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„Zwischen Haben und Sein“ Psychische Aspekte des Transformationsprozesses in postkommunistischen Gesellschaften | APuZ 5/1997 | bpb.de

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APuZ 5/1997 Der Systemwechsel in Ostdeutschland, Ungarn, Polen und Rußland. Phasen und Varianten der politisch-administrativen Dezentralisierung „Zwischen Haben und Sein“ Psychische Aspekte des Transformationsprozesses in postkommunistischen Gesellschaften Nachholende Mobilisierung Demokratisierung und politischer Protest in postkommunistischen Gesellschaften

„Zwischen Haben und Sein“ Psychische Aspekte des Transformationsprozesses in postkommunistischen Gesellschaften

Gerd Meyer

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die historisch gewachsenen, gesellschaftlich geprägten Persönlichkeitsstrukturen und Wertorientierungen in den postkommunistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas lassen gegenüber den soge-nannten westlichen Gesellschaften zwar immer noch einen erheblichen Nachholbedarf erkennen, wenn es um selbstbestimmtes Handeln und demokratischen Konfliktaustrag, um Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft geht. Aber die Menschen dieser Region verfügen auch über zahlreiche positive Erfahrungen und psychosoziale Potentiale, über ein spezifisches „kulturelles Kapital“ (Pierre Bourdieu), das einen gesellschaftlichen und psychischen Wandel im Sinne des Humanismus und der kritischen Sozialpsychologie Erich Fromms („Haben oder Sein“) in oft unerwarteter Weise begünstigt. In dieser Perspektive ist das psychosoziale Erbe des Sozialismus keineswegs nur negativ, sondern weithin als ambivalent oder widersprüchlich zu interpretieren. In welcher Weise in der sozialen Psyche postkommunistischer Gesellschaften Positiva und Negativa nebeneinander auftreten, läßt sich thesenartig zeigen im Blick auf die Entwicklung von drei grundlegenden Gesellschaftscharakter-Orientierungen (den autoritären, den narzißtischen und den konformistischen Marketing-Charakter), aber auch auf autonome und produktive Persönlichkeitsstrukturen „zwischen Haben und Sein“.

I. Vorbemerkungen

In den postkommunistischen Gesellschaften erleben wir seit dem großen Aufbruch in den Jahren 1989/90 dramatische ökonomische, soziale und politische Veränderungen. Aber wie steht es mit dem Wandel der psychischen Grundlagen? Ich möchte im Sinne Erich Fromms einige Aspekte dieses Wandels thesenartig beschreiben und interpretieren. Fromm entwarf diesen Wandel als Weg „vom Haben zum Sein“ und verstand ihn als universelle Aufgabe: „Zum erstenmal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen seelischen Veränderung des Menschen ab. Dieser Wandel im Herzen‘ des Menschen ist jedoch nur in dem Maße möglich, in dem drastische ökonomische und soziale Veränderungen eintreten, die ihm die Chance geben, sich zu wandeln, und den Mut und die Vorstellungskraft, die er braucht, um diese Veränderung zu erreichen.“

Die Bedingungen dieses Wandels sind unterschiedlich in Ost und West, in Nord und Süd. Hier soll es um die postkommunistischen Gesellschaften in Europa gehen, vor allem um das östliche Mitteleuropa: Tschechien, die Slowakei, Polen, Ungarn und zum Teil auch die DDR bzw. Ostdeutschland, so sehr dies auch ein Sonderfall ist. Ich, versuche zu verallgemeinern, wohl wissend, welche großen Unterschiede diese fünf Länder historisch-kulturell, politisch und sozioökonomisch aufweisen. Es handelt sich um subjektive und vorläufige Überlegungen zur kritischen (Selbst-) Reflexion des post-kommunistischen Weges. Die psychische Ebene dieses Weges soll hier umfassen: dominante Wertorientierungen und Persönlichkeitsstrukturen, Einstellungen und Verhaltensweisen, wie sie vor und nach dem Umbruch 1989/90 systemspezifisch gesellschaftlich geprägt wurden und sich wandelten. Ich frage nach Entwicklungstendenzen und Potentialen für einen gesellschaftsbezogenen Humanismus und für eine demokratische politische Kultur. 1. Der Ansatz Erich Fromm hat gezeigt, in welcher Weise jede Gesellschaftsformation einen spezifischen Gesellschaftscharakter braucht und produziert. Unter Gesellschaftscharakter versteht Fromm jene vor allem gesellschaftlich geprägte psychische Struktur in den Menschen, „die als Wirkkraft menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns das Gesamt seines Verhaltens disponiert“ In einem bestimmten sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Kontext bilden sich im Sozialisationsprozeß relativ konstante psychische Tiefenstrukturen in den Menschen aus. Ohne vielfältige individuelle und soziale Unterschiede zwischen den Menschen zu leugnen, geht die analytische Sozialpsychologie Fromms davon aus, daß sich systemspezifisch typische, kollektive Grundorientierungen in der Psyche der Menschen bewußt und unbewußt entwikkeln. In einer relativ homogenen Gesellschaft herrscht meist eine grundlegende Charakterorientierung vor, in pluralistischen Gesellschaften findet man dagegen meist mehrere. Sie weisen jeweils eine spezifische Psychodynamik auf und zeigen sich in bestimmten Charakterzügen. Im einzelnen Menschen findet sich selten ein reiner Charaktertypus, sondern meist eine Mischung von Charakterorientierungen, in der eine dominiert. Die gesellschaftskritische analytische Sozialpsychologie untersucht nun, wie sich diese Charakterorientierungen herausbilden, was sie kennzeich-net, wie sie sich in einer Gesellschaft verteilen und wandeln. Diese Analysen sollen letztlich humane Potentiale für ein Leben, für eine Gesellschaft fördern, deren Leitwerte praktische Vernunft, sinnvolle Arbeit und tätige Liebe sind.

Im Mittelpunkt meiner Analyse stehen drei im Postkommunismus dominante Charakterorientierungen: der der autoritär-paternalistische, narzißtische derkonformistische Marketing-Charakter Zunächst frage ich jeweils nach den aus der Zeit des bürokratischen Sozialismus „ererbten“ Charakterorientierungen und typischen Verhaltensweisen. Ich werde ihre nichtproduktiven, aber auch ihre auf sehr ambivalente Weise produktiven Elemente aufzeigen. Sodann skizziere ich einige Tendenzen und Widersprüche des sozialpsychologischen Wandels in der postkommunistischen Zeit. Auf diese Weise möchte ich die Chancen eines psychischen Wandels „vom Haben zum Sein“ ausloten. 2. Die Grundthese Die postkommunistische Gegenwart ist immer noch so sehr von der kommunistischen Vergangenheit mitbestimmt, daß das Heute nicht ohne das Gestern verstanden werden kann. Meine Grundthese: Die gesellschaftlich geprägten Charakterstrukturen und Verhaltensmuster in den postkommunistischen Gesellschaften weisen nicht nur -wie immer wieder betont wird -erhebliche Defizite auf, wo es um innere Freiheit und demokratischen Konfliktaustrag, um Eigeninitiative und Selbstbestimmung, um Verantwortungsbereitschuft und gesellschaftliche Rationalität geht. Einerseits gibt es hier im Vergleich zu den soge-nannten westlichen Gesellschaften einen großen Nachholbedarf. Andererseits verfügen die Menschen im östlichen Mitteleuropa auch über zahlreiche positive Erfahrungen und psycho-soziale Potentiale, über ein spezifisches „kulturelles Kapital“ (Pierre Bourdieu), das auf sehr widersprüchliche Weise einen gesellschaftlichen und psychischen Wandel im Sinne des Humanismus Erich Fromms begünstigt. Das Erbe des Sozialismus ist hier keineswegs nur eindeutig negativ, sondern weithin eher ambivalent oder widersprüchlich, das heißt, es vereint Positiva und Negativa.

Wenden wir uns einem zentralen Bereich der Sozialpsychologie des Postkommunismus zu: dem Verhältnis von Autonomie und Autoritarismus, von Protest und verinnerlichtem Paternalismus.

