelt sich hierbei um politische Totschlags-argumente, welche zudem fatale Nebenwirkungen nach sich ziehen, die meistens nicht berücksichtigt werden: Erstens: Urteile dieser Art behindern nicht nur die rationale Kommunikation, sondern machen im Gegenteil das irrationale, emotionsgeladene Gerede politisch salonfähig. Langfristig gesehen ist das für die Demokratie tödlich. Denn gerade die Feinde der Demokratie, die häufig dazu neigen, an die niederen Instinkte der Menschen zu appellieren, ziehen daraus den größten politischen Nutzen. Zweitens: Wer die Einseitigkeit und Un-angemessenheit solcher Urteile intuitiv wahrnimmt und sich davon abgestoßen fühlt, gerät leicht in Gefahr, auch ihren wahren Kern zu negieren. Letztlich wird es damit denjenigen besonders leichtgemacht, die die Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen System nicht wahrhaben wollen. Drittens: Übertreibungen und Vereinfachungen, wie sie in diesen Urteilen enthalten sind, stellen im nachhinein die Kompliziertheit der Bewertungssituation in Abrede, in der jeder stand, der seine persönliche Stellung zum Realsozialismus definieren mußte. Träfen die genannten Urteile zu, erschienen differenzierte Stellungnahmen als moralisch fragwürdig, zumindest aber als dumm. Beherrschen Urteile dieser Art die öffentliche Diskussion, so kommt es zu einem geistigen Klima, in dem all denen, die auf diese oder jene Weise im früheren System mitgemacht haben oder mit ihm auch Hoffnung verbanden, jede Chance genommen wird, sich zu ihren früheren Anschauungen oder ihrem früheren Tun zu bekennen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Ostdeutschen würde auf diese Weise nachgerade zur Unehrlichkeit gezwungen Als Ausweg bietet sich an, einen Sündenbock zu suchen, der für alles verantwortlich gemacht werden kann und auf den sich die Diskussionen konzentrieren lassen. Diesen Sündenbock scheint man in Gestalt der Stasi gefunden zu haben.

VI.

Der verbreiteten Neigung zu Übertreibungen und Unsachlichkeit scheint der Irrglaube zugrunde zu liegen, daß man besonders die negativen Seiten der DDR-Wirklichkeit aufzeigen sowie die aktiven Träger des DDR-Systems in möglichst drastischer Weise herabwürdigen muß, um ein desto positiveres Verhältnis der restlichen ehemaligen DDR-Bürger zum Staat der Bundesrepublik zu erzeugen. Es ist jedoch zu befürchten, daß eine solche Vorgehensweise weder der inneren Einheit förderlich ist, noch den eher zukunftsorientierten Nerv der Ostdeutschen trifft. Dieser Irrglaube beruht auf einer Fehleinschätzung der psychologischen Situation, in der sich die meisten ehemaligen DDR-Bürger befinden: Sie möchten sich nicht genötigt fühlen, ihr ganzes früheres Leben gleichsam „weg-zuwerfen“, sie möchten nicht das Gefühl haben, daß alle ihre Anstrengungen zu nichts führten, daß alles, wofür sie sich früher eingesetzt hatten, im Grunde genommen nichts wert war, ja daß sie eigentlich „umsonst“ gelebt haben. Sie möchten eben nicht ständig hören, wie schlecht und marode alles war -fast möchte man sagen: auch in den Fällen nicht, in denen es stimmt. Es ist ein schwerer psychologischer Irrtum zu glauben, derjenige, der ein Gesellschaftssystem ablehnt, müßte deshalb gleichzeitig bereit sein, gleichsam alles, was in dieser Gesellschaft passierte und woran er in seinem aktiven Leben mehr oder weniger Anteil hatte, zu verdammen. Dies ist für einen Menschen schon aus Gründen des psychischen Selbstschutzes unmöglich. (Zu einer Totalverurteilung können hingegen -aus nachvollziehbaren Gründen -diejeni­ gen neigen, die unter diesem System wirklich gelitten haben. Denn das Unrecht, das sie erlitten haben, wird um so größer, je verbrecherischer das System war, das ihnen dieses Unrecht zufügte.)

