Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Sowjetisierung der SBZ/DDR im ost-westlichen Spannungsfeld | APuZ 6/1997 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6/1997 Restauration und Neubeginn Gesellschaftliche, kulturelle und reformpädagogische Ziele der amerikanischen „Reeducation“ -Politik nach 1945 Die britische Besatzungspolitik 1945-1949. Zur Frage nach einer Konzeption in der britischen Deutschlandpolitik Reparationsgut oder Partner? Zum Wandel in der Forschung über Frankreichs Deutschlandpolitik nach 1945 Die Sowjetisierung der SBZ/DDR im ost-westlichen Spannungsfeld

Die Sowjetisierung der SBZ/DDR im ost-westlichen Spannungsfeld

Michael Lemke

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Sowjetisierung als ein mehrdimensionales Nachkriegsproblem betraf vor allem die europäischen Satellitenstaaten der UdSSR. Deren Analyse bedarf des Vergleichs innerhalb der Ostblockländer nach 1945 und im Fall Deutschland auch der Komparation zwischen Sowjetisierung und Amerikanisierung/„Verwestlichung“. Das Phänomen der Übertragung/Übernahme des sowjetischen Modells auf die SBZ/DDR steht in einem engen Zusammenhang mit den deutschlandpolitischen Zielen und Nachkriegskonzeptionen der UdSSR und mit dem Verlauf des Kalten Krieges. Die SBZ/DDR befand sich seinerzeit in einem vielschichtigen Spannungsfeld zwischen Sowjetisierung/sowjetischem Einfluß und der Anziehungskraft der Bundesrepublik; dies wurde sowohl von großen Teilen der Bevölkerung als auch von den kommunistischen Eliten als ein Konflikt zwischen der Sowjetisierung von „oben“ und einer „Verwestlichung von unten“ wahrgenommen bzw. erlebt. Die genau zu periodisierende Sowjetisierung der SBZ/DDR vollzog sich -unterschiedlich stark -in allen relevanten gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichen und politischen Kräften in der SBZ/DDR zu konkreten Sowjetisieruhgsprozessen. Es bleibt jedoch noch weiter zu klären, in welchem Maße von der Führung der SED die Sowjetisierung als Instrument der inneren Stabilisierung gewollt, gefordert und gefördert wurde. Das berührt die Aspekte von Eigenständigkeit und Handlungsspielräumen der SED im Sowjetisierungsprozeß. Dieser wurde durch verschiedene sowjetische Instanzen und Mechanismen geleitet und kontrolliert.

I. Sowjetisierung als ein europäisches Nachkriegsproblem

Die Sowjetisierung als ein mehrdimensionales Nachkriegsphänomen betraf vor allem die europäischen Satellitenstaaten der UdSSR. Sie verlief in diesen, zumeist sehr jungen, Nationalstaaten höchst unterschiedlich und doch in vielem ähnlich. Inwiefern sowjetische Beeinflussung überall und in jedem Fall als Sowjetisierung bezeichnet werden kann, bleibt dennoch fraglich Jede Definition von Sowjetisierung ist bislang zu Recht von der Übertragung bzw. Übernahme des sowjetischen Modells auf die Verhältnisse von Staaten im Machtbereich der UdSSR, von der Angleichung nichtsowjetischer nationaler Gesellschaften an das sowjetische Vorbild ausgegangen Zwar fungierte „Sowjetisierung“ lange Zeit als ein Kampfbegriff des Kalten Krieges, doch erfaßt er -inzwischen weitgehend entemotionalisiert -das Wesen des historischen Prozesses m. E. begrifflich prägnant. Sowohl die ältere als auch die neuere und neueste Forschungsliteratur, auf die aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann, verwendet ihn. Und in jedem europäischen Fall bestand ein Spannungsverhältnis zwischen sowjetischen Einwirkungen und spezifischen, in sich differenzierten nationalen Interessen.

Was waren die systemspezifischen Konstanten der Sowjetisierung und was deren Variablen? In welchem Maße gingen nationale. Modifikationen aus zweckrationalen oder anderen Gründen von Moskau selbst und/oder von den Verhältnissen in den einzelnen Staaten aus? Wie verhielten sich die systemspezifischen Grundstrukturen und Funktionen des sowjetischen Herrschaftstyps und die nationalen Besonderheiten von Herrschaft und Macht und wie deren sowjetische und nationale Träger zueinander? Mit diesen Fragen verknüpft sich ein übergreifendes Problem: Was war per definitionem und in praxi Sowjetisierung und was lediglich sowjetischer Einfluß?

Die Grenzen beider Erscheinungen sind fließend, Trennlinien verschwimmen. Natürlich stellte der sowjetische Einfluß eine Voraussetzung und einen Begleitumstand für Sowjetisierung dar, ist aber nicht mit ihr identisch. Die strukturelle, institutionelle, funktionale und auch geistige Sowjetisierung als Transformationsprozeß war zeitlich begrenzt. Sie flachte offenbar in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ab und lief dann in den einzelnen Staaten -zu Zeitpunkten, die näher zu bestimmen sind -allmählich aus. Der sowjetische Einfluß bestand jedoch bis zum Ende der achtziger Jahre fort. Eine Schwierigkeit der Unterscheidung beider Prozesse ergibt sich vor allem aus der nicht unbegründeten Annahme, daß in einer bestimmten Periode der Nachkriegsentwicklung im Ostblock jede Form sowjetischer Einflußnahme im Kontext von Sowjetisierung zumindest indirekt auf sie hinauslaufen und deren Habitus annehmen mußte.

