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Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents | APuZ 39/1995 | bpb.de

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APuZ 39/1995 Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents Haßlieben und Spannungsgemeinschaften Zum Verhältnis von Demokratien und Nationalismen im neuen Osteuropa Die Europäische Union und die mittelosteuropäischen Länder: Entwicklungen und wirtschaftspolitische Optionen Die Normalisierung der neuen alten Nachbarschaft Zum aktuellen Stand der deutsch-polnischen Beziehungen

Wohin mit Osteuropa? Überlegungen zur Neuordnung des Kontinents

Hans-Heinrich Nolte

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Aufsatz zeigt erstens, daß Ostmittel-und Osteuropa, ähnlich wie der Westen des Kontinents, durch eine Vielzahl ethnischer, religiöser und kultureller Grenzen zerteilt wird; er plädiert dafür, solche Grenzen nicht zum Kriterium einer neuen Großgliederung zu machen, da damit Identitätskonflikte provoziert würden. Zweitens wird dargelegt, daß der gesamte Raum in Wirtschaft und Sozialverfassung durch eine Rückständigkeit gekennzeichnet ist, die kaum in Kürze aufgeholt werden kann. Durch das verfehlte sozialistische Experiment wurden in diesem Raum weitere gemeinsame Schwierigkeiten geschaffen. Es bietet sich daher an, die weithin ähnlichen Probleme in einer Wirtschaftsunion zu bearbeiten, die von der Oder zum Pazifik reicht und in der z. B. Polen einen Markt für seine Industrieprodukte finden könnte, den die EU kaum bieten wird. Drittens wird daran erinnert, daß Ostmitteleuropa politisch jahrhundertelang durch die deutsche und die russische Großmacht beherrscht worden ist. Um heute eine Dominierung durch Rußland zu vermeiden, sollten einige der Staaten Ostmitteleuropas, z. B. Polen, in die NATO aufgenommen werden.

I. Rückkehr zu alten Grenzen?

Der Zusammenbruch der UdSSR hat die Frage der Grenzen Europas neu aufgeworfen. Das alte europäische System hatte den Raum von Lissabon bis zum Ural -einschließlich der Kolonien, aber unter Ausschluß beider Amerikas -in Fragen von Politik und Macht nicht ohne Krisen, aber letztlich erfolgreich geordnet. Der deutsche Hegemonialversuch 1914-1945 hat dieses System gesprengt, als die USA einbezogen wurden, um Deutschland zu schlagen Das Ende des alten Ordnungssystems kommt auch darin zum Ausdruck, daß an die Stelle der Gesamtkonferenzen europäischer Mächte, deren Tradition vom späten Mittelalter bis zum Berliner Kongreß reicht, die „Vereinten Nationen“ mit ihrem Sitz außerhalb des Kontinents traten. Während der Zeit des Kalten Krieges schien der Ost-West-Gegensatz diese neue Struktur des internationalen Systems noch einmal zu überlagern Der Zusammenbruch der UdSSR machte jedoch deutlich, daß die behauptete Bipolarität in Wirklichkeit das Potential des „Ostens“ überfordert hatte, daß die Sowjetunion zwar militärisch, aber weder ökonomisch noch intellektuell, noch politisch einen Widerpart bilden konnte. Eine „Rückkehr“ zu einem „europäischen Haus“ von Madrid bis Moskau erwies sich aber ebenfalls als unmöglich, da die USA ökonomisch, intellektuell und nicht zuletzt politisch zum integralen Teil des Kontinents geworden sind. Kulturell haben sie ja nie aufgehört, zu Europa zu gehören, und von der Mentalität her mag mancher Deutsche sich in Illinois oder Minnesota mehr zu Hause fühlen als in Sizilien, Lublin oder Moskau

Die Zusammenfassung des gesamten, religiös wie kulturell überwiegend durch Christentum und Aufklärung geprägten Raumes zwischen Sydney und Santiago, Vancouver und Wladiwostok zu einem politischen Großblock kann jedoch nicht im Sinne der Stabilität der politischen Organisation „Weltsystem“ sein. Eine Konstellation, in welcher Europa und seine Siedlungskolonien auf der einen dem „Rest der Welt“ auf der anderen Seite gegenüberstehen würden, würde eher zu einer neuen Polarisierung führen: An die Stelle des überwundenen Ost-West-Konflikts könnte ein verschärfter Nord-Süd-Konflikt treten. Es ist daher wünschenswerter, daß unterhalb der Dachorganisation der Vereinten Nationen eine Vielfalt von Großregionen besteht, wie sie z. T. schon heute vorhanden sind. Aber in welche Großregionen soll der von Europäern (bzw. ihren Nachfahren) überwiegend bewohnte Teil der Welt aufgeteilt werden? Viele glaubten nach dem Ende der Blockkonfrontation im ersten Überschwang an eine Rückkehr zu alten Grenzen.

Aber welche „alten Grenzen“ sollten gelten? Die des Schisma von 1054 (obgleich das orthodoxe Griechenland zur EU gehört)? Die der Verbreitung deutschen Stadtrechts im späten Mittelalter (obgleich Bukarest dann nicht dazugehört)? Die der Ostgrenzen des Wiener Kongresses 1815 (obgleich Riga dann nicht dazugehört, von der polnischen Frage ganz zu schweigen)? Die der Friedensschlüsse 1920/21 (obgleich dann die Frage der Zugehörigkeit Ostgaliziens und der Karpato-Ukraine aktuell würde)?

II. Religion und Kultur als Ursachen für Grenzziehungen

Die Frage der Neuordnung Europas war schon in den achtziger Jahren aufgeworfen worden, als Intellektuelle aus Slowenien, der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen dafür plädierten, ihre Länder zu Mitteleuropa und nicht zu Osteuropa zu zählen. So schrieb der tschechische Romancier Milan Kundera 1983 in einer französischen Zeitschrift, Mitteleuropa sei vom Osten „gekidnappt“ worden -und der Westen habe es verraten Kundera definierte Mitteleuropa als die Länder Ungarn, Tschechoslowakei und Polen. Er sah dieses Mitteleuropa negativ gekennzeichnet durch die Gefahr aus dem Osten, insbesondere durch den Sozialismus, der inhaltlich als etwas Östliches aufgefaßt wurde -also als Westeuropa entgegengesetzt. Dagegen sei Mitteleuropa durch den Katholizismus mit Westeuropa verbunden, und auch der Protestantismus gehöre zur gemeinsamen „lateinischen“ Kultur; die Orthodoxie dagegen gehöre kulturell nicht zum Westen. Der Westen sei ferner durch ein Maximum an Formen auf einem Minimum an Raum, der Osten -insbesondere Rußland -jedoch durch ein Minimum an Formen auf einem Maximum an Raum gekennzeichnet.

