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Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus | APuZ 52-53/1996 | bpb.de

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APuZ 52-53/1996 Wertewandel und Bürgergesellschaft Wertewandel und Politikwandel. Wertewandel als Ursache von Politikverdrossenheit und als Chance ihrer Überwindung Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. Demokratie zwischen Werte-Beliebigkeit und pluralistischem Werte-Konsens Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus

Die politische Gemeinschaft und ihre Kultur. Zum Gegensatz zwischen kulturellem Pluralismus und Multikulturalismus

Dieter Oberndorfer

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die westlichen Nationalstaaten sind in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Nation und Republik zugleich. Das Partikulare, mit dem sich Nationen legitimieren und abgrenzen, sind Eigenschaften ihrer kollektiven Kultur. Dieser muß sich der Bürger unterordnen; sie hat er zu bewahren. Das normative Fundament der Republik ist die individuelle Freiheit der Bürger, die aus der Natur des Menschen abgeleitet und durch die republikanische Verfassung -durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte -geschützt wird. Die Kultur der Republik ist somit nicht eine aus der kollektiven National-kultur abgeleitete und den Bürgern verbindlich vorgegebene Orientierungsgröße. Die Verfassung schützt vielmehr die individuelle kulturelle Freiheit und damit kulturellen Pluralismus. Die Kultur der Republik ist nicht statisch auf die Vergangenheit bezogen, wie die kollektive Nationalkultur, sondern erlaubt Dynamik und Veränderung. Der Beitrag untersucht diesen Gegensatz zwischen einem nationalen und einem republikanischen Kultur-verständnis. Aus kollektiven Nationalkulturen muß das Fremde ausgeschieden werden. Dies geschieht durch ethnische Säuberung, durch Assimilation oder durch „Multikulturalismus“, nach internationalem Sprachgebrauch durch wechselseitige Abschottung kultureller Kollektive im Staatsgebiet und dabei vor allem durch den Schutz der „nationalen“ Mehrheit gegen kulturelle Minderheiten. Der kulturelle Pluralismus der Republik hingegen gründet auf der individuellen kulturellen Freiheit der Bürger und schützt kulturelle Vielfalt. Letztere wird durch die Rechtsordnung der Republik und die normativen Prämissen ihrer Verfassung begrenzt. Die Republik wird sich in Deutschland erst dann durchsetzen, wenn ursprünglich Fremde und Fremdes aufgenommen und die Tradition der überlieferten kollektiven völkischen Nation überwunden werden. Die Einigung Europas verlangt die Aufgabe des Partikularismus der Nation und die Durchsetzung des Universalismus der Republik.

Die Geschichte der modernen Nationalstaaten wird seit ihren Anfängen in der französischen Revolution und der amerikanischen Staatsgründung von dem Gegensatz zwischen dem Partikularismus der Nation und dem weltbürgerlichen Universalismus der Republik bestimmt. Alle derzeitigen Nationalstaaten sind in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen zugleich Nation und Republik. Das Partikulare, mit dem sich Nationen legitimieren und abgrenzen, sind kollektive Eigenschaften oder Werte. Diese politische Substanz der Nation ist ihre kollektive Kultur. Der Bürger muß sich ihr unterordnen und hat sie zu bewahren.

Die politische Substanz der Republik ist die individuelle Freiheit ihrer Bürger. Sie wird durch die republikanische Verfassung, durch Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte geschützt. Die Kultur der Republik ist daher nicht eine aus der kollektiven Nationalkultur abgeleitete und den Bürgern verbindlich vorgegebene Orientierungsgröße. Der folgende Beitrag untersucht diesen Gegensatz zwischen einem nationalen und einem republikanischen Verständnis von Kultur.

I. Die pluralistische Kultur der Republik

Kulturelle Vielfalt und Dynamik finden sich in allen menschlichen Gesellschaften. Kulturelle Homogenität im Sinne fugenloser, konfliktfreier Übereinstimmung kultureller Werte hat es nie und nirgendwo gegeben. Keine Kultur entstand aus sich selbst heraus in einem luftleeren Raum. Alle Kulturen haben sich vielmehr in einer langen Geschichte kulturellen Austausches grenz-und völkerübergreifend gebildet. Über die Neuinterpretation ihrer eigenen Überlieferung oder durch Austausch gab es überall kulturelle Dynamik und Pluralität. In diesem Sinne waren und sind daher alle Gesellschaften multikulturell.

So ist etwa die japanische Kultur, die häufig als Beispiel für eine in sich ruhende, reine National-kultur angeführt wird, zutiefst durch chinesische, indische und westliche Überlieferungen geprägt worden. Aus China wurden die Schrift-und die Kunsttechniken übernommen, aus Indien über China und Korea der Buddhismus sowie aus Europa und Nordamerika Literatur, Philosophie, Kunst, moderne Wissenschaften und Technologie. In Europa kam das Christentum aus den Kulturen des Nahen Ostens. Im Mittelalter und in der Renaissance erhielt die Kultur der europäischen Völker entscheidende Impulse aus der Begegnung mit der Philosophie und Literatur der griechisch-römischen Antike. Vom Geist der Antike sind der deutsche Idealismus, die deutsche Klassik und Romantik geprägt worden. Große Werke der Weltliteratur wurden ins Deutsche übersetzt. Die Durchsetzung der Forderungen nach einer unter nationalen Kriterien gesäuberten Kultur hätte für alle Völker oder Nationen skurrile Folgen.

Der republikanische Verfassungsstaat schützt die individuelle Freiheit der Kultur, die Freiheit der Religion und Weltanschauung, damit aber zugleich kulturelle gesellschaftliche Vielfalt und Dynamik. Er ist daher nicht wie andere Staaten nur de facto, sondern auch de lege multikulturell: anders gesagt mit einem allgemein akzeptierten Begriff aus der Zeit vor der deutschen Debatte über Multikulturalismus: Die Republik ist pluralistisch.

In der Geschichte des westlichen Verfassungsstaates ist die Freiheit der Religion und der Weltanschauung -der eigentliche Kern der kulturellen Freiheit -die Mutter der politischen Freiheit. Durch die politischen Freiheiten der Bürger soll die kulturelle Freiheit gesichert werden. Die Geburt des modernen Verfassungsstaates bildet den Schlußpunkt einer jahrhundertelangen Geschichte religiöser Bürgerkriege Europas. So wurde gerade Amerika, die älteste westliche Demokratie, als Fluchtburg für religiös Verfolgte und als Heimstatt für Gläubige unterschiedlicher Konfessionen gegründet. Zum Schutz der individuellen religiösen Freiheit und religiösen Praxis gegen Eingriffe des Staates wurden Staat und Kirche getrennt. Für die Sicherung des kulturellen Pluralismus mußte der Staat eine weltanschaulich neutrale Instanz, ein säkularer Staat werden.