II. Das Erbe des paternalistischen Autoritarismus -Widersprüche im Umgang mit der neuen Freiheit

Die kommunistischen Gesellschafts-und Herrschaftssysteme lassen sich -vor allem in den siebziger und achtziger Jahren -als autoritär-bürokratischer Sozialismus charakterisieren. Das Verhältnis Staat -Bürger war geprägt durch einen sozialistischen Paternalismus, der eine umfassende politisch-ideologische Bevormundung und Unterdrückung verband mit einer quasi-wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge „von der Wiege bis zur Bahre“, oft auf niedrigem Leistungsniveau, aber mit einem sehr hohen Maß an sozialer Sicherheit Politisch-administrative Macht wurde paternalistisch, also mit väterlicher Autorität und Sanktionsgewalt, mit Strenge und vermeintlichem Wohlwollen ausgeübt. Was gut ist, entschied die Parteiführung fiir das Volk, nicht durch das Volk, und nur sehr begrenzt mit dem Volk. In einem Wechselspiel von Repression und Toleranz gewährten die Herrschenden kleinere oder manchmal auch größere Freiheiten (wie z. B. in Polen und Ungarn in den achtziger Jahren) -abgestuft und auf Widerruf. Demokratie, Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit -das gab es allenfalls in Ansätzen, mit dem Adjektiv „sozialistisch“ weithin ins Gegenteil verkehrt. „Mutter Partei“ (Louis Fürnberg) und Vater Staat fungierten als Versorger und Lenker, als Lehrer und Beschützer der Massen. Strukturell und psychologisch wichtig war hier vor allem die Verbindung von Fürsorge und Bevormundung, von Sicherheit und Unterwerfung, die -mindestens subjektiv -nicht nur negative Beziehungen zwischen Staat und Bürgern schuf. Recht und schlecht versorgt zu sein, das war für die meisten Bürger selbstverständlich. Erst heute zeigt sich vollständig, wie ambivalent das Versorgtwerden und Versorgtsein im Sozialismus war: Staat und Partei gaben zwar relativ viel soziale Sicherheit und machten das Leben berechenbar, aber sie ließen die Menschen weithin passiv, abhängig und unselbständig werden. Sie degradierten sie zu Versorgungsempfängern, zu Bittstellern, die letztlich vom Wohlwollen der Mächtigen lebten.

So brauchte und produzierte dieser Herrschaftstyp vor allem autoritäre Charaktere. In den sozialisti-sehen Systemen Ostmitteleuropas der siebziger und besonders der achtziger Jahre dominierte ein autoritärer Gesellschaftscharakter, der systemspezifische paternalistische Züge aufwies. Nach Fromm will der autoritäre Charakter andere und sich selbst beherrschen (sadistisches Moment), sich im Umgang mit anderen aber zugleich unterwerfen und beherrschen bis zur Selbstverleugnung (masochistisches Moment). Es entsteht eine symbiotische Beziehung, in der der eine vom anderen in hohem Maße abhängig ist. In dieser masochistisch-passiven Form unterwirft sich der Mensch in symbiotischer Bezogenheit einer anderen Person oder einer übergeordneten Instanz, die ihn führt, leitet, beschützt und versorgt. Ganz ähnlich produziert der sozialistische Paternalismus objektiv und subjektiv eine rezeptive Grundhaltung: Das, was man braucht, erhofft, im Leben anstrebt, wird wesentlich von diesen „fürsorglichen“ Instanzen erwartet. Doch dies geschieht nicht ohne Gegenleistung: Die Bürger dulden die Herrschaft von Staat und Partei und gewähren mindestens passive politische Loyalität; im Beruf wirken sie funktionsgerecht mit, so wie es der eigene Vorteil gebietet. Dies setzt ein hohes Maß an Selbstdisziplin voraus, an durchgängig kontrolliertem Verhalten. Die eigenen Gefühle und spontane Reaktionen, Kritik und Protest, selbständiges und kreatives Handeln müssen unterdrückt oder doch sorgfältig kanalisiert werden.

Doch gab es nicht nur die zwangsweise, passive Unterwerfung der Ohnmächtigen, sondern auch ein bestimmtes Maß an meist unbewußter Verinnerlichung dieses paternalistischen Autoritarismus -in der Persönlichkeitsstruktur, in bestimmten Wertorientierungen und in den Erwartungen an den Staat. Die innere Bereitschaft zur repressiv-fürsorglichen Herrschaft bei der kleinen Minderheit der Mächtigen, zur funktionsgerechten Wahrnehmung von Kompetenzen bei Tausenden von leitenden Kadern und nicht zuletzt zur Unterwerfung bei der Masse der Machtlosen, die sich mit der Macht arrangierten und von ihr versorgt wurden, war entscheidende Voraussetzung dafür, daß dieser autoritäre Sozialismus funktionieren konnte. Diese kleinen und großen Jas waren vielfältig abgestuft, wandelbar und -wie sich 1989 zeigte -durchaus brüchig. 1. Innere Abwehr und eine partielle Gegenidentität Außer bei einer kleinen Minderheit überwog in den achtziger Jahren eine eher äußerliche Konformität, oder anders gesagt, ein zwiespältiges und immer stärker ablehnendes Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit, wie sie ohne Aussicht auf grundlegende Reformen von Staat und Partei gestaltet wurden. Der systemkonforme autoritäre Charakter ließ sich immer weniger bruchlos reproduzieren. Es wuchs die innere Abkehr vom System, nicht so sehr der laute Protest. Die innere Erosion des scheinbar festgefügten Autoritarismus der Institutionen bereitete sich langfristig vor. Nach außen hin kaum sichtbar, war er schon viel weiter gediehen, als vielen bewußt war. Zugleich wandelten sich die stillen Ansprüche vor allem in der jüngeren Generation. Sie wollte mehr Selbstentfaltung und demokratische Freiheiten, die Aufhebung der Trennung von privat und öffentlich, sie wollte nicht mehr verlogen und verbogen leben. Der autoritäre Gesellschaftscharakter erwies sich so immer weniger als integrativer Kitt der herrschenden Ordnung, sondern wurde immer mehr zum Gärstoff.

Im Verborgenen entwickelte sich zunächst eine partielle Gegenidentität (Iris Häuser) in den relativ politikfernen Bereichen des Privaten und Familiären, der Kunst und der informellen Kommunikation im Alltag. Es wuchsen die „universelle Unzufriedenheit“ (Irma Hanke), das Potential für Protest und Reform. Der schwierige Umgang mit der Macht hatte die Menschen nicht nur gelehrt, sich anzupassen und sich unterzuordnen. Sie hatten auch gelernt, sich den Ansprüchen und Zumutungen der Mächtigen zu entziehen, sich zu schützen und zu behaupten, Grenzen zu setzen, Position zu beziehen, wenn es zum Äußersten kam. Und sie hatten den Wert politischer, geistiger und persönlicher Freiheit erkannt. Ihre Erfahrung ist nicht nur die von Angst und Ohnmacht, sondern auch der Grenzen autoritärer Repression, ideologischer Bevormundung und selbsternannter Eliten, deren unglaubwürdige Propaganda sich täglich selbst entlarvte. Im Bewußtsein realer Alternativen und entlassen aus der Interventionsdrohung Moskaus bildete sich ein enormes Potential systemkritischer, grundsätzlich demokratischer und humanistischer Wertorientierungen und Einstellungen heraus. Sie fanden schließlich in den friedlichen Revolutionen der Jahre 1989/90 auf sehr unterschiedliche Weise ihren Weg zur Überwindung kommunistischer Herrschaft. In Polen und Ungarn handelten neue und alte politische Eliten einen Kompromiß am Runden Tisch aus. In der DDR und in der Tschechoslowakei wurde der Zusammenbruch der alten Ordnung überwiegend durch spontane Massenproteste erreicht. So gehört auch dies zum Erbe des Sozialismus und der friedlichen Revolutionen: die allmählich gewachsene Fähigkeit von vielen Zehntausenden, die eigene Angstzu überwinden, mutig zu protestieren, und im Namen von Freiheit, Wohlstand und Demokratie den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu wagen. Das war nicht nur der Mut der Verzweiflung, sondern dahinter standen auch das Bewußtsein und die Überzeugung, selbstbestimmt handeln zu können angesichts unvorhersehbarer Risiken, die solch eine Revolutionierung der Verhältnisse mit sich bringen würde.

