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Holocaust-Gedenken: Ein deutsches Dilemma | APuZ 3-4/1997 | bpb.de

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APuZ 3-4/1997 Die Vergegenwärtigung von Vergangenem Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken Von der äußerlichen zur verinnerlichten „Vergangenheitsbewältigung“ Gedanken und Fakten zu Erinnerungen Holocaust-Gedenken: Ein deutsches Dilemma

Holocaust-Gedenken: Ein deutsches Dilemma

Salomon Korn

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dauerhafte Erinnerung, so die Lehre des Monotheismus, ist weder an bestimmte Gegenstände noch an Materie überhaupt gebunden, sondern wird durch fortwährende kollektive Ritualisierung transgenerationell im Individuum verinnerlicht. Denkmäler als materialisierte Erstarrung vormals lebendig-komplexer Erinnerung bedürfen zur Entfaltung ihrer begrenzten Wirkungsmöglichkeiten des interessierten, informierten Betrachters, der die im Denkmal künstlerisch-erstarrte Erinnerung in eine lebendige zurückzuüberführen vermag. Aufgrund dieser dialogischen Wirkungsweise können Denkmäler allein keine Versicherung gegen Vergessen sein. Vor allem als „ein-deutige" Monumente mit Ewigkeitsanspruch (anstelle den Betrachter produktiv verunsichernder Gebilde) unterliegen sie der Gefahr, Stellvertreterobjekte für (abgewehrte) Erinnerung zu werden und damit Vergessen eher zu begünstigen. Schon aus diesen Gründen wird es das „erlösende“ Holocaust-Denkmal nicht geben können. Doch dies ist nur ein Teil eines spezifisch deutschen Dilemmas: In Deutschland kann die bei Opfer-und Täternachkommen je unterschiedlich vorhandene, zweigeteilte Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord nicht in ein und demselben Holocaust-Mahnmal gleich intensiv angesprochen werden. Errichten „die“ Deutschen ein „opferzentriertes“ Mahnmal, wird man ihnen vorwerfen, sie identifizierten sich ausweichend mit den Opfern. Entschließen sie sich, ein „täterzentriertes“ Holocaust-Denkmal zu bauen, werden sie sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie vernachlässigten das Andenken der Opfer. Bestehen die Auslober des geplanten Holocaust-Denkmals in Berlin auf Beibehaltung des vorgesehenen, den Holocaust historisierenden Standortes, dann hätten sie ein vermeidbares Dilemma im ohnehin unvermeidlichen Dilemma deutschen Holocaust-Gedenkens geschaffen.

„Du sollst keine anderen Götter haben vor meinem Angesicht. Du sollst Dir kein Bild machen und keinerlei Gestalt von dem, was im Himmel oben, oder im Wasser unter der Erde ist.“ Das zweite Gebot des am Sinai verkündeten Dekalogs forderte von den Kindern Israel den endgültigen Bruch mit der zu jener Zeit weithin verbreiteten Vielgötterei. Anstelle von Götzenbildern sollten sie von nun an einen einzigen, unsichtbaren Gott verehren, der weder Gestalt noch Namen hatte. Die Erfüllung dieser Forderung als Grundlage des Bundes bedeutete für die Israeliten den endgültigen Verzicht, göttliche Macht durch Vergegenständlichung der Gestalt Gottes magisch bannen zu können; sie war gleichzeitig die Anerkennung seiner unsichtbaren Allgegenwart, der man nicht entfliehen konnte -und in letzter Konsequenz der Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit

Die Entmaterialisierung der Erinnerung Die daraus erwachsende, unablässig tätige Auseinandersetzung religiöser Juden mit ihrem unsichtbaren allgegenwärtigen Gott, mit ihrer Religion und Geschichte zeitigte eine enge Verknüpfung zwischen jüdischer Geschichte und kollektivem historischen Gedächtnis des jüdischen Volkes. Noch heute gedenken Juden an bestimmten Feiertagen des vor mehr als 3 000 Jahren erfolgten Auszuges der Kinder Israel aus Ägypten, des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr., der Zerstörung des Zweiten Tempels vor 2 000 Jahren und weiterer, lange zurückliegender, freudiger und trauriger Ereignisse. Es ist dies ein aktives Gedenken, das bestimmten Riten und Ritualen folgt und über Jahrhunderte hinweg als fester Bestandteil jüdisch-religiösen Lebens lebendig geblieben ist: Geschichte, kollektive historische Erinnerung und Gedenken sind im Judentum eine Einheit geblieben.

Daraus läßt sich ein Muster des Gedenkens ableiten: Aus Geschichte bildet sich -oft mythisch eingefärbt -kollektive und individuelle historische Erinnerung; und aus dieser Erinnerung kann der Antrieb für Gedenken an bestimmte Ereignisse erwachsen. Erst im Gedenken wird aus der passiven kollektiven oder individuellen Erinnerung -dem historischen Gedächtnis -eine bewußte, aktive Zuwendung zu bestimmten Ereignissen der Geschichte und damit eine Verfestigung des historischen Gedächtnisses. Solange Gedenken aufrechterhalten und gepflegt wird, lebt auch die kollektive oder individuelle historische Erinnerung weiter. Die zuvor erfolgte Loslösung des Glaubens von vermeintlicher Magie bestimmter Gegenstände, von materieller Bindung überhaupt, war Voraussetzung und Grundlage einer dauerhaften, vergeistigten, internalisierten Erinnerung.