Zur individuellen Freiheit der Kultur gehören insbesondere die Freiheit des religiösen Glaubens und der religiösen Praxis, der Weltanschauung und der Kunst. So heißt es in Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“; und: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet“. Durch Art. 5 Abs. 3 GG wird die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft, der Forschung und Lehre ein Teil der kulturellen Freiheit: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieser Schutz der Freiheit der Religion, der Weltanschauung und Kunst durch die Verfassung sichert den Bürgern einen weiten Spielraum (der Freiheit) bei der Bestimmung ihrer individuellen kulturellen Präferenzen auch im Alltag. Zudem werden religiöse Überzeugungen und kulturelle Werte von Minderheiten nicht nur geduldet, sondern dürfen auch aktiv vertreten werden. So besagt Art. 5 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten .. . Eine Zensur findet nicht statt.“ Auch der verfassungsrechtliche Schutz der Versammlungsfreiheit ist für die kulturelle Freiheit der Bürger von zentraler Bedeutung.

In der Republik gibt es also keine nationalen Religionen oder Kulturen, die für ihre Bürger verbindlich gemacht werden dürfen. Jeder Versuch, einem Deutschen, Franzosen oder Amerikaner eine bestimmte Religion oder Konfession als nationale Pflicht oder Eigenschaft vorzuschreiben, wäre ein Anschlag auf den Geist und die Bestimmungen ihrer Verfassungen. Die Kultur der Deutschen, der Bürger der Bundesrepublik Deutschland, kann daher immer nur der gesamte und in sich sehr vielfältige Güterkorb der kulturellen Werte aller heutigen deutschen Staatsbürger sein. „Die“ oder „eine“ für alle verbindlich definierte deutsche Kultur kann es im Verfassungsstaat nicht geben. Soweit der Begriff der Nation mit kulturellen Überlieferungen und Werten verbunden wird, geschieht dies immer nur als selektive individuelle Entscheidung und Aneignung, die für die übrigen Bürger nicht zwingend verbindlich sind. Es bleibt den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland überlassen, ob sie deutsche oder englische Liebesromane, ob sie Goethe, den Koran oder die Bildzeitung lesen, ob sie Bach, Jazz, Kuschelmusik oder Heavy Metal hören, ob sie in ihrer Freizei Museen besuchen oder Sport treiben, ihrer Urlaub in Deutschland oder im Ausland verbringen wollen.

Kulturelle Werte dürfen in der Republik individuell interpretiert, akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Die Kultur der Republik wird somit unvermeidlich zu einer Mischung unterschiedlicher oder sogar konfliktiver Güter und Werte. Begrenzt wird ihr Pluralismus jedoch durch die Grundwerte der Verfassung und deren rechtliche und politische Ordnung. Diese bilden ihrerseits die Voraussetzung für die Offenheit und Vitalität des kulturellen Pluralismus der Republik.

Der kulturelle Individualismus und Pluralismus des Verfassungsstaates vertragen sich nicht mit dem statischen Konzept einer Nationalkultur. Sie begründen vielmehr kulturelle Dynamik und kulturellen Wandel. Sie stehen im Gegensatz zu den Konstrukten einer statischen kollektiven Kultur der Nation, die seit undenklichen Zeiten existiert habe und auf immer bewahrt werden müsse -Konstrukte, die die tatsächliche geschichtliche innere Vielfalt der Kulturen und ihren ständigen Wandel verzeichnen und daher immer fiktiv waren und sein werden. So unterscheiden sich heute die Kulturen der Deutschen und Franzosen schon sehr von ihren Kulturen im 19. Jahrhundert. Dies gilt in noch weit stärkerem Umfange für frühere Zeiträume. Auch in den kommenden Jahrhunderten werden sich ihre Kulturen erneut tiefgreifend verändern. Die individuelle kulturelle Freiheit und ihr Pluralismus machen die Kultur der Republik, das komplexe Amalgam der kulturellen Werte und Güter ihrer Bürger, zu einem permanenten Prozeß des Wandels individueller oder kollektiver kultureller Präferenzen. In diesem Prozeß ist es legitim, wenn sich einzelne Bürger oder bestimmte Gruppen engagiert für die Erhaltung und auch Verbreitung von Überlieferungen einsetzen, die ihnen selbst lieb und teuer sind. Diese Überlieferungen dürfen jedoch nicht mit der Kultur der Republik verwechselt werden. Diese umfaßt die Gesamtheit der kulturellen Güter und Präferenzen aller ihrer Staatsbürger. Wenn etwa in der Bundesrepublik Deutschland die Zahl der Staatsbürger muslimischen Glaubens zunehmen wird, werden deren religiöse Überzeugungen in. noch stärkerem Umfang zu einem Bestandteil der Kultur der Deutschen werden.

Die Kultur der Republik ist offen für den Wandel ihrer Inhalte. Sie kann niemals abschließend undübereinstimmend definiert werden. In ihrer pluralistischen Kultur müssen kulturelle Werte und Überlieferungen sehr viel überzeugender und engagierter vertreten werden als in einer Gesellschaft, in der „die“ Überlieferung unbefragt und unkritisch Gegenwart und Zukunft prägen soll. Die Republik begünstigt somit eine ungleich tiefer gehende individuelle Aneignung kultureller Güter durch ihre Bürger. Die Freiheit der Kultur in der Republik richtet sich also nicht gegen die Bewahrung kultureller Traditionen. Sie schafft indes den politischen Rahmen für eine ständig neue kritische Überprüfung ihrer Geltung und verbessert die Chancen für kulturelle Vielfalt und Innovation.

Solange es keinen Weltstaat gibt, in dem die Grenzen zwischen den Staaten aufgehoben sind, sind republikanische Verfassungsstaaten immer zugleich auch „nation States“, Nationalstaaten im Sinne der Sprachregelung der Vereinten Nationen, denen es in den Beziehungen zu anderen Nationalstaaten auch um handfeste Eigeninteressen und die Bewahrung ihrer historisch gewachsenen kollektiven Partikularität geht.