Die Mehrheit der Menschen in Ostmitteleuropa bringt als Erbe des Sozialismus also keineswegs einen bruchlos formierten, stabilen autoritären Gesellschaftscharakter mit in die neue Zeit. Es ist vielmehr eine Mischung aus verinnerlichtem Paternalismus, äußerlicher Anpassung sowie aktiv-pragmatischem Verhalten einerseits, passivem Dulden, stiller Abkehr und wachsendem inneren Widerspruch gegen das System andererseits. Nicht psychisch-soziale Stabilität kennzeichnet die staatssozialistische Herrschaft in den achtziger Jahren, sondern ihre schleichende Erosion und das (meist nichtöffentliche) Nachdenken über Alternativen, die die Situation des Aufbruchs vorbereiteten. Auch in autoritären Systemen können also psychisch-soziale Potentiale für einen humanistischen und demokratischen Wandel in den Menschen selbst wachsen -eher im Rückzug, in der Selbstbeherrschung und in leidvollen Erfahrungen, vielfach im Informellen und in alltäglicher Solidarität, nur manchmal im offenen Protest oder im sichtbaren Ringen um baldige Reformen (so vor allem in Ungarn und Polen). 2. Widersprüche im Umgang mit der neuen Freiheit Seit 1989/90 sind wir nun Zeuge eines Prozesses, in der ein tradierter, wenn auch bereits instabiler Gesellschaftscharakter in einen völlig neuen ökonomischen, sozialen und politischen Kontext geschleudert wurde und sich innerhalb kurzer Zeit radikal umformen muß, wenn er den neuen Funktionserfordernissen von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie gerecht werden will. Doch in ihrer Psyche und Alltagspraxis werden die Menschen wohl noch lange Zeit schwanken zwischen Paternalismus und Selbsttätigkeit, zwischen unpolitischer Apathie und aktivem Engagement, zwischen Sicherheitsstreben und Risikobereitschaft. So begegnen wir in der postkommunistischen Zeit unterschiedlichen, ja zum Teil widersprüchlichen Tendenzen im Wandel des autoritär-paternalistischen Gesellschaftscharakters.

Im Postkommunismus ist es für viele Menschen immer noch schwer, sich aus ihren paternalistischen Bedürfnissen nach Fürsorge und Anleitung „von oben“ oder „von außen“ zu lösen. Bewußt oder unbewußt haben sie zumindest anfänglich gefragt: Wer sorgt für uns, wer sagt uns nun, was zu tun ist? Das Neue verunsicherte zutiefst, machte orientierungslos, viele fühlten sich überfordert, ja zum Teil hilflos. So war und ist es verständlich, daß viele nach neuen Autoritäten suchten, an die sie sich anlehnen, mit denen sie sich identifizieren konnten: neue politische Führer, neue Ideologien wie der Nationalismus oder traditioneller Kirchenglaube; „der Westen“ als Idol oder „die Marktwirtschaft“ als Modell, das nicht hinterfragt wurde. Den Verunsicherten ging es um Sicherheit und Orientierung. Doch trotz aller noch vorhandenen autoritären Muster und Neigungen sind zwei Gefahren so gut wie auszuschließen in Ostmitteleuropa: die Rückkehr zum kommunistischen System der Vergangenheit und das Umkippen in einen national-chauvinistischen Faschismus.

Nicht endgültig gebannt scheint mir dagegen die Gefahr eines „gemäßigten“, wenn nicht gar ausgeprägten Autoritarismus von oben und von unten, gelegentlich vermischt mit Nationalismus und Populismus. Die Tschechische Republik und Ungarn, dann auch Polen erscheinen mir am wenigsten gefährdet, sehr stark dagegen die Slowakische Republik unter der Führung Vladimir Meciars. Der Autoritarismus „von oben“ resultiert hier vor allem aus der Herrschaft alter und neuer Eliten in den Machtzentren der Gesellschaft. Zwar gibt es eine weitreichende Demokratisierung der öffentlichen Institutionen, diese ist aber noch keineswegs abgeschlossen. Die Machteliten in Politik und Wirtschaft herrschen mit Hilfe weithin noch sehr hierarchischer Institutionen und einer großen Zahl alter bürokratischer Kader. Viele Probleme werden immer noch zentralistisch-autoritär gelöst. Regierungen und Parteien versuchen, die Massenmedien zu kontrollieren -allerdings mit abnehmendem Erfolg. Auch hat sich der Stil der Behörden im Umgang mit den Bürgern vielfach nur wenig geändert. Es bedurfte und bedarf noch immer der Wachsamkeit der Gesellschaft, unabhängiger Massenmedien und vieler demokratischer Kräfte, daß solche Autoritarismen abgebaut werden oder sich nicht wieder einschleichen

Doch es sind vor allem die sozialen und ökonomischen Folgen des Transformationsprozesses und seine psychischen Wirkungen, die einen Autoritarismus „von unten“ begünstigen. Wenige Stichworte müssen hier genügen: Massenarbeitslosigkeit (zum Teil verdeckt) und wachsende Armut, wovon vor allem Rentner und Frauen betroffen sind; Inflationsraten von 5 bis 20 Prozent, sinkende Reallöhne und entwertete Ersparnisse; unsichere Zukunftsaussichten (besonders für gering Qualifizierte und unprofitable Staatsbetriebe; für die private Landwirtschaft in Polen); katastrophale Umweltschäden; wachsende Kriminalität und Unsicherheit auf den Straßen, Korruption und die Macht der Mafia. Man kann sich im Westen kaum vorstellen, wie sehr diese unmittelbaren Existenz-nöte und unsicheren Zukunftsaussichten den Alltag, das tägliche Lebensgefühl prägen, wieviel Energie nach wie vor in die einfache Reproduktion der Arbeitskraft und das Auskommen der Familien gesteckt werden muß.

In dieser Situation ist es objektiv und subjektiv gerechtfertigt, nach dem Staat und seiner Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft zu rufen. Doch nicht nur däs geschieht: Es ertönt auch der Ruf nach einem starken Staat, nach autoritärer Führung und paternalistischer Fürsorge. Die bedrohliche Gegenwart und die alte Mentalität spielen hier zusammen. So bleibt es nicht aus, daß sich der Blick auf die Vergangenheit richtet, oft mit einer gewissen Sehnsucht, zurück auf die Zeiten sozialer Sicherheit, garantierter Arbeitsplätze und geregelter Verhältnisse. Nicht wenige der sozial Schwachen sagen: Damals ging es uns nicht nur materiell besser, damals gab es auch Ruhe und Ordnung, auf der Straße und im Leben. Doch die meisten haben begriffen, daß die Lösungen von gestern nicht die von heute sein können. Was aber bleibt aus der alten Zeit sind die materiell-ökonomisch wie politisch-psychologisch begründeten Erwartungen an die umfassende Fürsorge eines paternalistischen Wohlfahrtsstaats. Man möchte die Sicherheiten und bescheidenen Segnungen des alten und die Annehmlichkeiten und Konsummöglichkeiten des neuen Systems. Auch wenn die anfänglich überzogenen Erwartungen zunächst Enttäuschung und dann Ernüchterung hervorriefen, so bleibt doch ein Kern von Ansprüchen und Wertorientierungen erhalten, wie er in allen Umfragen und Studien deutlich wird: Der Staat soll eine viel größere Verantwortung bei der unmittelbaren Gestaltung der Wirtschaft, für den Schutz vor sozialen Risiken und Benachteiligungen übernehmen, ja, zum Teil werden umfassendere wohlfahrtsstaatliche Leistungen gefordert als in den meisten westlichen Industriestaaten. Doch solche -weithin durchaus legitimen -Erwartungen verstärken leicht eine paternalistisch-autoritäre Charakterorientierung. Ein neuer Paternalismus würde ein bloß rezeptives Verhalten, Passivität und Unselbständigkeit verstärken und umgekehrt Eigeninitiative und Eigenverantwortung nur unzureichend fördern. So messen noch immer viele Bürger in Ostmitteleuropa den Wert der neuen Demokratien -zu Recht oder zu Unrecht -vor allem daran, wieviel Wohlstand im Konsumbereich, wieviel soziale Sicherheit und welche Dienstleistungen ihnen geboten werden. Wenn aber der humane und demokratische Gehalt der neuen Ordnung und die Leistung der neuen Eliten allein oder vorrangig danach beurteilt werden, dann kann sich eine demokratische politische Kultur nur sehr mühsam und langfristig festigen -und dies nicht nur, weil die neuen Staaten und ihre Ökonomien meist nicht in der Lage sind, diesen Erwartungen zu entsprechen. Es besteht vielmehr auch die große Gefahr, daß die psychisch-sozialen Probleme des Umbruchs vernachlässigt werden zugunsten einer reinen Wohlstandsorientierung und populistischer Politik.