Es waren also vor allem religionsgeschichtliche und kulturelle Argumente, die Kundera vorbrachte. Aber weder sind die Argumente im einzelnen alle überzeugend, noch kann man bei der Vielfalt der europäischen Kultur ohne große Schwierigkeiten überhaupt dafür votieren, Kulturgrenzen auch zu politischen Grenzen zu machen. Es ist ja nicht wirklich so, daß der Westen ein Maximum an Formen auf einem Minimum an Raum hervorgebracht hat, Rußland dagegen nicht. Kein Land östlich des Bug ist nach Religion und Ethnizität ähnlich homogen, wie die Länder Westeuropas in den letzten Jahrhunderten durch Genozide und Vertreibungen, durch Umsiedlungen und nicht zuletzt durch staatliche Schulpolitik gemacht worden sind. Während die Araber aus Spanien vertrieben wurden, blieben die Tataren in Kasan und die Kalmücken in Astrachan während die Juden in und durch Deutschland vernichtet wurden, überlebten sie in Rußland. Und wo blieben die Katholiken Schwedens und die Protestanten Frankreichs? Wer spricht heute in der Bretagne noch bretonisch oder in Schottland noch gälisch, so wie Tschuwaschen und Udmurten ihre eigenen Sprachen behalten haben?

Die Vorstellung, daß der Westen toleranter sei als der Osten mehr Formen akzeptiere, beruht auf einem Irrtum. Toleranz ist ja nichts Einfaches, und zwischen Tataren und Russen gibt es fraglos Probleme. Wenn die Spanier aber mit ihren Arabern solche Probleme nicht haben, dann nur deswegen, weil sie diese ausgetrieben haben. Gewiß können wir heute für uns in Anspruch nehmen, daß wir tolerant gegenüber den Juden sind -es gibt ja nur noch 50000 in Deutschland. Und sicher, um zu Kundera zu kommen, die Tschechen haben heute keine Probleme mit ihrer deutschen Minderheit. Aber doch nur deswegen, weil sie vertrieben wurde. Die Vorstellung, Westeuropa sei besonders tolerant, ist also eher in einem kurzen Gedächtnis begründet.

Auch Kunderas Annahme, der Sozialismus sei etwas typisch Osteuropäisches/Russisches, läßt sich historisch kaum verteidigen. Der Sozialismus ist ein intellektuelles Konzept, das in Westeuropa erdacht und formuliert worden ist -in Köln, in Brüssel und vor allem durch einen deutschen getauften Juden, der in London arbeitete. Gewiß bedarf es eigener Überlegungen, warum dieses Konzept in Osteuropa durchgesetzt werden konnte - aber das ändert nichts daran, daß es aus dem Westen stammt. Es gibt kaum eine kulturelle Grenze, die quer durch den Osten unseres Kontinentes verläuft und nicht auch den Westen betrifft: Der Limes teilte die Menschen zwischen Barbaren und römischen Bürgern entlang von Rhein, Donau und den Karpaten. Das Schisma von 1054 teilte die Christenheit in eine griechische und eine lateinische Orthodoxie entlang von Narwe, Bug, Karpaten, Save und Una. Im späten Mittelalter, als Byzanz kaum noch Macht ausübte und Rußland von den Mongolen unterworfen war, erlebten die verschiedenen Königreiche zwischen Polen und Bulgarien Perioden der Expansion und des Glanzes. Aber Expansion und Glanz gingen in der Regel auf Kosten der jeweiligen Nachbarn innerhalb des Raumes -Deutsche eroberten die baltischen Länder, Polen annektierte die Ukraine, Ungarn Belgrad. Wieder entstanden lange wirksame kulturelle Einflüsse -wie der deutsche in Lettland und Estland, der schwedische in Finnland oder der polnische in der Westukraine.

Im Verlauf der Frühen Neuzeit wurde der Raum Osteuropas aufgeteilt zwischen dem osmanischen, russischen und habsburgischen Imperium sowie dem Königreich Preußen. Die religiösen und kulturellen Differenzen wurden in dieser Periode vermehrt: Die baltischen Länder und Teile Ungarns wurden protestantisch, Bosnien und Albanien muslimisch, und jene Juden, die aus Mitteleuropa und Spanien vertrieben wurden, fanden hier eine Zuflucht: die Sefardim südlich, die Aschkenasim nördlich der Donau. Die Vernichtung der Juden Osteuropas durch Deutsche hat dann eine Leere hervorgebracht, die diesen Raum noch heute in einer eigentümlichen Weise kennzeichnet. Vorher hatte die Eroberung des Südostens durch die Osmanen und Böhmens durch die Habsburger zur Folge gehabt, daß die einheimischen Adelsschichten entweder vertrieben, reichstreu oder aber ausgerottet wurden -die sich hier neu bildenden Nationen des 19. und 20. Jahrhunderts besaßen also nur noch einen schwachen Adel

Folgt man den religiösen Zusammenhängen, dann gingen ebenfalls viele jener Grenzen durch Osteuropa, welche auch Westeuropa zerteilten: Die lutherische Welt reichte von Hannover und Wittenberg bis Stockholm und Reval, aber auch bis Kronstadt. Die calvinistische Welt reichte von Edingburgh und Genf bis Debrecen und Raköw. Die katholische Welt erstreckte sich von Lissabon bis Wilna und von Dublin bis Agram. Die Orthodoxie bildete einen regional begrenzten Raum, der Europa mit Asien verband.

Die Spaltung, welche die Reformation in der Christenheit verursacht hat, war tiefer, als das Schisma -die Trennung zwischen Rom und den vier östlichen Patriarchaten Konstantinopel, Antiochien, Jerusalem und Alexandrien. Für beide alte Kirchen war der Protestantismus eine Häresie Sowohl die römische wie die griechische Kirche akzeptieren die ersten Konzilien; als Luther sagte, daß auch ein Konzil irren könne, verließ er diesen gemeinsamen Boden. Es gibt durchaus wichtige Differenzen zwischen der römischen und der griechischen Kirche; die politisch wichtigste ist vielleicht, daß die Kirche im Osten nicht jenen Grad von Unabhängigkeit vom Staat erreicht hat wie die römische. Aber auch hier ist die Differenz zum Protestantismus größer. In der Orthodoxie war der Patriarch das zwar machtmäßig unterlegene, aber geistlich führende Gegenüber des Kaisers oder des Zaren. In den protestantischen Kirchen war der Landesfürst „summus episcopus“, der höchste Bischof in äußeren Dingen. Das war ein Grad der Abhängigkeit der Kirche vom Landesfürsten, den es in keiner griechisch-orthodoxen Kirche gab -sieht man davon ab, daß Peter der Große die Russisch-Orthodoxe Kirche nach dem Vorbild der lutherischen Kirche reformierte und in einen ähnlichen Zustand von Abhängigkeit brachte