Die Untersuchung des Problems Sowjetisierung kommt auf der Basis einer Fülle von neuem nationalen Quellenmaterial und Erkenntnissen der Forschung in den einzelnen Staaten nicht ohne den innersystemischen Vergleich und nicht ohne die Analyse des Wechselverhältnisses von Sowjetisierung und Kaltem Krieg aus: In welchem Maße verursachte und beschleunigte Sowjetisierung konfrontative Prozesse, stellte sie ein aktives oder reagierendes Moment der Entwicklung 'des Ost-West-Konflikts nach 1945 dar? Damit verbunden bleibt auch die Frage nach der Entwicklung einer vor allem durch internationale Faktoren bedingten Eigendynamik von Sowjetisierung im Kalten Krieg. Die Analyse der komplexen Erscheinung Sowjetisierung bedarf ferner einer exakten Periodisierung. Die intensivste Phase wird in allen betroffenen Staaten -mit Zeitversetzungen -in den Jahren zwischen 1947 und 1953 zu finden sein. Als Ausgangspunkt bietet sich vor allem die Frage nach den Interessen der UdSSR in den einzelnen Ländern an: Welche politischen, strategischen und wirtschaftlichen Ziele, aber auch historischen und mentalen Motive leiteten sie? Zum anderen ist natürlich den unterschiedlichen Ausgangslagen und den nicht konstant bleibenden und nicht undifferenzierten jeweiligen nationalen Dispositionen für die Sowjetisierungsprozesse nachzugehen: Was legitimierte sie? Wer begrüßte oder tolerierte sie aus welchen Gründen, wo artikulierten sich passive Resistenz und aktiver Widerstand? Gab es Inkubationsperioden, mögliche retardierende Momente oder gar rückläufige Tendenzen einer Sowjetisierung? Und: Auf welchen Wegen setzte die UdSSR Sowjetisierungsabsichten durch? Betrachtet man den Gesamtprozeß mehr vom Ende her, so stellt sich nicht zuletzt auch die Frage, inwiefern die Sowjetisierung in den einzelnen Staaten zu einem Identitätswandel ihrer Völker und Gesellschaften beigetragen hat. Also: Was ist von der Sowjetisierung geblieben?

II. Sowjetisierung und Amerikanisierung im Vergleich

Konrad H. Jarausch und Hannes Siegrist sprechen in einem Anfang 1997 erscheinenden Band -das Ergebnis einer fruchtbaren Konferenz im Juni 1995 -von Amerikanisierung und Sowjetisierung als zwei die „deutsche Nachkriegsgeschichte dominierende Richtungen“, die aus einem vergleichenden Blickwinkel und aus beziehungsgeschichtlicher Perspektive betrachtet werden müßten Amerikanisierung und Sowjetisierung erscheinen als politisch entgegengesetzte Begriffe, die gleichwohl zueinander in einem Abhängigkeits-und Ergänzungsverhältnis stehen.

Doch versteht man Sowjetisierung wie definiert, so ist zu bezweifeln, daß es sich bei der Amerikanisierung tatsächlich um das Gegenstück zur Sowjetisierung handelt. Was waren deren Grundlagen? Die Ausgangssituationen in beiden Teilen Deutschlands, bei dem es sich um ein besiegtes und besetztes Land handelte, waren nach dem Mai 1945 ähnlich. Bis 1949 herrschten die Besatzungsmächte per Militärverwaltungen uneingeschränkt. Nach den deutschen Staatsgründungen kontrollierten die Westmächte die Entwicklung der Bundesrepublik bis 1955 auf der Rechtsgrundlage eines Besatzungsstatuts, und die UdSSR, wenngleich sie aus propagandistisch-politischen Gründen auf eine ähnliche Regelung verzichtete, die DDR nach ihren nichtkodifizierten Vorstellungen und Bedürfnissen. Im Westen bildeten die drei Hohen Kommissare, im Osten die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) eine Art „Überregierung“. Dabei ist hier wie dort zu unterscheiden zwischen „purem“ Besatzungsdirigismus und dem Bestreben, Deutschland -oder jeweils einen Teil davon -nach dem eigenen Bilde auf Dauer zu prägen: Was war bloße Verwaltung des deutschen Alltags und was Gestaltung deutscher Verhältnisse im Sinne der Schaffung eines Alter ego der jeweiligen Besatzungsmacht? Natürlich kann auch gefragt werden, inwiefern die Gestaltung Ostdeutschlands nach dem Bilde der UdSSR in dem Bemühen der USA, das westliche liberale Demokratie-und Staatsmodell in Westdeutschland durchzusetzen, eine Entsprechung fand. Unstrittig ist, daß die Sowjetisierung der SBZ/DDR ohne die Präsenz sowjetischer Truppen nicht denkbar gewesen ist. Doch in welchem Maße setzte eine Amerikanisierung tatsächlich noch Besatzung und militärische Präsenz voraus? Es ist eben nicht nur die Frage nach den Zielen und Inhalten der Einwirkung, sondern auch nach deren Modi interessant. Die sowjetische deutschlandpolitische „Globalsteuerung“ vollzog sich vorrangig dirigistisch, die amerikanische wohl eher „sanft“, kooperativ und über wirtschaftliche Mechanismen Während es im Verhältnis der UdSSR zu ihrem sowjetisierten Bündnispartner Rückkoppelungen kaum gab, flossen Elemente von Politik, Wirtschaft und Kultur der Bundesrepublik in die Gesellschaften der USA. Englands, Frankreichs und anderer Länder unterschiedlich stark ein. Schließlich bleibt die Tatsache bestehen, daß bei allem spezifisch Amerikanischen in den Einflüssen auf die Bundesrepublik aus den Deutschen Westeuropäer wurden und ihr Staat ein „westeuropäisches“ Land geworden ist In die Entwicklung von Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik fanden verschiedene westliche Einflüsse Eingang, die m. E. besser durch den Begriff „Verwestlichung“ als durch „Amerikanisierung“ zu fassen sind. Diese Verwestlichung der Bundesrepublik, die letztendlich wesentlich eine Erneuerung der deutschen Gesellschaft beinhaltete, stellte keine Einbahnstraße dar.

