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Politische Bildung in schwierigen Zeiten | APuZ 47/1996 | bpb.de

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APuZ 47/1996 Politische Bildung in schwierigen Zeiten Braucht die Demokratie politische Bildung? Eine nur scheinbar absurde Frage Politische Bildung: Ohne Krisenbewußtsein in der Krise „Darmstädter Appell“ Aufruf zur Reform der Politischen Bildung in der Schule

Politische Bildung in schwierigen Zeiten

Siegfried Schiele

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politische Bildung verliert derzeit offenbar an Bedeutung, obwohl ihre Aufgaben ständig wachsen. Es drohen Kürzungen bei den Unterrichtsstunden, manche Landeszentralen für politische Bildung müssen mit starken Haushaltskürzungen leben, und freie Träger der Erwachsenenbildung bangen um Zuschüsse. Diese Einschnitte erfolgen in einer Zeit starker globaler und gesellschaftlicher Umbrüche. Politische Bildung kann wichtige Beiträge zur Bewältigung der damit verbundenen Probleme leisten. Sie muß deutlich machen, daß sie durch ihre Arbeit auch das Fundament unserer Demokratie festigen hilft. Allerdings darf politische Bildung auch nicht überfordert werden. Wenn im politischen Bereich selbst brennende Probleme nicht gelöst werden, dann ist auch die politische Bildung machtlos. Sie muß im Rahmen des Möglichen ihre Effizienz unter Beweis stellen und frischen Wind in die didaktisch-methodischen Bemühungen bringen. Dann hat sie Chancen, wieder an Boden zu gewinnen und kann unserer Gesellschaft bei der Bewältigung der überaus großen nationalen, europäischen und nicht zuletzt globalen Probleme und Herausforderungen helfen.

Anwachsen der Probleme -Abbau politischer Bildung

Es ist paradox: Die politische Bildung scheint an Kraft und Bedeutung zu verlieren, obwohl ihre Aufgaben ständig wachsen. Wie sollen aber die gegenwärtigen und künftigen Probleme gemeistert werden, wenn die Potentiale ihrer Bewältigung abgebaut werden? Kaum wird es mit der Unterrichtsversorgung in der Schule eng -schon ist die politische Bildung in Gefahr. Auch die Möglichkeiten vieler Zentralen für politische Bildung werden eingeschränkt. Freie Träger bangen um Zuschüsse.

Haben wir ein so kurzes Gedächtnis? Politische Bildung ist vor allem ein Kind der Überlegungen, wie man auf die Verbrechen und den Schrecken der NS-Herrschaft mit politisch-pädagogischen Mitteln angemessen reagieren könne. Die ersten wichtigen Investitionen in die politische Bildung wurden in Zeiten getätigt, als es uns wirtschaftlich und finanziell noch erheblich schlechter ging als in unseren Tagen. Wer hat die Stirn zu behaupten, nun sei das Werk der politischen Bildung nach fünfzig Jahren vollendet, jetzt könne man mit ihrem Abbau beginnen? Der Abbau politischer Bildung verursacht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weit mehr und andere Kosten als die relativ mageren Investitionen in die politische Bildung.

Wenn auch nicht gerade eine Rückkehr in eine neue Barbarei bevorsteht, so gab es doch auch in den letzten Jahren immer wieder besorgniserregende Zeichen dafür, daß der braune Ungeist nicht mit der NS-Herrschaft ausgestorben ist. Und in den neuen Bundesländern ist bei überwiegender Freude über die freiheitliche Demokratie ein anderer totalitärer Ungeist noch mit Händen zu greifen, der sich raffiniert nostalgischer Gefühle bedient. Wer hier verharmlost und im Hinblick auf eine krisen-und wetterfeste Demokratie Illusionen und Wunschträumen nachhängt -für den dürfte das Erwachen, das Erkennen der konfliktreichen Realität zumeist zu spät kommen.