Bei den Abgrenzungen der Nationalstaaten voneinander entstehen kollektive Wir-Gefühle, in denen die eigene Gemeinschaft als der eigentlich wertvolle, „den anderen“ überlegene Teil der Menschheit eingestuft wird. Dieses Wir-Bewußtsein läßt sich in vielen menschlichen Vereinigungen beobachten -in Stammeshorden, Stadtstaaten, Imperien, Feudalstaaten oder in prosaischeren Zusammenschlüssen wie in politischen Parteien oder Fußballvereinen samt ihrer Anhängerschaft. Im Widerspruch zu ihrer weltbürgerlichen Werte-substanz bilden so auch republikanische Verfassungsstaaten ein „die anderen“ ab-und sich selbst aufwertendes Wir-Bewußtsein aus. Wie in Nationalstaaten wurde und wird auch dieses kollektive Bewußtsein durch die Berufung auf eine angeblich eigene Überlieferung, eine eigene nationale Kultur begründet. Sie bildet auch hier die Substanz des Wir-Bewußtseins und seines Überlegenheitsdünkels. Die politische Legitimität republikanischer Verfassungsstaaten wird und muß demgegenüber daran gemessen werden, inwieweit die weltbürgerlichen Normen der Republik in der Innen-und Außenpolitik im Rahmen des Möglichen gegen partikulare „nationale“ Interessen engagiert und innovativ durchgesetzt werden. In der Politik republikanischer Verfassungsstaaten wird es dabei immer Konflikte zwischen ihrer weltbürgerlichen Wertesubstanz und ihren Eigeninteressen als Nationalstaaten geben.

II. Die kollektiven Nationalkulturen

In den „nationalen“ Kulturen republikanischer Verfassungsstaaten drücken sich in der Regel die kulturellen Überlieferungen der jeweils dominanten Bevölkerungsgruppen aus -ein Vorgang, der gerade auch durch das demokratische Mehrheitsprinzip begünstigt wurde. Obwohl sich die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika darauf berufen hatte, „that all men are created equal", interpretierte die Mehrheit der Amerikaner ihren neuen Staat als eine weiße, angelsächsische und protestantische Nation. Die Indianer wurden dezimiert und von der Nation ausgeschlossen, im amerikanischen Süden blieben den Schwarzen die Bürgerrechte noch bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts vorenthalten. Die Einwanderung von Katholiken in das kalvinistisch geprägte Amerika des 19. Jahrhunderts brachte sogar weit mehr sozialen und politischen Zündstoff mit sich als heute die Einwanderung von Moslems in säkularisierte westliche Gesellschaften. Das 1913 eingeführte Quotensystem für Einwanderer war ein Versuch, die Einwanderung ethnischer und religiöser Gruppen zu beschränken oder zu verhindern, die -wie Katholiken, Juden oder Asiaten -als „unamerikanisch“ oder gar als unfähig angesehen wurden, „echte“ Amerikaner zu werden. Der kulturelle Nationalismus der amerikanischen Einwanderungspolitik wurde erst in den späten sechziger Jahren überwunden, als eine neue Masseneinwanderung aus Lateinamerika, Asien und Afrika zugelassen und Amerika zur ersten kosmopolitischen Republik wurde.

In Europa entstanden die Nationalstaaten in Gesellschaften, in denen das „nation-building“, der Aufbau der Nation, als mindestens so wichtig, ja noch wichtiger als die Einführung demokratischer Normen, Regelmechanismen und Institutionen angesehen wurde. Die Ideologen und Ideologien der neuen Nationalstaaten waren davon überzeugt, daß die Nation nicht nur einer eigenen nationalen Kultur bedurfte, sondern daß diese Nationalkultur schon längst existierte. Sie mußte lediglich neu entdeckt, neu durchgesetzt und geschützt werden. Diese Wiederentdeckung, der Wiederaufbau und der Schutz der nationalen Kultur wurde dabei vor allem für den völkischen Nationalismus, die dominante politische Ideologie der neuen Nationalstaaten Mittel-, Nord-, Ost-und Südeuropas, maßgeblich. In ihm wurde die Nationalkultur noch viel radikaler als in anderenFormen des Nationalismus zur eigentlichen Substanz der Nation.

Nach Johann Gottfried Herder, dem philosophischen Begründer des ethnischen Nationalismus, waren alle ethnischen Nationalkulturen seiner Zeit durch frühere Mischungen mit fremden Elementen verunreinigt und daher verkommen. Für die Wiederherstellung der wahren eigenen „nationalen“ Kultur mußten die fremden Überlieferungen ausgeschieden werden. Die unverfälschten nationalen Traditionen selbst wurden in der Urzeit der Völker -etwa bei den Germanen, Ariern, Galliern oder Urtürken -gesucht, als die eigene Nation noch jung und eben noch nicht durch fremde Elemente verdorben waren. Alle reinen, unvermischten und daher „echten“ Nationalkulturen wurden als gleichrangig angesehen. Der romantische Nationalismus sah in jedem Volk und jeder nationalen Kultur „einen Gedanken Gottes“. Sie waren daher unmittelbar durch Gott geheiligt. Der Republikaner und Aufklärer Herder ging dabei von dem naiven Glauben aus, daß alle Nationen in ihrer Jugendzeit republikanische Gemeinwesen gewesen seien, die in Harmonie und Frieden miteinander gelebt hätten. Die Wiederherstellung der „echten“ Nationen müßte deshalb den ewigen Frieden bringen. „Echte“ Nationen würden sich niemals an den Rechten anderer Nationen vergreifen -eine Behauptung, die auch heute noch gegen alle geschichtliche Erfahrung ein Glaubenssatz zeitgenössischer Nationalisten ist.

In den Schriften Herders, aber auch in den populären Versionen seines kulturellen Nationalismus, ist eine zweifache, nur scheinbar widersprüchliche Konsequenz begründet: zum einen ein hemmungsloser kultureller Chauvinismus und zum anderen ein scheinbar allumfassender kultureller Relativismus. Beide sind in den folgenden beiden Prämissen begründet:

Erstens: Alle nationalen Kulturen sind einzigartig und existieren aus eigenem Recht. Normen des Verhaltens und soziale oder politische Institutionen können deshalb weder universell gültig noch verbindlich sein. Für die Angehörigen einer speziellen nationalen Kultur sind nur Regeln des Verhaltens und soziale und politische Institutionen normativ verbindlich, die ihrer eigenen National-kultur entstammen.

Zweitens: Da alle Kulturen gleichermaßen wertvolle Manifestationen des kulturellen Potentials der Menschheit sind, sollten sie alle rekonstruiert und erhalten werden. Somit haben alle Menschen eine moralische Verantwortung, nicht nur die Reinheit ihrer eigenen Kultur, sondern auch die aller anderen Kulturen zu bewahren.