Die Vergegenständlichung der Erinnerung Muß das kollektive historische Gedächtnis durch verdinglichtes Gedenken -zum Beispiel durch Denkmäler anstelle wiederkehrender aktiver Gedenkriten -gestützt werden, dann bedeutet dies die Abkehr vom geistig verinnerlichten Gedenken und die Hinwendung zu einem konkreten, veräußerlichten, an bestimmte Gegenstände gebundenen Gedenken, zugespitzt: Rückfall in Idolatrie, in den Glauben an die magische oder dauerhafte Wirkung von bestimmten Gegenständen. Hier kommt die Kunst ins Spiel, und ihr wird als Ersatz für den Eigenantrieb des Individuums oder Kollektivs -nämlich selber die Erinnerung aktiv aufrechtzuerhalten -magische Wirkung zugeschrieben. Nach Art des Delegationsprinzips soll das künstlerisch gestaltete Denkmal zumindest einen Teil der Erinnerungsarbeit erbringen, die das Kollektiv nicht mehr leistet -das Denkmal erhält Stellvertreterfunktion. Wenn sich Erinnerung im Denkmal konkretisiert, dann hat sie sich für jedermann sichtbar verdinglicht; die eigene Erinnerung ist gestützt, entlastet und bedarf keiner Anstrengung mehr -das bequeme Vergessen kann seinen Lauf nehmen.

Ein Denkmal erfüllt also nur dann seine Funktion, wenn es dialogisch wirkt: Es muß im Betrachter etwas ansprechen, was in ihm ansatzweise bereits vorhanden ist und sich ansprechen läßt. Gelingt dies nicht, dann hat es seinen Zweck verfehlt. Mit anderen Worten: Schwindet beim Betrachterdie historische Erinnerung, dann schwindet die Möglichkeit des dialogischen Prinzips zwischen Mahnmal und Betrachter. Ein gegenständliches Mahnmal setzt demnach einen interessierten, informierten oder wissenden Betrachter voraus. Gibt es keine solchen Betrachter mehr, dann verliert das Denkmal sein notwendiges dialogisches Gegenüber. In letzter Konsequenz bedeutet dies, daß Denkmäler allein keine Versicherung gegen Vergessen sein können.

Authentizität der Darstellung Welcher Wert kommt künstlerischen und ästhetischen Mitteln bei der Darstellung eines unvorstellbaren Ereignisses wie dem des Holocaust zu? Wo liegen die Grenzen seiner künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten? Zunächst sei festgehalten, daß es unmöglich ist, Ereignisse, die im Hohlraum der Zivilisation stattgefunden haben, mit den Mitteln einer Kunst darzustellen, die ihre Wurzeln außerhalb dieses Hohlraums hat. .. nur der verwandte Schmerz entlockt uns die Träne und jeder weint eigentlich für sich selbst“, heißt es bei Heinrich Heine Dies scheint zweierlei Vermutungen zu bestätigen: Zuerst, daß vielleicht nur der unmittelbar betroffene Künstler, der das ihm eingebrannte Inferno überlebt hat, dieses am authentischsten darstellen können müßte -und dann: daß nur derjenige, der diesen Schmerz am eigenen Leib gespürt hat, ihn auch nachempfinden kann.

Können überlebende Künstler den ihnen eingebrannten Schrecken am authentischsten darstellen? Betrachtet man literarische und zeichnerische Werke von Menschen, die Vernichtungslager überlebt haben, dann wird man zugeben müssen, daß es sich um die aufwühlendsten, eindringlichsten und glaubwürdigsten Zeugnisse des Grauens handelt. Auch dem Außenstehenden, der das Inferno nicht unmittelbar erlebt hat, teilt sich davon etwas mit, sofern er sich Mitgefühl und Leidensfähigkeit bewahrt hat.

Doch ist Mitfühlen und partielles Nacherleben nur möglich, weil hier Leid in seiner jeweils individuellen Erfahrung gezeigt wird. Diese Einschränkung auf persönliche Schicksale und Einzelerfahrungen bleibt Voraussetzung für mögliches Mitempfinden Außenstehender und Nachgeborener. Die Überlebenden selbst wollten es nur so; sie wünschten sich bildlichen, figurativen Ausdruck ihres unermeßlichen Leids. Verallgemeinernde Darstellungen des Infernos mit abstrahierenden Gestaltungsmitteln trafen ihren Schmerz nicht.

Grenzen der Darstellung Die überzeugende künstlerische Transformation persönlicher Erfahrungen in die überindividualisierende Dimension der Katastrophe ist -soweit ich es beurteilen kann -nicht gelungen, ja, sie kann wahrscheinlich nicht gelingen, weil der künstlerischen Darstellung des Holocaust Grenzen gesetzt sind, die noch weit unterhalb jener Erkenntnisebene liegen, nach der es keine künstlerischen Mittel gibt, das Unvorstellbare des Holocaust darzustellen. Warum also kann die überzeugende Darstellung von nachvollziehbarem individuellen Leid bei gleichzeitiger Vermittlung der abstrahierenden, überindividualisierenden Dimension des Infernos im selben Werk, im selben Zug nicht gelingen?

Die Antwort darauf liegt in einer Art Universal-konstante künstlerischer Darstellungsgrenzen des Holocaust, die ich mit „Taschenlampen-Phänomen“ bezeichnen möchte. Entweder ist der projizierte Taschenlampenstrahl gebündelt, konturenscharf, hell, eine kleine Fläche maximal ausleuchtend -dies entspräche dem Individuellen, Figurativen -, oder er ist gestreut, unschärfer, dunkler, eine große Fläche überstreichend -was der Darstellung verallgemeinerter Aspekte des Holocaust entspräche. Aus dieser Ausschließlichkeit, entweder das eine -das Individualisierende -oder das andere -das Überindividualisierende -oder als Kompromiß eine Mischung beider mit entsprechendem Verlust an Sinnlichkeit oder Verlust an abstrahierender Verallgemeinerung -aus dieser Ausschließlichkeit heraus scheint es keinen Ausweg zu geben.

