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Schweden und die Europäische Union | APuZ 10/1996 | bpb.de

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APuZ 10/1996 Die neue Agenda für die europäische Politik Österreich: EU-Mitgliedschaft als Katalysator Schweden und die Europäische Union Finnland in der Europäischen Union

Schweden und die Europäische Union

Bo Huldt

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schweden ist ein Nachzügler in Sachen Integration. Die Entscheidung, der Union beizutreten, wurde mit starker Unterstützung der politischen Elite getroffen, in deren Augen keine Alternative zur Mitgliedschaft bestand, während in der breiten Öffentlichkeit eine sehr zögerliche Haltung überwog. Diese Haltung und die wieder zunehmende Euro-Skepsis zu überwinden, wird Zeit und „Erziehung“ erfordern. Die EU-Mitgliedschaft und eine bereits erkennbare Sorge Schwedens um Effizienz und Effektivität innerhalb der Organisation, der es beigetreten ist, wird die schwedische Haltung in Richtung eines zunehmend aktiveren Engagements verändern -auch in der breiten Öffentlichkeit. Für die öffentliche Meinung in Schweden wird auch von großer Bedeutung sein, wie die EU es schafft, die sich immer stärker abzeichnende Krise des Wohlfahrts-bzw.des Sozialstaates zu meistern. Die schwedischen Traditionen sind pragmatisch und auf praktische Ergebnisse anstatt auf große Visionen ausgerichtet. Schweden betrachtet die Union sicherlich nicht mit einer föderalistischen Perspektive, und das wird wohl auch so bleiben. Es gibt allerdings Bereiche, in denen die Schweden sich für supranationale Verpflichtungen der Mitgliedstaaten einsetzen könnten. Das gilt beispielsweise für Umweltfragen, Flüchtlingsangelegenheiten und die Bekämpfung von Kriminalität und Drogenhandel. In der langen Friedenszeit seit 1815 war Schweden stets der „standhafte Nationalstaat“; aber heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, wächst die Akzeptanz eines weitergefaßten Sicherheitskonzepts, das die schwedische Sicherheit im Sinne einer internationalen Zusammenarbeit in Verbindung mit der Europäischen Union versteht.

Seit dem 1. Januar 1995 ist Schweden Mitglied der Europäischen Union. Der Antrag auf Mitgliedschaft war am 1. Juli 1991 gestellt worden. In einer Volksabstimmung über den Beitritt auf der Grundlage der zwischen Schweden und der EU ausgehandelten Vereinbarungen hatte schließlich das schwedische Volk am 13. November 1994 das letzte Wort. Die Schweden stimmten mit 52, 3 Prozent zugunsten einer Mitgliedschaft; 46, 8 Prozent waren dagegen. Das war ein klares, aber keineswegs überwältigendes Ergebnis. Heute, nach einem Jahr als Unionsmitglied, scheinen die Schweden eine negativere Haltung gegenüber „Europa“ und der Union einzunehmen. Umfragen vom November 1995 ergaben, daß 60, 5 Prozent der Schweden bei einer erneuten Volksabstimmung mit „nein“ gestimmt hätten; nur 26, 9 Prozent hätten sich diesmal für „ja“ entschieden. Vergleichbare Zahlen für das norwegische Volk, das 1994 die Mitgliedschaft erneut abgelehnt hatte, deuten darauf hin, daß die Norweger heute sogar noch etwas pro-europäischer sind als die Schweden: 58 Prozent wären bei einer erneuten Abstimmung gegen einen Beitritt, 29 Prozent dafür. Wie kann man diese Entwicklung erklären? Was erwarteten die Schweden zwischen 1991 und 1994 -und was sind ihre Erwartungen und Ziele heute?

I. Die lange Vorgeschichte der schwedischen EU-Mitgliedschaft

Schweden (Sverige)

Der schwedische Antrag auf Mitgliedschaft im Jahr 1991 und die im Parlament getroffene Entscheidung vom Herbst 1990, diesen Antrag überhaupt zu stellen, bedeuteten eine völlige Umkehr von wenigstens 30 Jahren offizieller Politik. Diese Politik wurde stark mit der Partei identifiziert, die die schwedische Politik in der Zeit nach 1945 beherrscht hatte: der Sozialdemokratischen Partei. Aus einer umfassenderen historischen Perspektive war Schweden seit dem Wiener Kongreß von 1815 immer eher ein Land außerhalb Europas als ein europäisches Land, denn damals wurden die letz-ten kontinentalen Besitzungen abgetreten (Pommern, Rügen und Wismar). Dieser Abschied von seiner kontinentalen Rolle mündete zugleich in eine lange Phase des Friedens, der relativen politischen Isolation und der „Neutralität“, die angesichts europäischer Krisen und bewaffneter Konflikte wiederholt als nationales Prinzip erklärt wurde. Übersetzung aus dem Englischen von Martina Boden, Winsen/Aller. Die Schweden hatten also mit dieser einzigartigen und ungebrochenen Friedenserfahrung außerordentliches Glück. Der Frieden ermöglichte einen stetigen, evolutionären Prozeß der Industrialisierung und Modernisierung sowie den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates. Diese besondere Entwicklung schloß das Land zugleich von einem Großteil der Überlegungen aus, die über ein Europa als „Gemeinschaft“ angestellt wurden -etwas, das über ein bloßes System souveräner Staaten hinausgehen sollte. Die Gestalt Europas war in der Gedankenwelt/der Schweden in gewisser Weise noch immer von der Ordnung nach dem Westfälischen Frieden von 1648 bestimmt, an der Gustav Adolf und die Schweden maßgeblich beteiligt gewesen waren. Im Jahr 1945, als die Diskussionen über eine Nachkriegsordnung für Europa einsetzten, traten die Schweden lediglich für einen Kontinent des freien Handels ein. Der Europarat sollte eine grundsätzlich „kulturelle“ und „humanitäre“ Einrichtung mit begrenztem Handlungsspielraum werden. Die Visionen von Monnet, Schuman und Hallstein trafen auf wenig Verständnis, wenn es darum ging, daß diese Visionen auch Schweden und die nordischen Länder einschließen und so über die Beilegung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ hinausgehen könnten.