VII.

Bekanntlich waren zu Beginn des Umsturzes im Herbst 1989 noch Illusionen weit verbreitet, es ginge um einen besseren Sozialismus, oder es sei möglich, einen irgendwie gearteten Dritten Weg zu gehen. Derartige Ideen, die vor allem bei Vertretern der Bürgerbewegungen im Schwange waren, sützten sich auf die Vorstellung, ein sozialistisch verfaßtes Gemeinwesen -was immer man auch im Konkreten darunter verstanden haben mochte -sei besser in der Lage, bestimmte Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu regeln. Diese Vermutung wurde nun ihrerseits nicht nur durch die Beobachtung gefördert, daß sich der moderne Kapitalismus im Hinblick auf einige als zentral und zivilisatorisch bedeutsam geltende Probleme mehr oder weniger erfolglos um Lösungen bemüht, sondern sie entsprang auch der vermeintlichen Tatsache, daß der reale Sozialismus -bei all seiner Kritikwürdigkeit -einige „Errungenschaften“ aufweise, die man vor allem im sozialen Bereich suchte. Aufgefordert, konkret zu benennen, welche Ergebnisse, Sachverhalte oder Institutionen man im Blick habe, blieb sehr häufig das Wort im Munde stecken. Der DDR-Bürger zeigte sich zunächst durchaus überrascht über die Engmaschigkeit und die Qualität des westlichen sozialen Sicherungssystems.

Dessenungeachtet ist jedoch die Überzeugung, es habe tatsächlich sozialistische Errungenschaften gegeben, in der früheren DDR-Bevölkerung ungebrochen. Heute beobachten wir in dieser Frage eine extreme Ost-West-Gespaltenheit: Der Ostdeutsche redet wie selbstverständlich davon, daß dieses oder jenes besser war und bewahrens-und übernehmenswert gewesen sei; für den Westdeutschen steht fest, daß alles Gerede von den vermeintlichen Errungenschaften des Sozialismus nichts als leeres Geschwätz ist.

Statt des unausgesetzten Versuchs, den früheren DDR-Bürger von seinen diesbezüglichen Irrtümern zu befreien, sollte man zu verstehen suchen, was er eigentlich meint. Wenn er zum Beispiel die soziale Sicherheit im Realsozialismus besonders schätzt, ist nicht die absolute Höhe der verabreichten Leistungen, sondern das in der DDR vorhanden gewesene Gefühl gemeint, bei einem Mindestmaß an staatskonformem Verhalten in sozialer Hinsicht nicht wirklich scheitern zu können. Was er heute vermißt, ist die qualitativ ganz andere Art der sozialen Absicherung: Das Arbeitslosengeld kann noch so hoch sein, der gelernte DDR-Bürger -in seiner Einfalt (so mag man denken) -findet Verhältnisse nun mal „irgendwie besser“, unter denen er gar nicht erst arbeitslos werden kann.

Was der Ostdeutsche an den früheren Lebensverhältnissen schätzte, war auch eine andere Art zwischenmenschlicher Beziehungen, die sich unter anderem im Umgang mit Kollegen oder dem Vorgesetzten oder auch in nachbarschaftlichen Verhältnissen zeigte. So war die Gesellschaft der DDR in höherem Grade egalitär und uniform als die bundesdeutsche. Es konnte passieren, daß der Betriebsdirektor und sein Arbeiter gleichermaßen einen Trabant fuhren, im gleichen Wohnungstyp lebten und ihren Urlaub im selben FDGB-Ferien-heim verbrachten. In einer solchen Gesellschaft bleibt wenig Raum, die eigene Leistungsfähigkeit in Gestalt eines herausgehobenen Konsums zur Schau zu stellen.