Soweit Kultur bis auf den heutigen Tag von Religion bestimmt wird -und das ist zu einem beträchtlichen Grad der Fall -, gibt es fünf Europas: 1. das griechisch-orthodoxe Europa östlich der Trennungslinie von 1054; 2. das lateinisch-orthodoxe Europa, das den Süden des Kontinents bestimmt und bis Irland und Litauen in den Norden hinaufreicht; 3. das protestantische Europa mit seinen Zentren in Deutschland, Holland, England, der Schweiz und Skandinavien bis Estland und Lettland; 4. das jüdische Europa, das den Holocaust in London und Paris, aber auch in Moskau und Peters-burg überlebt hat; 5. das muslimische Europa mit seinen alten, nunmehr bedrohten und z. T. vernichteten Enklaven in Bosnien und neu auf unsicherem Grund entstehenden, wie beispielsweise in den Pariser Vorstädten oder Berlin-Kreuzberg

Seit langem aber ist Kultur in Europa nicht allein durch die Religion geprägt, sondern auch durch jene Bewegung der Säkularisierung, Ernüchterung und Individualisierung, welche im späten Mittelalter in Italien begann und sich seit der Frühen Neuzeit von England und Frankreich nach Süden und Osten, nach Spanien und Rußland ausgebreitet hat. Diese Bewegung hat die alten Differenzen mit neuen überlagert; mit neuen Schismata und Häresien, deren Grenzen noch einmal neu den Kontinent in Provinzen gliedern. Die Betonung z. B.der besonderen Eigenschaften Westeuropas stammt u. a. von Ranke, der die Entstehung des kulturellen Europas auf das Zusammentreffen germanischer und romanischer Elemente im Mittelalter zurückgeführt hat. Die Slawophilen des 19. Jahrhunderts haben weniger Rankes Sichtweise in Frage gestellt, als für die slawische Welt einen eigenen, vom Westen unterschiedenen Kulturkreis in Anspruch genommen. Sie meinten, das Wesen der Slawen sei friedlicher und gemeinschaftlicher, toleranter und weniger durch Individualismus und Klassenkampf geprägt als der Westen Dieses Selbstbild der Slawen wurde dann durch den Stalinismus gründlich widerlegt. Die Massenverfolgungen der Stalinzeit reihen sich durchaus „würdig“ ein in die Reihe von Judenvertreibungen und Kreuzzügen, die den Westen gekennzeichnet haben. Was Rußland im 19. Jahrhundert vielleicht an Klassenkampf gegenüber Frankreich nachzuholen hatte, hat es im 20. gründlich besorgt; jedenfalls blieb auch Rußland jene Ernüchterung nicht erspart, welche die intellektuelle Entwicklung des Westens gekennzeichnet hat

Was Europas Kultur vor allem kennzeichnet, ist sicherlich ihre Vielfalt. Die historischen Kultur-grenzen eignen sich deshalb nur schlecht als Anhaltspunkte für aktuelle politische Gliederungen des Kontinentes. Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen, daß es wenig empfehlenswert ist, diese kulturellen Differenzen heute hervorzuholen und ihnen eine neue Bedeutung zu geben, indem man etwa die katholischen Länder Osteuropas in die Europäische Union aufnimmt und die orthodoxen nicht oder indem man Muslime zwar als Minderheit im eigenen Land hat, mehrheitlich muslimische Länder wie Bosnien oder Albanien jedoch nicht als Teile Europas begreift. Indem man alte Kulturgrenzen zu Teilungskriterien macht, überhöht man sie ideologisch; aus solchen Abgrenzungen kann leicht nationaler Fanatismus entstehen Die Aktualisierung der orthodox-muslimischen Differenzen im ehemaligen Jugoslawien zeigt die Folgen einer solchen Politik.

Kulturell begründete Abgrenzungen sollten bei der Strukturierung Europas also eher vermieden werden -nicht, weil Kultur und Religion nicht wichtig wären, sondern eher aus dem gegenteiligen Argumentationszusammenhang heraus: weil Religion und Kultur so tief verankerte Orientierungen anbieten, daß man ihre Kapazität zur Lösung politischer Probleme in weithin säkularen Gesellschaften leicht überschätzt.

III. Die Wirtschafts-und Sozial-verfassung als regionale Gliederung

Insbesondere im Außenhandel wurde die in der Frühen Neuzeit entstehende regionale Arbeitsteilung zwischen dem Westen und dem Osten deutlich: Polen, Pommern und Mecklenburg exportierten Getreide, Rußland und Schweden Marinebedarfsgüter nach England oder Holland In diesen Ländern wurde vor allem der Handel mit hochwertigen Gütern organisiert.

Die Regionalisierung Europas nach sozialökonomischen Kriterien nahm im 19. Jahrhundert weiter zu. Nach Schätzungen der Durchschnittseinkommen hatte Rußland am Anfang des 19. Jahrhunderts 49 Prozent, Österreich-Ungarn 51 Prozent und der Westen des Kontinents 61 Prozent des Pro-Kopf-Einkommens von England erreicht. 1861 betrug die Relation 32 Prozent für Rußland, 51 Prozent für Österreich-Ungarn und 81 Prozent für das kontinentale Westeuropa. Die Unterschiede zwischen England und Rußland hatten sich demnach verschärft, während die zwischen England und Westeuropa gemildert worden waren Die Ostgrenze Deutschlands und Österreichs war zu einer Kulturgrenze geworden; sie wurde dies noch mehr bis zum Ende des Jahrhunderts. Man kann das noch heute in alten Atlanten nachvollziehen, z. B. anhand der vielen Eisenbahnlinien, die an der deutschen Grenze zu Kongreßpolen aufhörten. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde Deutschland zu einem Land des Zentrums, mit hohem Lebensstandard und führend in der Produktion von kapitalintensiven Gütern