Da sie auf ein Europa des Freihandels ausgerichtet waren, ein Europa der souveränen Staaten, waren die Schweden wenig geneigt, die Römischen Verträge für ihre Zukunft in Betracht zu ziehen. Die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) dagegen schien zumindest für bestimmte Politikbereiche wie den Marktzugang und den wirtschaftlichen Austausch eine angemessene Lösung zu sein. Zur gleichen Zeit verfolgten die nordischen Länder ihre eigene Vision einer „Europäischen Integration“ im Rahmen des 1952 geschaffenen Nordischen Rates (Finnland schloß sich den GründerStaaten Dänemark, Island, Norwegen und Schweden im Jahr 1955 an). Diese Form der „alltäglichen“ Integration beinhaltete Austausch und Zusammenarbeit im kulturellen Bereich, aber auch lange vor „Schengen“ die Abschaffung von Paßkontrollen, die Ermöglichung eines gemeinsamen Arbeitsmarktes sowie vergleichbare soziale Leistungen.

Das war keine „hohe“ Politik. Das Thema „Sicherheit“ konnte vom Nordischen Rat angesichts der unterschiedlichen politischen Zielrichtungen der nordischen Staaten nicht behandelt werden -Dänemark, Island und Norwegen waren Mitglieder der NATO, Schweden war neutral und Finnland hatte eine besondere Beziehung zur Sowjetunion durch den bilateralen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand. Der Nordische Rat war und bleibt eine Form der praktischen Zusammenarbeit, die unspektakuläre, aber greifbare Vorteile für die nordischen Bürger bringt. Die schwedische (und nordische) Erfahrung begünstigte daher ein Denken, das kleine Schritte und praktische Maßnahmen statt großartiger Entwürfe bevorzugt.

Im Jahre 1961 griff der damalige Ministerpräsident Tage Erlander in die erste schwedische Debatte über die Beziehungen zur Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft ein. Erlander schuf damals den Grundsatz, an dem sich die schwedische Haltung bis zum Ende des Kalten Krieges orientieren sollte: Schwedens „Neutralität“ schloß die Mitgliedschaft in der EWG aus. Das gleiche galt auch für das Streben, die völlige Kontrolle über die schwedische Gesellschaft, das Sozialstaatsystem, die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und dergleichen mehr zu behalten: das „Souveränitäts“ -Argument in der innerschwedischen Debatte. Schließlich konnte Schweden laut Erlander ebensogut „ohne Europa“ auskommen. Als die zweite, größere Debatte etwa zehn Jahre später einsetzte, war die politische Führung (wenn auch nicht die große Masse) im Hinblick auf die Fähigkeit Schwedens, die Dinge allein, ohne Europa, zu bewältigen, etwas bescheidener geworden. Ministerpräsident Olof Palme erklärte nunmehr ausdrücklich, eine enge Beziehung zu den Staaten der EG sei für Schweden unbedingt notwendig. Für ihn selbst stand dabei wohl eine Mitgliedschaft Schwedens an vorderster Stelle der Überlegungen. Die Pläne der EG für eine verstärkte außenpolitische Zusammenarbeit sowie eine Währungsunion wie auch die Opposition innerhalb der Sozialdemokratischen Partei machten solche engen Beziehungen zu dieser Zeit allerdings unmöglich. Statt dessen schloß sich Schweden am 1. Januar 1973 einem Freihandelsabkommen mit der Gemeinschaft an. Dänemark dagegen brach aus der Reihe der nordischen Staaten aus und wurde Mitglied.

In den achtziger Jahren setzte eine neue Debatte ein. Die Wiederbelebung der Gemeinschaft zwischen dem Luxemburger Treffen von EG und EFTA im Jahr 1984 und dem Abschluß des Maastricht-Vertrages im Dezember 1991 hatte zu einer Veränderung Europas beigetragen. Zugleich begannen sich die großen Umbrüche in Mittel-und Osteuropa auszuwirken. Dieser zweifache Wandlungsprozeß erforderte auch in Schweden ein „neues Denken“. Im Jahr 1987 erklärte die sozialdemokratische schwedische Regierung ihre Absicht, die Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft zu erweitern uqd so weit zu vertiefen, wie dies mit der schwedischen Neutralität vereinbar sei. 1989 war schließlich klar, daß dies eine Beteiligung am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) bedeuten würde. Die im Jahr 1990 eingeleiteten Verhandlungen wurden jedoch von der beschleunigten Entwicklung der Ereignisse überholt.