Doch angenommen, es könnte trotz aller angeführten Einwände das Holocaust-Denkmal geben, wäre es dann überhaupt wünschenswert? Man stelle sich vor, es gelänge einem Künstler vom Range eines Michelangelo, ein Holocaust-Mahnmal zu schaffen, das bei jedem Betrachter ein bis in die Tiefen seiner Seele hinabreichendes „erkennendes Erschrecken“ auslöste. Dies käme einer Erlösung von dunklen Bildern, Ahnungen und Ängsten nahe, die allesamt durch ein solches Mahnmal festumrissene Gestalt erhielten und damit in ihm gebunden, wenn nicht gar gebannt Weitere notwendige Auseinandersetzungen wären.

mit einem quälenden Thema könnten gemildert werden, wenn ein solches Mahnmal, einem Göt-zenbild gleich, einen Teil des freischwebenden Seelenpotentials aus der Erblast des Nationalsozialismus an sich binden könnte.

Der authentische Ort Wenn also der Kunst die Darstellung des Unvorstellbaren nur begrenzt gelingen kann, dann ist zu prüfen, ob authentische Orte der Vernichtung künstlerischen Lösungen an nichtauthentischen Orten überlegen sind. Dabei ist folgendes zu berücksichtigen: Authentische Gedenkorte wie Erschießungsstätten, Konzentrations-und Vernichtungslager können im jeweils vorgefundenen zufälligen (Verfalls-) Zustand nichtssagende Idyllen für den Besucher sein; Fundamente von verfallenen Baracken, zerstörten Gaskammern oder Krematorien sagen, für sich genommen, nichts aus. Steine sprechen nicht von selbst, sie müssen -auch am authentischen Ort -erst zum „Sprechen“ gebracht werden. Aufgabe der künstlerischen Gestaltung von Gedenkstätten -sowohl am authentischen als auch am nichtauthentischen Ort -sollte es sein, dem Betrachter zu helfen, Dinge, die er vielleicht ansatzweise begriffen hat, fühl-und erlebbar zu machen.

Authentische Orte und künstlerische Darstellungen des Gedenkens schließen einander nicht aus. Beide können sich entweder ergänzen oder auch jeweils für sich selbst stehen. Wer sie zu Alternativen reduziert oder gegeneinander ausspielt, schränkt die Bandbreite der Darstellungsmöglichkeiten des Gedenkens an das nationalsozialistische Inferno unzulässigerweise ein.

Die Gedenkstätten in Treblinka und Buchenwald zeigen, welche gelungene Verbindung authentischer Ort und künstlerische Darstellung miteinander eingehen können. Ohne daß dem Betrachter die Richtung seiner Vorstellungen, Gefühle und Gedanken vorgeschrieben wird, spürt er durch einfühlsame künstlerische Gestaltung etwas von jener Grausamkeit, Brutalität und Ausweglosigkeit, die einst an diesen Orten herrschte. Vermutlich gibt es eine Wechselwirkung zwischen authentischem Ort und sensibel gestaltetem Mahnmal: Wenn ein geglücktes Mahnmal den authentischen Ort zum „Sprechen“ bringen kann, dann verleiht dieser dem Mahnmal etwas von der eigenen Authentizität. Doch ist eine solch überzeugende Symbiose nur am Ort des Verbrechens möglich und damit eher ein Sonderfall. Was aber gilt für den „Normalfall", für das Mahnmal am nichtauthentischen Ort?

Abstraktion versus Sinnlichkeit?

Damit kehren wir zurück zum Sinai, zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Gedenken, so hatten wir festgestellt, ist aktive, bewußte Zuwendung zu bestimmten Ereignissen der Geschichte und dient damit der Festigung des individuellen und kollektiven historischen Gedächtnisses. Umgekehrt erwächst das Bedürfnis, eines geschichtlichen Ereignisses zu gedenken, aus der gefestigten historischen Erinnerung, aus dem Wunsch, sie zu bewahren, so daß beide -historisches Gedächtnis und Gedenken -sich wechselseitig verstärken. Geschieht dies auf verinnerlichte, geistig-abstrakte Weise, etwa durch kollektive Rituale, dann bedarf es keiner vergegenständlichten Erinnerungsstützen. Läßt das lebendige Wechselverhältnis zwischen historischem Gedächtnis und Gedenken nach, dann bedarf es -sofern nicht ganz erloschen -zur Stützung ersatzweise eines konkreten Gegenstandes, eben eines sinnlich erfahrbaren Denkmals oder Mahnmals.

Man könnte dies als Abkehr vom verinnerlichten Prinzip des Gedenkens und Hinwendung zu vergegenständlichten Formen des Gedenkens, zur Idolatrie, zur Verehrung von Gegenständen mit magischer oder künstlerischer Wirkung betrachten -kurz: als Rückkehr vom Monotheismus zum Götzendienst. Doch wäre dies kurzschlüssig, weil damit eine über tausendjährige Entwicklung abendländischer Kunst von der Ikone zum Gemälde ignoriert würde: die allmähliche Umwandlung des ursprünglich religiös verehrten Heiligenbildes zum Kunstwerk als Gegenstand verweltlichten Genusses. In der christlich-abendländischen Kunst, in der das Abbildungsverbot des Alten Testaments von jeher wenig Geltung besaß, wurde im Laufe von Jahrhunderten -spätestens seit der Renaissance -die unmittelbare heilige Verehrung von Bildern, Ikonen, Statuen, Gotteshäusern abgelöst durch distanzierende, ästhetische Wertschätzung und kunsthistorisches Interesse. Die Oberflächen-wirkung des nur noch unter ästhetischen Kategorien genossenen Bildes verselbständigte sich zusehends vom religiösen Inhalt der christlichen Ikone und dominiert seither unsere Wahrnehmung. Es ist -verkürzt betrachtet -die unumkehrbare Entwicklung vom unsichtbaren Gott zum Heiligenbild und vom Heiligenbild zum ästhetischen, von religiösen Inhalten emanzipierten Bild.