III. „In Wahrheit leben“ (V. Havel) -humanistisches Ethos, die Grenzen des Privatismus und der neue Narzißmus

Die autoritären Herrschaftsstrukturen des bürokratischen Sozialismus durchdrangen zwar alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft, aber nur in sehr unterschiedlichem Maße und nicht ohne Gegenbewegungen aus der Gesellschaft heraus. Beträchtliche Unterschiede gab es auch zwischen den einzelnen sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas in den achtziger Jahren, wenn es um die großen und kleinen Freiheiten im politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Bereich ging. In den achtziger Jahren, vor allem seit dem Amtsantritt Gorbatschows, waren Ungarn und Polen politisch-kulturell weitaus liberaler als die Tschechoslowakei und die DDR. Grundlegend blieb die Trennung von öffentlich und privat, die doppelte Sprache, die Abkehr von der Politik und die Konzentration auf Konsum und Freizeit, der Rückzug ins Private und Informelle, in die kleinen Gruppen von Familie, Freunden und Arbeitskollegen. Hier entwickelte sich in allen Ländern schon länger eine private Gegenkultur, in der man „eigentlich lebte“, authentisch leben wollte. Die meisten Bürger wollten sich so bewahren gegenüber den Pres sionen der herrschenden Mächte und den Ansprüchen ihrer Ideologie.

Darüber hinaus entwickelten sich in Polen vor allem zur Zeit der Solidarnosc (1980/81), aber auch danach Ansätze zu einer civil society, das heißt zu einer vom Staat unabhängigen, gesellschaftlichen Sphäre, in der die Bürger ohne Angst vor harten Strafen ihren Interessen nachgehen konnten. Auf andere Weise geschah dies auch in Ungarn, wo wirtschaftliche Aktivitäten (wie z. B. Zweitjobs, Kleinproduktion und -handel, private Dienstleistungen), kulturelle und künstlerische Aktivitäten, aber auch Selbsthilfegruppen und nicht zuletzt begrenzte publizistische und politische Aktivitäten das Bild prägten. Politisch ging es vor allem um den Schutz von Menschenrechten, um mehr Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, um Religionsfreiheit, den Schutz der natürlichen Umwelt und um mehr Wahrheit im Umgang mit der eigenen Geschichte. Für die Tschechoslowakei und die DDR sind dagegen eher die Aktivitäten relativ kleiner, vom Staat scharf überwachter Oppositionsgruppen typisch.

Politisch und sozialpsychologisch bestimmend blieben aber in allen sozialistischen Systemen die Trennung wie das spannungsvolle Miteinander von öffentlichem Erscheinen und privatem Sein. Manche mochten davon träumen, aber es gab kein politisch immunes, „unbeschädigtes“ Sein, das sich einfach einkapseln und aufheben konnte für bessere Zeiten. Es gab keinen Winterschlaf für eine verborgene Humanität, die auf ein sicheres Erwachen im nächsten Frühling hoffen konnte. So finden wir beides: eine private Gegenkultur der Aufrichtigkeit, getragen durch jene, die zu Aufbruch und Veränderung drängten, und den unpolitischen Privatismus jener, die sich eingerichtet und arrangiert hatten mit den Verhältnissen, wie sie waren. Private Gegenkultur und unpolitischer Privatismus bilden ein ambivalentes Erbe, das die soziale Psyche und die politische Kultur des Postkommunismus weiterhin nachhaltig beeinflußt. 1. Privatismus und „sozialer Narzißmus“

Wenden wir uns zunächst jenem unpolitischen Privatismus zu. Er produzierte einen systemspezifischen Narzißmus, den ich als sozialen, nicht als individuellen Narzißmus bezeichnen möchte. Fromms Begriff wird hier also erweitert. Der sozialistische Paternalismus erlaubte und begünstigte eine solche Lebensform und die ihr entsprechende Charakterorientierung: Das private kleine Glück bzw. das der Kleinfamilie wurde für viele allein wichtig im Leben. Das private Leben zu Hause oder auf der Datscha, allein, in der Familie, im Freundes-, Bekannten-oder Kollegenkreis stellte dann „das eigentliche Leben“ dar. Das war gewiß legitim, der Verlaß auf Familie und Freunde war für die meisten lebensnotwendig, ganz praktisch wie auch psychisch. Doch auf diese Weise blieb der Lebenshorizont von Millionen auf sehr kleine soziale Räume beschränkt. Die Gedanken des bewachten und behüteten Bürgers kreisten vor allem um die Verbesserung seiner eigenen kleinen Welt und ihrer materiellen Ausstattung. In den achtziger Jahren verstärkte sich in allen sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas außerdem die Tendenz zu einer begrenzten Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile. Die Suche nach dem Besonderen, dem individuellen Anders-sein oder den kleinen Extras wurde von nicht wenigen mit viel Energie betrieben.

Die Herrschenden und ihr System profitierten von dieser Entpolitisierung, und sie leisteten ihr teils bewußt, teils unbewußt Vorschub. Denn Privatismus und Konsumorientierung sorgten solange faktisch für Ruhe, wie dieser relative Wohlstand, wie dieses prekäre Arrangement mit der Macht nicht ökonomisch oder politisch gestört wurde. Genau das aber passierte seit Mitte der achtziger Jahre. Nicht nur die materiellen Wünsche der Bevölkerung, sondern auch ihre Ansprüche auf Selbstentfaltung und politische Freiheit waren in den Grenzen dieses Systems nicht mehr zu erfüllen.

In der kurzen Zeit des Aufbruchs 1989/90 wurde diese Entpolitisierung -das passive Arrangement mit dem Bestehenden -für kurze Zeit aufgehoben. Heute wissen wir, daß dies nur für eine Minderheit galt. Danach -in der postkommunistischen Zeit -prägten die alten Muster des unpolitischen Privatismus und der Orientierung an materiellen Werten wieder das Verhalten der Menschen, wenn auch nun unter neuen Bedingungen. Marktwirtschaft und Kapitalismus erweitern strukturell den Bereich privater Verfügungsgewalt und unternehmerischer Initiative in Produktion und Konsum, nicht zuletzt in den neuen Eigentumsverhältnissen. Der einzelne will und soll verstärkt konsumieren, ohne Angst und Bevormundung sein individuelles Glück suchen. Für eine kleine Minderheit eröffnete sich die Chance zu ungeahntem Wohlstand, für die Mehrheit ging es vor allem um die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes und ihres bisherigen Lebensstandards, für eine wachsende Zahl sogar nur noch ums einfache Überleben (wenn man einmal vom Sonderfall Ostdeutschland absieht).2. Der neue Narzißmus Doch zugleich bilden sich, wie Fromm gezeigt hat, zwei für den Kapitalismus typische Charakterorientierungen heraus: zum einen der konformistische Marketing-Charakter, der sich selbst vermarktet und opportunistisch den Erfolg sucht (siehe Abschnitt IV, Punkt 1), zum anderen der narzißtische Charakter, der nur den Bezug zu sich selbst kennt, sich selbst überhöht und die anderen, die Gesellschaft nur unter dem Blickwinkel des eigenen Ichs wahrnimmt. Dieser Charaktertypus kreist um sich selbst und benutzt den anderen für seine Interessen, um sich selbst zu spiegeln, zu bestätigen oder aufzuwerten. Die postkommunistische Zeit hat zu einer massiven Abwertung von Arbeits-und Lebensleistungen, von Qualifikationen und mühsam errungenen kleinen Erfolgen geführt. Vieles davon ist heute nicht mehr gefragt, was nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl vieler Menschen geblieben ist. So ist es verständlich, wenn die Menschen sich erst einmal um sich selbst kümmern. Sie möchten das Gefühl wiedererlangen, „etwas wert zu sein“, wollen nach neuen Maßstäben Wert und Anerkennung gewinnen. Und sie können und wollen die eigene Biographie -psychisch, beruflich und auch politisch -nicht einfach als mißlungen oder gar als gescheitert ansehen. Ein erneuter Rückzug auf sich selbst und die Familie setzt ein, ökonomisch, sozial und psychisch, ein neuer individueller bzw. sozialer Narzißmus entsteht. War Narzißmus früher als Abwehr und Selbstbewahrung vor allem politisch bedingt, spielen heute wirtschaftliche Faktoren eine viel größere Rolle. Der privatistische soziale Narzißmus und die vom Mangel geprägte Konsumorientierung aus sozialistischer Zeit bilden den Nährboden für einen neuen, systemspezifisch umgeprägten Narzißmus, für einen auch im Westen verbreiteten Kult ums Ich und die neue Dynamik eines egoistischen Besitzindividualismus.