Während die romantische Philosophie die Existenz kollektiver Nationalkulturen behauptet und ihre Gleichwertigkeit verkündet, ist die Kultur für die Aufklärung ein von Individuen getragener pluralistischer Prozeß. Kultur im eigentlichen Sinne bildet sich als Produkt der Vernunft und der Tugend eines vernünftigen moralischen Diskurses. Der Mensch wird als vernunftbegabtes moralisches Wesen gesehen. Daher ist ein Vernünftiger und moralischer Diskurs auch zwischen Menschen verschiedener Kulturen möglich. Bestimmte Normen und Rechte -universale Menschenrechte -sind für die Menschen aller Nationen gültig und einleuchtend, „self-evident“. Kultur ist ein Prozeß der Vernunft, der schrittweise zu höheren Stufen der Erkenntnis, zu Sensibilität und Zivilisation führt. Daher müssen alle Menschen ein Interesse an der Teilnahme an kulturellen Prozessen haben.

In der romantischen Philosophie des 19. Jahrhunderts wurde diese aufklärerische Idee einer dynamischen, durch individuelle Vernunft und durch vernünftigen Diskurs in Bewegung gehaltenen Kultur durch die Idee einer statischen Kultur ersetzt und zugleich durch das Prinzip der Toleranz gegen Kritik geschützt. Die Romantik eignete sich also die Toleranz, diesen Schlüsselbegriff der Aufklärung, an und forderte in ihrem Namen die Akzeptanz für ein Verständnis von Kultur, das mit der aufklärerischen Vorstellung einer auf individuelle Vernunft und Pluralismus gegründeten Kultur unvereinbar war, ja, dem sie selbst zutiefst feindselig gegenüberstand. Kollektiven Kulturen und insbesondere ethnisch definierten kollektiven Kulturen wurde Toleranz gewährt. Dem Veständnis von Kultur jedoch, dessen Kern die individuelle kulturelle Freiheit, der kulturelle Pluralismus und der Glaube an transkulturell verbindliche Normen des menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens war, wurde diese Toleranz verweigert. Die Beziehung zwischen Vernunft und Toleranz -Grundprinzipien der Aufklärung und des republikanischen Verfassungsstaates -wurde damit konfliktiv. Sie diente nicht mehr wie zuvor der wechselseitigen Bestärkung. Die Aufklärung hatte die Vernunft als Grundkraft des Fortschritts und die Toleranz als Voraussetzung für die Entfaltung eines vernünftigen moralischen Diskurses der Menschen gesehen. Jetzt, in der Romantik, wurden die von ihr wahrgenommenen kollektiven Kulturen und die Toleranz zum Selbstzweck. Kulturen wurden nicht mehr auf der Grundlage der Leistungen, Verdienste, Werte oder des Verhaltens ihrer Angehörigen beurteilt. Sie waren von nun an inhärentgut und mußten ohne Ansehung ihrer Inhalte toleriert werden.

Diese Sicht der Welt als eines sorgfältig zu bewahrenden Völkerkundemuseums, die auch heute noch die Hausphilosophie der völkischen Nationalisten oder ethnokulturellen Schwärmer ist und sich derzeit in den Vereinigten Staaten in der neuen Heilslehre der „political correctness“ in besonders intoleranten Formen zu Wort meldet -hier allerdings aus anderen philosophischen Kontexten und politischen Konstellationen erwachsend war tief in der Feindschaft der romantischen Philosophie gegen den Rationalismus der Aufklärung und die Prinzipien und Institutionen des Republikanismus verankert. Von dieser Grundlage aus begannen nunmehr Ethnologen, Historiker und Philologen, kollektive Nationalkulturen zu entdecken und zu konstruieren, wobei von ihnen die Übernahme des aufklärerischen Prinzips der Toleranz benutzt wurde, um für ihre jetzt erst geschaffenen Konstrukte kritiklosen Respekt und Unterwerfung zu fordern. Ihre Konstrukte, die immer in weitem Umfang fiktiv waren und sein mußten, wurden bald von den politischen Unternehmern des kulturellen Nationalismus für ihre eigenen Zwecke des Machterwerbs und Machterhalts ausgebeutet.

Die verkündete Unantastbarkeit aller kollektiven Nationalkulturen wurde politisiert. Die individuelle kulturelle Freiheit hingegen, die im Republikanismus vor politischer Unterdrückung geschützt werden muß, wurde vernachlässigt oder sogar marginalisiert. Die Heiligsprechung und Verehrung der jetzt erst von Ideologen im nachhinein geschaffenen kollektiven Nationalkulturen und ihrer ebenso künstlich konstruierten kontinuierlichen authentischen Geschichte -in Wirklichkeit waren sie alle diffuse Konglomerate von Gütern und Werten meist fremden Ursprungs -wurde zum Fundament einer neuen, säkularen Religion. Sie stiftete Sinn und Zusammenhalt für die Angehörigen der neuen Nationalstaaten. Sie füllte das Vakuum, das durch die zunehmende Säkularisierung und die Schwächung der Überlieferung und ihrer Ordnungen entstand. Sie verlangte von ihren Gläubigen totale Unterwerfung. Von den Bürgern wurde erwartet, in Zeiten des Krieges ihr Leben auf dem „Altar der Nation“ zu opfern.

Der dramatische politische Wandel, der mit der Ausbreitung des neuen, säkularen Kultes der Nation und ihrer Kultur Hand in Hand ging, spiegelte sich in der abnehmenden Bedeutung traditioneller religiöser Konflikte. Im 16., 17. und 18. Jahrhundert war Religion für die Menschen Europas weit wichtiger gewesen als Ethnizität und deren angebliche oder tatsächliche kulturelle Überlieferungen. So zogen die Bürger Pommerns die Zugehörigkeit zur lutherischen Monarchie Schwedens dem Leben unter der Herrschaft der kalvinistischen Könige Preußens vor. Katholiken und Protestanten lebten in Deutschland seit dem Westfälischen Frieden in der Regel ohne Vermischung territorial getrennt.

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts begann die neue Religion des ethnischen Nationalismus, die überlieferten religiösen Gegensätze zu überbrücken. Nun wurde es für Protestanten wie für Katholiken ebenso wichtig oder noch wichtiger, ein guter Deutscher zu sein, als nach dem eigenen Glauben leben zu können. Die Protestanten, die religiöse Mehrheit Deutschlands, begannen dabei unverzüglich, ihre Konfession als die wahre nationale Religion zu proklamieren. Für sie konnte ein guter Deutscher letztlich nur ein Protestant sein. Dies zwang andere religiöse Gruppen wie Katholiken oder deutsche Juden zu dem Nachweis, daß sie mindestens so gute, ja noch bessere Deutsche als die Protestanten waren.