Es brächte wenig, in kulturhistorischen Pessimismus zu verfallen und den Untergang von Lesekultur, abstraktem Denken und anderer Errungenschaften des Nach-Gutenbergischen-Zeitalters zu beklagen. Dem monotheistischen Prinzip wohntschließlich auch ein Stück Sinnen-und Genußfeindlichkeit inne. Bilder können eine wesentliche Bereicherung unserer Wahrnehmung sein, wenn sie nicht andere Formen unserer Rezeption beeinträchtigen oder ersetzen.

Ebenso wie es die falsche Alternative wäre zu fragen, ob Gedenken besser durch den authentischen Ort oder durch Kunst zu erzielen sei, wäre es die falsche Alternative, abstrakt-verinnerlichtes Gedenken nach monotheistischem Vorbild gegen ein in Denkmälern versinnlichtes Gedenken nach künstlerisch-ästhetischen Prinzipien auszuspielen. Ideal wäre, wenn die gesamte „verinnerlichte“ und „veräußerlichte“ Palette der Gedenk-Möglichkeiten genutzt werden könnte, um individuelle und kollektive historische Erinnerung zu bewahren. Nichts anderes wird heute im Staat der Juden, in der nationalen israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, angestrebt und streckenweise verwirklicht.

Denkmal und Betrachter Die begründete Vermutung, es könne das Holocaust-Denkmal nicht geben, führt nicht notwendigerweise zu dem Schluß, daß es dann besser keines geben dürfe. Man kann natürlich listigerweise Erwartungen und Forderungen an ein solches Mahnmal so weit nach oben schrauben, bis es „immun“ gegen jede Realisierung ist. Es ist aber auch möglich, diese Erwartungen von vornherein auf ein realistisches Maß zu beschränken, nämlich auf die Beantwortung der Frage, was ein solches Mahnmal in unserer Zeit zu leisten vermag, wenn doch das absolute Holocaust-Mahnmal gar nicht wünschenswert ist. Je weniger dem Mahnmal ein Akt des Gedenkens abverlangt wird, desto mehr muß vom Betrachter erwartet und erbracht werden, so daß die Forderung nach dem „absoluten“ Holocaust-Mahnmal nichts anderes ist als die Entlassung des Betrachters aus der Notwendigkeit aktiven Gedenkens.

Das heißt aber: Denkmal und Betrachter bleiben aufeinander angewiesen. Denkmäler und Mahnmale allein können, wie überragend sie auch gestaltet sein mögen, den Akt des Gedenkens ebensowenig ersetzen wie die individuelle oder kollektive historische Erinnerung. Im vorliegenden Fall bedeutet das: Ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas kann, wie die Kulturhistorikerin Stefanie Endlich beschreibt, nur Teil „eines Dialogs in Politik und Kultur, am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit sein. Diesen Dialog kann es im besten Fall verstärken, verbreitern, vielleicht auch verändern und zur notwendigen Verunsicherung beitragen, aber niemals ersetzen.“

Die Endlichkeit des Denkmals Sofern nicht religiös gestützt, gilt für das Gedenken Friedrich Nietzsches Feststellung: .. nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“ Weil aber kein Schmerz ewig währt, schwindet mit der Zeit -und sei es über Generationen hinweg -jede noch so quälende Erinnerung. Zurück bleibt dann bestenfalls ein ästhetisch ansprechendes Denkmal, in dem das zu gedenkende Ereignis „gefühlsneutral“ aufbewahrt ist -ähnlich einem historischen Datum im Gedächtnis der Zeitgenossen. Es ist eine Anmaßung der jeweils denkmalschaffenden Generation, zu glauben, ihre Denkmäler und Mahnmale könnten über die eigene Lebensspanne hinaus nachhaltig Wirkung auf zukünftige Generationen entfalten. Je mehr wir versuchen, Denkmäler als überzeitlich wirkende Monumente zu gestalten, desto mehr schließen wir sie in ihrer Wirkung von der Gegenwärtigkeit unserer alltäglichen Lebenswelt ab -ohne am Ende die beabsichtigte überzeitliche Wirkung tatsächlich zu erzielen. Allenfalls übermitteln sie späteren Generationen etwas über den Umgang ihrer Vorfahren mit Geschichte und deren zeitgebundene Umsetzung in Denkmalskunst. Erst der Verzicht auf fragwürdig „dauerhafte“ Monumente eröffnet die Möglichkeit, Denkmäler und Mahnmale als transitorisch begriffene Gebilde stärker mit unserer alltäglich gelebten Gegenwart zu verknüpfen.