Das berührt eine ebenfalls systemübergreifende Frage: In welchem Umfang wurden den politischen Klassen in Ost-und Westdeutschland fremde Vorstellungen und politische Leitbilder oktroyiert, und in welchem Maße übernahmen sie diese freiwillig? Das Problem setzte sich auch nach „unten“ fort: Wie stark war die Bereitschaft der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten, äußeren Druck zu tolerieren, wenn sich -zumindest in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre -z. B. dadurch bestimmte Lebenschancen zu vergrößern schienen?

III. Ostdeutsche Handlungsspielräume und Eigenständigkeit der SBZ/DDR

Von Anfang an befand sich die SBZ/DDR in einem Spannungsverhältnis zwischen Sowjetisierung bzw. sowjetischem Einfluß und der Anziehungskraft der Bundesrepublik. Sowjetische Bestimmung und bundesdeutscher „Magnetismus“ definierten die Handlungsspielräume der SED entscheidend und beeinflußten auch die Entwicklung ihrer Eigenständigkeit. Bei der Analyse der Maßnahmen der Sowjetisierungspolitik in den verschiedenen Stadien des Ost-West-Konflikts muß natürlich immer von den deutschlandpolitischen Zielen der UdSSR ausgegangen werden. Sie bildeten den Rahmen für die Entwicklung von Handlungsspielräumen, die wiederum einen wichtigen Schlüssel und einen Indikator für die Definition des Grades und des Verlaufs von Sowjetisierungen abgaben. In welchem Maße gewährte die sowjetische Führung Handlungsspielräume, oder ergaben sie sich aus dem historischen Prozeß, und wie vor allem wurden sie von der SED genutzt? Die Ausleuchtung dieser Spielräume trägt zur Bestimmung der spezifischen Ziele und Interessen aller beteiligten Kräfte und zur Beantwortung von Fragen nach möglichen temporären und partiellen Alternativen für die SED bei.

Auch daraus ergibt sich das Problem der Definition von SED-Interessen, letztlich auch das der Bestimmung ostdeutscher Eigenständigkeit. Sie ist keinesfalls mit Unabhängigkeit zu verwechseln. Während Eigenständigkeit im Begriff der Unabhängigkeit eingeschlossen ist, sind Elemente von Unabhängigkeit nur bedingt im Begriff der Eigenständigkeit enthalten. Der Begriff ergibt nur Sinn, wenn man davon ausgeht, daß die SED/DDR in einem politischen Unterordnungsverhältnis zur UdSSR stand. Diese Subordination bedeutete jedoch keine einseitige Abhängigkeit von der Führungsmacht. Abhängigkeit blieb zwar immer stark asymmetrisch, kennzeichnete aber auch das Verhältnis der UdSSR zur DDR während des gesamten Sowjetisierungsprozesses. Die SED/DDR erbrachte der UdSSR auf verschiedene Art und Weise -vor allem deutschlandpolitisch -Dienstleistungen. Eigenständigkeit reflektierte in hohem Maße die Ergebnisse eines ostdeutsch-sowjetischen Interessenclearings, aber auch verschiedener bi-und multilateraler Interaktionen im östlichen Bündnis. Der Begriff signalisiert die Fähigkeit der SED zur weitgehend freiwilligen Unterordnung unter die Moskauer Interessen und einen hohen Grad der Verinnerlichung von Sowjetisierung als das den Charakter und den Zielen der SED Gemäße, als das für die deutsche Entwicklung Beste und historisch Fortschrittlichste.

Dieses Moment der Eigenständigkeit, die sich -nur scheinbar paradox -nicht selten als vorauseilender Gehorsam und als eine praktische Vorwegnahme erahnter sowjetischer Ambitionen u. a. m. artikulierte, schloß weder die Existenz spezifisch ostdeutscher Interessen und Ziele, noch den Willen der SED aus, diese vorzugsweise im Einvernehmen mit Moskau durchzusetzen. Eigenständigkeit, aus der sich in einer näher zu bestimmenden Qualität auch Eigenverantwortung ergab, setzte Strukturen, Institutionen und politische Möglichkeiten voraus, eine an spezifischen Zielen orientierte Politik zu betreiben, deren Teilbereiche relativ autonom zu gestalten und besondere Vorstellungen und Aufgaben gegenüber der UdSSR zu äußern.

IV. Bedingungen, Grundlagen und Bereiche der Sowjetisierung

Offenbar orientierte sich die Führung der SED -hier vor allem die Riege um Ulbricht -eher als die UdSSR auf eine dauerhafte deutsche Zwei-staatlichkeit Zumindest bis 1953 -vielleicht noch bis 1955 -ließ die UdSSR eine Option für die deutsche Einheit oder für die Zweistaatlichkeit offen. Verschaffte das der DDR gewisse Handlungsspielräume? Etwa bis Mitte 1951 schien die Moskauer Führung noch mit Möglichkeiten gerechnet zu haben, Deutschland nach dem Modell DDR wiederzuvereinigen. Als Mitte 1951 die Frage der militärischen Integration der Bundesrepublik vom latenten ins akute Stadium trat und Stalin sah, daß es die USA mit der militärischen Einbindung Westdeutschlands ernst meinten, mußte die sowjetische Führung nach neuen deutschland-und sicherheitspolitischen Wegen suchen und eine größere Flexibilität entwickeln. Die Frage der Sowjetisierung der SBZ/DDR hing auch ab von der inneren Entwicklung der UdSSR, von verschiedenen Trends und von Kräftegruppierungen in der Führung der KPdSU.