Die besagte „andere Art“ zwischenmenschlicher Beziehungen ergab sich aber auch aus Umständen, die keineswegs als „Errungenschaften“ gelten können. Beispielsweise mußten ständig Versorgungslücken, Handwerkerengpässe und dergleichen auf dem Wege von „Eine-Hand-wäscht-die-andere“ -Beziehungen oder gegenseitiger Nachbarschaftshilfe überwunden werden. Zudem stand man in einer gemeinsamen Abwehrfront zu „denen da oben“. In solchen Situationen, deren Ausnahme-charakter im Vergleich zu westlichen Verhältnissen durchaus klar war, wächst eine Art Gefühl, „im selben Boot zu sitzen“, gleichsam eine „Schicksalsgemeinschaft“ zu bilden. Diese Komponenten wirkten im zwischenmenschlichen Bereich „distanzverkürzend“ -was nicht heißt, daß man unbedingt freundlicher und schon gar nicht höflicher miteinander umgegangen wäre, was sich aber zum Beispiel in dem -schichtenübergreifenden -„schnelleren“ und verbreiteteren „Du“ ausdrückte, mit dem soziale Rangunterschiede, etwa zwischen Vorgesetzten und Unterstellten, überbrückt bzw. nivelliert wurden.

Die Ost-West-Irritationen im Themenkomplex „Errungenschaften“ werden durch ein Defizit an begrifflicher Unterscheidung verschärft: Umstandslos werden „sozialistische Errungenschaften“ und „Errungenschaften im Realsozialismus“ durcheinandergeworfen. Eine solche Unterscheidung könnte auf westlicher Seite vielleicht die Be­reitschaft zu differenzierteren Stellungnahmen erhöhen. Wenn zum Beispiel viele Ärzte der früheren DDR unter anderem das System der Polikliniken, der Pflicht-Schutzimpfung oder der Dispensairebetreuung für übernehmenswert halten so werden hier keine sozialistischen Errungenschaften gepriesen, sondern Problemlösungen benannt, über deren Anwendbarkeit ebenso in einem nichtsozialistischen Gemeinwesen nachgedacht werden kann.

VIII.

Sofern die sentimentale Weinerlichkeit, die in gewisser Weise unter der früheren DDR-Bevölkerung grassiert, darin besteht, daß verschiedenen Charakteristika der früheren Verhältnisse nach-getrauert wird, läßt sich ihr nicht nur mit dem Hinweis auf die verbesserten materiellen Lebensbedingungen begegnen. Von einer solchen Larmoyanz werden auch hin und wieder solche befallen, die sich durchaus zu den Gewinnern der deutschen Einheit rechnen können. Interessanterweise rekrutiert sich die Wählerschaft der PDS ja auch keineswegs hauptsächlich aus den sozial schlechter Gestellten

Die wesentlichen Gründe für Selbstmitleid und auch für gewisse nostalgische Einstellungen den früheren Verhältnissen gegenüber dürften des weiteren in der aktuellen psychologischen Situation zu suchen sein, in der sich der Durchschnittsostdeutsche befindet. Das entscheidende Kennzeichen dieser Situation ist Unsicherheitserfahrung. Es findet gegenwärtig eine Rückübertragung wesentlicher Lebensrisiken an den einzelnen statt. Diese Rückübertragung wird als ein Anwachsen von Unsicherheit empfunden. Der DDR-Bürger wurde unter Bedingungen sozialisiert, unter denen Arbeitsplatzverlust und Wohnungskündigung als Möglichkeiten, mit denen mehr oder weniger ständig zu rechnen ist, faktisch unbekannt waren. Mit der Wirtschafts-, Währungs-und Sozialunion im Sommer 1990 war er plötzlich in eine gesellschaft­ liehe Wirklichkeit versetzt worden, die dazu einigermaßen konträr steht und seinem Begriff von sozialer Sicherheit nicht entsprach. Schon damit können eine partielle Überforderung und auch Befindlichkeitsstörungen verbunden sein. In der Marktwirtschaft ist der einzelne in weit höherem Maße gefordert, sein Leben selbst zu gestalten, ja er kann sogar gezwungen sein -zum Beispiel infolge von Entlassung -, ganz neue Lebensplanungen vornehmen zu müssen. Die mit dem Eintritt in das westliche System neugewonnenen Freiheiten haben also eine Kehrseite, die gerade von demjenigen in besonderer Weise reflektiert wird, der bisher andere Verhältnisse gewohnt war und auch nicht „organisch“ in die neuen hineinwachsen konnte. Der Westdeutsche sollte sich klarmachen, daß die Lebensrisiken, denen er sich in der Marktwirtschaft konfrontiert sieht, von Ostdeutschen anders, nämlich mitunter als Bedrohung, wahrgenommen werden.