Dies wird möglich und legitim durch die Ordnungsprinzipien des liberalen Kapitalismus und seines politischen Systems. Zu Recht, und das ist eine der großen Errungenschaften der friedlichen Revolutionen im östlichen Europa, wollen die neuen liberalen Demokratien die Sphäre des Privaten, die persönlichen Rechte des einzelnen schützen. Andererseits aber brauchen die neuen Gemeinwesen politisch interessierte und aktive Bürger. Die Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, freiwillig die Grenzen des Privaten zu verlassen, sich für bestimmte Werte und Ziele zu engagieren, die ihren individuellen und sozialen Narzißmus in Frage stellen und zugleich überschreiten. Früher atomisierte und unterdrückte die Politik die Gesellschaft in ihrem Streben nach Selbst-und Mitbestimmung. Diese erzwungene Entpolitisierung hat einst eine schweigende Mehrheit erzeugt. Nach einem kurzen Zwischenspiel 1989/90 finden wir sie heute wieder als eine große, zum Teil resignierte Minderheit, die nun ohne äußeren Zwang, aber aus Gewohnheit und Skepsis gegenüber der Zukunft schweigt. Wie früher auch erwartet sie nicht mehr viel Gutes von der Politik und den Politikern. Das Projekt einer demokratischen civil society, einer aktiven, partizipatorischen Bürgergesellschaft, die sich in vielfältigen demokratischen Strukturen selbst organisiert, ist nur schwer zu verwirklichen in ökonomischen Krisenzeiten, die mehr Eigensinn als Bürgersinn, die eher die ordnende Hand des Staates als die Solidarität der vielen Gleichen zu fordern scheinen. 3. Positive Seiten der tradierten privaten Gegenkultur Das ist die eine, die problematische oder gar negative Seite des Privatismus und des Narzißmus, früher und heute. Mindestens genauso wichtig für die postkommunistische Gesellschaft und ihre humane Qualität ist aber auch die andere, positive Seite dieser tradierten privaten Gegenkultur und ihrer Werte. Peter Bender, seit Jahrzehnten einer der sensibelsten Beobachter der Gesellschaften im einstigen Osten Europas, hat 1992 in einem lesenswerten Büchlein einige Beobachtungen formuliert, die so oder ähnlich auch für die anderen postkommunistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas zutreffen:

„ War alles, was gut war in der DDR, das Ergebnis der schlechten Verhältnisse? Was , verdanken'die Ostdeutschen dem Mangel und der Mißwirtschaft? Kein Zweifel: Die Ärmlichkeit ihrer Lebensumstände ließ sie bescheiden bleiben. Die , Engpässe'der Versorgung machten sie sparsam. Die Schwierigkeit, etwa Schönes zu bekommen, lehrte sie, das Schöne zu schätzen. Sie behielten ein menschliches Verhältnis zur Zeit, weil time nicht money bedeutete. Sie hatten mehr Muße für ihre Freunde, weil es sonst wenig Interessantes gab. Sie lebten ruhiger, weil sie kaum abgelenkt wurden. Kultur bedeutete ihnen viel, weil es keine Freizeitindustrie gab. Sie protzten nicht mit Statussymbolen, weil die Industrie sogar das Nötige oft nicht schaffte. Sie halfen Nachbarn und Kollegen, weil sie auch deren Hilfe brauchten. . . Sie wurden solidarisch, weil die Macht sie bedrängte. Sie entwickelten besonders vertraute Freundschaften, weil man vielen nicht trauen durfte und sich um so enger zusammenschloß, wo man es konnte. . . Sie entwickelten ein enges Verhältnis zur Kultur auch darum, weil sievon Politik großenteils frei blieb. Sie bot der Seele eine Nische. . . Die Einzäunung . . . bewahrte sie vor den Belanglosigkeiten der Konsum-Gesellschaft. Sie zwang sie, mit Ost-Produkten vorliebzunehmen, aber schützte sie vor den Verlockungen einer Wirtschaft, die ihre Dynamik damit gewinnt, Bedürfnisse zu erzeugen . .. Sie ... bewahrte die Ostdeutschen davor, sich , zu Tode zu amüsieren'. Sie erzeugte eine ungeheure Langeweile, aber gab der Phantasie Raum. Sie erzwang einen dumpfen Provinzialismus, aber ermöglichte Konzentration . . . Die Ostdeutschen haben gelogen, betrogen und sich verbogen, um leidlich durch die schlechten Zeiten zu kommen, doch sie blieben meist gesichert gegen die ruinösen Wirkungen der modernen Zivilisation. Sie waren einem Zwang ausgesetzt, aber nicht einer Verführung, deshalb behielten sie etwas, das Westdeutschen leicht als Zurückgebliebenheit erscheint, in Wahrheit aber Unberührtheit ist. . . . Aber welche Überlebenschancen haben die ostdeutsche Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Unversehrtheit? Über Nacht geht nichts verloren, was Natur ist oder lange eingeübt und eingewöhnt. Wie die Schwächen werden auch die Stärken noch eine Zeit-lang bleiben, aber sie nehmen bereits spürbar ab. “