Die fünfzigjährige Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik hat im Westen einen Zuwachs an Stabilität gebracht und demokratische Traditionen begründet, auf denen man weiter aufbauen kann -aber so ganz von alleine läuft der Prozeß nicht in eine positive Richtung, zumal in einer Zeit großer, unübersehbarer Umbrüche und Herausforderungen.

Noch nie war die Demokratie ein Selbstläufer. Niemand wird als Demokrat geboren. Demokratie ist keine Vollkaskoversicherung ohne Selbstbeteiligung. Sie ist aus sich selbst heraus nicht attraktiv genug. Autoritäre und totalitäre Versuchungen können verlockender sein. Die Demokratie ist etwas Nüchternes, etwas Formel-und Regelhaftes, ein System, das gelehrt und gelernt werden muß: eine klassische Aufgabe politischer Bildung.

Das Image politischer Bildung ist verbesserungsfähig

Wie Stalin den Papst nach seinen Truppen fragte, so kalkulieren vielleicht auch heute politisch Verantwortliche mit der Tatsache, daß die politische Bildung keine Massenbewegung zu ihrer Bestandssicherung auf die Beine stellen kann. Die wenigen „Hauptamtlichen“ werden nicht so ernst genommen, da sie ja vielleicht bei der Verteidigung der politischen Bildung auch an sich selbst denken und weniger an der Sache hängen könnten. Und die Demokratie fällt ja auch nicht gleich ins Bodenlose, wenn es weniger politische Bildung gibt. Wer rechnet schon im politischen Alltagsbetrieb mit schleichenden, langfristigen negativen Wirkungen? Politische Bildung hat also angesichts dieser Lage schlechte Karten. Sie braucht zu ihrer Stärkung so viel Einsicht, Weitsicht und Verantwortung, wie in Zeiten leerer Kassen kaum erwartet werden kann. Vielleicht sähe die Lage etwas rosiger aus, wenn die politische Bildung ein anderes Image hätte. Sie trägt z. T immer noch den „ 68er-Stempel“ -meist zu Unrecht. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre gab es die absolute Infragestellung unseres demokratischen Systems durch Theorien politischer Bildung, die erhebliche Schlagkraft ent falteten. Das bestehende politische System sollte danach radikal überwunden werden. Die politische Bildung geriet noch mehr in Mißkredit, weil sie als politisches Instrument mißbraucht wurde -von allen Seiten. Damit verlor sie eine wichtige Funktion: ihre Unabhängigkeit, die zum großen Teil ihren Wert ausmacht. Nur eine unabhängige politische Bildung ist für Schülerinnen und Schüler und in der Weiterbildung für alle Bürgerinnen und Bürger attraktiv.

Der Beutelsbacher Konsens hat ein bißchen dazu beigetragen, die Diskussion zu versachlichen und die politische Bildung wieder in pädagogische Bahnen zu lenken Nun könnte man vielleicht vermuten, der Konsens habe die politische Bildung langweilig gemacht und deshalb sei sie heute nicht mehr interessant und nicht mehr im Gespräch. Das wäre ein großer Irrtum. Konsens und Dissens sind aufeinander bezogen Nur auf einer gemeinsamen und verbindlichen Grundlage läßt sich der notwendige politische Streit kultiviert austragen. Die politische Bildung hat die wichtige Aufgabe, dieses Fundament mit bereitzustellen.

Politische Bildung in einer Demokratie darf also keinen Zweifel daran lassen, daß sie prinzipiell für unseren freiheitlichen Rechtsstaat arbeitet. Sie will dieses System gerade nicht überwinden, sondern sie will es stärken, vertiefen und weiterführen. Damit werden Mängel und Schwächen unserer Demokratie nicht weggewischt, aber diese werden in Relation gesetzt zum Grundanliegen unseres freiheitlichen Rechtsstaats, der vor allem für Menschenwürde, Freiheit und Solidarität steht.

Wenn die politische Bildung dieses Grundanliegen unverwechselbar ausstrahlt, dann hat sie auch bei allen demokratischen Kräften in unseren Parlamenten einen besseren Stand. Dann gehören auch die Nachwirkungen von „ 68“, die ihr zuweilen in der politischen Optik noch anhängen, bald der Vergangenheit an.