Viele Deutsche verstanden diesen Machtanstieg als Folge und Bestätigung ihres Nationalcharakters. In dieser Situation wurde der Begriff „Mitteleuropa“ geprägt; am deutlichsten von Friedrich Naumann. Gemeint war der Raum, den deutsche Kultur mit bestimmt hatte: neben Deutschland Österreich-Ungarn, das westliche Polen und das Baltikum; im Westen die Beneluxstaaten oder wenigstens Belgien, das ja bis 1795 zum Reich gehört hatte. Die Mitteleuropa-Idee hatte auch eine soziale Komponente -viele gingen davon aus, daß deutscher Kapitalismus sich von dem englischen Manchestertum wesentlich unterscheide; in Deutschland sollte der Staat eine stärkere Rolle spielen und der Kapitalismus durch die Sozial-gesetzgebung stärker am Wohl der Menschen orientiert werden. Es gab für die Mitteleuropa-Idee also durchaus Argumente. Aber traf der nationale Erklärungsansatz den Kern? Die Welt war und ist in sozialökonomischer Hinsicht viel eher als ein in Kreisen organisiertes System zu erklären als aus dem Beitrag einzelner Nationen

Die Ausbreitung von Kapitalismus und Industrialisierung ging nicht gleichmäßig vor sich. Innere Peripherien -wie Irland oder Mecklenburg -entstanden, deren Produktion auf Zuliefergüter für die jeweiligen Zentren ausgerichtet wurde, mit denen sie nicht konkurrieren konnten Viele periphere oder halbperiphere Länder kamen über Jahrhunderte hinweg nicht aus dieser Rolle zugeordneten Wirtschaftens hinaus -trotz vielfältiger Anstrengungen Der am ehesten erfolgversprechende Weg bestand aus einer Mischung aus Agrarreform, staatlicher Förderung der Infrastruktur sowie maßvollem Schutz „junger“ Industrien vor dem Weltmarkt -aber nicht in einer Abschottung gegen ihn. Mitentscheidend war, ob diejenigen Eliten im Land sich politisch durchsetzten, welche die ökonomisch für das jeweilige Land angemessenen Entscheidungen trafen Das klassische Theorem der komparativen Kostenvorteile eines weniger industrialisierten Gebiets und des daraus fast automatisch folgenden Aufstiegs eines halbperipheren oder peripheren Raums wurde nur selten bestätigt; in der Regel hat die Hierarchie des Systems große Zählebigkeit gezeigt -Verhältnisse von „langer Dauer“, um Fernand Braudel zu zitieren

Die Hierarchie der Regionen ist sehr vielfältig und fein abgestuft. Wenn man die eigentliche Periphe­rie für Europa hier beiseite läßt, so kann man zwei Großregionen bestimmen (im Sinn einer Generalisierung vieler unterschiedlicher und z. T. auch widersprüchlicher Daten) 1. Im Zentrum des europäischen Weltsystems wurden die meisten Warenketten organisiert und kontrolliert, z. B. im 19. Jahrhundert die Produktion und der Export von Tuch in viele Länder. Für diese Ware mußte die Baumwolle in den Südstaaten der USA, Ägypten oder Indien angebaut und auf den Markt gebracht werden, mußte Kohle gefördert, mußten Dampfmaschinen gebaut und Fabriken erstellt, mußten Handelswege politisch und militärisch gesichert werden etc. 2. Die Länder der Halbperipherie (man könnte auch sagen: die Länder des Halbzentrums) konnten vielfältig Prozesse konkurrierender Imitation fördern, ihre eigene Baumwollindustrie mit Zöllen schützen und die neuen Produktionsmethoden der Montanindustrie ins Land holen. Aber ihr Export auf dem Weltmarkt bestand überwiegend aus Rohstoffen -Getreide oder Tabak, Wein oder Wolle, Erdöl oder Eisenerz. Die Exporte aus der Halbperipherie waren also oft Waren, bei denen man nicht viel Kompetenzen akkumulieren, nicht viel Kenntnisse und Macht anhäufen konnte. Selbst die Organisation dieser Exporte lag oft in der Hand ausländischen Kapitals. Und jene Waren, bei deren Herstellung technologisches Wissen entstand -z. B. die Hüttenwerke und Werften, die Rußland in Belgien oder in Frankreich kaufte -, wurden im Zentrum von belgischen oder französischen Ingenieuren geplant und entwickelt.

Mit der Ausnahme Österreichs und Böhmens gehörten alle 1918 bis 1921 neu entstandenen Länder zur Halbperipherie -ob ihr Export mehr aus Steinkohle und Mastvieh bestand wie in Polen oder aus Tabak und Rosenöl wie in Bulgarien. Aldcroft und Morewood schreiben von „Agricultural Europe“ im Unterschied zu „Industrial Europe“ und rechnen neben den Ländern Ostmitteleuropas auch Italien, Spanien und Portugal dazu In der Zwischenkriegszeit erklärten die Länder Ostmitteleuropas Industrialisierung und wirtschaftlichen Aufstieg zu ihrem politischen Ziel und suchten es meist mit Hilfe von Staatsunternehmen zu erreichen; Polen hatte z. B. am Ende der dreißiger Jahre vermutlich die höchste Staatsquote in der Industrie außerhalb der UdSSR Aber es gelang nicht, die Abstände zu verringern; das Pro-Kopf-Nationalprodukt lag meist zwischen 30 und 40 Prozent von dem des Westens, und der Schuldendienst für auswärtige Kredite überstieg in der Regel ein Drittel der Exporterlöse

Die halbperiphere Lage hatte Ost und 40 Prozent von dem des Westens, und der Schuldendienst für auswärtige Kredite überstieg in der Regel ein Drittel der Exporterlöse 27.

Die halbperiphere Lage hatte Ostmitteleuropa mit der UdSSR gemeinsam, auch wenn es sicher graduelle Unterschiede gab. Auch die Sowjetunion konnte auf dem Weltmarkt wenig absetzen außer Rohstoffen. Obwohl die sowjetische Führung den Staat zum sozialistischen Gegenzentrum des Kapitalismus entwickeln wollte, blieb er doch ein bloßer Zulieferer für den Weltmarkt 28. Deutschland beutete die UdSSR -soweit sie nach 1941 erobert wurde -nach denselben Kriterien aus wie Polen oder Serbien (nämlich als Lieferant von Rohstoffen und billiger Arbeitskraft), während die böhmische und die französische Industrie z. B. durchaus für Endprodukte eingespannt wurden.