Aber wer war ein Deutscher? Was war die deutsche Kultur? Im Unterschied zur relativ klar definierten Zugehörigkeit zu den überlieferten Konfessionen war die Mitgliedschaft in der neuen Religion des kulturellen Nationalismus viel unbestimmter. Die Frage, wer und wer nicht der Kirche des Nationalstaats und der Nationalkultur angehören durfte, wurde unterschiedlich beantwortet und daher in der Folge zum Ausgangspunkt säkularer Inquisitionen und Säuberungen. Dies um so mehr, als auch im Verhältnis der Nationalstaaten zueinander bald unterschiedliche Kulturen -oder vielmehr Kulturinterpretationen -zu einem mörderischen politischen Wettkampf antraten.

III. Die Alternativen: ethnische Säuberung, Assimilierung oder Multikulturalismus versus kulturellen Pluralismus

Die Legitimität der Nation hängt von der Reinheit ihrer Nationalkultur ab. Nationalstaaten tendieren daher zur kulturellen Selbsthomogenisierung durch Eliminierung des Fremden. Im ethno-kulturellen Nationalismus, in dem Nationalkultur und Staatsvolk eine untrennbare naturwüchsige Einheit bilden, sind „ethnische Säuberungen“ die kon sequenteste Verwirklichung seiner ideologischen Prämissen. Andere Varianten des Umgangs mit Fremdem und Fremden sind die erzwungene Assimilierung und der Multikulturalismus.

Bei der erzwungenen Assimilierung werden Minderheiten oder Zuwanderer aus fremden Kulturen gezwungen, ihre eigenen kulturellen Überlieferungen aufzugeben und sich in die Nationalkultur so vollständig zu integrieren, daß sie jegliches kulturelle Eigenprofil verlieren. Nur dann werden sie als vollwertige Staatsbürger akzeptiert. Mit dem Multikulturalismus verlassen wir das Reich des völkisch-kulturellen Monotheismus und betreten den Tempel des ethnischen Polytheismus. Multikulturalismus ist im internationalen Sprachgebrauch eine Doktrin kultureller Gleichheit und des Schutzes kultureller Kollektive vor Vermischung. Sie schützt die Reinheit der dominanten Nationalkultur ebenso wie die der Kulturen von Minderheiten. Kulturelle Mischung und „kulturelle Unreinheit“ sollen im Multikulturalismus durch die wechselseitige Abschottung der Kulturen der Mehrheit und der Minderheiten abgewehrt werden.

Der Multikulturalismus steht in der romantischen Tradition der moralischen Gleichberechtigung und unantastbaren Heiligkeit aller kulturellen Kollektive und ihrer Überlieferungen. Da aus seiner Sicht alle Kulturen gleichermaßen wertvoll sind und geschützt werden müssen, fühlen sich Nationalisten nicht nur für die Erhaltung ihrer eigenen nationalen kollektiven Kultur verantwortlich, sondern erklären sich auch für den Schutz anderer nationaler kollektiver Kulturen zuständig. In diesem Sinne sollen im offiziellen „Multikulturalismus“ Kanadas und Australiens die Kulturen der verschiedenen nationalen Ethnien und Einwanderergruppen möglichst vor Vermischung geschützt werden.

Wenn kollektive Kulturen voneinander klar unterschieden und inhaltlich bestimmt werden, ist zu fragen, wer sie inhaltlich definiert. Sollen es die Führer religiöser Gruppen sein, die oft in viele Untergruppen oder Sekten aufgeteilt sind, oder politische Unternehmer im Wettkampf um Wählerstimmen oder parlamentarische Mehrheiten oder rechtliche Instanzen? Sollen politische oder juristische Autoritäten die hier angelegten kulturellen Konflikte regeln und entscheiden, was die authentische Interpretation der Religion oder die richtigen kulturellen Praktiken der Mehrheit und der Minderheiten sind?

Diese Fragen hätten sich z. B. gestellt und wären zu beantworten gewesen, wenn die von der Gemeinsamen Kommission des Bundestags und Bundesrats zur Verfassungsreform im Vereinigungsprozeß vorgeschlagene Ergänzung des Grundgesetzes durch einen Artikel 20 b zustande gekommen wäre, in dem es heißen sollte: „Der Staat achtet die Identität ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten.“ Durch diesen Artikel wären der Multikulturalismus und die für ihn wesenhaften Einschränkungen der kulturellen Freiheit aller Bürger -nicht nur der Minderheiten, sondern auch der deutschen Mehrheit -in das Grundgesetz eingeführt worden. Ethnie und Kultur wären im Grundgesetz als staatsrechtlich relevante Begriffe verankert worden. Der besondere verfassungsrechtliche Status der Kultur von Minderheiten hätte sich durch Umkehrschluß zwingend auch auf die Kultur der „deutschen“ Mehrheit bezogen. Das Deutsche und die deutsche Kultur konnten bisher von den Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland je nach ihren individuellen kulturellen Präferenzen unterschiedlich interpretiert werden. Jetzt wäre nicht nur der Schutz der Kultur von Minderheiten, sondern auch der kulturellen Identität der deutschen Mehrheit, der „Deutschheit“, ein Staatsziel geworden. Dies wiederum hätte rechtlich verbindliche Definitionen ihrer Inhalte bedingt und angesichts der Findigkeit politischer Unternehmer und Verfassungsinterpreten ethnokulturelle Dauerkonflikte provoziert. Ausländer wurden bisher mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft Deutsche ohne Wenn und Aber. Durch die innere Logik von Artikel 20 b wäre dies anders geworden. Nach seiner Verabschiedung wären die Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland de facto in echte Deutsche und Deutsche mit einem Bindestrich, also z. B. Türkisch-Deutsche oder Polnisch-Deutsche, aufgeteilt gewesen. Damit wäre die Voraussetzung für Pässe geschaffen worden, in denen wie früher in der Sowjetunion nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern in Anknüpfung an die unrühmliche Tradition der Ahnenpässe auch die ethnokulturelle Herkunft ausgewiesen worden wäre.

Hier handelt es sich nicht um Schattenkämpfe. In den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zur Aufnahme und Einbürgerung von Volksdeutschen wird von den Antragstellern ein . Bekenntnis zum Deutschtum verlangt und das , deutsche Volk selbst als . nationale Kulturgemeinschaft definiert. Es werden somit . Bekenntnisse zu einer .deutschen Kultur und eine Bejahung .deutscher kultureller Werte eingefordert (Goethe oder Bildzeitung?), die Bürgern, die schon deutsche Staatsangehörige sind, nicht abverlangt werden dürfen oder sollten. Dies um so mehr, als eine objektive Überprüfung der Kulturwerte der Deutschen -der Bürger der Bundesrepublik Deutschland -sicher ernüchternde Ergebnisse zeitigen würde.