Die gewaltigen, hochkomplizierten gesellschaftlichen Veränderungen sind ohne politische Bildung nicht zu verstehen

Die politische Bildung wäre schlecht beraten, würde sie lediglich eine Nabelschau betreiben. Die Politik wird gegenwärtig von überaus großen Sorgen umgetrieben. Marion Gräfin Dönhoff sprach neulich von einer „Zeitenwende, die durch Globalisierung, Computertechnologie und elektronische Informationspraktiken gekennzeichnet ist und die wahrscheinlich größere gesellschaftspolitische Veränderungen verursachen wird als seinerzeit das Hereinbrechen des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters“ Diese gewaltigen Umwälzungen haben gesellschaftliche Krisen und Verunsicherungen zur Folge. Das im globalen Umbruch befindliche Wirtschaftssystem erschüttert gewohnte Stabilität und Sicherheit. Wichtige Orientierungen gehen verloren, die im Zug der verstärkten Individualisierung nicht kompensiert werden können. Die Schwindsucht in den öffentlichen Kassen zwingt dazu, das soziale Netz neu zu knüpfen, was ebenfalls zur aktuellen politischen Instabilität führt, allerdings mittelfristig zur Konsolidierung beitragen kann. Dazu kommen dann noch die globalen Bedrohungen durch ökologische Probleme, politische Krisenherde und das ungelöste Elend der Dritten Welt -nicht zuletzt in Form von Bürgerkriegen und Zuwanderungen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Sorgen der politischen Bildung als recht harmlos. Das gilt aber nur bei oberflächlicher Betrachtung, denn es gibt nur eine theoretische Trennung von Politik und politischer Bildung. Die Grundprobleme des politischen Lebens müssen auch die Hauptsorgen politischer Bildung sein. Da die Politik heute so gefordert, wenn nicht überfordert ist, bedarf sie vielfältiger Unterstützung. Eine Stütze kann und muß die politische Bildung sein.

Die aufgezeigten Probleme haben eine solche Dimension, daß sie ohne intensive Bildungsarbeit gar nicht vermittelt, geschweige denn gelöst werden können. Die globalen Trends z. B. sind auf den verschiedenen Sektoren Wirtschaft, Frieden, Ökologie oder Technologie so kompliziert, daß sie Stück um Stück aufgearbeitet und in der Bildungsarbeit ohne interessengeleitete, ideologische Verfälschung dargestellt werden müssen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß das ökologische Bewußtsein in Deutschland auch durch intensive Bildungsarbeit gestärkt werden konnte. In ähnlicher Weise muß ein qualifizierter Bewußtseinsstand im Hinblick auf andere globale Probleme erreicht werden, da diese zwangsläufig immer mehr tangieren. Das ist vor allem auch deswegen bedeutsam, weil die nicht mehr umkehrbare Entwicklung in Richtung Globalisierung der Festigung der Demokratie eher abträglich sein wird. Das hängt damit zusammen, daß unsere Welt mehrheitlich nicht demokratisch regiert wird, und weil fundamentalistische Strömungen verschiedener Art den Eindruck erwecken, als könne man die gewaltigen Probleme nur mit diktatorischen Mitteln in den Griff bekommen.

Wie kann man diesen Sorgen über eine ausreichende Problemlösungskapazität der Demokratien überhaupt anders gerecht werden als durch eine Intensivierung auch der Bildungsanstrengungen? Unsere Gesellschaft hat kaum eine Zukunft, wenn sie sich nicht zu einer lebenslangen Lerngesellschaft wandelt, um hochdifferenzierte Entscheidungen auf jeweils aktuellstem Stand zu ermöglichen. Günther Dohmen setzt sich in einer Studie daher für die Förderung des lebenslangen Lernens und für den Aufbau umfassender Lernnetzwerke in allen Lebensbereichen ein Im Rahmen des lebenslangen Lernens hat die politische Bildung einen besonderen Stellenwert, weil die sozialen und intellektuellen Schlüsselqualifikationen immer wichtiger werden und weil die politische Bildung wesentlich bei der „kopernikanischen Wende“ im Bildungswesen mithelfen kann, indem sie die Einstellung und die Motivation für lebenslanges Lernen vermittelt.