Die gesellschaftliche Konstruktion der Erinnerung Die Wirkung von Denkmälern unterliegt nicht nur zeitlicher Begrenzung, sondern ist auch abhängig von der jeweiligen Gesellschaft und deren zielgerichteter Konstruktion des Gedenkens. Die je unterschiedliche Absicht bei der Rekonstruktion des Holocaust in verschiedenen Nationen bestimmt deren jeweilige Erinnerungs-und Gedenkstättenpolitik. In Israel wird die Vernichtung des europäischen Judentums nicht als Endpunkt jüdischer Geschichte betrachtet, sondern sinnstiftend in ein geschichtliches Kontinuum eingeordnet. Danach steht der Holocaust in einer historischen Abfolge jüdischer Katastrophen, nach denen das Judentum -wie verheerend deren Folgen auch gewesen sein mögen -stets weiterlebte und zu neuer Blüte fähig war. Nach Ansicht des israelischen Historikers Saul Friedländer wird zwischen Vernichtung der europäischen Judenheit und der Geburt des Staates Israel eine mythische Verknüpfung hergestellt, wonach der Staat Israel als Erlösung aus der Katastrophe erscheint

Dieses Grundmuster, dem das Gedenken in Yad Vashem verpflichtet ist, kann schwerlich Grundlage eines zentralen Denkmals im Land der Täter und ihrer Nachkommen sein. Wenn es dennoch von der Fernsehjournalistin Lea Rosh immer wieder als Vorbild aufgerufen wird, liegt die Vermutung einer kompensatorischen Überidentifizierung mit den wirklichen Opfern nahe. Ein „Import“ jüdischer Gedenk-und Mahnmalstraditionen aus Israel würde Deutschland den Vorwurf eintragen, auf diese Weise der notwendigen Auseinandersetzung mit Tat und Täter des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden auszuweichen -zumal es eine solche Auseinandersetzung bereits gibt. Seit den siebziger Jahren stellt eine neue Künstlergeneration in Deutschland Denkmäler als Träger öffentlicher Erinnerung radikal in Frage -sie erschwerten eher Erinnerung statt sie anzuregen. Da diese Künstler einerseits zwar von ihrer moralischen Verpflichtung zu erinnern überzeugt sind, andererseits aber der nach wie vor durch die nationalsozialistische Vergangenheit belasteten Monumentalkunst skeptisch gegenüberstehen, haben sie, dem amerikanischen Denkmalexperten James E. Young zufolge, sich Gedanken nicht nur über die Grenzen ihrer künstlerischen Ausdrucksformen, sondern über die Idee des Denkmals überhaupt gemacht: „Sie haben eine elementare deutsche Frage -wie kann ein Volk einen neuen, gerechten Staat auf der Grundlage der Erinnerung an seine Verbrechen aufbauen? -aufgeworfen und darauf mit einer Reihe verblüffender und provozierender Installationen -Antidenkmäler -geantwortet, die so konzipiert sind, daß sie die eigentliche Prämisse ihres Vorhandenseins in Frage stellen.“

Antidenkmäler Wie stellt sich ein Denkmal selbst in Frage? Indem es den Betrachter zwingt, die Erinnerung nicht an das Denkmal zu delegieren, sondern die Erinnerungsarbeit selbst auf sich zu nehmen, sich also selbst die Funktion des Denkmals aufzuerlegen. Horst Hoheisel ließ 1987 in Kassel den 1908 von einem früheren jüdischen Bürger gestifteten, 1939 von den Nazis zerstörten Brunnen in Negativform wiedererstehen, indem er ihn rekonstruierte und umgekehrt in die Erde versenkte. Das Kasseler „Denkloch“ sollte als „negatives“ Spiegelbild des früheren Brunnens die Geschichte des Ortes als eine Wunde und offene Frage in das Bewußtsein der Öffentlichkeit retten.

Das 1986 von Jochen und Esther Gerz errichtete Harburger „Mahnmal gegen den Faschismus“, eine zwölf Meter hohe, bleiverkleidete Säule, lädt den Betrachter dazu ein, seinen Namen in sie einzuritzen, um abschnittsweise vollgeschrieben, Stück für Stück in die Erde versenkt zu werden. Die Bürger mußten dieses Mahnmal in Gebrauch nehmen, sonst wäre es als Menetekel dafür sichtbar geblieben, daß zu wenige sich mit ihrem Namen gegen den Faschismus bekannt hatten. Gerade weil die Säule langsam verschwand, war sie -durch ihren allmählichen Entzug, ihre Vergänglichkeit -dem Bewußtsein der Öffentlichkeit näher, als starre, „ewigwährende“ Denkmäler, die man jederzeit beliebig aufsuchen kann. 1993, sieben Jahre später, war die Säule vollständig versenkt -unsichtbar geworden wie die verschwundenen Opfer des Nationalsozialismus.

Die Abkehr von herkömmlichen starren, verdinglichten Denkmälern und Hinwendung zu allmählich verschwindenden oder unsichtbaren Installationen ist die Aufforderung zu fortwährender eigenverantwortlicher, geistiger Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit kollektiver und individueller historischer Erinnerung. Was aber stützt das angestrebte fortdauernde Gedenken als Akt der Aufrechterhaltung des kollektiven Gedächtnisses, wenn das Antidenkmal erst einmal verschwunden ist?

Ein verschwundenes Denkmal kann nicht mehr mit dem Betrachter dialogisch in Beziehung treten, der es vor dem Verschwinden nie gesehen hat.Durch den Abbruch dieses notwendigen Dialogs mit dem Betrachter stellt das Antidenkmal im Augenblick seines Verschwindens nicht nur die Wirkung von herkömmlichen Denkmälern, sondern auch die eigene Wirkungsmöglichkeit radikal in Frage. Es ist gleichzeitig Eingeständnis und Anerkennung der zeitlich begrenzten Wirkung von Denkmälern jeglicher Art.