Die volle Mitgliedschaft wurde zu einem Thema der Parteipolitik, wobei eine nichtsozialistische Opposition sich vehement für einen Beitritt aussprach -auch ein Ergebnis der veränderten Lage in Europa. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 muß hier als ein Ereignis von enormer Bedeutung angesehen werden, das die Wirkung der Befreiung der ehemaligen osteuropäischen Staaten im Jahr 1989 verstärkte. Europa veränderte sich -und das mit Zustimmung der Sowjetunion. Umfragen unter den Schweden belegten einen raschen Stimmungsumschwung zugunsten einer vollen schwedischen EG-Mitgliedschaft. Die Schweden schienen nun europäisch gesinnt, und im Sommer und Frühherbst 1990 wandte sich die Regierung von der seit 1961 verfolgten Politik ab. Mit überwältigender Mehrheit beschloß das Parlament schließlich am 2. Dezember 1990, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EG zu stellen.

Diese Entscheidung und der Antrag vom 1. Juli 1991 müssen als Revolution verstanden werden, die sich im Rahmen der größeren europäischen Revolution von 1989/90 abspielte. Es besteht kein Zweifel, daß eine Welle des Euro-Enthusiasmus die Schweden aus ihrer „splendid Isolation“ herausholte. Daneben kamen jedoch auch einige nüchterne wirtschaftliche Überlegungen zum Tragen, ausgelöst etwa durch die akute Wirtschaftskrise vom Herbst 1990, die Schwedens Abhängigkeit vom Handel und von den engen Beziehungen zu den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft deutlich machte -ein Umstand, auf den Olof Palme schon 1970 hingewiesen hatte.

II. Vom Euro-Enthusiasmus zurück zur Euro-Skepsis

Der Höhepunkt des öffentlichen Enthusiasmus war möglicherweise schon im Verlauf des Jahres 1991 erreicht. Umfragen, die nur sechs Monate nach Maastricht gemacht wurden, zeigten einen klaren Trend zur Ablehnung einer schwedischen Mitgliedschaft, während gleichzeitig die Verhandlungen über diese Mitgliedschaft voranschritten. Die Ursachen dafür lagen zum Teil zweifellos bei der Gemeinschaft und ihren Mitgliedern selbst. Man fragte sich: „Wissen die Europäer denn selbst nicht, was sie wollen?“ Die Zeit zwischen dem Antrag im Juli 1991 und der Volksabstimmung im November 1994 bezeichnet den Rückzug von den Hoffnungen des Jahres 1990 auf eine sehr viel zwiespältigere Sicht der Vorteile einer Unionsmitgliedschaft. Eine weitere Ursache für die zunehmende Skepsis könnte in der sich vertiefenden Wirtschaftskrise gelegen haben, vor der die nicht-sozialistische Regierung Schwedens nach den Wahlen von 1991 stand. Harte Maßnahmen wurden ergriffen, vermutlich um Schweden „euro-kompatibel“ zu machen. Das war jedoch kaum der rechte Weg, Zustimmung zur Union in jenen Kreisen der Wählerschaft zu wecken, die sich in der Hoffnung auf bessere Zeiten dem Lager der Befürworter angeschlossen hatten. Vor allem war klar, daß die Masse der Sozialdemokratischen Partei noch immer nicht überzeugt war -wodurch die Partei der Schlüssel zu einem letztendlichen Beitritt Schwedens zur Union blieb.

Die Wahlen vom September 1994 brachten die Sozialdemokraten wieder an die Macht. Der neue Ministerpräsident Ingvar Carlsson, der die Änderung der Politik 1990 herbeigeführt hatte, warf sich jetzt in die Schlacht um die Volksabstimmung, die zwei Monate nach den Parlamentswahlen stattfand. Die Kampagne, die erst nach der Regierungsübernahme durch die Sozialdemokraten einsetzte, war höchstwahrscheinlich entscheidend für den Ausgang des Referendums. Die EU-Gegner hatten bis nahezu eine Woche vor dem Referendum die Oberhand, und ein letzter Aufruf des Ministerpräsidenten an seine Wähler, ihm in der

Sache der EU-Mitgliedschaft zu vertrauen, könnte die Frage letztendlich entschieden haben. Am 1. Januar 1995 trat Schweden also der Europäischen Union bei.

Die Volksabstimmung bedeutete jedoch nicht das Ende der Beitritts-Geschichte. Die gut organisierte Anti-EU-Bewegung stellte ihre Arbeit nicht ein. Am 17. September 1995 fanden in Schweden die ersten Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Das Ergebnis entsprach nicht dem, was die Regierung Carlsson oder sonst jemand erwartet hatte. Nur knapp 41 Prozent der Stimmberechtigten hatten sich an der Wahl beteiligt -für Schweden eine außergewöhnlich geringe Zahl. Unter den Mitgliedstaaten insgesamt wies Schweden damit eine der schwächsten Beteiligungen auf. Das Ergebnis kam einem donnernden Protest gegen das Establishment gleich, das Schweden weniger als ein Jahr zuvor in die Union gebracht hatte. Der Unterschied zwischen den nationalen Wahlen 1994 und den EU-Wahlen war hinsichtlich des Ergebnisses und der Beteiligung augenfällig.