Ein weiterer wichtiger Punkt unterstreicht die künftige Bedeutung politischer Bildung. In Großbritannien wurde eine Kommission unter dem Vorsitz von Ralf Dahrendorf eingesetzt, welche die Zusammenhänge untersuchen sollte, die zwischen den Bemühungen für mehr Wohlstand und der Pflege der sozialen Beziehungen bestehen. Dabei wurde u. a. -herausgearbeitet, daß der enorme Aufwand für das wirtschaftliche Wachstum nicht automatisch auch die notwendig soziale Kohäsion sicherstellt. Es bedarf vielmehr gesonderter intensiver Anstrengungen, um die sozialen Bindekräfte in unserer Gesellschaft zu pflegen und zu entwickeln. Der entscheidende Hebel für diese Bemühung ist wiederum die Bildung, die Menschen verbindet, die randständige Gruppen einbezieht, während die liberale Wirtschaftsordnung aufgrund ihrer Funktionsweise der Konkurrenz eher Menschen ausgrenzt

Die sozialen Bindekräfte in einer Gesellschaft sind so bedeutsam, daß man ihre Pflege nicht dem Zufall überlassen kann. Für diese Aufgabe ist die politische Bildung am besten geeignet. Neben der politischen Bildung in der Schule sollten sich die vielen freien Träger und besonders die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung als Einrichtungen zur intensiven Pflege der sozialen Bindungen in unserer Gesellschaft verstehen. In diesem Rahmen kann auf die methodische Seite dieser Aufgabe nicht näher eingegangen werden. Aber es versteht sich fast von selbst, daß die „Begegnung“ jenseit der unmittelbaren politischen, ökonomischen und sozialen Interessenauseinandersetzungen eine zentrale Möglichkeit politischer Bildung ist, um die Bindekräfte in unserer Gesellschaft zu stärken

Politische Bildung ist nicht der Aufrechterhaltung von Illusionen, auch nicht der Schwarzmalerei, sondern der Aufklärung verpflichtet. Selbst wenn man der Meinung ist, daß der Soziologe Ulrich Beck die Gefahren der „Risikogesellschaft“ zu stark herausstellt, kann man die Zuspitzung einer ganzen Reihe von weltweiten Risiken nicht bestreiten. Bedenklich wird es, wenn nun Beck ironisch behauptet, daß „die politische Stabilität in Risikogesellschaften die des Nichtdarübernachdenkens“ ist Es gab und gibt in der Geschichte der Bundesrepublik heftige politische Auseinandersetzungen über „Risiken und Nebenwirkungen“. Man denke nur an die Debatten über Kernenergie und die ökologischen Gefahren. Politische Bildung kann sich ganz und gar nicht damit abfinden, das Nachdenken aufzugeben. Wahr aber ist, daß die Bildungs-und Informationsanstrengungen im Hinblick auf die vorhandenen bzw. noch auf uns zukommenden Gefahren zu gering sind. Nur intensive Bildungsarbeit kann helfen, das nötige Problembewußtsein zu schaffen und damit Schub-kraft zur unvoreingenommenen Analyse bis hin zur Lösung der Probleme beizusteuern.

Das Verhältnis von Politik und politischer Bildung

Es wäre ein Fehler zu behaupten, Wohl und Wehe unserer Demokratie hingen in erster Linie von der politischen Bildung ab. Das wäre eine Selbstüberschätzung, die nur schaden könnte. Von Zeit zu Zeit besteht umgekehrt auch die Gefahr, daß politische Bildung von außen überfordert wird, indem Erwartungen an sie gerichtet werden, die sie nicht erfüllen kann. Wenn es z. B. im wahrsten Sinne des Wortes lichterloh brennt in Asylunterkünften, dann ertönt immer wieder der Ruf nach politischer Bildung, um gewaltbereite Jugendliche auf den richtigen Weg zu bringen. Es bedarf keiner langen Erörterung, um die relative Machtlosigkeit politischer Bildung in solchen Situationen zu begründen. Politische Bildung in einer Demokratie hat nichts mit Feuerwehreinsätzen gemeinsam. Würde sie so gesehen und entsprechend eingesetzt, dann würde Bildungsarbeit zum politischen Instrument degradiert, und die Menschen wären Objekte manipulativer, interessengeleiteter Praktiken.