Hinzu kommt die ökonomisch schwierige Situation in den neuen Bundesländern. Nicht nur, daß bisheriges Wissen und bisher gültige soziale Erfahrungen partiell entwertet wurden und von jedem neue Lernanstrengungen und Anpassungsleistungen zu erbringen sind! Gleichzeitig sind infolge von Entlassungen und Vorruhestandsregelungen die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten für viele (insbesondere auch für viele Frauen) eingeschränkt. Die ostdeutsche Nach-Wende-Gesellschaft ist daher auch in sich gespalten: Aufbruchstimmung bei den einen, Verdruß und Enttäuschungen bei anderen. Mit dem pauschalen Vorwurf an die Ostdeutschen, sie seien allzu weinerlich und allzu undankbar, sollte daher vorsichtiger umgegangen werden: Die einen sind es gar nicht; viele andere haben durchaus Grund dazu.

IX.

Natürlich waren die Einstellungen des DDR-Bürgers zu den früheren Lebenszusammenhängen ambivalent -und sind es jetzt noch. Die allermeisten jedoch hatten sich mit dem System arrangiert oder sich irgendwie eingerichtet. Aufbegehren oder gar Revoltieren erschien aussichtslos; auf grundlegende Reformen von oben hoffte niemand. Indem man sich in das -scheinbar oder tatsächlich -Unvermeidbare fügte, gewöhnte man sich auch daran.

Heute nun werden vom Ostdeutschen die früheren DDR-Verhältnisse mit den nach der Wende ge-machten Erfahrungen kontrastiert. Dabei werden einige Aspekte, die früher als normal galten und nicht speziell reflektiert wurden, aus heutiger Sicht betont positiv vermerkt (zum Beispiel eben soziale Sicherheit). Hierbei kann es jedoch zu einseitigen Betrachtungsweisen oder gar zu Glorifizierungen dieser Verhältnisse kommen.

Ein Hauptfehler, der speziell zu Einseitigkeiten bei Systemvergleichen führt, ist die Unterlassung komparativer Analysen. Hier ist es vor allem wichtig, Wertekollisionen und Zielkonflikte zu beachten. Unterschiedliche Werte bzw. Ziele können unter gegebenen politischen und ökonomischen Verhältnissen nicht beliebig gut verwirklicht werden. Wer den hohen Lebensstandard genießen will, der aus der überlegenen Effizienz einer Wirtschaft des freien Unternehmertums resultiert, muß auch bereit sein, die Gefahr der Arbeitslosigkeit zu tragen. Wer umgekehrt ein Wirtschaftssystem wünscht, das eine Arbeitsplatzgarantie geben kann, muß die aus der staatlichen Risikoübernahme entspringenden Motivationsverluste und Ineffizienzen und die letztlich damit verbundenen Wohlstandseinbußen in Kauf nehmen. Es ist eben unmöglich, ein System zu konstruieren, in dem man arbeitet wie im Osten, aber lebt wie im Westen.