Nach ihrem Sieg 1945 hat die UdSSR ihre monopolsozialistische Struktur den ostmitteleuropäischen Ländern übergestülpt. Für alte Industrie-regionen des Kerns wie Böhmen oder Sachsen lag darin von Anfang an ein Verlust an Status und Kompetenz, der auch heute noch nur schwer zu verkraften ist. Für die Länder des „Agricultural Europe“ bildete die stalinistische Variante wenigstens überhaupt eine Form der Industrialisierung. Im Fall Polens kam hinzu, daß die Abtrennung der weniger produktiven polnischen und die Inbesitznahme der produktiveren deutschen Ostprovinzen eine grundlegende Verbesserung der Agrarstruktur und eine Verdoppelung der industriellen Basis ermöglichte: 1949 betrug die Industrieproduktion pro Kopf 230 Prozent, die Agrarproduktion 122 Prozent jener der Jahre zwischen 1934 und 1938. In allen osteuropäischen Ländern gelangen die ersten Fünfjahrespläne -allerdings nicht ohne jene langfristigen Schwächen hervorzubringen, welche später unübersehbar wurden: die Überbetonung des Investitionsgütersektors, die Förderung der Quantität auf Kosten der Qualität, die geringe Flexibilität der Planwirtschaft und der Abbau persönlicher Initiative 29.

Ostmitteleuropa trägt also noch heute die Formen wie die Konsequenzen der stalinistischen Industrialisierung mit sich. Daß hier schnell jener Grad an industrieller Kompetenz und Konkurrenzfähig­ keit, an Arbeitsproduktivität und Innovationskapazität erreicht werden könnte, wie sie für den Westen kennzeichnend sind, ist wenig wahrscheinlich. Um nur das Beispiel der Innovationen anzusprechen: 1989 wurden aus Polen 11 europäische Patente angemeldet, aus der Bundesrepublik dagegen 5 610 und aus Japan 3 666 .. . 30.

Auf dem Weg zu mehr Marktwirtschaft haben die Länder Osteuropas unterschiedliche Strategien verfolgt und in unterschiedlichem Ausmaß Erfolge aufweisen können Es liegt trotzdem nahe, zu denken, daß die Probleme Osteuropas auch nach dem Zusammenbruch des Monopolsozialismus zu einem solchen Ausmaß gemeinsame sind, daß es sich anbietet, in der Wirtschaftsentwicklung zusammenzugehen. Da die Europäische Union auch die über ein Jahrzehnt alten Beitrittswünsche der Türkei auf absehbare Zeit nicht erfüllen wird, liegt die zusätzliche Überlegung nahe, daß dieses durch seine halbperipheren Strukturen teilweise ähnlich geprägte Land einer neu zu schaffenden Wirtschaftsunion der Länder östlich der Oder beitreten könnte. Ökonomisch wäre ein Großraum vom Mittel-zum Eismeer und von der Ostsee zum Pazifik groß genug, einen sinnvollen Schutz eigener Industrien gegen Japan, die USA und Westeuropa zu organisieren. Politisch haben fast alle diese Staaten Probleme beim Aufbau demokratischer Nationalstaaten bzw. bei der Entlassung nicht integrationswilliger Minderheiten in die begrenzte Souveränität heutiger Nationen.

Für die sozialökonomischen Probleme der Groß-region östlich der Oder verspräche ein solcher einigermaßen homogener Wirtschaftsraum gute Lösungschancen. Wenn Länder im 19. und 20. Jahrhundert den Aufstieg geschafft haben, dann oft mit einer Mischung aus Markt, staatlicher Steuerung und Sicherung, aber nicht durch Abschottung nach außen Am Ende des 20. Jahrhunderts allerdings haben selbst mittlere Nationalstaaten nicht mehr die günstigste Größenordnung für solch eine Politik, auch wenn manche Kleinstaaten ihr Heil noch in Lücken auf dem Weltmarkt suchen können. Heute braucht man große Einheiten, um gegen Konkurrenzmacht bestehen zu können.

IV. Politik und Macht

Die Geschichte Osteuropas als Teil jenes europäischen Systems, das im Hochmittelalter entstand war zu einem beträchtlichen Teil durch Rückständigkeit geprägt. Rückständigkeit ist ein Begriff, der Relativität bezeichnet und er gilt auch nur in diesem Sinn. Im Verhältnis zum Zentrum des europäischen Systems waren die osteuropäischen Gesellschaften oft genötigt, sich damit auseinanderzusetzen, daß westeuropäische Mächte militärisch und wirtschaftlich leistungsfähiger waren und dies auch zu Angriffen nutzten -von der Vernichtung des Byzantinischen Reichs im 4. Kreuzzug bis zum deutschen Versuch, ganz Osteuropa zu unterwerfen. Zu der Schwierigkeit, an den Entwicklungen des Westens gleichberechtigt und gleichzeitig teilzunehmen, kam die Tatsache, daß die osteuropäischen Gesellschaften oft zu Zweifrontenkriegen gezwungen waren -sie mußten sich gleichzeitig gegen westliche und östliche Mächte, gegen die deutsche Ostexpansion und den Angriff der Mongolen, gegen das Osmanische Imperium und Habsburg verteidigen. Und sie mußten sich gegeneinander verteidigen, denn sie waren auch nie untereinander einig.

Die osteuropäische Geschichte ist deshalb immer wieder durch ein „Sichbehaupten“ gekennzeichnet. Dabei gab es durchaus große welthistorische Versuche: In Böhmen wurde im 15. Jahrhundert mit der Reformation begonnen, der Übersetzung der Bibel in die Landessprache, der Kritik am Besitz der Kirche. Polen bildete im 16. und 17. Jahrhundert das Musterbeispiel für einen adligen Parlamentarismus, der zehn Prozent der Bevölkerung zu politischer Partizipation führte und in welchem die Macht der Monarchie eng begrenzt wurde. Rußland versuchte im 20. Jahrhundert eine Gesellschaft aufzubauen, die nach ganz anderen Kriterien organisiert war als der Kapitalismus und die die Entfremdung und Ausbeutung des Menschen beenden sollte.

Alle diese Versuche scheiterten. Die Reformation hatte erst Erfolg, als sie ein Jahrhundert später in Deutschland begonnen wurde. Der Parlamentarismus begann seinen Siegeszug erst, als er in der Mitte und zum Ende des 17. Jahrhunderts in England durchgesetzt wurde gegen Versuche, auch dort den Absolutismus zu etablieren. Und ob es für sozialistische Konzepte noch eine Zukunft gibt oder nicht, das wird wohl erst das 21. Jahrhundert lehren.

Aber trotz solcher Katastrophen wie der zwangs-weisen Rekatholisierung Böhmens, den Teilungen Polens oder dem Zusammenbruch des Monopol-sozialismus haben die Gesellschaften Osteuropas sich behauptet. Böhmen wurde nicht deutsch -was am Anfang des 15. Jahrhunderts durchaus einmal möglich schien. Polen wurde nicht russisch, wie man es in Petersburg anstrebte. Und Rußland wurde nicht in Reichskommissariate zerlegt, wie man es in Berlin geplant hatte.