Bildungsarbeit muß immer langfristig angelegt sein und prozeßhaft sowie dialogisch verstanden werden. Ihre Wirkung liegt schwerpunktmäßig im präventiven Bereich. Wenn sie auch hier ihre Kraft entfalten kann, hat Theodor Eschenburg, doch recht, wenn er wiederholt darauf hinweist, daß die wichtigste politische Bildung durch die Politik selbst geschieht. Er meint damit das konkrete, aktuelle politische Leben auf den verschiedenen Ebenen, die realitätsnahe Entscheidungsund Problemlösungsfähigkeit der Politik, ihre Beobachtung über die Medien sowie die Beteiligung am politischen Geschehen. Selbst wenn die politische Bildung das zehnfache Potential an finanziellen und personellen Möglichkeiten hätte, als im Moment zur Verfügung steht, könnte sie im Hinblick auf ihre Wirkungen bei weitem nicht mit dem politischen Bereich selbst konkurrieren. Sie kann und soll Politik auch gar nicht ersetzen, sondern reflektierend begleiten, hinsichtlich ihrer verfassungsmäßigen Grundlagen unterstützen und die zentralen Streitfragen aufgreifen und durchsichtig machen.

Wenn das politische Leben selbst nun krisenhaft verläuft, wenn Spielregeln der Demokratie nicht eingehalten. Vorgaben der Verfassung mißachtet werden, dann hat die politische Bildung einen schweren Stand. Sie ist dann zu schwach, um von sich aus Korrekturen einzuleiten -zumal sie schlecht beraten wäre, als Schiedsrichter oder Zensor in Erscheinung zu treten.

Bei aller kritischen Grundhaltung, die den Bildungsbemühungen angemessen ist, wird man nicht leugnen können, daß von der Politik der Nachkriegszeit im Westen Deutschlands überwiegend positive Wirkungen im Hinblick auf demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen ausgegangen sind. Daß es dabei auch Irritationen und negative Wirkungen gegeben hat, braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Gerade in der gegenwärtigen Lage wird der Druck auf die konkrete Politik durch die genannten hiesigen und globalen Probleme besonders stark. Die Gefahr besteht, daß uns die Probleme über den Kopf wachsen und sich Lösungswege suchen, die unsere demokratische Substanz gefährden könnten.

Politik muß neben weltweiten Perspektiven auch die drängenden Probleme im eigenen Land anpakken. Nehmen wir z. B. das Asylproblem. Wer wagt es, sich die Situation von heute auszumalen, wenn man nicht nach notwendiger, sensibler und intensiver politischer Auseinandersetzung einen Weg gefunden hätte, den massenhaften Mißbrauch des Asylrechts zu verhindern, ohne das wichtige Grundrecht im Kern anzutasten? Man braucht kein Prophet zu sein, um zu behaupten, daß das rechtsradikale Potential in unserer Gesellschaft gestärkt worden wäre durch eine fortgesetzte Tabuisierung und Ideologisierung eines im Grunde skandalösen und unsere Innenpolitik schwer belastenden Sachverhalts. Drängende zentrale Fragen können nicht straflos geleugnet oder auf die lange Bank geschoben werden!