Die Ästhetisierung des Schreckens Das Antidenkmal entgeht viel eher jenem Dilemma, dem konventionelle Denkmäler unausweichlich ausgesetzt sind: Auch bei äußerster gestalterischer Zurückhaltung ästhetisiert jede gelungene Gedenkstätte immer ein Stück weit jenen Schrecken, der Gegenstand ihrer Mahnung ist. Gestalterische Bescheidung wird unumgänglich, wenn es darum geht, Raum für Erinnern möglichst groß, davon ablenkende künstlerische (Selbst-) Darstellung möglichst klein zu halten. Wo Rücknahme von „Gestaltung“ gleichzeitig zu künstlerischer Verdichtung des zu gedenkenden Gegenstandes führt, wird die Grenze dessen erreicht, was Denkmalskunst zu leisten vermag. Die verbleibende „Rest-Ästhetik“ eines solchermaßen gestalterisch „ausgedünnten“ Mahnmals kann dann nur noch um den Preis des Umschlagens ins Nichtssagende oder Beliebige reduziert werden. Einer „Rest-Ästhetisierung“ des Schrekkens wäre nur zu entgehen, wenn der Inhalt des Gedenkens sich von jeglicher ihn einengenden Gestalt lösen könnte, was gleichbedeutend wäre mit Aufgabe von Gestaltung überhaupt. Die in einem geglückten Mahnmal stets verbleibende „Rest-Ästhetisierung“ des Schreckens ist somit der Preis, der für den Versuch gezahlt werden muß, das Nichtdarstellbare des nationalsozialistischen Massenmordes ansatzweise doch darzustellen.

Denkmäler, die vorwiegend Schrift als vermeintlich neutralen Informationsträger benutzen, sind von diesem Dilemma keineswegs ausgenommen. Zunächst: Die Verwendung von Schrift auf Denkmälern bezieht ihre Berechtigung aus dem Umstand, daß die Mittel der bildenden Künste sich zur Symbolisierung und künstlerischen Verdichtung der zu gedenkenden Ereignisse, nicht aber zur Übermittlung präziser Inhalte eignen. In aller Regel verbleibt den Werken bildender Künste ein dem Medium innewohnender Rest inhaltlicher Unschärfe, die erst durch Zuschreibung -Titel, Widmung, Inschrift -aufgehoben werden kann. Eindeutige Aussagen, Mitteilungen oder Botschaften auf Denkmälern bedürfen der Schrift als präzisem Informationsmedium.

Diese erläuternde Hinzufügung bedeutet keine künstlerische Minderung des jeweiligen Denkmals oder Mahnmals, solange Schrift komponierter Bestandteil eines ganzheitlichen Werkes ist. Doch büßt sie damit gleichzeitig etwas von ihrem Status als reinem Informationsträger ein: diesen kann sie nur „losgelöst“, das heißt vor neutralem Hintergrund bewahren. Als symbiotischer Bestandteil eines gestalteten Untergrundes oder Trägers hat schriftliche Mitteilung Teilhabe an der künstlerischen „Rest-Ästhetisierung“ des zu gedenkenden Gegenstandes. In solchem Zusammenhang ist Schrift auf künstlerisch gestalteten Denkmälern weder ästhetisch noch inhaltlich „neutral“.

Soldatenfriedhöfe und Heldengedenkstätten zeugen davon -aber auch deren Abkömmlinge, die zeitgenössischen „Namens-Denkmäler“: sei es das Vietnam-Memorial in Washington D. C. oder die ursprünglich als Holocaust-Denkmal in Berlin vorgesehene 20 000 qm große Mega-Grabplatte mit Millionen von Opfernamen. Es zählt zu den Traditionen soldatischer Gedenkstätten, daß in ihnen der angestrengte Versuch unternommen wurde, im Zeitalter der Massentötung jedes Getöteten einzeln zu gedenken. In Wirklichkeit gerieten diese Großdenkmäler zu Kultstätten des anonymen Massenmordes Zwischen Opfern, Mitläufern, Tätern wird auf ihnen nicht unterschieden. Die „Namens-Gedenkstätte“, zumal die soldatische, verwandelt alle aufgezählten Männer und Frauen unterschiedslos zu Helden, die ihr Leben einer gemeinsamen Sache, einem höheren Zweck „geopfert“ haben. Was bei Soldatenfriedhöfen aus dem jeweiligen Zeitgeist heraus noch verständlich gewesen sein mag -die Überhöhung des allen gemeinsamen heroischen Todes für Volk und Vaterland -, kann bei Namens-Denkmälern für die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes unversehens -die Berliner Mega-Grabplatte belegt es -zu unerträglicher Nivellierung geraten: Mord durch Gas, Foltertod, Strangulation, Erschießung, Zerfleischung durch Hunde, qualvolle medizinische Experimente -über alles wird das gleiche steinerne Leichentuch gebettet, so, als ob die Ermordeten -Soldaten gleich -für eine gemeinsame Sache, einen höheren Zweck gestorben seien.

Erinnerungsbereitschaft und Identität Wie aber angesichts der Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Massenmordes an den Judenangemessene Denkmäler schaffen? Der Gegenstand des Gedenkens kann nur in dem Maße überzeugend in einem Mahnmal dargestellt werden, in dem der Verstand -vor der künstlerischen Umsetzung -in der Lage ist, diesen Gegenstand zu erfassen. Auch wenn es keine Kurzschlüssigkeit zwischen Wissen um den Holocaust und künstlerischer Intuition gibt: Kein Denkmal kann besser sein als die Qualität der Erinnerung -authentische oder angeeignete -, aus der heraus es geschaffen wird. Ist diese Erinnerung ungenau oder trauma-tisch betäubt, bleibt das Denkmal entsprechend unverbindlich in seiner Aussage.