Politische Macht im europäischen System war keineswegs eine bloße Funktion der Hierarchie der Großregionen. Militärisch entscheidend war vielmehr, daß alle europäischen Staaten in der Lage waren, gegeneinander Krieg zu führen; daß die strategische Lage einer Macht, der „Geist“ einer Armee, die Klugheit oder Torheit der Mächtigen von Bedeutung sind; daß Quantität gegen Qualität ausgespielt werden kann. Rußland hat im europäischen Konzert lange mehr Macht besessen als die Deutschen, obgleich diese in der Regel ökonomisch leistungsfähiger waren. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland war deshalb oft durch eine doppelte Asymmetrie gekennzeichnet, die einerseits in den Vormärschen russischer Truppen bis in die Mitte Deutschlands -von Peters I. Armeen in Mecklenburg bis zur Roten Armee in Thüringen -, andererseits in der ökonomischen Überlegenheit Deutschlands ihren Ausdruck fand

Während in Mittel-und Osteuropa die absolutistischen Regierungen -allen voran Rußland, Österreich und Preußen -die ständischen Staaten im 17. und 18. Jahrhundert besiegten und schließlich unter sich aufteilten, wurden in Westeuropa -wo insgesamt mehr Mittel verfügbar und mehr Menschen zur Teilnahme an der Politik in der Lage waren -ständische Reichstage und Landtage in Richtung auf den demokratischen Parlamentarismus hin entwickelt. Das Bedürfnis, zwischen West-und Osteuropa zu unterscheiden, erhielt mit der Durchsetzung der Republik in Frankreich und dem Sturz der Republik in Polen eine politische Strukturkomponente. Während der Westen im 19. Jahr-hundert demokratisch wurde, blieb der Osten spät-absolutistisch. Deutschland lag tatsächlich in der Mitte -erste Demokratisierungen gelangen erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, und auch dann verblieben noch beträchtliche „Reservat-rechte“ der Monarchen.

Mitteleuropa war ein angemessener Begriff, um diesen politischen und wirtschaftlichen Übergangsraum zu bezeichnen. Damit war zugleich ein Gebiet benannt, das bei kluger und vorsichtiger Politik aufgrund des Macht-und Wirtschaftspotentials Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts vermutlich als deutscher Einflußbereich hätte organisiert werden können -nicht als formeller Herrschaftsraum, aber als „informal Empire“. Deutschland scheiterte jedoch mit dem Versuch, Mitteleuropa als Basis für eine Weltmachtstellung zu nutzen, da das deutsche Potential -auch einschließlich des Potentials der nichtdeutschen Völker des Raumes -damit deutlich überfordert war Nach diesem Scheitern im Ersten Weltkrieg -dem allerdings der Sieg gegen das zaristische Rußland vorausgegangen war -wurde der Raum in Versailles gegen Rußland bzw. die Sowjetunion und gegen das Deutsche Reich in einer Kette souveräner Nationalstaaten organisiert. Der polnische Historiker Oskar Halecki hat damals für diese Staaten den Begriff „Ostmitteleuropa“ geprägt: das Europa zwischen Deutschland und Rußland

Ostmitteleuropa als ein Deutschland ausschließender Begriff besaß in der Periode zwischen Versailles und München große Plausibilität. Damit waren alle Länder zusammengefaßt, welche den Macht-anstieg Deutschlands oder der UdSSR zu fürchten hatten. Dies waren ganz überwiegend „neue“ Nationen mit unerfahrenen Staatsbürokratien, mit einem großen, aber am Niveau Deutschlands oder der UdSSR gemessen doch schwachen Militärapparat, mit dringenden sozialen Nöten und großen ethnischen Minderheiten. Kulturell waren die Länder sehr unterschiedlich -lutherisch, katholisch, orthodox oder muslimisch geprägt, von säkularisierten Eliten geführt oder von religiösen, mit demokratischen oder autoritären politischen Traditionen. Aber sie waren alle in einer ähnlichen politischen Lage -fast jedes hatte territoriale Ansprüche gegen den Nachbarn, niemals fand man zu einem Bündnis aller, und alle suchten Bündnisse mit Mächten außerhalb des Raums -ob es nun Frankreich, Italien oder Deutschland war.

Ostmitteleuropa als Kette souveräner Nationalstaaten wurde von Deutschland mit Duldung durch die Westmächte (München) und in Komplizenschaft mit der UdSSR (deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag) zerstört. Ostmitteleuropa als deutsches Herrschaftsgebilde wurde durch die militärische Überlegenheit der UdSSR -im Bündnis mit den Westmächten -zerschlagen. Diese sowjetische militärische Überlegenheit beruhte eher auf quantitativer Zusammenfassung der Mittel als auf qualitativen Vorsprüngen und wäre ohne deutsche Führungsfehler nicht derart wirksam geworden Sie bildete die Grundlage der sowjetischen Vorherrschaft nach 1944/45. Daß die sowjetische Führung glaubte, ihre Überlegenheit gründe sich auf ein historisch fortschrittlicheres sozialökonomisches System, hat zwar die konkrete Ausübung von Herrschaft strukturiert, aber nicht begründet.

Der Zwiespalt zwischen internationalistischer, sozialistischer Begründung von Herrschaft und der Realität staatlicher (nationaler) militärischer Macht gehörte zu jenen Rissen im System, welche die kritische Intelligenz Ostmitteleuropas aufzeigte und erweiterte. Insbesondere die polnische Intelligenz ging hier voran; Jacek Kuron und Karo Modzelewski kritisierten den „real vorhandenen Sozialismus“ schon 1963 als „Monopolsozialismus“ Sie bereiteten damit jenes intellektuell offene Klima vor, aus dem heraus Polen in den achtziger Jahren in großer nationaler Geschlossenheit nicht nur die sowjetische Vorherrschaft, sondern zunehmend den Sozialismus als System bekämpfte Tschechen, Ungarn und Slowenen folgten. Es lag nahe, für den Befreiungskampf gegen die UdSSR auf Geschichtsbilder zurückzugreifen, welche die Differenz zu Osteuropa im engeren Sinne und insbesondere zu Rußland herausstellten.

Solange die Führung des Perestroikaprozesses bei der UdSSR lag und nicht nur Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“ sprach, so lange trat die darin enthaltene Tendenz zu einem neuen Riß durch Europa zurück. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde die Frage, wohin Rußland gehöre, jedoch akut. Von Estland bis Kroatien forderten die Politiker der sich befreienden Länder die Aufnahme in EU und NATO. Sollte/soll Rußland auch Mitglied werden?