Eine Frage von ähnlicher Brisanz und Dringlichkeit ist die weiter zunehmende Arbeitslosigkeit, die ein gefährliches gesellschaftliches Potential darstellt, wenn trotz aller Bemühungen nicht bald Lösungen gefunden werden. Eine Demokratie, die Menschen in gewisser Hinsicht ausgrenzt, verliert an Substanz. Daß Wege nur schwer zu finden sind und daß es ohne schmerzhafte Um-und Neuverteilung nicht geht, liegt auf der Hand. Wenn man ernsthaft -auch konfliktreich -um Lösungen ringt, nimmt unsere Demokratie viel weniger Schaden, als wenn man ängstlich Probleme vor sich her schiebt oder in Form von symbolischer Politik sich nur scheinbar um eine wirkliche Lösung bemüht. Hier könnten noch weitere Problembereiche angesprochen werden.

Die politische Bildung kann bei diesen Fragen nicht direkt in der Sache helfen. Sie kann lediglich das Problembewußtsein stärken und damit den Boden zur politischen Lösung der Probleme bereiten helfen. Werden die Fragen jedoch mittel-bis langfristig nicht gelöst, dann kann sich politische Bildung sogar als kontraproduktiv erweisen, weil die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu groß wird. Dann gerät politische Bildung leicht ins „Wölkenkuckucksheim“ und wird nicht mehr ernst genommen.

Politische Bildung muß ohnehin aufpassen, nicht durch Beschäftigung mit sich selbst und Abgehobenheit die Bodenhaftung zu verlieren. Theorie ist bitter notwendig, aber sie kann und muß dennoch praxisbezogen sein. Alles in allem besteht im Bereich politischer Bildung kein Theoriemangel, aber die Vermittlung von Theorie liegt im argen. Viele Bücher sind zu dick, die Sprache ist oft wissenschaftlich verdrechselt, der Praxisbezug ist zuweilen nicht erkennbar. Wenn sich politische Bildung nicht genug verständlich machen kann, sie „selbstreferentiell" wird, dann wird sie auch nicht breit genug wahrgenommen und findet zu wenig Unterstützung.

Erfolge politischer Bildung

Unsere Zeit ist stark erfolgsorientiert. Wenn das Geld knapp ist, wird noch stärker als sonst auf Effizienz geachtet. Überall wird untersucht, gemessen und gewogen -und manches wird für zu leicht befunden. Schlechte Karten für die politische Bildung! Wie soll sie in diesem erbarmungslosen Wettbewerb bestehen? Während andere Sparten mit Gewinnen und Zuwächsen blenden, bleibt sie bei vagen Annahmen und Behauptungen stehen. Sie wird sich von diesem „Makel“ nie ganz befreien können und hat es deshalb besonders schwer, ihre Existenzberechtigung zu begründen.

Die Außenstelle Freiburg der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg hat vor den Landtagswahlen im Frühjahr 1996 einen interessanten Versuch gemacht. Um die Wahlbeteiligung zu heben, wurden vier Gemeinden im Umfeld von Freiburg ausgesucht, ein Team der Landeszentrale rief alle Haushalte mit Telefon in diesen Gemeinden an und machte freundlich auf die Teilnahme an der Wahl aufmerksam. Während im übrigen Umfeld die Wahlbeteiligung um etwa 2, 5 Prozent sank, stieg sie in den vier ausgewählten Gemeinden um ca. zweieinhalb Prozent, so daß die Vermutung naheliegt, daß die Telefonaktion einen greifbaren Erfolg gehabt hat. Das Medien-echo und die Resonanz auf diese Aktion waren hoch. Hier hatte offenbar die politische Bildung unmittelbare, „sichtbare“ Erfolge vorzuweisen. Diese Aktion soll und kann nicht generalisiert werden. Sie zeigt vielmehr, daß es Ausnahmesituationen sind, wenn politische Bildung „Erfolge“ nachweisen kann.