Es scheint so, als ob die Menschen es in dieser neuen, zunächst unbekannten kapitalistischen Gesellschaft immer schwieriger fanden, sich von diesen Tugenden und Erfahrungen leiten zu lassen, sich nicht zu sehr von Reklame und Freizeitindustrie verführen zu lassen. Das idealistische Ethos der Dissidenten und Revolutionäre, das Ethos von Würde, Ehrlichkeit und Solidarität verlor zwar zusehends an Kraft. Aber dieses Ethos enthielt im Kern einen nicht nur verkündeten, sondern auch gelebten Humanismus, eine Humanität der Individuen, die zwar oft politikfern, aber den Menschen nahe war. Schlendrian, Gemütlichkeit und der langsame Gang des Alltags können so nicht fort-existieren im kapitalistischen Postkommunismus, unter Bedingungen von Konkurrenz und Weltmarktabhängigkeit. Der Umgang mit Geld, Macht und Wirtschaft mußte professioneller werden, aber nicht einfach prinzipienlos oder gar inhuman. Vaclav Havel ist das herausragendste Beispiel für den Versuch, diesen Humanismus der Dissidenten nicht nur persönlich zu bewahren, sondern für die neue Zeit und ihre Erfordernisse weiterzuentwikkein, ihm wenigstens als Mahnung und Regulativ politisch und gesellschaftlich Geltung zu verschaffen. Die positiven Erfahrungen der einstigen „privaten Gegenkultur“, Ethos und Erfolg eines gemeinsam erreichten Umbruchs gehören zwar im wesentlichen der Vergangenheit an, aber sind doch mehr als bloße Erinnerung. Die Freundschaften und intensiven Gespräche, die vertrauten Runden, die kleinen Tricks und Verschwörungen im Umgang mit den Mächtigen sind nicht vergessen. Die Erfahrungen eines Lebens unter dieser Herrschaft ließ die Menschen ein feines Gespür dafür entwickeln, was unehrlich, bloß taktisch und opportunistisch war, worauf es im wesentlichen ankam und auf wen man sich verlassen konnte, wer menschlich integer war und moralisch aufrecht handelte. Die versagte Freiheit schulte den Sinn dafür, was Freiheit bedeutet, was sie wert ist. Dazu gehört auch die doppelte Erfahrung der Macht der Ohnmächtigen und der Ohnmacht der Mächtigen. Als die Massen protestierten und die Regime 1989/90 zusammenbrachen, konnten es alle endgültig sehen: „Der Kaiser ist nackt." Der übermäßige Respekt vor den politischen Mächtigen ist dahin. Und das Bewußtsein, auch die vielen einzelnen können etwas bewirken, wenn sie einig und mutig und kompetent sind, ist ein wichtiges Element für eine demokratische politische Kultur. 4. „Kulturelles Kapital“ für die neue Zeit Die postkommunistischen Gesellschaften sind Kinder und Vertreter der Moderne, wenn auch eines anderen Wegs in die und in der Moderne, als ihn der Westen vor allem nach 1945 gegangen ist Im Westen hat man bisher meist nur die Szenarien des Zusammenbruchs, die Misere einer maroden Planwirtschaft und der zerstörten Umwelt, die relative Armut und Rückständigkeit der kommunistischen Systeme gesehen. Nichts davon ist zurückzunehmen oder schönzureden. Aber es ist ein unvollständiges Bild. Denn diese Gesellschaften verfügen vor allem in ihren Menschen und in ihrer Kultur über wichtige Voraussetzungen zur Humanisierung ihrer Gesellschaft, zu einem Wohlstand, der die Gebote des Humanismus nicht vergißt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht vom „kulturellen Kapital" einer Gesellschaft. Er meint damit die Entwicklung beruflicherQualifikationen und sozialer Fähigkeiten; kulturelle Traditionen nicht nur im künstlerischen Schaffen und ästhetischen Erleben, sondern auch in der Gestaltung des Alltags, beispielsweise der Wohnung; den Stand von Bildung und Wissenschaft; aufgeklärte Religiosität; die Gleichstellung der Geschlechter wie den Umgang miteinander in alltäglicher Kommunikation und Kooperation. Die sozialistischen Gesellschaften haben in allen diesen Bereichen auch spezifische Leistungen erbracht, die neben den unübersehbaren Mängeln und Fehlentwicklungen gesehen und gewichtet werden müssen. Erwähnen möchte ich nur das hohe Maß an allgemeiner, beruflicher und wissenschaftlicher Bildung sowie vielfältige Forschungspotentiale, die Entwicklung einer qualifizierten Schicht von Facharbeitern, Meistern und Ingenieuren; die Fähigkeit, komplexe Problemlösungen und zum Teil auch Reformen in der Wirtschaft zu konzipieren und durchzuführen (wenn auch insgesamt mit mäßigem Erfolg); die weitgehende Chancengleichheit von Jungen und Mädchen im Schulsystem, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen durch ein umfassendes Netz von Einrichtungen zur Kinderbetreuung und -trotz fortdauerndem Patriarchalismus -den erreichten Stand der Gleichstellung der Geschlechter; die Dichte und Qualität privater Kommunikation; nicht zuletzt auch die erreichte Kreativität und Ausdruckskraft in der bildenden Kunst und in der Literatur. Allerdings muß man hinzufügen, daß diese , kulturellen Kapitalien im einstigen Ostblock sehr unterschiedlich ausgeprägt waren und heute kontrovers bewertet werden.

Das kulturelle Kapital bildete eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa insgesamt politisch klug, sachlich kompetent und gewaltlos durchgeführt wurden. Vor allem aber kann ein großer Teil dieses Kapitals nun im Postkommunismus dazu genutzt werden, um im Rahmen von Demokratie und Marktwirtschaft ganz andere Ziele zu erreichen. Die Menschen können sich nun wesentlich freier entfalten und ihr „Kapital“ effizienter einsetzen. Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion von Geschichte und Gegenwart, zur unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse, zur kontroversen öffentlichen Diskussion ist in den letzten Jahren in weiten Kreisen der Gesellschaft und auch bei den Mächtigen so gewachsen, daß insgesamt ein starkes, wenn auch noch nicht immer stabiles Potential für eine demokratische politische Kultur vorhanden ist.

Für die Entwicklung eines neuen psychosozialen Gesellschaftscharakters, für die Überwindung von Privatismus und sozialem Narzißmus sind damit ebenfalls wichtige gesellschaftsstrukturelle Voraussetzungen geschaffen. Die Entwicklung der postkommunistischen Gesellschaften erscheint mir in sozialpsychologischer Hinsicht jedoch zutiefst widersprüchlich. Einerseits gibt es das positive Erbe einer „antitotalitären“, privaten Gegenkultur, das humanistische Ethos der Dissidenten und die Praxis des demokratischen Aufbruchs, neue demokratische Institutionen und Verfahren und insgesamt kompetente Eliten. Andererseits gibt es das Erbe von und die heute strukturell neu erzeugte Tendenz zu mehr Materialismus, narzißtischem Egoismus und zur Konzentration aufs Private. Teilweise zerfallen alte Familienbande und Freundschaften, teilweise besinnen sich die Menschen wieder auf ihren Wert. Vor allem aber droht das kulturelle Kapital intensiver persönlicher Kommunikation auf der Basis egalitärer Sozialbeziehungen und alltäglicher Hilfsbereitschaft aus den Zeiten des Mangels verschüttet zu werden. Oder besser: Dieses Kapital findet gleichsam nicht den Anschluß an die neuen Zeiten und Strukturen. So liefern die sozialistische und postkommunistische Zeit auf sehr unterschiedliche und widersprüchliche Weise systemspezifische Ansatzpunkte für die Entwicklung einer humanistischen Lebens-praxis im Sinne Fromms.

IV. Neue Werte? -Sozialistische Tradition, Leistungsprinzip und Marketing-Orientierung

Die sozialistische Erziehung und ihre Ideologie, so sagen viele Beobachter, hätten letztlich kaum dauerhafte Wirkungen auf das Denken und Handeln der Menschen gehabt. Grundsätzlich richtig ist, daß die Ideologie der Partei nur bei wenigen Anhängern wirklich Glauben gefunden hatte, der Marxismus-Leninismus nicht die „civil religion“ der Alltagspraxis im Osten Europas war. Was aber bis in die heutige Zeit besonders wirksam bleibt, sind bestimmte tradierte Werte und Ordnungsvorstellungen, die vor allem, aber nicht nur auf die sozialistische Zeit zurückgehen. Die starke Orientierung an Konsum, sozialer Sicherheit und umfassender staatlicher Daseinsvorsorge habe ich schon erwähnt. Genauso wichtig sind die Werte Gleichheit und soziale Gerechtigkeit -genauer gesagt: vor allem soziale Chancengleichheit für den Zugang zu Bildung, Beruf und Aufstieg; soziale Verteilungsgerechtigkeit nach dem Leistungsprinzip (und nicht nach dem Parteibuch), wenn es um Bezahlung, Beförderung und Prestige geht. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Grund-und Menschenrechte, aber auch Solidarität gehören ebenfalls zu diesem schon vor 1989 entstandenen Wertekanon. Auch verstehen viele Menschen Nation und Gesellschaft weiterhin als Gemeinschaft der Arbeitenden, mit gemeinsamen Werten, Traditionen und dem Gefühl personaler Zusammengehörigkeit.