Ein noch etwas unsicherer Vergleich zeigt, daß die USA deutschlandpolitisch viel weniger zu schwanken’ schien als die UdSSR, deren wirtschaftliche und bedingt auch politische Positionen sowie deren deutscher Bündnispartner schwächer waren als die der USA. Trug diese relative Schwäche der Sowjetunion, die durch den Zweiten Weltkrieg plötzlich den Rang der zweitstärksten Welt-macht eingenommen hatte, deren neues Image man verteidigen mußte, zu einer konsequenten Sowjetisierung der SBZ/DDR bei?

Eine starke Sowjetisierung spricht sowohl für als auch gegen eine mögliche Entscheidung der Sowjetunion für die Einheit Deutschlands. Wenngleich auch Stalin und seine Diadochen nicht davon ausgehen konnten, das Modell DDR einfach auf die Bundesrepublik zu übertragen, so bot ein sowjetisiertes Ostdeutschland doch die Möglichkeit, verschiedene nach sowjetischen Vorbildern umgestaltete Strukturen in ein Gesamtdeutschland einzubringen und sie unter bestimmten inneren Bedingungen -Volksfront-spekulationen spielten bis Mitte der fünfziger Jahre allemal eine Rolle -weiterzuentwickeln. Ein Deutschland, das gegenüber der UdSSR eine positive Neutralität einnahm -in gewisser Weise ein „re-weimarisierter" Gesamtstaat -, konnte m. E. von der KPdSU schon deshalb akzeptiert werden, weil es die Chance zu bieten schien, irgendwann -wenn der „Weltsozialismus“ stark genug sein würde -in den Bereich der Schwerkraft des sowjetischen Imperiums zu gelangen. Demgegenüber machte die Perspektive eines fortbestehenden deutschen Oststaates eine Sowjetisierung ebenfalls sinnvoll. Immer blieb die Drohung ihrer Fortführung und Intensivierung gegenüber dem Westen bestehen. Eine Sowjetisierung entsprach durchaus dem sowjetischen Nachkriegskonzept der Herrschafts-und insbesondere der territorialen Sicherung des ihr nach 1945 Zugefallenen. So kann eben auch gefragt werden, ob eine konsequente Sowjetisierung der SBZ/DDR nicht gleichbedeutend gewesen ist mit einem sowjetischen Verzicht auf Gesamtdeutschland.

In allen östlichen Schwankungen zeigte sich eine mehrdimensionale Konstante: die prinzipielle Unterordnung der SED unter die sowjetischen Interessen, die vor allem in der Frage kommunistischer Selbstbehauptung auf deutschem Boden mit den Zielen der SED korrespondierten, und der innerparteiliche SED-Konsens in der Frage der Machterhaltung. Zu dieser Konstante gehörte das auch in der ostdeutschen Führung zumindest unterschwellig vorhandene Bewußtsein, daß die DDR in hohem Maße ein Kunstprodukt, eine nach einem bestimmten Plan konstruierte Gesellschaft sei. Deren Schöpfer und die politische Intelligenz mußten sich von Anfang an nicht nur mit dem Problem beschäftigen, welche Freiräume sie der eigenen Bevölkerung, den einzelnen „Klassen“ und „Schichten“, einräumen konnten, sondern sie sahen sich umgekehrt auch mit der Frage konfrontiert, in welchem Maße diese der SED Handlungsspielräume zubilligten. So besaß die Führung der SED auch in dieser Hinsicht ein großes Interesse, diese durch eine sowjetische Penetration der ost-deutschen Gesellschaft innenpolitisch zu erweitern

Eine geistig-politische Grundbedingung für den Sowjetisierungsprozeß bildete die Übernahme des ideologischen Systems des Sowjetkommunismus in allen seinen wesentlichen Bestandteilen. Auch die Mitglieder der SED lernten den Marxismus nicht als okzidentale revolutionäre Gesellschaftslehre „pur“ kennen, sondern in seiner sowjetischen leninistischen Brechung. Nicht selten legten ostdeutsche Ideologen die sowjetische Marxismus-Leninismus-Interpretation noch zusätzlich aus und erweckten überdies den Eindruck, daß die DDR nicht in einer deutschen, sondern sowjetischen und imaginären „proletarischen“ Traditionslinie stehe Hinzu trat in den Jahren bis 1955 die Apotheose Stalins, um dessen Gunst man warb, sowie ein ebenfalls nicht zu unterschätzendes Syndrom, daß die DDR sich des Vertrauens der Sowjetunion „würdig“ erweisen und auf innenpolitische „Experimente“ verzichten müsse Die Voraussetzung für den gesamten Sowjetisierungsprozeß in der SBZ/DDR und dessen Kern bildete die Entwicklung der SED zur „Partei neuen Typus“. Die Stalinisierung der 1946 konstituierten Einheitspartei schuf eine zuverlässige Sowjetisierungsbasis sowohl für die UdSSR als auch für die ostdeutsche kommunistische Führung. Die Stalinisierung der Partei besaß vor allem eine antisozialdemokratische Ausrichtung und einen allgemeinen disziplinierenden Aspekt