Politische Bildung kann und muß in den Schulen und im außerschulischen Bereich noch aktualitätsund öffentlichkeitsbezogener arbeiten. Es ist doch gar nicht so schwer, mit Veranstaltungen, Projekten und Aktionen unterschiedlicher Art Aufmerksamkeit zu erreichen und den Sinn der Arbeit augenfällig zu machen. Noch ist der Öffentlichkeit nicht bekannt, daß die Nachfrage nach Informationen und Teilnahme an Veranstaltungen bei der Bundeszentrale und manchen Landeszentralen so groß ist, daß sie nicht befriedigt werden kann. Dieses Interesse kann man nicht mit dem „NikolausEffekt“ abtun, d. h. damit, daß die Leute Interesse zeigen, weil es Bücher und Schriften zum „Nulltarif“ gibt. Der „Nulltarif“ erleichtert die Nachfrage, aber es gibt genügend Anzeichen dafür, daß der Nutzungsgrad des Informationsmaterials beachtlich ist. Außerdem gibt es verschiedene Güter schon längst nicht mehr kostenlos und die Nachfrage hält dennoch an.

Daraus kann man jedoch beileibe nicht den Schluß ziehen, politische Bildung sei ein marktgängiges Gut. Da ist die Konkurrenz von Bildungsangeboten, die der beruflichen Karriere dienlich sind, die der Gesundheit nützen oder die unterhalten wollen, viel zu groß. Darum ist die nachhaltige öffentliche Unterstützung der politischen Bildung nach wie vor dringend geboten. Diese ist in unserer Medienwelt offenbar nur zu erreichen, wenn politische Bildung auch mediengerecht angeboten wird. Wer immer in der politischen Bildung tätig ist, muß darauf achten, daß er im Konzert der öffentlichen Darbietungen nicht nur die Pikkoloflöte spielt, sondern auch ab und zu auf die Pauke schlägt. Das gelingt freilich nicht mit „verwalteter politischer Bildung“, sondern nur mit einem „frischen Gesicht“. Die politische Bildung könnte und müßte in die Schulen geradezu einen Innovationsschub von didaktisch-methodischem Potential bringen (einschließlich modernster EDV-und Multimediatechniken), das die Fächergrenzen sprengen und von dem die ganze Schule profitieren würde. Im außerschulischen Bereich ist es noch einfacher, frischen Wind in die politische Bildung zu bringen und die Angebote und Projekte attraktiv zu gestalten.

Bei allen Bemühungen bleibt dennoch die Frage: Was bringt’s? Den letzten Beweis ihrer Effizienz wird die politische Bildung nie liefern können. Sieist letztlich auf die Veranwortungsfähigkeit und die Einsicht vor allem derer angewiesen, die wichtige Entscheidungen zu treffen haben. Ulrich Beck hat einmal die ironische Frage gestellt; „Was wäre, wenn Radioaktivität jucken würde?“ Dann wären seiner Meinung nach große Probleme, über die gestritten wird, direkt erfahrbar. Eine ähnliche Frage könnte man bei der politischen Bildung stellen: Was wäre, wenn politische Unbildung jucken würde? Dann gäbe es sicher rasch Großaufträge für die politische Bildung im ganzen Land. Man meint zuweilen, daß die Mängel an politischer Kultur auch ohne Juckreiz erfahrbar wären. Und dennoch müssen wir für die Notwendigkeit politischer Bildung immer wieder Überzeugungsarbeit leisten, wie es z. B.der „Darmstädter Appell“ tut oder die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung mit der Veranstaltung großer Kongresse versucht. Im Prinzip hat die politische Bildung die „höchsten Weihen“. Schon im Jahr 1982 hatte Bundespräsident Karl Carstens in Stuttgart in einer Grundsatzrede die wichtige Rolle politischer Bildung unterstrichen und u. a. betont: „Es geht nicht zuletzt darum, der nachfolgenden Generation ein gutes Erbe in die Hände zu legen. Wir wollen ihr ein vitales, freiheitliches, gefestigtes und funktionierendes Staatswesen übergeben, und wir wollen sie durch Vorbild und Bildung in die Lage versetzen, dieses Erbe zu übernehmen, zu entwickeln und weiterzugeben.“ Zehn Jahre später hat die Bundesregierung einen Bericht zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung herausgebracht und darin u. a. bemerkt: „Auch die freiheitlichste Verfassung müßte eine leere Formel bleiben, wenn die Menschen nicht fähig und bereit wären, sie mit Leben zu erfüllen. Eine wichtige Aufgabe hat dabei die politische Bildung; ihr Ziel ist die Vermittlung von demokratischem Bewußtsein, von Kenntnissen und der Fähigkeit, an politischen Prozessen mitzuwirken.“

Wir haben guten Grund, in der aktuellen Diskussion wie auch in der Zukunft auf diese wichtigen Dokumente hinzuweisen und die Praxis auf allen politischen Ebenen daran zu messen. Für die Umrahmung von Feierstunden allein ist politische Bildung, obwohl sie preiswert arbeitet, zu teuer.