Für den Schutz unterschiedlicher kultureller Werte und ethnischer Abstammung bedurfte es keiner Ergänzung des Grundgesetzes. Der Art. 3 Abs. 3 GG reicht völlig aus: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Die neue Staatszielbestimmung hingegen enthielt politischen Sprengstoff für eine ethnische und kulturelle Fragmentierung. Der kulturelle Pluralismus, die multikulturelle Dynamik der Republik, wäre über den Grundgesetzartikel 20 b durch rechtlich fixierte Trennwände blockiert und die Sterilität völkisch-kultureller Abschottungen geschützt worden. Eine pluralistische Gesellschaft aber bezieht ihre Vitalität und Dynamik gerade aus der inneren Offenheit ihrer unterschiedlichen Komponenten füreinander.

Diese Einwände gegen die Festschreibung ethnisch-kultureller Aufspaltung in der Verfassung oder durch die politische Ordnung beziehen sich nicht auf historisch gewachsene Vielvölkerstaaten, wie z. B. Indien, oder auf jene Sonderfälle, in denen -wie etwa bei den Südtirolern -ethnische Minderheiten im Staatsterritorium durch politische Entscheidungen geschaffen wurden. In solchen Fällen müssen rechtliche und politisch-institutionelle Regelungen die Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz und Kooperation unterschiedlicher Ethnien schaffen. Hierzu wurden kulturelle Autonomie nach dem Muster der Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik, gesicherte Vertretung in politischen Gremien (z. B. Dänen im Landtag Schleswig-Holsteins) oder begrenzte kommunale und regionale politische Autonomie im Rahmen dezentraler politischer Ordnungen vorgeschlagen. In republikanischen Gemeinwesen darf es keine rechtlich und politisch abgesicherten Zwangsmitgliedschaften geben. Analog zur Mitgliedschaft in Religionsgemeinschaften muß das Recht der Bürger auf freie Entscheidung über ihre eigene ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit gesichert werden. Aber auch in historisch gewachsenen Vielvölkerstaaten darf die vorgegebene ethno-kulturelle Pluralität nicht zum Selbstzweck werden. Auch hier müssen überlieferte ethno-kulturelle Trennwände zwischen den Bürgern abgebaut werden.

In der Mehrheitsdemokratie werden Mehrheiten immer wieder der Versuchung erliegen, ihre eigene Interpretation der Kultur anderen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft aufzudrängen. Liberale Republiken verlieren jedoch ihre moralische und politische Glaubwürdigkeit, wenn sie solchen Tendenzen den Vorrang gegenüber der individuellen kulturellen Freiheit und dem von ihr geschützten kulturellen Pluralismus einräumen. Kulturelle Freiheit muß deshalb allen Bürgern ohne Ansehung ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Religion oder Weltanschauung gewährt werden. Haben republikanische Verfassungsstaaten, die Republiken, eine Antwort auf die Frage, wie sie auf die Einwanderung von Fremden reagieren sollen? Wie werden Einwanderer in die Republiken ohne den Rückgriff auf eine Politik der Assimilierung oder des Multikulturalismus integriert? Wie werden aus Einwanderern gute Patrioten?

Wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der individuellen kulturellen Freiheit kann sich die Integration von Einwanderern im republikanischen Verfassungsstaat nur auf ihre politische Integration beziehen -ein Ziel, das in der amerikanischen Demokratie mit bewundernswertem Erfolg bis heute immer wieder erreicht wurde. Politische Integration muß dabei auf dem Prinzip gründen, daß Einwanderern bei der Einbürgerung all das eingeräumt wird, das allen Bürgern gewährt werden muß: politische Gleichberechtigung, soziale Solidarität, kulturelle Freiheit und kultureller Pluralismus. Politische Gleichberechtigung macht die Einbürgerung notwendig, Solidarität die soziale Integration, wobei im Falle der sozialen Benachteiligung von Einwanderern die Sozialpolitik ebenso wie bei anderen benachteiligten Bürgern gefordert ist. Kulturelle Freiheit muß wiederum in dem Umfang gewährt werden, wie sie allen anderen Bürgern eingeräumt wird.

Gerade die kulturelle Freiheit ist, wie die Geschichte Amerikas zeigt, die wichtigste Voraussetzung für politische Integration. Im Gegensatz zu hierzulande gängigen Vorstellungen über den amerikanischen „Schmelztiegel“ hat die in ihm gewährte kulturelle Freiheit des religiösen Bekenntnisses eine forcierte kulturelle Assimilierung der Einwanderer verhindert und es ihnen gerade dadurch ermöglicht, amerikanische Patrioten zu werden. Die eingewanderten Katholiken, Lutheraner, Juden, Moslems und andere religiöse Gruppen konnten ihren Glauben beibehalten. Die Einwanderer unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Kultur durften amerikanische Staatsbürger werden. Dabei entstand eine neue, im Vergleich zu den „protestantischen“ Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts weit vielfältigere und reichere amerikanische Kultur.

Daß die politische Integration durch Gewährung der Staatsbürgerschaft und kultureller Freiheit mit wirtschaftlicher und sozialer Chancengleichheit kombiniert werden muß, ergibt sich aus der Wertesubstanz republikanischer Verfassungen. Die Geschichte der Einwanderungsländer zeigt allerdings, daß soziale Integration immer nur über längere Zeiträume, meistens innerhalb der Generationenfolge, erreicht wurde. Aber zumindest diese Möglichkeit muß gewährt werden.

Kulturelle Freiheit bedeutet in der Alltagspraxis, daß Einwanderer in bestimmten Regionen oder Stadtvierteln mit Einwanderern der gleichen Herkunft zusammenleben können, aber daß sie auch frei sind, solche Zentren zu verlassen und sich anderen Bevölkerungsgruppen anzuschließen; sie bedeutet ferner, daß Einwanderer zu ihrem eigenen Gott beten dürfen, aber auch frei sind, sich anderen Göttern oder der Religion des Säkularismus zuzuwenden. ,

Kulturelle Freiheit und kultureller Pluralismus eröffnen die Möglichkeit kulturellen Austausches und kultureller Offenheit. Die im Konzept des Multikulturalismus angelegte Tendenz zur Trennung von Kulturen zwecks wechselseitigen Schutzes liegt quer zum Wesen des kulturellen Pluralismus. Hier werden Trennwände errichtet, wird ausgegrenzt, kultureller Austausch und Dynamik verhindert. Die Vitalität und Kreativität des kulturellen Prozesses hängt jedoch gerade von seiner Offenheit ab.