Die Bereitschaft zum Erinnern und Gedenken ist abhängig vom Verhältnis des Einzelnen zur eigenen Geschichte, zur Geschichte des eigenen Volkes und abhängig vom Grad der Identifizierung mit Volk, Staat oder Nation. Je näher und unverbrüchlicher man zu den Geschicken der eigenen Gemeinschaft steht, desto eher wird man die Erinnerung an deren Geschichte, die dann auch als eigene empfunden wird, zu bewahren suchen. Je ambivalenter, schwieriger und brüchiger die Vergangenheit des Volkes ist, dem man angehört, desto mehr Überwindung erfordert die Beschäftigung mit dessen Geschichte, die dann als eigene eher abgewehrt wird. Erinnern und Gedenken werden unter diesen Voraussetzungen zur mühsamen Tätigkeit; sie konfrontieren mit den dunklen Seiten der eigenen Gemeinschaft und erschweren die Ausbildung einer ungebrochenen Identität mit dieser. Erinnern und Gedenken bedeuten dann immer auch Auseinandersetzung mit den Biographien der eigenen Eltern, Großeltern, Vorfahren. Die Bereitschaft, der nationalsozialistischen Verbrechen aufrichtig zu gedenken, hängt von der Bereitschaft der nichtjüdischen Deutschen ab, nationale Identität in ihren geschichtlich geformten Brechungen und Diskontinuitäten anzunehmen -sich eben nicht in eine scheinbar heile nationale Identität zu flüchten, die zwangsläufig die Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord auf ihre Bedürfnisse hin verbiegen, relativieren und schließlich verfälschen muß.

Diese Wechselwirkung zwischen Erinnerungsbereitschaft und nationalem Selbstverständnis zeigt, daß es unterschiedliche Ausprägungen des Erinnerns und Gedenkens auf der Seite derer gibt, die Nachfahren der Opfer, und derer, die Nachfahren der Täter sind. Die Nachfahren der Täter können nicht in gleicher Intensität um die ihnen ferner stehenden Opfer des Völkermordes trauern wie die unmittelbar betroffenen Nachfahren der Ermordeten oder Überlebenden. Während letztere im Gedenken vorwiegend die Erinnerung an die Ermordeten der eigenen Familie, des eigenen Volkes bewahren, müßte das Gedenken der Täter-Abkömmlinge an die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes immer auch die Erinnerung an Verbrechen des eigenen Volkes sowie Fragen nach deren Ursachen und Folgen einschließen.

Ein deutsches Dilemma Diese zweigeteilte Erinnerung kann nicht in ein und demselben Holocaust-Mahnmal gleich intensiv angesprochen werden. Die Deutschen sollten sich damit abfinden: Der nationalsozialistische Massenmord hat ein Dilemma hinterlassen, aus dem es kein Entrinnen gibt: Errichten sie -aus welch redlichen Gründen auch immer -kein Holocaust-Mahnmal, wird man ihnen vorhalten, sie wichen dem notwendigen öffentlichen Erinnern und Mahnen an die Verbrechen der Nationalsozialisten aus. Bauen sie ein „opferzentriertes“ Holocaust-Mahnmal, wird man ihnen vörwerfen, sie identifizierten sich mit den Opfern und gingen der notwendigen Auseinandersetzung mit den Tätern und deren Taten aus dem Wege. Entschließen sie sich, ein „tat-“ oder „täterzentriertes“ Holocaust-Mahnmal zu errichten, werden sie sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, sie vernachlässigten das Andenken der Opfer.

Eine Ursache dieses Dilemmas liegt in der Tatsache begründet, daß zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk -das der Deutschen -keine Denkmäler für seine „Kriegshelden“ errichtet, sondern Mahnmale für die von seinen Angehörigen verübten Verbrechen. Wenn aber im Land der Täter nicht vorrangig der Opfer, sondern der Tat und der Täter mahnend gedacht werden soll, dann stellt sich die Frage, wie dieser Verbrechen (und Verbrecher) in Mahnmalen zu gedenken ist, ohne Tat und Täter zu sehr in den Vordergrund zu rükken, die Opfer aber in den Hintergrund zu drängen? Die begründete Vermutung, es gäbe aus diesem Dilemma keinen Ausweg, muß nicht zwangsläufig heißen, daß das Bemühen um die Errichtung eines angemessenen Holocaust-Denkmals zum Scheitern verurteilt und damit zwecklos sei. Denn sollte das Ende aller Überlegungen -und keine Debatte währt ewig -tatsächlich lauten, kein Holocaust-Mahnmal zu errichten, welches „Signal“ wäre dies für die Überlebenden des nationalsozialistischen Infernos und deren Nachkommen? Und welche „Botschaft“ könnte daraus für die gegenwärtige Generation und für zukünftige Generationen abgeleitet werden? Doch wohl die: „Unsere Generation ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der Massenmord an den Juden nicht in einem Mahnmal darstellbar ist, also haben wir daraufverzichtet, ihn darzustellen.“ Daran gemessen ist die Position des Sisyphos das Gegenteil von Resignation: Obwohl er weiß, daß der von ihm zu rollende Felsbrocken nie den Gipfel des Berges erreichen wird, gibt er nicht auf -er hat begriffen, daß dieser Stein nur solange „Stein des Anstoßes“ bleibt, solange er ihn rollt. Die Forderung nach einem angemessenen Holocaust-Mahnmal sollte daher nicht verstummen -wohl wissend, daß es bestenfalls sein eigenes Scheitern darzustellen vermag. Das Dilemma im Dilemma Das Ergebnis des im März 1995 entschiedenen Wettbewerbes für ein zentrales Holocaust-Denkmal in Berlin fällt weit hinter diesen bereits eingeschränkten Anspruch zurück. Ein wesentlicher Grund für das allgemein als enttäuschend empfundene Wettbewerbsergebnis sind Größe und Lage des Wettbewerbsgeländes in den ehemaligen „Ministergärten“, südlich des Brandenburger Tors. Das 20 000 qm große Grundstück hatte die meisten Wettbewerbsteilnehmer dazu verleitet, die Dimension ihrer Entwürfe ins Monumentalistische zu steigern -von Lea Rosh mit dem Argument sekundiert, das Verbrechen sei monumental gewesen, also müsse auch das Denkmal monumental sein. Nach dieser Gleichung hätte ein „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ ganz Europa überdecken müssen. Doch ist „historisches Gewicht“ nicht einfach mit Tonnage und die Größe eines Verbrechens nicht mit bloßer Flächenausdehnung gleichzusetzen oder künstlerisch zu versinnbildlichen. Zudem: Ein zentrales (!) Holocaust-Denkmal entfaltet nur dann seine Wirkung, wenn es in einen „Dialog“ sowohl mit interessierten Betrachtern als auch mit bestimmten Symbolen deutscher Geschichte treten kann.