Die Parteien, die beim Referendum gegen eine EU-Mitgliedschaft gewesen waren -die Grünen und die Linken (ehemalige Kommunisten) -konnten Gewinne verbuchen, wobei die Grünen die eigentlichen Gewinner der EU-Wahlen waren, errangen sie doch nicht nur eine höhere Prozentzahl, sondern verdoppelten noch ihre Anhängerschaft im Vergleich zu 1994. Die „Moderaten“ (ehemals Rechte) -Befürworter der EU -hielten ihre Position ebenso wie die Europa ambivalent gegenüberstehende Zentrumspartei; nicht so die Liberalen, die in Schweden am beständigsten für Europa eingetreten waren. Für die Sozialdemokraten waren die Wahlen zum Europaparlament eine völlige Katastrophe. Sie konnten nur noch ein Drittel der Wählerschaft hinter sich versammeln, die sie bei den nationalen Parlamentswahlen im Vorjahr unterstützt hatte.

Analytiker beschrieben die schwedischen Europa-wahlen als Mißtrauensvotum, als Protest. Der Schock für das politische Establishment war beträchtlich -und die Sprecher der Nein-Sager des Referendums sahen in dem Ergebnis einen späten Sieg, der Schweden aufforderte, die Union zu verlassen. Es handelte sich zweifellos um einen Protest, der allerdings die Frage aufwarf, was sich denn innerhalb eines Jahres so sehr verändert hatte, daß die aus standhaften Skandinaviern bestehende Wählerschaft so flatterhaft geworden war -ein Urteil, das gewöhnlich eher die südlicheren Bürger Europas trifft. Die schwedischen Reaktionen müssen jedoch vor dem Hintergrund natio­naler historischer Erfahrungen wie auch der Erwartungen an die Mitgliedschaft gesehen werden. Welche Erklärung es auch für den Einbruch bei der Beteiligung an den Europawahlen geben mag, es drängte sich der Eindruck auf, daß eine beträchtliche Zahl der schwedischen Wähler, die sich von sozialdemokratischen Appellen an Loyalität und Vertrauen hatten überzeugen lassen, nicht länger bereit war mitzuziehen.

III. Die Krise des schwedischen Wohlfahrtsstaates

Schwedens Status als Nachzügler in Europa ließ die Reaktionen der Schweden dramatischer ausfallen als die durchschnittliche Euro-Skepsis unter den Unionsmitgliedern. Es steckt jedoch noch ein größeres Problem dahinter, das Schweden sicherlich mit den europäischen Partnern teilt, bei dem es aber wiederum einen Extremfall darstellt: die Zukunft des Wohlfahrtsstaates oder die Krise des Sozialstaates. Unglücklicherweise kollidieren die Herausforderungen der Union mit jenen des Wohlfahrtsstaates, der nicht länger in dem Ausmaß wie in den sechziger und siebziger Jahren finanziert werden kann. Dieses Problem kann bzw. wird demnächst alle. Unionsmitglieder ebenso wie andere westliche Staaten treffen. Die Diskussion in Deutschland über die Rettung des Sozialstaates -und nicht mehr dessen Ausbau -sind ein unübersehbares Zeichen dafür. Die Krise kam nicht plötzlich, die Ursprünge liegen im Falle Schwedens wahrscheinlich einige Jahrzehnte zurück. Daß eine Krise bevorstand, kündigte sich bereits in den siebziger Jahren im Zusammenhang mit dem Ölpreisschock an. In Schweden dauerte es weitere zwei Jahrzehnte, bis die Krise in der Regierungszeit von Carl Bildt (1991-1994) akut wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden die ersten Maßnahmen eingeleitet, um den Wohlfahrtsstaat „abzuspecken“. Es gab Einschnitte im Gesundheitswesen, und der Ruf nach „Privatisierung“ -d. h. stärkerer Eigenverantwortung der Bürger -wurde laut, was speziell den Staatshaushalt für Gesundheit, Wohlfahrt und Arbeitslosenvorsorge betraf. Die Regierung Bildt deutete auch an, daß Veränderungen im schwedischen System erforderlich wären, um das Land an EU-Normen anzupassen, wenn die Mitgliedschaft vollzogen würde. Weder dieses Argument noch die Einschnitte selbst erwärmten die schwedische Öffentlichkeit für die Idee eines Abbaus der sozialen Sicherung und die Privatisierung dieser Bereiche durch neue Versicherungsformen.

Die Sozialdemokratische Partei hatte ihren Wahlkampf 1994 auf der Grundlage eines Programms zur Bewahrung der alten Ordnung und des Wohlfahrtsstaates geführt. Einmal an der Macht, hatte die Regierung Carlsson dann jedoch bald vor der Notwendigkeit gestanden, sich aus den Regierungsverpflichtungen für Gesundheitsprogramme, Höhe der Renten und Kindergeld zurückzuziehen. Es wurden 1994/95 Schritte unternommen, die zwar keineswegs drastisch zu nennen waren, die jedoch einen regelrechten Aufschrei in der gesamten Wählerschaft und insbesondere unter den Anhängern der Sozialdemokraten hervorriefen. Parallel dazu hatte die finnische Regierung mit ihrem Sparprogramm sehr viel tiefere Einschnitte in die Sozialleistungen vorgenommen, obwohl deren Niveau in Finnland insgesamt um einiges niedriger lag als in Schweden. Das Krisenbewußtsein in Schweden erwies sich als sehr gering -es war, als sei das Land völlig von dem Problem überrascht worden.