Die Grenzen der kulturellen Freiheit müssen für Einwanderer aus fremden Kulturen die gleichen sein wie für alle anderen Bürger. Diese Grenzen werden durch die Werte der Verfassung und durch die Rechtsprechung festgelegt. Kulturelle Konflikte, die es ja nicht nur in Einwanderungsgesellschaften gibt, müssen nach den Vorgaben der Verfassung entschlossen ausgetragen und entschieden werden. Die politischen Konflikte, die sich aus kulturellem Pluralismus immer wieder ergeben werden, haben aber ihren Ausgangspunkt oft gerade in vorurteilsgeladenen Klischees von der jeweils fremden Kollektivkultur. So werden z. B. hierzulande vielfach alle muslimischen Einwanderer fundamentalistischen Gruppen des Islam zugeordnet, obwohl dieser in ebenso viele religiöse Richtungen wie das Christentum aufgeteilt ist. Unter den zahlreichen Varianten des Islam sind die Fundamentalisten nur eine unter vielen anderen Gruppen.

Daneben gibt es im Islam heute auch eine zum Teil schnell zunehmende Säkularisierung. Der politisch-religiöse Fundamentalismus hat im übrigen in christlich geprägten Kulturen eine mindestens ebenso lange und lebendige Tradition wie im Islam. Es sei hier nur an die jahrhundertelangen europäischen Religionskriege und ihre blutigen Spuren noch heute in Nordirland erinnert. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg war Protestanten im Spanien Francos der Bau von Kirchen verboten. In Skandinavien wurde die Zwangsmitgliedschaft der Bürger in der lutherischen Staatskirche erst nach dem Zweiten Weltkrieg beendet; der Jesuitenorden und andere katholische Organisationen wurden erst jetzt zugelassen. Die häufige Praxis, „die europäische“ oder gar „die deutsche Kultur“ per Definition mit Humanität und Toleranz gleichzusetzen und sie mit „der“ kollektiven Intoleranz „der“ außereuropäischen Kulturen zu kontrastieren, offenbart also Gedächtnislücken. Sie blendet neben vielem anderen die Erinnerung an die Brutalität des europäischen Kolonialismus, an das Gemetzel zweier von Europa ausgehender Weltkriege und den grauenhaften Holocaust aus. Der republikanische Verfassungsstaat selbst war weder in Europa noch in Deutschland das unvermeidliche und logische Endergebnis der europäischen Geschichte und Kultur. Er mußte hier vielmehr erst in langen Kämpfen gegen die dominanten Überlieferungen durchgesetzt werden. In Deutschland bedurfte es hierzu in jüngster Zeit sogar noch der Hilfe der Alliierten. Die provinzielle und holzschnittartige Gegenüberstellung kollektiver europäischer Humanität und Toleranz einerseits und der kollektiven Inhumanität und des kollektiven Fanatismus außereuropäischer Kulturen andererseits hat einen sehr rationalen Kern: Es werden Bedrohungsängste geweckt und die Demokratiefähigkeit der Menschen außereuopäischer Kulturen geleugnet. Damit kann wiederum die Verweigerung des Bürgerrechts an „Fremde“ legitimiert werden.

Wegen der zentralen Rolle der Sprache in Kulturen stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Bedeutung der Sprache für Republiken. Benötigen Republiken eine nationale Sprache? Alle Bürger sollten sich sprachlich miteinander verständigen können. Nur so ist ein demokratischer politischer Prozeß möglich. Dies scheint eine nationale Sprache zumindest als Verwaltungs-und Verkehrssprache notwendig zu machen. Zugleich beweist die Schweiz, daß die Koexistenz mehrerer regionaler Sprachen in einem Staat durchaus mit Patriotismus und starkem politischen Zusammenhalt vereinbar ist. Die Indische Union hat bisherebenfalls eine bemerkenswerte politische Stabilität bewiesen, obwohl es in ihr Dutzende regionale Sprachen mit langer literarischer Tradition gibt. Dabei fungiert Englisch, ähnlich wie früher Latein in Europa, als inoffizielle überregionale Staats-sprache. Die Sprache wird zwangsläufig immer zu einer Quelle politischen Konflikts werden, wenn sie als Ausdruck einer ins Religiöse überhöhten kollektiven Kultur interpretiert wird. Sprachen sind Instrumente menschlicher Kommunikation. Ihr Wert sollte: in erster Linie nach ihrer ästhetischen Qualität und ihren Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks und der Verständigung beurteilt werden. Auch hier, bei der Mythisierung der Funktion der Sprache, müssen Erblasten der romantischen Ideologie abgetragen werden.

IV. Politische Identität im republikanischen Verfassungsstaat

Wie alle menschlichen Kollektive werden auch Republiken stets der Versuchung ausgesetzt sein, sich im Widerspruch zu ihrem eigenen Individualismus mit despotischen Vorstellungen einer kollektiven Kultur auszustatten. Sprachschablonen wie der „echte“ Deutsche, Franzose oder Amerikaner oder die berüchtigten „Komitees gegen unamerikanische Aktivitäten“ erinnern an die immer neue Verführungskraft des Kollektivdenkens. Individuelle kulturelle Freiheit und kultureller Pluralismus werden zwar formal durch die republikanische Verfassung geschützt, ihre Erhaltung und Durchsetzung aber hängt von der Lebendigkeit der republikanischen politischen Kultur, von der Kraft ihres Verfassungspatriotismus ab. Der Verfassungspatriotismus, nicht als Kenntnis einzelner Verfassungsparagraphen, sondern in der Form der Orientierung der Bürger am Inhalt der Verfassung der Republik, ihren Grundwerten und ihrer politischen Ordnung, sei -so die Kritiker -eine abstrakte intellektuelle Größe, die sich als Grundlage für die Stiftung politischer Gemeinschaft nicht eigne. Nur die nationale Geschichte und ihre Kultur könnten Gefühle ansprechen und mobilisieren. Nur über Gefühle könnten sich Gemeinschaft und engagierter Patriotismus bilden.

Aber was heißt schon abstrakt? Der Gott der Bibel, von dem es kein Bild oder Gleichnis geben soll, wurde von vielen Generationen mit Leidenschaft bejaht und geliebt. Alle Verfassungsordnungen und -werte haben in der Geschichte der Staaten einen mythischen Stellenwert. Die Geschichte der Monarchien und der amerikanischen Republik oder der Rekurs der Franzosen auf die Werte der Republik und ihrer Revolution dokumentieren diese mögliche Mythisierung politischer Ordnungen und das in ihnen enthaltene Potential für die Stiftung einer politischen Gemeinschaft. Die zentrale Bedeutung gerade der Verfassung für den republikanischen Patriotismus zeigt sich beispielsweise daran, daß amerikanische oder deutsche Soldaten auf den Schutz ihrer Verfassungen und nicht ihrer Völker vereidigt werden.