X.

Wenn es um die Einstellung der Ostdeutschen zur früheren DDR geht, ist natürlich mit Widersprüchlichkeiten zu rechnen. Der kluge Politiker wird dies berücksichtigen; das heißt, er wird nicht annehmen, daß sämtliche dieser Einstellungen -selbst wenn sie massenhaft auftreten -in sich logisch konsistent sind.

Widersprüchlichkeiten können sich in verschiedenen Formen zeigen. Teilweise wird -wie schon angedeutet -nicht gesehen, daß in jeder sozialen Ordnung Kollisionen in der Wert-bzw. Zielverwirklichung bestehen. Verschiedene Werte, wie etwa Freiheit und Sicherheit, lassen sich nicht gleichzeitig gleich gut realisieren. Eine Mißachtung dieses Zusammenhangs ist eine Quelle von Utopismus und gleichzeitiger Geringschätzung des Erreichten; es werden nicht existierende Alternativen verkündet und unrealisierbare Erwartungen geweckt. In populistischer Manier wird gefordert, was gern gehört, oder versprochen, was gewünscht wird.

Eine andere Form von Widersprüchlichkeit ergibt sich daraus, daß Lebensverhältnisse, die abgelehnt werden, gleichwohl positive Erlebnisse ermöglichen, die man auch später eigentlich nicht missen möchte. Diese emotionale Einstellung ist insofern widersprüchlich, als derjenige, der die betreffenden Erlebnisse nicht missen möchte, nachträglich auch froh über die Existenz der abgelehnten Lebensverhältnisse sein müßte, die diese Erlebnisse allein ermöglichten. Hinzu kommt, daß sich Erlebnisse von den sie ermöglichenden Lebensbedingungen gar nicht scharf trennen lassen, so daß sich angenehme Erinnerungen auch immer mit den abgelehnten Lebensbedingungen verbinden. In der sich daraus ergebenden emotional zwiespältigen Situation befinden sich wohl die meisten früheren DDR-Bürger. Entsprechende Äußerungen von Ostdeutschen, die ein positives Verhältnis zu DDR-oder sozialismusspezifischen Gegebenheiten andeuten, sind geeignet, beim Westdeutschen Irritationen hervorzurufen. Gerade diese Formen emotionaler Zugewandtheit zu Teilbereichen der DDR-Realität können aber gänzlich unpolitischer Natur sein. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß der Ostdeutsche, vor eine Wahl der Lebensverhältnisse gestellt, auf diese Erlebnisse eben doch verzichtet hätte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Der Spiegel, Nr. 33 vom 15. August 1994, S. 111.

  2. Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Werner Becker, Das Dilemma der Deutschen nach der Einheit. Das Problem der gemeinsamen Zukunft angesichts gegensätzlicher Prägungen, in: ^Jahrbuch für Politik, 2 (1992), Halbband 2, S. 194.

  3. Ich stütze mich hierbei auf Ergebnisse einer empirischen Untersuchung meines Kollegen Klaus-Dieter Müller, an der ca. 750 Ärzte aus den alten und neuen Bundesländern beteiligt waren. Vgl. auch ders., Zwischen Hippokrates und Lenin. Gespräche mit ost-und westdeutschen Ärzten über ihre Zeit in der SBZ und DDR, Köln 1994.

  4. Vgl. hierzu Jürgen W. Falter/Markus Klein, Die Wähler der PDS bei der Bundestagswahl 1994. Zwischen Ideologie, Nostalgie und Protest, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51-52/94, S. 22-24.

Weitere Inhalte

Fritze, Lothar, Dipl. -Ing. oec., Dr. phil., geh. 1954; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Innenansicht eines Ruins. Gedanken zum Untergang der DDR, München 1993; Panoptikum DDR-Wirtschaft. Machtverhältnisse -Organisationsstrukturen -Funktionsmechanismen, München 1993.