Innerhalb der Sozialdemokratischen Partei tat sich eine Kluft zwischen den „Reformern“ und den „Traditionalisten“ auf. Die ersteren sprachen von Eigenverantwortung, „egenmakt“, und machten eine Tugend daraus, unter dem Leitbild der individuellen Verantwortung neu über den unausweichlichen Rückzug aus einem überzogenen Wohlfahrtsstaat nachzudenken. Die Traditionalisten auf der anderen Seite sahen keinen Grund für einen Rückzug. Wohlstand würde in Zukunft wie schon in der Vergangenheit durch expansive Staatshaushalte und öffentliche Investitionen geschaffen. Die „angebliche“ Verschuldung und die laufenden Defizite wären reine Einbildung und könnten bewältigt werden, sobald öffentliche Programme höhere Beschäftigungsniveaus und Wachstum hervorgebracht hätten.

Diese Debatte der Jahre 1994/95, die bei den Traditionalisten das Gefühl hervorrief, die Regierung Carlsson „verrate“ ihre sozialdemokratischen Wurzeln, hatte es in den achtziger Jahren schon einmal in der Partei gegeben. 1995 steckte die Regierung (und die Sozialdemokratische Partei) jedoch in tieferen Schwierigkeiten, und das nicht nur, weil sie gezwungen worden war, auf höchst unpopuläre Einschnitte im Sozialsystem zurückzugreifen. In der Debatte vor dem Referendum war die Union als Wohlfahrtsprojekt eines ihrer zentralen Argumente zugunsten einer EU-Mitgliedschaft gewesen. Ein Beitritt hätte also den Weg für die Verwirklichung der großen Vision einer euro­päischen Wohlfahrtsgemeinschaft bereiten sollen. Dieses Konzept bildet den Kern der späteren schwedischen Vorschläge für eine „Beschäftigungs-Union“, die für die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz 1996 erarbeitet wurden.

Es bedeutete anscheinend wenig im Hinblick auf die zunehmende Euro-Skepsis, daß der tatsächliche Anstieg der Lebensmittelpreise zwischen Oktober 1994 und Oktober 1995 bei nur rund einem Prozent gelegen hat, und daß die Arbeitslosigkeit (offene und versteckte) relativ stabil bei zwölf Prozent lag. Wichtig ist dagegen, daß diese Dinge sich trotz der ambitionierten Regierungserklärungen und -programme nicht verbessert haben. Arbeitslosigkeit ist für die Sozialdemokraten ein sehr delikates Problem, sehen sie sich doch als Partei der Vollbeschäftigung. Regierungsprogramme hatten allerdings auch bisher schon wenig Einfluß auf die tatsächliche Entwicklung gehabt, und der schreckliche Verdacht drängt sich auf, daß nicht einmal bessere Zeiten und eine schwedische Exportindustrie auf vollen Touren die Situation wirklich verändern könnten. Hohe Arbeitslosen-zahlen -Raten, wie sie Schweden seit den dreißiger Jahren nicht gekannt hat -könnten ein dauerhaftes Merkmal des fortgeschrittenen Wohlfahrtsstaates sein. Der symbolische Effekt einer solchen „Wahrheit“ würde nicht nur die Sozialdemokratische Partei erschüttern, sondern auch die Glaubwürdigkeit des „schwedischen Modells“.

Die Erfahrungen anderer Länder sind dabei kaum ermutigend. Mitte der achtziger Jahre versuchten die Dänen, ihren Regierungshaushalt neu zu strukturieren. Sie waren erfolgreich und sicherten ein langfristiges Wirtschaftswachstum -die Arbeitslosenrate blieb dennoch unverändert bei rund zehn Prozent. Die Zahlen der Europäischen Union legen nun nahe, daß zehn bis zwölf Prozent ein erschreckender, aber offenbar normaler Durchschnitt sind -selbst in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums. Chaotische Bedingungen kennzeichneten die französische Politik und die Straßen von Paris Ende 1995 aufgrund der gleichen Schwierigkeiten. Eine Reihe von Leistungen war durch eine Regierung bedroht, die entschlossen war, „schlank“ zu werden und Haushaltsdiszip(in durchzusetzen. Der Rest der Union fürchtet natürlich den Moment, da die Probleme des nicht mehr finanzierbaren Sozialstaates die „Lokomotive Europas“, nämlich Deutschland, treffen. Die Frage für Frankreich, Schweden, Deutschland und die anderen liegt nicht darin, ob der Sozialstaat bleibt. Die Frage lautet, in welcher Form er bleibt, und ob ein Rückzug von überzogenen Verpflichtungen über soziale Verträge oder über sozialen Kampf führt. Ein europäisches Sozialstaatskonzept stand im Mittelpunkt der schwedischen sozialdemokratischen Europa-Vision des Jahres 1991 ebenso wie 1994 und 1995 -es wird eine Conditio sine qua non für die schwedische Mitgliedschaft bleiben.