Von der Sowjetisierung der SBZ/DDR blieb im Prinzip kein gesellschaftlicher und politischer Bereich ausgeklammert. Am stärksten entwickelte sie in politisch und gesellschaftlich sensiblen Bereichen -dort, wo Macht-und Sicherheitsfragen im Vordergrund standen -Intensität und den Anspruch auf Flächendeckung und Perfektion. So waren z. B. auch die 1953 aufgestellten „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ offenbar auf eine sowjetische Anordnung zur Organisierung eines „sicheren Schutzes“ aller wichtigen volkswirtschaftlichen Objekte „aus geprüften und politisch der volksdemokratischen Ordnung ergebenen Personen“ zurückzuführen. Im gleichen Zuge ergingen Weisungen über die Standortverteilung der Volkspolizei, zum Abhören von Telefongesprächen und zur „Überprüfung des Schriftverkehrs“ Derartige Befehle stellten zunächst eine Form administrierenden sowjetischen Einflusses dar, waren aber auch geeignet, Kontrollmechanismen nach sowjetischem Vorbild zu gestalten. Aber auch die Ausformung und Kontrolle der Wirtschaft stand zumindest bis Ende der fünfziger Jahre mit im Vordergrund des sowjetischen Interesses. Die Umstrukturierung der Industrie nach 1945 vorrangig über den Mechanismus von Enteignungen, repressiver wirtschaftlicher Maßnahmen und außerökonomischer Zwänge ging einher mit der Übernahme von Theorie und Praxis der sozialistischen Planwirtschaft sowjetischen Typs und der Schaffung entsprechender Leitungsmodelle. Zwar konnte die DDR ohne den Austausch mit der UdSSR auch wirtschaftlich nicht überleben. Doch führten die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Gegenleistungen der DDR zu einer starken Ausrichtung der ostdeutschen Industrieproduktion auf sowjetische Bedürfnisse, was erhebliche Disproportionen in der industriellen Entwicklung der DDR -teilweise auch Deformationen -zur Folge hatte. Hier fand eine indirekte Sowjetisierung statt.

Die Landwirtschaft erfuhr durch die Bodenreform und die erst 1960 abgeschlossene Kollektivierung einen grundlegenden Umbau. Die Verwaltung der Land-und Forstwirtschaft der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), später der SKK, steuerte und kontrollierte die Agrarpolitik der SED bis zum Beginn der fünfziger Jahre mit besonderer Sorgfalt und gelegentlich unter Beteiligung Stalins Doch gerade hier setzten sich „sowjetische Erfahrungen“ und sowjetisch initiierte „Bewegungen“ wie die „Mitschurinbewegung“ und die aberwitzigen Lehren des Agrarbiologen Lyssenko ebensowenig durch wie sowjetische „Neuerermethoden“ und neue Pflanz-verfahren Allerdings richteten die am Ende der fünfziger Jahre von der SED-Führung durchgesetzten „Rinderoffenställe“ und „Schweinepilze“, die empfindliche Nutztiere dem Unbill der Witterung aussetzten, schweren Schaden an. Die Kollektivierung wurde von „einer weitverbreiteten Fortschrittseuphorie getragen, in der sich die Glorifizierung der Sowjetunion eng mit weitreichenden Überlegenheitsvorstellung und Modernisierungsillusionen verband“

Der Staatsapparat der DDR erfuhr bis zum Beginn der sechziger Jahre eine Organisation nach sowjetischem Vorbild. Staat und Partei verschmolzen nach sowjetischem Muster. Grotewohl hatte schon im März 1949 betont, daß für die zu bildende Regierung der DDR die „Generallinie der Partei“ verbindlich sei Die Parteiarbeit im Regierungsapparat wurde straff organisiert und von zentralen Parteigremien kontrolliert. Staats-funktionäre und Regierungsinstitutionen blieben den übergeordneten Parteileitungen rechenschaftspflichtig. Die Untrennbarkeit von staatlichen und Partei-Aufgaben geriet zum moralisch-politischen Gesetz Die SED übernahm auch das sowjetische Nomenklatursystem, das bereits im Februar 1949 in ein erstes ostdeutsches Nömenklatursystem Eingang fand. Es legte u. a. fest, daß die politisch wichtigsten Funktionen im SED-Apparat, in den Massenorganisationen und im Staatsapparat ausschließlich durch das Politbüro und das von Ulbricht geleitete „Kleine Sekretariat“ besetzt werden dürften Das Nomenklatursystem der SED erfuhr eine Fortschreibung nach sowjetischem Vorbild. Die SED übernahm auch dessen offizielle Funktionsbezeichnungen. So wurde aus dem Ministerpräsidenten Grotewohl ein „Vorsitzender des Ministerrates“ Aber auch in den scheinbar kleinen Dingen alltäglicher Verwaltung -wie bei der Organisation von Handel und Versorgung -stand die Sowjetunion Pate Ab Mitte der fünfziger Jahre setzte eine problematische „Sowjetisierung des Konsums“ ein Sowjetisierungen im Alltag trugen nicht selten banale Züge -etwa, wenn das Politbüro im März 1950 beschied, daß das „Neue Deutschland“ künftig im Format der „Prawda“ herausgegeben werden müsse Sieht man von der Schaffung eines lediglich formalen Mehrparteiensystems in der DDR ab, funktionierten gesellschaftliche Organisationen und Organe im Prinzip ebenfalls wie ihre sowjetischen Vorbilder. Sie schalteten verschiedene politische Interessen gleich und konstituierten eine „Nationale Front“, die ihr Vorbild in sowjetkommunistischen „Volksfront“ -Ideen fand. Auch auf dem Gebiete der äußeren Beziehungen prägte die UdSSR die ostdeutschen Strukturen und Institutionen sowie die Inhalte der internationalen Politik der SED.