Abgesehen davon, daß das ausgewiesene Denkmalsgelände eher am Rande der Fußgängerströme liegt und von Besuchern erst umständlich aufgesucht werden muß: Die Nähe zur ehemaligen Reichskanzlei und zum früheren Führerbunker bindet das geplante Mahnmal historisierend an die nationalsozialistische Vergangenheit statt -wie etwa bei einem Standort am Reichstag -aktualisierend an die bundesrepublikanische Gegenwart. Einen Standort am Reichstag lehnen Lea Rosh und der „Förderkreis“ mit der Begründung ab, er sei „zu zentral“ denn die deutsche Geschichte sei mehr als nur die Ermordung der Juden, und es dürfe nicht so aussehen, als wolle man sie darauf reduzieren. Dies wäre nur dann richtig, wenn man den Reichstag selbst in ein Holocaust-Mahnmal umwandelte oder ein solches Mahnmal im Zentrum des deutschen Parlaments errichtete. So aber entlarvt die Begründung von Lea Rosh ihre eigentliche Botschaft: Das Holocaust-Denkmal ist mit (vergangener) nationalsozialistischer Geschichte verknüpft, das (gegenwärtige) Zentrum deutscher Geschichte muß vom Jahrtausendverbrechen unberührt, muß für die Zukunft des vereinten Deutschland „sauber“ bleiben. Das Holocaust-Mahnmal als Grabmal des Holocaust?

Käme es so -und alles deutet darauf hin -, dann hätten „die“ Deutschen ein vermeidbares Dilemma im ohnehin unvermeidlichen Dilemma deutschen Holocaust-Gedenkens geschaffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. 2. Buch Mose 20, 3-4.

  2. Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Gesammelte Werke XVI, Frankfurt am Main 1950, S. 101 ff.

  3. Heinrich Heine, Reisebilder II: Italien, Die Bäder von Lucca, Kap. I, in: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften (hrsg. von Klaus Briegleb), 2. Bd., München 1969, S. 396.

  4. Stefanie Endlich, Beitrag ohne Titel, in: Der Wettbewerb für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, Berlin 1995, S. 36.

  5. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 2. Abh., in: Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, 2. Bd., Darmstadt 1963, S. 802.

  6. Vgl. Aleida Assmann, Kultur als Lebenswelt und Monument, sowie: Fest und Flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hrsg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt am Main 1991, S. 11 ff. und 181 ff.

  7. Vgl. Saul Friedländer/Adam Seligman, Das Gedenken an die Schoa in Israel -Symbole, Rituale und ideologische Polarisierung, in: James E. Young (Hrsg.), Mahnmale des Holocaust -Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München -New York 1993, S. 125 ff.

  8. James E. Young, Die Zeitgeschichte der Gedenkstätten und Denkmäler des Holocaust, in: ebd., S. 38.

  9. Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hrsg.), Der Politische Totenkult -Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 15.

  10. Doch keine Betonplatte in Berlin -Förderkreis revidiert seine Haltung/Gedenken an ermordete Juden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1996, S. 4.

Weitere Inhalte

Salomon Korn, Dr. phil., geb. 1943 in Lublin; Architekt; Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main; Mitglied im Beirat mehrerer Stiftungen für Gedenkstätten; Gedenkstättenbeauftragter des Zentralrats der Juden in Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: Der Bruch als Symbol -Zur jüdischen Baukultur in Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 13. September 1986; Börneplatz Frankfurt -Die Moral des Ortes, in: Der Architekt, April 1988; Synagogenarchitektur in Deutschland nach 1945, in: Hans-Peter Schwarz, Die Architektur der Synagoge, Frankfurt am Main -Stuttgart 1988; Die Tafeln sind zerbrochen. Über die Darstellung des Unvorstellbaren, das Vergessen und den Streit um das Holocaust-Denkmal in Berlin, in: FAZ vom 9. Februar 1996; Ein neuer Wettbewerb für einen neuen Standort. Das Holocaust-Denkmal in Berlin: Umdenken tut not, in: Focus, Nr. 8 vom 17. Februar 1996; Die zweigeteilte und die gemeinsame Erinnerung. Was es in Israel heißt, des Holocaust zu gedenken, und was in Deutschland, in: FAZ vom 16. April 1996.