Im Gegensatz dazu fordert die neue Ordnung, die liberale kapitalistische Demokratie ganz andere Werte und Verhaltensmuster: die Vorherrschaft des individualistischen Egoismus gegenüber Kollektivinteressen, materialistisches Gewinn-und Besitzstreben, Arbeitsdisziplin und Aufstiegs-orientierung; technokratisches Know-how, Leistung und Erfolg nach engen Effizienzkriterien; Prestige durch Statussymbole etc. Zwar waren einige dieser Werte und Maßstäbe auch schon im Sozialismus vorhanden, aber sie waren politisch-ideologisch weitgehend funktional eingebunden und in der Praxis relativiert. Das gilt gerade auch für das Leistungsprinzip, das in sozialistischer Zeit zwar immer wichtiger wurde, aber letztlich zweitrangig war gegenüber politisch-ideologischen Gesichtspunkten. Hohe Posten für Mittelmäßige durch die Patronage einer Partei stießen bzw. stoßen gestern wie heute auf Ablehnung. Neue Armut und neue Reiche stehen sich unvermittelt und oft unversöhnt gegenüber. Die neuen Ungleichheiten, die Privilegien der Reichen und Mächtigen werden dann akzeptiert, wenn sie legal, auf durchsichtige Art und durch wirkliche Leistung erworben wurden. Doch kommen bei vielen Skepsis und verhaltene Wut auf, wenn ihnen alte Nomenklatura-Kader als neue Wirtschaftsbosse begegnen, wenn sich Korruption und Mafia ausbreiten. So setzt sich die Überzeugung nur langsam durch, daß gute Bildung, ehrliche Arbeit und solide Leistung sich mindestens langfristig bezahlt machen, daß sie wirklich zählen auf dem Weg nach oben. So werden einerseits die neuen Bildungsund Aufstiegschancen, der neue Raum für unternehmerische Initiativen oder persönliche Selbstentfaltung grundsätzlich begrüßt.

Andererseits fehlt es den meisten an Know-how und Kapital, und allzu viele kommen „einfach nicht mit“ bei dieser Art und Dynamik privaten Wirtschaftens. Der Abbau sozialer Sicherheit macht die Lebenschancen und -wege viel weniger berechenbar als früher. Langfristig sind die meisten optimistisch, kurzfristig pessimistisch gestimmt. Bei den Verarmten und Perspektivlosen wachsen Unsicherheit, Resignation und Fremden-feindlichkeit. Angesichts dieser Widersprüche und Gefährdungen ziehen sehr viele Menschen eine mindestens zwiespältige, wenn nicht negative „Sozialbilanz“ dieser so hoffnungsvoll begonnenen Neuordnung ihrer Gesellschaft. Sie bleiben gesellschaftspolitisch skeptisch und stellen mindestens die praktische Umsetzung dieser neuen Werte (wenn nicht diese selbst) vielfach in Frage. Die sozioökonomische und sozialpsychologische Basis für gemeinnütziges Engagement und eine demokratische politische Kultur ist in vieler Hinsicht noch immer brüchig in Ostmitteleuropa. 1. Die neue konformistische Marketing-Orientierung Viele Menschen spüren auch, wie sehr sich Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen unter dem Anpassungsdruck der neuen Zeit ändern: Autoritäre Orientierungen werden nicht nur durch narzißtische, sondern auch durch eine konformistische Marketing-Orientierung abgelöst. Darunter versteht Fromm eine Charakterstruktur, die davon lebt, sich an den Markt, an das, was ankommt und Erfolg hat, an das anonyme „man“ anzupassen Auf dem Arbeits-wie auf dem Personalmarkt, im öffentlichen wie im privaten Leben zählt vor allem, wie man sich darstellt, nicht was man ist; ob man sich allen Erfordernissen schnell und perfekt anpassen kann, nicht ob man eine eigene Persönlichkeit, ein authentisches Selbst entwickelt hat und bewahrt. Flexibilität heißt das Zauberwort, nicht Identität: Flexibel spielt der Marketing-Charakter die verschiedensten Rollen. Er denkt, fühlt, sagt und tut, was man denkt, fühlt, sagt und tut. Nicht mehr eine konkrete personale Autorität bestimmt über ihn, sondern die anonyme Autorität des „man“, die realen und projizierten Anpassungszwänge, die gesellschaftlichen Normen und das, was „in“ ist. Im Unterschied zum autoritären Charakter sind nun nicht mehr Unterwerfung und symbiotische Nähe kennzeichnend, sondern Distanz und bloße Anpassung an anonyme Autoritäten. Die innere Abwehr und der äußere Kampf gegen die bekannte Autorität schaffen selbst in der Verneinung noch Verbindlichkeit, sogar eine eigentümliche Form von Sicherheit, „wenn man weiß, wer der Gegner ist“. Im Postkommunismus fällt dieses klar bezeichnete, zur Selbstbehauptung provozierende Gegenüber fort. Es verwandelt oder verkleidet sich auch nur; jedenfalls wird es kaum noch greifbar. Es regiert die unsichtbare Hand des Marktes, von Erfolg und Mißerfolg, von Leistungsdruck und Versagensängsten. Gewiß, auch in der sozialistischen Zeit gab es Ansätze für eine konformistische Marketing-Orientierung; den Druck und die Rituale der Anpassung, die Wendigkeit der Funktionäre, verlogene Selbstdarstellungen und geschönte Erfolgs-berichte. Im Postkommunismus hatten gerade diejenigen bald wieder Erfolg und gute Positionen, die schon in sozialistischer Zeit als Manager und Funktionäre besonders wendig und clever waren, die reden und organisieren konnten, die Beziehungen hatten und wußten, „wo es etwas zu holen gibt“. Sie waren flexibel oder gerissen -oder auch einfach nur kriminell. Die große Mehrzahl der Menschen aber muß heute hart arbeiten und weithin Wohlverhalten zeigen, um nicht den Arbeitsplatz zu verlieren. Wer früher keine Leistung brachte, der blieb eben, wo er war. Heute aber drohen ihm Abstieg und Armut. 2. Die Ambivalenz von Leistung und Wohlstand Die Ambivalenz dieser Marketing-Orientierung und des heute so viel nachdrücklicher als früher durchgesetzten Leistungsprinzips wird gerade in den postkommunistischen Gesellschaften besonders deutlich -nicht nur, was die sozialen, sondern auch was die psychischen Folgen angeht. Einerseits werden beim Lernen und in der Arbeit zu Recht Leistungen gefordert. Auch für Fromm gilt: Etwas zu leisten gehört zu unseren produktiven Möglichkeiten, Leistungen sind weithin das Produkt von Arbeit und Vernunft, also auch ein Ausdruck unseres Humanum. Andererseits wissen nicht nur Psychologen: Wer mehr leistet als gefordert, wer zuviel arbeitet, leidet häufig darunter, daß er sich selbst nicht genügend anerkennt und meint, zu wenig anerkannt zu werden. So sucht er jene vermißte Anerkennung, die im Grunde auf Liebe zielt, in der Selbstbestätigung durch meßbare Leistungen und sichtbaren Erfolg. Er sucht vor allem Anerkennung von außen -im Verdienst, im Status, in Symbolen und Auszeichnungen. Leistungen und Erfolge sollen vermitteln, was sonst nicht zu erreichen ist -das Gefühl, etwas wert zu sein, mit sich identisch zu sein, letztlich: liebenswert zu sein und geliebt zu werden. So möchte man für sich Wärme erzeugen in einer zunehmend kälter werdenden Gesellschaft, Nähe statt Distanz, Verbindlichkeit statt Beziehungslosigkeit. Dieser weitverbreitete Irrtum der Psyche bleibt oft ein Leben lang undurchschaut und läßt Menschen leidvoll etwas suchen, was so nicht erreicht werden kann. „Liebe gegen Leistung“ -diese verhängnisvolle Maxime wird oft schon in der Kindheit angelegt, in Schule und Beruf Tag für Tag gesellschaftlich reproduziert. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Nicht die Leistung an sich wird hier kritisiert, sondern der Glaube, auf diese Weise könne man den Wert der eigenen Person einschätzen, die Annahme des eigenen Selbst oder gar Liebe von anderen erreichen.