Auf der nach 1991 wieder „russischen“ Seite wurde ebenfalls deutlich, daß eine neue Ordnung Europas auch in einer neuen Teilung bestehen könne, welche den russischen Einfluß einfach nach Osten zurückdrängen würde. In Moskau haben manche das Gefühl, daß durch einen solchen Verlust an Einfluß der -ja in der Tat welthistorische -Verzicht der UdSSR auf den Versuch, seinen Einflußbereich mit militärischer Gewalt zusammenzuhalten, nicht honoriert würde. Die Regierung Jelzin stemmt sich gegen eine Osterweiterung sowohl der NATO wie der EU. In der russischen Intelligenz werden jedoch auch Stimmen laut, welche die eurasische Sonderrolle Rußlands betonen So plädiert Andrej Fursov dafür, das „Herzland“ des eurasischen Kontinents (von Rußland bis zur Mongolei und Nordiran) müsse grundsätzlich nach ganz anderen Kategorien konzipiert werden als dessen „Ufergürtel“ (wie Westeuropa oder die Anrainer des Gelben Meeres). Das „russische System“ bestehe im Zusammenspiel von Macht und Bevölkerung im Großraum (günstigenfalls ergänzt durch eine russische kritische Intelligenz)

Es ist prinzipiell wichtig, zu einer Ordnung der politischen Verhältnisse zu gelangen, die in Ruß-land nicht jenes Gefühl der Einsamkeit gegenüber Europa entstehen läßt, welches früher die andere Seite russischen Sendungsglaubens gewesen ist Es ist andererseits ebenfalls wichtig, daß der Westen unmißverständlich macht, daß er ein Überrennen, eine Dominierung Ostmitteleuropas durch Rußland nicht noch einmal dulden wird. Differenzierte politische Ziele erfordern differenzierte politische Lösungen.

Ein Wirtschaftsraum Osteuropa-Nordasien könnte für die wirtschaftliche Entwicklung Ostmitteleuropas viele Chancen bieten. Polen und Ungarn, die innerhalb der EU für die Rolle der Schlußlichter prädestiniert wären, könnten innerhalb eines solchen Wirtschaftsraums führende Rollen spielen. Da Rußland jedoch die einzige Großmacht, wenn nicht sogar Weltmacht einer solchen Wirtschaftsunion wäre, würde es schwerfallen, eine militärisch stabile, ausgeglichene Lage innerhalb der Wirtschaftsunion zu schaffen. Sicherheits- und machtpolitisch ist deshalb die NATO gefordert.

Dem Sicherheitsbedürfnis der Länder Ostmitteleuropas und insbesondere Polens kann am ehesten dadurch Rechnung getragen werden, daß einige von ihnen Mitglieder der NATO werden. Polen würde bei einer solchen differenzierten Lösung also sowohl Mitglied eines osteuropäisch-nord-asiatischen Wirtschaftsraums wie Mitglied des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses sein. Es würde damit im 21. Jahrhundert jene Rolle der Vermittlung zwischen West und Ost, zwischen Zentrum und Halbperipherie übernehmen, welche Deutschland im 20. Jahrhundert über seinem Hegemonieversuch versäumt hat. Die Übergänge zu nüchternen, diskussionsfreudigen, demokratischen Gesellschaften können nicht anders als langfristig gedacht werden. Für diese Übergänge müssen Lösungen gesucht werden, welche weniger auf die Rückkehr zu alten Grenzen und nicht auf verführerische Hoffnungen der „restitutio ad integrum“ bauen sondern auf zukunftsbezogene Bündnisse, welche sowohl die Interessen Osteuropas wie jene Ostmitteleuropas berücksichtigen.

Um in Rußland, der Ukraine, Georgien usw. nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, durch eine Osterweiterung der NATO bis zum Bug isoliert zu werden, sollte der Westen, sollten insbesondere die Länder Ostmitteleuropas den gleichzeitigen Abschluß eines Wirtschaftsbündnisses anstreben, das die Verbindungen zum Osten stärkt: von der Oder bis zum Amur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Fritz Fischer. Bündnis der Eliten, Düsseldorf 1979; Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht, Düsseldorf 1980; Klaus Hildebrandt, Deutsche Außenpolitik 1933-1945, Stuttgart 19805, S. 9-19.

  2. Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Die eine Welt. Abriß der Geschichte des Internationalen Systems, Hannover 19932; Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt a. M. 1991.

  3. Dies ist der Platz, jenen amerikanischen Familien zu danken, die seit dem Krieg jungen Deutschen immer wieder die Möglichkeit gegeben haben, die Nähe zwischen der amerikanischen und der deutschen Kultur zu erfahren.

  4. Milan Kundera, Un occident kidnappe, deutsch in: Kommune 2, (1984), S. 43-52. Vgl. Frank Gerterich/Christian Semler (Hrsg.), Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt a. M. 1984.

  5. Vgl. Andreas Kappeier, 'Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung. Geschichte. Verfall, München 1992; Hans-Heinrich Nolte/Beate Eschment/Jens Vogt, Nationenbildung östlich des Bug, Hannover 1994.

  6. Vgl. Claus Scharf, Konfessionelle Vielfalt und orthodoxe Autokratie, in: Festschrift für K. O. Freiherr von Aretin, hrsg. von Ralph Melville u. a., Stuttgart 1988, S. 179-192.

  7. Vgl. Bernd Bonwetsch, Die russische Revolution 1917, Darmstadt 1991.

  8. Vgl. zu dieser Perspektive Orest Subtelny, Domination of Eastern Europe. Native Nobilities and Foreign Absolutism, Kingston 1986; Piotr S. Wandycz, The Price of Freedom. A History of East-Central Europe, London 1992.

  9. Dies wird z. B. daran deutlich, daß Protestanten bei der Aufnahme in die orthodoxe Kirche (bis zu Peter I.) neu getauft, Katholiken jedoch nur gesalbt werden mußten; vgl. Hans-Heinrich Nolte, Religiöse Toleranz in Rußland, Göttingen 1969, 8. 108-115.

  10. Vgl. Igor Smolitsch, Geschichte der Russischen Kirche 1700-1917, Leiden 1964, S. 118-120.

  11. Bis zum Ende der Frühen Neuzeit konnte es in Westeuropa zweifelhaft sein, ob der Islam Teil der europäischen Kultur sei, während es in Osteuropa damals große muslimische Gruppen gab. Seitdem in Frankreich, England und Deutschland mehrere Millionen Mitglieder starke muslimische Gemeinden etabliert sind, kann die Zugehörigkeit nicht mehr in Frage gestellt werden, ohne zugleich den humanistischen Anspruch der europäischen Kultur in Frage zu stellen.