Wir haben gesehen, daß politische Bildung kein Ersatz für Politik sein kann. Schon Alexis de Tocqueville hat darauf hingewiesen, daß Demokratie weniger von der Theorie als von der Praxis lebt. Da sich globale Probleme letztlich nur global lösen lassen, findet auf diesem entscheidenden Feld zu wenig politische Praxis statt. Selbst im europäischen Rahmen sind immer wieder politische Kraftanstrengungen erforderlich, die fast als Überforderung erscheinen. Und auch im nationalen Rahmen stellen sich in diesen Tagen Herausforderungen, die nur mit Mühe zu bestehen sind.

Die Bewältigung der Probleme auf allen Ebenen kann überhaupt nur gelingen, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger aus der Zuschauerrolle begeben. aktiv in unserer Demokratie mitarbeiten und nicht alles Heil vom Staat erwarten. Wir sind noch weit weg von einer aktiven Bürgergesellschaft, auch wenn es immer wieder ermutigende Initiativen gibt. Die politische Bildung muß solche Initiativen gründen und vernetzen helfen und deren politische Kompetenz stärken. Sie kann durch bewußtseinsbildende Arbeit auch die europäische und die globale Dimension der politischen Aufgaben von heute und morgen immer stärker ins Blickfeld rücken und damit zur Bewältigung dieser geradezu gigantischen, universalen Herausforderungen maßgeblich beitragen. Ohne Bildungsanstrengungen sind die Probleme nicht lösbar. Die Aufgaben der politischen Bildung wachsen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die aktuelle Übersicht in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.), Reicht der Beutelsbacher Konsens?, Schwalbach/Ts. 1996. Der „Beutelsbacher Konsens“ von 1977 brachte Übereinstimmung über drei Grundprinzipien politischer Bildung: „ 1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler -mit welchen Mitteln auch immer -im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern ... 2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen ... 3. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen ...“

  2. Vgl. Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.), Konsens und Dissens in der politischen Bildung, Stuttgart 1987.

  3. Marion Gräfin Dönhoff, Zivilisiert den Kapitalismus, in: Die Zeit vom 30. August 1996, S. 9.

  4. Vgl. Günther Dohmen, Das lebenslange Lernen, Bonn 1996.

  5. Vgl. Ralf Dahrendorf u. a., Report on Wealth Creation and Social Cohesion in a free Society, London 1995.

  6. Vgl. Siegfried Schiele (Hrsg.), Politische Bildung als Begegnung, Stuttgart 1988.

  7. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologische Aufklärung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 36/89, S. 5.

  8. U. Beck (Anm. 7), S. 13.

  9. Vgl. die Dokumentation in diesem Heft, S. 34 ff..

  10. Karl Carstens, Aufgaben der politischen Bildung, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung und allen Landeszentralen für politische Bildung, Bonn 1982.

  11. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Sonderdruck, 10. April 1992, S. 3.

Weitere Inhalte

Siegfried Schiele, geb. 1939; Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg; Lehrbeauftragter für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Politische Bildung als Begegnung, Stuttgart 1988; (Hrsg. zus. mit Herbert Schneider) Rationalität und Emotionalität in der politischen Bildung, Stuttgart 1991; (Hrsg. zus. mit Günter C. Behrmann) Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, Schwalbach/Ts. 1993; (Hrsg, zus. mit Kurt Möller) Gewalt und Rechtsextremismus, Schwalbach/Ts. 1996; (Hrsg. zus. mit Herbert Schneider) Reicht der Beutelsbacher Konsens?, Schwalbach/Ts. 1996.