Die Integration in das Gemeinwesen, die nicht über kulturelle, sondern über solche politische Identifikation erfolgt, ist möglicherweise mit einer zweckrationaleren Haltung gegenüber der Politik als im Nationalismus verbunden. Das eigene politische Gemeinwesen ist hier nicht mehr wie im Nationalstaat der mythische Leib der Nation und der Endzweck der Geschichte. Politische Gemeinschaften werden nicht wie im Nationalismus als Selbstzweck, sondern als notwendiger Bedingungsrahmen für ein gutes Leben der Bürger wahrgenommen -das gute Leben, zu dem gerade auch die Freiheit der individuellen kulturellen Selbstbestimmung gehört. Angesichts der wahnhaften Emotionen des Nationalismus ist ein solches nüchternes und zweckrationales Verhältnis zur politischen Gemeinschaft wohl kein Schaden. Nationale Gefühle hat es in Deutschland -und anderswo -immer im Übermaß gegeben, an Vernunft und Augenmaß aber zu wenig.

Auch hierfür gibt es Grundlagen in der deutschen politischen Kultur: Mit dem Sieg der politischen Romantik über die Aufklärung wurde der Glaube an die mögliche kulturstiftende Kraft der Vernunft der Irrationalität bloßer Gefühle (ohne Vernunft) geopfert. Wenn gerade in Deutschland immer wieder behauptet wird, der Verfassungspatriotismus, die Identifikation mit politischen Werten, sei etwas Abstraktes und könne nicht vom Gefühl, vom Herzen getragen werden, so offenbart gerade dies besonders bedenkliche Defizite der deutschen politischen Kultur. In der französischen und amerikanischen Republik bilden der Freiheitsmythos, die Geschichte des Kampfes um die politische Freiheit und die politischen Rechte der Bürger den Kern ihres Verfassungspatriotismus. Die großen nationalen Feiertage erinnern an diese Geschichte.

Die deutsche Kritik am Verfassungspatriotismus wird immer noch von vagen Vorstellungen einer kulturell oder sogar über Abstammung definierbaren deutschen Nation bestimmt, die als angeblich objektive Macht neben der Verfassung und ihrenWerten existiert und die eigentliche Grundlage politischer Gemeinschaft und Loyalität bilden soll. Der damit verbundene Vorwurf, daß Recht und Freiheit -die Grundwerte des Verfassungspatriotismus der Republik -für eine Identifikation mit dem Gemeinwesen zu abstrakt seien, macht bestürzend deutlich, daß diese Werte in der politischen Kultur der Deutschen bis heute immer noch nicht verinnerlicht worden sind. Der mangelnde Glaube an die gemeinschaftsbildende Kraft der politischen Werte der Republik veranschaulicht wie kaum etwas anderes die zähe Überlebenskraft alter antirepublikanischer Denkmuster des deutschen Nationalismus.

So feiern die Deutschen heute zwar einen Tag der nationalen Einheit, nicht aber einen Tag der Freiheit und des Rechts. Die großartige Dreiheit der deutschen Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand“ wird durch einen bloßen „Tag der Einheit“ verstümmelt und ihres Sinnes entleert.

Die Kritik am Verfassungspatriotismus hat in einem Punkt recht: Alle Staaten, auch die Republiken, wurden nicht am grünen Tisch „konstruiert“, sondern bildeten und verfestigten sich erst in ihrer eigenen Geschichte. Auch Republiken entstehen nicht über Nacht. Sie begründen und entwickeln sich durch ihre eigenen Taten. Sie legitimieren sich aus einer Geschichte erfolgreicher Bewährung. Für die Entfaltung der Republik in ihrer eigenen Geschichte müssen Recht und Freiheit und nicht die diffuse Vorstellungswelt einer trügerischen Nationalkultur die Pole und Identifikationskerne ihres Wachstums bilden.

Der Verfassungsstaat, der in der alten Bundesrepublik bereits entstanden war, muß weiterentwikkelt, sein republikanisches Fundament verbreitert werden. Auch die neue Bundesrepublik wird den Versuchungen , nationaler'kollektiver Wir-Gefühle ausgesetzt bleiben. Für ihre Abwehr wird die Offenheit der Republik im Innern wie nach außen von entscheidender Bedeutung sein. Erst wenn Fremdes und Fremde in die Republik aufgenommen werden und in ihr Bürgerrecht erhalten, verdient sie diesen Namen.

Für den Bau einer solchen Republik steht eine kritische Bestandsaufnahme der deutschen republikanischen Traditionen immer noch aus. Auch der Rückgriff auf die Republik von 1848 führt zurück auf den Holzweg alter nationaler, völkischer Denkmuster. Der Inhalt und der Verlauf der Debatten in der Paulskirche sind überaus lehrreich. Ethnischer Nationalismus und weltbürgerliche Bekenntnisse standen unverbunden und unreflektiert nebeneinander. Die , Deutschen wollten zwar eine Republik, aber dennoch unter sich bleiben; sie wollten eine Republik nur für Deutsche. Dies war die Essenz der , deutschen Revolution von 1848, und von hier führt der Weg zum Selbstverständnis der , alten Bundesrepublik von 1949.

Es wäre tragisch, wenn die „alte’ Bundesrepublik, die wegen der Teilung keine , deutsche Republik werden konnte und hierdurch zum Verfassungsstaat wurde, gerade jetzt, da sich die Nationalstaaten Westeuropas aufzulösen beginnen, von einer blassen Nachgeburt ihrer überholten nationalen Traditionen eingeholt und zur bloßen historischen Episode würde. Die Bundesrepublik darf sich nicht wieder zur Nation des 19. Jahrhunderts zurückentwickeln. Sie muß sich für ein republikanisches Europa öffnen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dieter Oberndorfer, Dr. phil., Dr. h. c., geb. 1929; Prof. em. Universität Freiburg; Direktor des Arnold Bergstraesser Instituts, Freiburg i. Br.; zur Zeit: Muller Chair for Contemporary German Studies am Bologna Center der Johns Hopkins University. Veröffentlichungen u. a.: Stabilität und Wandel in der westdeutschen Wählerschaft, Berlin 1990; Die offene Republik, Freiburg 1991; (zus. mit Uwe Berndt) Einwanderungs-und Eingliederungspolitik als Gestaltungsaufgabe, Gütersloh 1992; Der Wahn des Nationalen, Freiburg 19942; Agenda für die Zukunft, in: Warnfried Dettling (Hrsg.), Die Zukunft denken, Frankfurt 1996.