IV. Schwedische Erwartungen an die Union vor der Mitgliedschaft

Die Debatten der Jahre 1990/1991 über den schwedischen EU-Beitritt konzentrierten sich eindeutig auf die Probleme des Wirtschaftswachstums und des freien Zugangs zu den internationalen Märkten. Die Wirtschaft, d. h. die Integration in der EU auch als eine Form der Verteidigung gegen jene globalen Finanzmärkte, die jetzt eine kleine Staatswirtschaft bedrohen, war das Hauptargument zugunsten der Union. Ein zweites Thema, das für eine Mitgliedschaft sprach, war „Frieden“ -die Union als langfristiges europäisches Friedens-projekt, das seinen Mitgliedern Sicherheit und Europa Stabilität bringt. Das Thema „Frieden und Sicherheit“ war jedoch von geringerer Bedeutung als „Wirtschaft, Wachstum, Wohlfahrt und Beschäftigung“. Argumente gegen die Mitgliedschaft konzentrierten sich eher auf Begriffe wie „Neutralität“ und „Souveränität“. Beides war angeblich durch die Union bedroht; daneben standen bei den Gegenargumenten auch Probleme im Zusammenhang mit den Chancen für Frauen, Verbraucherfragen und die Umwelt im Vordergrund. Ein wichtiges Thema war die Demokratie, wobei viel über das Demokratiedefizit in der Union gesagt wurde, die als grundsätzlich undemokratisches, von oben aufgezwungenes Projekt angesehen wurde. Obwohl viele Schweden durchaus Vorstellungen von europäischem Frieden und kultureller europäischer Identität hegen und die Union für sie mehr ist als nur die Sorge um das schwedische Bruttoinlandsprodukt und materiellen Reichtum, so scheint es doch, daß die zentrale Erwartung der Schweden sich gerade darauf richtet -auf andauernden und wachsenden Wohlstand und Wohlfahrt. Was den Friedensfaktor angeht, so machte die politische Debatte innerhalb wie außerhalb des Parlaments sowohl den Schweden wie auch der Welt deutlich, daß Schweden an seiner blockfreien Politik und seiner nationalen Verteidigung festhalten würde („Nur Schweden verteidigen Schweden, und Schweden verteidigt nur Schweden“, wie derkonservative Ministerpräsident Carl Bildt schwedisches Denken in dieser Hinsicht formulierte). Bei der Sicherheit im weiteren Sinne gab es jedoch kein Problem mit der Union und der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik, da diese als Erfüllung der Anforderungen der Charta von Paris von 1990, der Prinzipien der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Vereinten Nationen gesehen werden konnte. Die friedliche Beilegung von Konflikten, aber auch die Friedenserhaltung kannten die Schweden bereits -durch ihre Beteiligung an entsprechenden UN-Einsätzen.

All dies legt nahe, daß hinsichtlich solcher Themen wie europäische Identität, Föderalismus, Supranationalismus, Verteidigungsgemeinschaft usw. keine großen Erwartungen oder Wünsche gehegt wurden. Die Europäische Union soll vor allem die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlfahrt im allgemeinen schaffen. Im Prozeß der politischen Entscheidungsfindung wird Offenheit in Brüssel erwartet, die Schweden wollen sich für die Chancengleichheit von Männern und Frauen einsetzen und hart um Umweltthemen feilschen. In diesem letzten Bereich gibt es in der schwedischen Debatte sogar Stimmen, die eine schwedische Rolle als entschlossener Unruhestifter vorschlagen, um die Union zu zwingen, die höheren schwedischen Umweltstandards zu akzeptieren. Hier treffen sich die schwedischen Erwartungen weitgehend mit idealistischen Vorstellungen, wie sie traditionell in der schwedischen Abrüstungspolitik und entsprechenden Initiativen zu finden sind. Eine zentrale Beobachtung hinsichtlich des Verhältnisses zur EU ist wohl, daß die Schweden eine Mitgliedschaft in der Union als eine Form der internationalen Zusammenarbeit verstehen, wenn auch einer sehr viel weitergehenden Zusammenarbeit, als Schweden sie bis dahin in den UN und der KSZE erlebt hat. „Integration“ und „Union“ sind dagegen fremde Begriffe, die eher außerhalb des schwedischen Bezugsrahmens liegen. Es ist also kaum verwunderlich, daß die Mitgliedschaft an sich einen erheblichen Lernprozeß erfordert. Skizziert man die schwedische Bewußtseinslage an der Schwelle zur Mitgliedschaft im Jahre 1994 auf diese Weise, so könnte man rasch zu einer Vorstellung von den Schweden, gelangen, die sich ihr Europa „ä la carte“ zusammenstellen. Man könnte das Bild eines Nachzüglers gewinnen, der meint, er träte einer Wirtschaftsgemeinschaft bei, die in Wirklichkeit bereits durch ein ehrgeizigeres und weitreichenderes Projekt ersetzt wurde. Es ist jedoch vielmehr so, daß die Entscheidung für einen Beitritt aus der Erkenntnis erwuchs, daß die Welt sich verändert hat. Der Beitritt war hiernach letztendlich der einzige Weg, Einfluß auf die Gestaltung dieser neuen Welt zu nehmen.