V. Aspekte der wirtschaftlichen Ostintegration

Nahm die DDR, die aus verschiedenen Gründen international weitgehend isoliert blieb, in den ersten Jahren ihrer Existenz vorrangig als „Trittbrettfahrer“ der UdSSR am Weltgeschehen teil, so entwickelte sie -sichtbar nach 1955 -in der Öffentlichkeit zunehmend außenpolitische Vorstellungen, die nur sehr bedingt als eigene Politik apostrophiert werden konnten und die auch in späteren Jahren für die SED einen Januskopf trugen Auch das Verhältnis von Sowjetisierung und Integrationspolitik der DDR spielte eine erhebliche Rolle. Welche Funktionen übten der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und der Warschauer Pakt bei der Übertragung sowjetischer Modelle auf die DDR aus? Welche Absichten verfolgte die UdSSR mit der Einbindung der DDR in ihr europäisches Bündnissystem, und was für Folgen hatte die Ostintegration für Staat und Gesellschaft der DDR, vor allem für deren Identität? Offenbar sah man in Ostberlin -so wie in Bonn -in einer möglichst engen Anbindung an die Führungsmacht die Chance, neue, insbesondere deutschlandpolitische Freiräume zu gewinnen. Während die Bundesrepublik zumindest deutschlandpolitisch stark auf ihre Führungsmacht zurückwirkte, war der Einfluß der DDR auf die Moskauer Zentrale nicht nennenswert. In vielem blieb die Ostintegration eine besondere Form der Sowjetisierung. So funktionierte der RGW vor allem im ersten Jahrzehnt seines Bestehens mehr als politische Kontrollinstanz und Instrument der Block-Disziplinierung denn als das einer wirtschaftlichen Integration. Diese scheiterte „auch an dem Willen der UdSSR, den Ostblock politisch um jeden Preis zusammenzuhalten“

Das Fehlen supranationaler Strukturen und Organe, ein Festhalten am staatlichen Außenhandelsmonopol und an der nationalen Planungs-und Industrialisierungsautonomie sowie die fehlende Handelsintegration u. a. m. wirkten dem Entstehen einer Identität der DDR als Teil einer möglichen Gemeinschaft gleichberechtigter Völker entgegen. Hier spielten u. a. auch nationalstaatliche Egoismen und ein Zurückscheuen verschiedener kommunistischer Führungen vor wirtschafts-und handelspolitischen Reformrisiken ein wichtige Rolle. Denn in den sechziger Jahren gerieten DDR und Ostblock unter erheblichen psychologischen Druck durch die Erfolge der Westintegration der Bundesrepublik. „Ausgehend von Polen, Ungarn und der CSSR bildete sich als Reaktion hierauf ein Integrationskonzept heraus, das marktwirtschaftliche Elemente mit dem planwirtschaftlichen Modell zu verbinden suchte. Die Reformer waren insbesondere darum bemüht, nun endlich die Handelsintegration nachzuholen, die Westeuropa Mitte der 50er Jahre erreicht hatte. Die DDR-Führung begriff, daß dies bei erfolgreicher Durchsetzung letztlich zu einer Systemtransformation führen werde. Sie suchte, durch diese Perspektive existentiell bedroht, daher den engen Schulterschluß mit Moskau.“

In diesem Fall korrespondierten sowjetische und ostdeutsche Interessen. Wenn sich hier ein sowjetisches Prinzip äußerte, dann das des Primats der Politik gegenüber der Wirtschaft. Der Vorrang der Systembewahrung sicherte letztendlich die sowjetische Dominanz. Ostintegration reduzierte sich im wesentlichen auf eine auf Hegemonie und Interessenclearing beruhende Dauerbindung einer nationalstaatlich verfaßten DDR an ihre Führungsmacht. Das schloß partnerschaftliche Kooperation ebensowenig aus wie ökonomische Interessenkonflikte zwischen beiden Seiten, insbesondere seit Ende der fünfziger Jahre.

VI. Wege der Sowjetisierung: Mechanismen und Kontrollinstanzen

Die offenbar in einigen Bereichen relativ problem-und reibungsarme Sowjetisierung führt auch zu der Frage, in welchen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens aus historischen, politischen und ökonomischen Ursachen eine gewisse Prädisposition für die Sowjetisierung vorhanden war. Offenbar leistete die ungebrochene Kontinuität diktatorischer Herrschaft ab 1933 einer administrativen Sowjetisierung Vorschub. Inwiefern z. B. konnte die enge Verquickung von Wirtschaft und Staat im Nationalsozialismus -insbesondere der kriegsbedingte Wirtschaftsdirigismus -für die kommunistische Planwirtschaft sowjetischer Prägung genutzt werden? Das besaß ebenso Relevanz im Sinne der Gestaltung deutscher Zukunft wie die Frage, auf welche alten Eliten und neuen Kader -wer hatte sie vor 1945 geprägt? -eine personalpolitische Sowjetisierung zurückgreifen konnte. Grundbedingung dafür war natürlich ein sowjetischer Zugriff auf personelle Entscheidungen, die Kontrolle des Elitenwechsels und nicht zuletzt eine Bürokratisierung der Kaderpolitik nach sowjetischem Vorbild (Kaderakte, Kaderabteilungen u. a. m.). Wer gelangte über welche Mechanismen in den politischen und wirtschaftlichen Apparat und Entscheidungsprozeß?

Diese Frage berührt die Frage der Wahrnehmung und Kontrolle der Sowjetisierungsinteressen durch die UdSSR. Von 1945 bis 1949 standen die SMAD und ihre nachgeordneten Gliederungen in den Ländern der SBZ und von 1949 bis 1953 die SKK als zentrale organisatorische und exekutive Organe der sowjetischen Deutschlandpolitik im Vordergrund einer Politik, deren sowjetisierende Absicht systematisch geleugnet wurde. Kurzfristig liefen die Fäden -bis 1955 -beim sowjetischen Hohen Kommissar (Semjonow), danach in der Sowjetischen Botschaft in Ostberlin zusammen.