  12. Vgl. die Textsammlung von Dmitry Tschizewski/Dieter Groh (Hrsg.), Europa und Rußland, Darmstadt 1959; als Einstieg in die neuere Debatte: Karl Schlögel (Hrsg.), Weg-zeichen, Frankfurt a. M. 1990.

  13. Vgl. Thomas G. Masaryk, Zur russischen Geschichtsund Religionsphilosophie, Bd. 1-2, Jena 1913 (Nachdruck Düsseldorf 1965); Hans-Heinrich Nolte, Einsamkeit und Pathos. Zur Geistesgeschichte halb-peripherer Länder, erscheint in: Comparativ, Leipzig 1995.

  14. Vgl. als umfassende Übersicht Andre Gerrits/Nanci Adler (Hrsg.), Vampires Unstaked. National Images, Stereotypes and Myths in East Central Europe, Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschapen, Amsterdam 1995.

  15. Vgl. J. Ph. Lemmink/J. v. Koningsbrugge (Hrsg.), Baltic Affairs, Nijmegen 1990.

  16. Vgl. Hans-Jürgen Nitze (Hrsg.), The Early Modern World System in Geographica! Perspective, Göttingen 1993.

  17. Vgl. Ivan T. Berend/Györgi Ranki, East Central Europe in the 19th and 20th centuries, Budapest 1977 (Daten S. 86-101).

  18. Vgl. Andrew B. Tylecotte, German Ascent and British Decline 1870-1980, in: Edward Friedmann (Ed.), Ascent and Decline in the World-System, Beverly Hills 1982, S. 41-68.

  19. Vgl. Immanuel Wallerstein, The Modern World System, 3 Bde., New York 1974-1989; H. -J. Nitze (Anm. 16).

  20. Vgl. Hans-Heinrich Nolte (Hrsg.), Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991.

  21. Für den russischen Fall vgl. Hans-Heinrich Nolte, Tradition des Rückstands. Ein halbes Jahrtausend Rußland und der Westen, in: Vierteljahresschrift für Wirtschafts-und Sozialgeschichte, 78 (1991), S. 66-77.

  22. Vgl. Dieter Senghaas, Von Europa lernen, Frankfurt a. M. 1982; Clemens Dillmann, Von Europa lernen?, Pfaffenhofen 1992.

  23. Vgl. Fernand Braudel, Die Dynamik des Kapitalismus, Stuttgart 1986, S. 14 u. ö.; ders. (Hrsg.), Europa -Bausteine seiner Geschichte, Frankfurt a. M. 1989.

  24. Vgl. H. -H. Nolte (Anm. 2).

  25. Derek H. Aldcroft/Steven Morewood, Economic Change in Eastern Europe since 1918, Aldershot 1995, S. 43.

  26. Vgl. ebd., S. 77.

  27. Vgl. ebd., S. 56.

  28. Vgl. ebd., S. 186. Der Indikator Patente deutet nicht auf natürliche Begabungen, sondern unter den Bedingungen heutiger Wissenschaft und Technik auf den Standard von Forschungsinstitutionen hin.

  29. Vgl. hierzu die vorzügliche Übersicht von Werner Weidenfeld (Hrsg.), Demokratie und Marktwirtschaft in Osteuropa. Bonn 1995 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale, Band 329).

  30. Vgl. Dieter Senghaas, Vom Nutzen und Elend der Nationalismen im Leben von Völkern, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 31-32/92, S. 23-32.

  31. Vgl. einführend Klaus Zemack, Osteuropa, München 1977; Bernd Bonwetsch/Manfred Grieger (Hrsg.), Was früher hinterm Eisernen Vorhang lag, Dortmund 1991.

  32. Vgl. Daniel Chirot (Hrsg.), The Origins of Backwardness in Eastern Europe, Berkeley 1989; Manfred Hildermeier, Das Privileg der Rückständigkeit, in: Historische Zeitschrift, (1987) 244, S. 557-603.

  33. Vgl. Hans-Heinrich Nolte, Die doppelte Asymmetrie. Zur historischen Struktur des russisch-deutschen Verhältnisses, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 48 (1993), S. 141-158.

  34. Vgl. P. Kennedy (Anm. 2), Kapitel 5 und 6.

  35. Vgl. Oskar Halecki, Grenzraum des Abendlandes, Salzburg 1956.

  36. Vgl. Bernd-Jürgen Wendt, Economic Appeasement, Düsseldorf 1970.

  37. Vgl. Erwin Oberländer (Hrsg.), Hitler-Stalin-Pakt, Frankfurt a. M. 1989.

  38. Vgl. Bruno Wasser, Himmlers Raumplanung im Osten, Basel 1993.

  39. Vgl. Heinrich Nolte, Letzter Generalstabschef des Deutschen Afrikakorps: Vom Cannae-Mythos, Göttingen 1991.

  40. Vgl. Jacek Kuron/Karol Modzelewski, Monopolsozialismus, Hamburg 1969; Hans-Heinrich Nolte, Rußland/UdSSR Hannover 1991, S. 168— 176.

  41. Vgl. Melanie Tatur, SolidarnoSö als Modernisierungsbewegung, Frankfurt 1989.

  42. Vgl. die Beiträge von L. Ponomareva und V. Tschatschaturjan in: Evropejskij AVmanach, Moskau 1993, S. 29-49.

  43. Vgl. Andrej Fursov/Jurij Pivovarov, Kommunismus, Rußland und die alte Ordnung, in: Verein für Geschichte des Weltsystems, Barsinghausen, Rundbrief 9, 1995.

  44. Vgl. Hans-Heinrich Nolte, On the loneliness of Russia and the Russian Idea, in: Coexistence, 32 (1995), S. 39-48.

  45. Ich übertrage damit die Kritik Reinhard Wittrams (in: Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954) an Geschichtsbildern, welche eine ursprüngliche Integrität von Nationen voraussetzen (welche verloren und wieder herzustellen sei) auf ähnliche Vorstellungen von Kulturkreisen, etwa „Westeuropa“ -oder „Eurasien“.

Weitere Inhalte

Hans-Heinrich Nolte, Dr. phil., geh. 1938; Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Internal Peripheries in European History, Göttingen 1991; Der Mensch gegen den Menschen. Überlegungen und Forschungen zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, Hannover 1992; Die eine Welt. Abriß der Geschichte des Internationalen Systems, Hannover 19932; (zus. mit Beate Eschment und Jens Vogt) Nationenbildung östlich des Bug, Hannover 1994; Aufsätze in englischen, russischen, tschechischen, polnischen sowie deutschen Sammelbänden und Zeitschriften.