V. Bilanz eines Jahres und Ausblick

Wie erörtert, brachte die Mitgliedschaft keine direkten Verbesserungen der Bedingungen für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt oder den sozialen Bereich -zumindest wird dies von der breiten Öffentlichkeit so wahrgenommen. Trotz der „Sparpläne“ der Regierung bleibt die Arbeitslosigkeit hoch, was viele direkt mit der Union in Verbindung bringen, wo die durchschnittliche Arbeitslosenrate vor 1991, also vor dem Antrag auf Mitgliedschaft, erheblich höher gewesen war als in Schweden. Das Argument von Regierungsvertretern und Befürwortern der Union, Zinsen, Arbeitslosigkeit und Lebenshaltungskosten währen ohne den Beitritt Schwedens zur Union sogar noch höher, kam in der breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht an. Wie die Europawahlen zeigten, war Schwedens erstes Jahr in der Union in den Augen der Bevölkerung kein Erfolg. Diese Wahlen vom September 1995 machten die entscheidende Rolle der Sozialdemokratischen Partei deutlich: Solange die Masse ihrer Mitglieder nicht entschlossen für die Union eintritt, bleibt eine breite öffentliche Unterstützung zweifelhaft. Der Parteitag im März 1996 wird erneut demonstrieren, daß das strategische Schlachtfeld im Kampf um die Zustimmung der Schweden zur Union in dieser Partei liegt. Bisher dem Parteitag zugeleitete Vorschläge deuten auf eine große Bandbreite der Meinungen unter den Mitgliedern. Darin sind jedoch häufig massive Bemühungen enthalten, die Handlungsfreiheit der Regierung einzuschränken: Sie fordern eine Ablehnung der Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion, weitere Volksabstimmungen über jegliche Entwicklung in der EU, die Verpflichtung, die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) dürfe nicht die schwedische Neutralität berühren und dergleichen mehr. Während die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Union von der Unzufriedenheit mit den allgemeinen Umständen in Schweden und von der Opposition gegen spezifischere EU-Phänomene bestimmt war, fiel die Wahrnehmung der schwedischen Elite vom ersten Jahr in der Union eher positiv aus.Man meinte, Schweden habe sich als aktives und engagiertes Mitglied etabliert, als ein Land, das sich zu allen Problemen frei äußert -oder wie der Kommentar aus Brüssel lautete, „ein Land mit dem Instinkt einer großen Macht“. Ein Urteil, das von den Schweden nicht unbedingt als negativ empfunden wurde. Natürlich hatte es Schwierigkeiten mit den Routinen und Formalitäten der Union gegeben. Die Schweden -wie schon andere neue Mitglieder vor ihnen -müssen „on the job“ lernen. In manchen Bereichen, die den Schweden am Herzen liegen, wurde sogar einiges erreicht, um nicht sogar von Erfolgen zu sprechen: in Fragen der Gleichberechtigung und bei Umweltthemen, in der Frage der Offenheit der Entscheidungsfindung, im Freihandel und nicht zuletzt im Eintreten für die baltischen Republiken, die in einem künftigen Erweiterungsprozeß in gleicher Weise Beachtung finden sollen wie die mitteleuropäischen Staaten. Angesichts der verbreiteten Europaskepsis zu Hause fühlen sich schwedische EU-Vertreter offensichtlich verpflichtet, bei einer großen Zahl von Themen aktiv zu werden.

Die Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und den Einschätzungen der politischen Elite ist also offensichtlich. Das Bewußtsein dieser Kluft beeinflußte auch die Bemühungen der schwedischen Regierung, ihre EU-Politik zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 „gut zu verkaufen“. Eine Broschüre, die Mitte 1995 erschien, nennt drei wesentliche schwedische Ziele für die Konferenz: Die Union soll eine stärkere öffentliche Basis und demokratische Legitimation erhalten, es soll der Weg für eine fortgesetzte Öffnung der Union bereitet werden und man will in für Schweden wichtigen Bereichen auf eine verstärkte Zusammenarbeit hinwirken, insbesondere bei Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Umwelt. Diese Zusammenstellung der schwedischen Ziele am Vorabend der Regierungskonferenz listet insgesamt zehn Themen bzw. Herausforderungen auf: -stärkere öffentliche Basis und demokratische Legitimation, -Erweiterung, -eine offene und leichter zugängliche sowie effektivere Union, -Subsidiarität, -Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, -Europäische Währungsunion, -Beschäftigung, -Zusammenarbeit in rechtlichen Fragen und Freizügigkeit, -Europa ä la carte und -die Position kleiner Staaten.

Die alten wirtschaftlichen Prioritäten -darunter die Beschäftigung als zentrales Thema -sind noch immer höchst relevant. Die schwedischen Bemühungen um eine „Beschäftigungs-Union“, durch die nationale Anstrengungen koordiniert und die multilaterale Zusammenarbeit gefördert werden sollen, wurden bereits erwähnt. Vor dem Hintergrund der in Schweden so populären Euro-Skepsis ist der Ruf nach einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit und Demokratisierung der Union kein Zufall. Das gilt auch für die starke Unterstützung des Subsidiaritätsprinzips. Diese Prioritäten spiegeln zugleich eine klare Verpflichtung auf Partizipation und Dezentralisierung wider.