Das Politbüro regelte das Verhältnis der Staatsorgane der DDR zu den sowjetischen Stellen im Juni 1950 mit dem lakonischen Satz, „daß die Mitarbeiter der staatlichen Verwaltung zur Erteilung jeglicher Auskunft an die Organe der SKK verpflichtet sind“ Die UdSSR verfügte mit ihrem dichten Netz von sowjetischen „Beratern“ in politischen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Gremien bis zum Ausgang der fünfziger Jahre „flächendeckend“, später an wichtigen Punkten, über einen anleitenden und kontrollierenden (berichtenden) Mechanismus. Die sowjetische Führung drängte der DDR die Berater nicht immer nur auf. Ob „vorauseilender Gehorsam“ und das Wissen um sowjetische Wünsche eine Rolle spielten oder nicht -die Führung der SED ersuchte die KPdSU verschiedentlich um die „Entsendung von Beratern“ Die SED wies die Staatsorgane der DDR an, regelmäßig ihre „Berater“ zu konsultieren und deren Vorschläge -besonders im Sicherheitsbereich -zu verwirklichen. Daneben gab es zu jeder Zeit persönliche Kontakte zwischen sowjetischen Politikern aller Ränge mit Spitzenfunktionären der SED, die Direktiven aus Moskau mitbrachten bzw. diese über den Parteiweg KPdSU-SED oder aber in diskreten Gesprächen in der SMAD bzw. SKK erhielten. Eine „außerordentlich wichtige Form aktiver und passiver sowjetischer Einflußnahme waren schließlich die deutsch-sowjetischen Delegationsund Erfahrungsaustausche, die mit der beginnenden Stalinisierung der SED und mit der stärkeren Sowjetisierung der ostdeutschen Verwaltung etwa seit 1948/49 zunehmend an Bedeutung gewannen“ Eine wichtige repressive Funktion bei der Absicherung der Sowjetisierung -was Verfolgung ihrer Gegner hieß -übten der sowjetische Geheimdienst und andere Moskauer Sicherheitsorgane aus.

Verschiedene Moskauer Direktiven ergingen in Form von „Merkblättern“ und „Memoranden“, die letztlich Befehle und daher verbindlich waren. Solche „Empfehlungen“, auf deren Abfassung und Durchführung die SED offenbar keinen oder nur sehr geringen Einfluß hatte, reglementierten oftmals kleinlich bis in die Details. So griff die Sowjetunion in die Gestaltung der Binnenpreise ein, ordnete Produktionswettbewerbe der „Werktätigen“ an und befand über solche Nebensächlichkeiten wie die Ausgabe von „schönen Uniformen aus gutem Wolltuch“ für die Offiziere und Wachtmeister der Volkspolizei So lassen sich echte Handlungsspielräume für die SED, die eben auch vom „Magnetismus“ der Bundesrepublik und in hohem Maße von der Haltung der Bevölkerung abhingen, bis Mitte der fünfziger Jahre kaum nachweisen.

VII. Sowjetisierung als Dialektik von Beschleunigung und Verzögerung

Es existierte immer ein Zusammenhang zwischen der Haltung der Bevölkerung der DDR und der Sowjetisierung, d. h.der Art und Weise sowie der Intensität ihres Verlaufs. Die weitgehende Ablehnung kommunistischer Herrschaft und des sowjetischen Sozialismusmodells durch die Mehrheit der Bevölkerung vor allem im ersten Jahrzehnt des Bestehens der DDR zeitigte eine zuweilen eskalierende Sowjetisierungs-„Nachfrage“ der SED-Führung. Zeitweilig verstärkte sich das unterdrükkende Element, dann wieder gewann das „liberale“, das auf eigentliche Identitätsveränderung abzielende Element der Sowjetisierung -sichtbar z. B. im „Neuen Kurs“ und bei der Sympathiewerbung für sowjetische Kunst und Kultur -an Bedeutung. In welchen Phasen der ostdeutschen Entwicklung bevorzugten welche Kräfte in SED und KPdSU und warum welche Sowjetisierungsmethoden? Wichtig scheint, daß die SED eine tatsächliche Konsolidierung der Binnenverhältnisse der DDR auch durch flexiblere Formen der Sowjetisierung nicht erreichte. Konsolidierung und Destabilisierung gingen eine eigenartige Symbiose ein. Nach Phasen der Erholung (1950/51; 19571959) erfolgte eine krisenhafte Zuspitzung der Situation (1952/53; 1960/61), die die Existenz der DDR in Frage stellten. Eine relative Stabilisierung des deutschen Oststaates setzte erst nach dem Mauerbau, deutlicher seit 1963 ein.

Welchen Einfluß hatten Sowjetisierungsprozesse auf stabilisierende Phasen in der DDR-Systemerhaltung? Bislang ist -zu Recht -mehr nach dem Verhältnis von Krisenentwicklungen und Sowjetisierung gefragt worden. Denn Sowjetisierungsschübe erfolgten in der Regel in krisenhaften Situationen. Sie wurden an bestimmten Schnitt-punkten von politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen sowie Alltags-Prozessen sichtbar und erhielten dann ihre Rasanz, wenn unterschiedliche Krisenmomente sich verbanden bzw. potenzierten. Schübe konnten, wie es 1950 der Fall gewesen zu sein scheint, stark außenpolitisch bestimmt sein. Hier wirkte der Koreakrieg als Katalysator, und eine damit verbundene Verstärkung einer organisierten „Friedensbewegung“ nach sowjetischem Diktum folgte. In diesem Prozeß spielten freilich auch deutschlandpolitische Zwänge eine Rolle. Sowjetisierungsprozesse entwickelten in bestimmten Situationen eine starke Eigendynamik.