Auch ein anderer Mechanismus psychischer Kompensation betrifft nicht nur die postkommunistischen Gesellschaften, wird aber in Ostmitteleuropa besonders deutlich. Nicht weniger hinderlich für den Weg „vom Haben zum Sein“ ist ein Phänomen, das die kapitalistische Konsumgesellschaft nun auch hier viel stärker als früher ermöglicht, ja ab einem bestimmten Wohlstandsniveau von ihrer Natur her mitzuerzeugen scheint: der Glaube, psychisches Wohlbefinden sei vor allem durch Konsum, durch das Kaufen und Nutzen von Waren erreichbar. Oder anders gesagt: der Versuch, die inneren psychischen Mängel durch äußeren Wohlstand zu kompensieren. Es geht hier nicht um pauschale Konsumkritik, sondern um die psychische Wirkung einer schön verpackten Warenwelt und ihrer Werbung, die dem Verbraucher suggerieren möchte, er oder sie könne Wohlbefinden, jugendliche Frische und entspannte Kreativität, jedenfalls eine substantielle innere oder psychische Befriedigung durch den Konsum bestimmter Produkte, durch ein neues Ambiente oder modische Kleidung erreichen. Gerade im Postkommunismus besteht noch die Chance, den Menschen zu suggerieren, es wäre möglich, einen Mangel an Selbstwertgefühl und sinnvoller Freizeitgestaltung, vielleicht auch an Lebenssinn und Zuwendung auf diese Weise zu kompensieren. Die Lebensenergie richtet sich immer mehr auf die Gestaltung der äußeren Lebensbedingungen -eine doppelte Kompensation für jahrzehntelangen materiellen Mangel wie für eine neue innere Leere. 3. Gemeinsame Lernprozesse in Ost und West Manches, was hier angesprochen wurde, gilt auch für die sogenannten westlichen Gesellschaften, wenn auch unter jeweils anderen Vorzeichen. In vieler Hinsicht nähern sich die Gesellschaften in West-und Ostmitteleuropa langsam auch in ihren inneren Strukturen an. In dem Maße, wie dies geschieht, erkennen wir auch ähnliche psychische Probleme, sehen wir -hoffentlich auf beiden Seiten -die sozialpsychologisch formierenden und deformierenden Kräfte von gestern und heute. Dabei können wir miteinander und voneinander lernen. Wichtig wäre es, gerade auch im Westen die Erfahrungen der Menschen in Ostmitteleuropa aus den letzten Jahrzehnten zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen. Auf dem Weg zu einerdemokratischen politischen Kultur und zu einem Gesellschaftscharakter, der nicht nur am Haben orientiert ist, könnten sie hilfreich sein. Diese Erfahrungen waren und sind schwierig und zum Teil leidvoll und sicher sehr ambivalent. Was hier zählt, ist jedoch nicht nur die Einsicht in das, was man nicht mehr will. Es sind vielmehr auch die positiven Erfahrungen mit menschlicher Kommunikation und praktischer Solidarität, von Nähe und Gleichheit, von Mut und Selbstbehauptung im Alltag, der Macht der Ohnmächtigen und der Ohnmacht der Mächtigen. Sie sind ein großes humanes und kulturelles Kapital, über das die alten liberalen Demokratien so nicht verfügen. Gewiß -es sind Erfahrungen, die die Menschen in einem vergangenen, gescheiterten System gesammelt haben. Aber sie verleihen ihnen eine spezifische Stärke und Gelassenheit, Geduld und Nüchternheit, die Chancen des Neuanfangs wahrzunehmen wie seine Schwierigkeiten und Lasten zu ertragen. Der Wandel der Werte fordert neue Wert-und Charakterorientierungen in Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensweisen. Die Risiko-und Lernbereitschaft von Millionen von Menschen, die diesen historisch einmaligen Transformationsprozeß gestalten oder auch nur erleiden, macht deutlich: Hier wird nicht nur vieles nachgeholt, was im westlichen Europa schon vorhanden ist; sondern hier wird zugleich demonstriert, daß die Menschen in Ostmitteleuropa sehr bewußt und selbstbewußt ihren eigenen Weg gehen wollen und können. Es ist ein Weg nicht erst in die Moderne hinein, sondern ein Weg in der Moderne.

Dabei geht es um die eingangs zitierte Einsicht Erich Fromms: Eine psychische Neuorientierung ist notwendig, wenn eine humane und demokratische Neuorientierung der sozialen Psyche in post-kommunistischen wie in den älteren kapitalistischen Gesellschaften gelingen soll. Nicht nur wünschenswert, sondern strukturell und funktional erforderlich sind ein neuer „produktiver Gesellschaftscharakter“ (Erich Fromm), ein grundlegender Wandel der psychischen Strukturen vom Haben zum Sein. Das ist ein weitgestecktes, fast schon utopisches Ziel. Viel wäre schon erreicht, wenn die Erkenntnis wüchse, wie wichtig dieser psychische Wandel ist -nicht nur im Persönlichen, sondern auch für eine Humanisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erich Fromm, Haben oder Sein, München 1979, S. 21.

  2. Rainer Funk, Der Gesellschafts-Charakter: , Mit Lust tun, was die Gesellschaft braucht 1, in: Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft, Die Charaktermauer. Zur Psychoanalyse des Gesellschaftscharakters in Ost-und Westdeutschland, Eine Pilotstudie bei Primarschullehrerlnnen, Göttingen 1995, S. 19. Diese Pilotstudie untersucht erstmals auf empirischer Basis dominante Charakterorientierungen in Ost-und Westdeutschland auf der Basis der psychoanalytisch orientierten, gesellschaftskritischen Sozialpsychologie Erich Fromms und entwickelt dazu neue interpretative und methodische Ansätze.

  3. Vgl. die vorzügliche Übersicht über die Gesellschafts-Charakterorientierungen nach Erich Fromm von R. Funk (Anm. 2), S. 24-73.

  4. Vgl. dazu ausführlich Gerd Meyer, Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991, S. 319-392; ders., Sozialistischer Paternalismus, in: Politische Vierteljahres-schrift (PVS), 30 (1989) 20, S. 426-448.

  5. Vgl. dazu ausführlich Gerd Meyer, Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch -ein Überblick, in: Gerd Meyer u. a„ Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch, Tübingen 1993, S. 13-38.

  6. Peter Bender, Unsere Erbschaft, Was war die DDR? Was bleibt von ihr?, Hamburg 1992, S. 138-140.

  7. Zur Begründung dieser These vgl. u. a. die Projektstudie zur gesellschaftlichen Dynamik und den ideologischen Widersprüchen, die zur inneren Erosion der SED-Herrschaft als gescheiterter Versuch eines , anderen Wegs in der Moderne'führten: Winfried Thaa/Iris Häuser/Michael Schenkel/Gerd Meyer, Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus, Tübingen 1992. Ähnlich argumentiert aus modernisierungstheoretischer Sicht Stefan Hradil, Die Modernisierung des Denkens, Zukunftspotentiale und , Altlasten'in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 20/95, S. 3-15; aus milieutheoretischer Sicht Michael Vester, Deutschlands feine Unterschiede, in: ebd., S. 16-30.

  8. Vgl. dazu ausführlich R. Funk (Anm. 2), S. 43-52.

Weitere Inhalte

Gerd Meyer, Dr. phil., geb. 1942; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik an den Universitäten Hamburg, Tübingen und an der Freien Universität Berlin; seit 1977 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen, 1979-1981 und 1994/95 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Tübingen; Gastprofessuren an der Columbia University New York (1984), Graduate School für International Studies, Denver (1991), den Universitäten St. Petersburg und Moskau (1994) und der University of Washington, Seattle (1995). Veröffentlichungen u. a.: Die DDR-Machtelite in der Ära Honecker, Tübingen 1991; (zus. mit Winfried Thaa, Iris Häuser und Michael Schenkel) Gesellschaftliche Differenzierung und Legitimitätsverfall des DDR-Sozialismus. Das Ende des anderen Wegs in der Moderne, Tübingen 1992; Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch (deutsch und englisch), Tübingen 1993; (zus. mit Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft) Die Charaktermauer. Zur Psychoanalyse des Gesellschaftscharakters in Ost-und Westdeutschland, Göttingen 1995; (Hrsg. zus. mit Andrzej W. Jablonski) The Political Culture of Poland in Transition, Wroclaw 1996.