Eine Erweiterung der Union steht ganz oben auf der Tagesordnung, was sich immer wieder in der schwedischen Unterstützung für den KSZE/OSZE-Prozeß zeigt. Die Erweiterung hängt aber auch mit direkteren strategischen und Sicherheitsabwägungen zusammen: Es geht um die Position und Zukunft der benachbarten baltischen Republiken, gegenüber denen sich Schweden gemeinsam mit den anderen nordischen Ländern aus historischen und geographischen Gründen in der Rolle des hilfsbereiten Nachbarn und Anwalts sieht. Die baltische Verpflichtung wird wahrscheinlich nicht nur in der schwedischen, sondern in der nordischen Politik innerhalb der Union ein wichtiges Thema bleiben. Von der Regierungskonferenz wird hier sicherlich Orientierung erwartet -nicht nur für eine Erweiterung, sondern auch für die notwendige Neustrukturierung der Union, damit sie eine größere Mitgliederzahl bewältigen kann. Dies ist eine der größten Herausforderungen für die Union: Eine Erweiterung erfordert zugleich eine Vertiefung der Integration, denn vor dem Hintergrund der im Maastricht-Vertrag formulierten Ziele ist das eine ohne das andere nicht realistisch. Die Schweden sind sich dieses Problems bewußt.

Die Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik wird als mit der „militärischen Blockfreiheit“ vereinbar angesehen. Die schwedische nationale Verteidigung bleibt darum außerhalb der GASP, was eine Bereitschaft, die EU-Aktivitäten im Bereich der Friedenserhaltung und anderer Formen freiwilliger internationaler Operationen auszudehnen, nicht ausschließt. Darüber hinaus besteht offiziell die Bereitschaft, in solchen Fragen MehrheitsabStimmungen zu akzeptieren. Was die gemeinsame Verteidigung angeht, so wird die Linie vertreten, daß die schwedische Nicht-Beteiligung andere Mitgliedstaaten nicht davon abhalten sollte, eine solche Option zu verfolgen. Schweden ist heute Beobachter in der Westeuropäischen Union (WEU) und eine Veränderung dieses Status wird nicht erwogen. Bei der Regierungskonferenz 1996 wird von Schweden möglicherweise erwartet, daß es „präventive“ Elemente der GASP und die Notwendigkeit, stärkere europäische Fähigkeiten in diesem Bereich zu entwickeln, unterstreicht. Was die Europäische Währungsunion angeht, so zeigt sich in der Debatte jetzt eine gewisse Vorsicht. In einem kürzlich von einer Gruppe einflußreicher schwedischer Wirtschaftswissenschaftler veröffentlichten Bericht wurde geraten, den schwedischen Beitritt hinauszuzögern. Die Debatte im allgemeinen hat sich von der Frage der schwedischen Fähigkeit, die Konvergenzkriterien zu erfüllen, abgewandt. Sie konzentriert sich nunmehr auf wachsende Zweifel an dem Projekt angesichts des gesetzten Zeitrahmens. Die Unschlüssigkeit der älteren Unionsmitglieder wird sich in diesem Bereich höchstwahrscheinlich auf die schwedische Meinung auswirken.

In Übereinstimmung mit der schwedischen Position hinsichtlich von Demokratisierung und Partizipation befürworten alle schwedischen Parteien eine stärkere Rolle des Europäischen Parlaments -sowohl hinsichtlich der politischen Initiative als auch im Bereich der Kontrollfunktion. Eine traditionelle politische Linie betrifft außerdem nicht von ungefähr die Förderung der Position kleinerer Staaten. Es gilt, ihre Stellung -und damit auch die Stellung Schwedens -angesichts der verschiedenen Projekte der Umverteilung von Macht innerhalb der Unionsmitgliedschaft zu schützen.

Obwohl die schwedische Position von dem Wunsch nach Flexibilität und länderspezifischer Annäherung an die künftige Union geprägt ist, unterstützt sie kein Europa ä la carte. Im Gegenteil, der fortlaufende Prozeß der Integration sollte -soweit möglich -auf einer verbindlichen allgemeinen institutioneilen Grundlage beruhen. Schweden will das ganze Europa, keine Häppchen von einem Smörgäsbord.

Fussnoten

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Bo Huldt, Dr., geb. 1941; Dozent für Geschichte; seit 1979 am Schwedischen Institut für Außenpolitik, dessen Direktor seit 1988; 1992-1993 Direktor des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS), London; 1994-1995 Direktor für Strategische Studien an der Schwedischen Militärakademie. Veröffentlichungen u. a.: Sweden, the United Nations and Decolonization, Diss. 1974; Weltgeschichte 1945-1965, Stockholm 1981; Jahrbuch des Schwedischen Instituts für Außenpolitik seit 1983; zahlreiche Artikel über skandinavische und europäische Sicherheit, die Vereinten Nationen, friedensbewahrende Maßnahmen und internationale Waffenpolitik in Fachzeitschriften.