Ein Beispiel: Die Ablehnung des sowjetischen Angebots an den Westen -deutsche Einheit gegen Neutralität -im Frühjahr 1952 beschleunigte faktisch den sowjetischen Beschluß, für den Aufbau der Nationalen Volksarmee und die Kollektivierung in der Landwirtschaft, d. h.den Aufbau des Sozialismus in der DDR, grünes Licht zu geben. Dies löste einen weiteren Sowjetisierungsimpuls aus, der, verbunden mit neuen administrativen Maßnahmen sowie zusätzlichen sozialen und wirtschaftlichen Belastungen, zu einem sprunghaften erheblichen Anstieg der Unzufriedenheit der Bevölkerung und zu einer Eskalation einer eben auch weiter von außen tangierten Krisensituation führte. Als dieser von der SED mit vorrangig repressiven Methoden gegengesteüert wurde, entstand neuer Unwillen in der Bevölkerung und damit eine von der SED innenpolitisch nicht mehr kontrollierbare Situation. Augenfällig war dabei das Versagen von Rückkopplungsmechanismen und eine damit verbundene Zunahme chaotischer Elemente der Sowjetisierung. Belastungs-und Krisensituationen bildeten keineswegs die einzige Ursache für eine Verstärkung der Sowjetisierungsprozesse, waren aber für sie Katalysator und wichtiger Indikator.

Die sowjetische Fremdbestimmung, vor allem der Deutschlandpolitik, war offenbar nicht immer nur negativ. Daß sich die SED von 1951 bis 1953 mit der Idee freier Wahlen zumindest auseinandersetzen mußte, war auch eine Folge Moskauer Direktiven. Gelegentlich versuchte die Sowjetunion, „Überspitzungen“ in der Arbeit des Staatsapparates der DDR zu eliminieren. So wies die SKK die SED-Führung Ende 1951 an, „eine ganze Reihe ernster Fehler und Mängel“ in der Tätigkeit von Justiz, Polizei und Staatssicherheitsorganen zu beheben, weil sie „dem demokratischen Aufbau, der Gesetzlichkeit und der Rechtsordnung der DDR“ Schaden zufügten, in der Bevölkerung „eine gewisse Unzufriedenheit“ hervorriefen und „von der in-und ausländischen Reaktion im Kampf gegen die demokratischen Kräfte“ ausgenutzt werden würden

Solche und andere Beispiele werfen die oben schon angesprochene Frage nach dem Verhältnis von Sowjetisierung und sowjetischer Einflußnahme in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und in wichtigen, vor allem Krisen-Fällen immer wieder auf. So entwickelte sich die innere Situation der DDR vor allem infolge des Beschlusses über den forcierten Aufbau des Sozialismus im Juli 1952 und damit einhergehenden neuen Sowjetisierungen in einer das System destabilisierenden Weise, erweckte aber beim Politbüro den Eindruck der Notwendigkeit der Fortführung des harten Sozialismuskurses. Dieser Kurs zeitigte einen erhöhten Sowjetisierungsbedarf -man denke an den an sowjetischen Vorbildern orientierten Aufbau von Streitkräften und an die Umstrukturierungen im Sicherheits-und Verwaltungsapparat. Doch führte die UdSSR im Juni 1953 einen „Neuen Kurs“ herbei, der konzeptionell als eine Abbremsung des Tempos des sozialistischen Aufbaus angelegt war und in der Praxis auf eine Rücknahme verschiedener repressiver Maßnahmen abzielte. Dies aber kam praktisch einer Stornierung verschiedener Sowjetisierungsprozesse gleich. Es bedeutete nichts anderes als eine Abmilderung bzw. Verzögerung der Sowjetisierung durch eine ihr entgegenwirkende sowjetische politische Einflußnahme. Die Kurskorrektur war letztendlich taktischer Natur. So ist auch die Behauptung Semjonows, er habe seiner Regierung 1953 empfohlen, die Vormachtstellung der SED vorübergehend abzubauen und eine neue DDR-Regierung mit bürgerlichen Vorzeichen einzusetzen äußerst zweifelhaft. Nachzugehen wäre auch der Funktion von sowjetischen Direktiven als Alibi für SED-Politiker. Da sowjetische „Empfehlungen“ weder der Kontrolle noch der Kritik der Führung unterlagen, wurden sie von Ulbricht mit dem Hinweis auf.deren ausschließlichen Weisungscharakter für die eigene „Linie“ instrumentalisiert. So klagte Politbüromitglied Friedrich Ebert Anfang Juni 1953, die über Gespräche mit den Sowjets „berichtenden Genossen erweckten hier (im Politbüro, d. Verf.) sicher nicht ohne Absicht den Eindruck, daß es sich bei den Empfehlungen und Wünschen unserer Freunde um Weisungen handle, die sie in dieser oder jener Form zu verwirklichen wünschten“

Es bleiben also auch für den Führungszirkel der SED die Fragen bestehen, wer von der Sowjetisierung am meisten profitierte, in welchem Maße von ihr erhöhte Durchsetzungschancen für eigene Konzepte erwartet wurden und ob man Sowjetisierungsschübe nicht selbst veranlaßte bzw. provozierte.

Vor allem im geistig-kulturellen und im wirtschaftlichen Bereich scheinen unterschiedliche Interessen ostdeutscher und sowjetischer Politiker ein gewisses Konfliktpotential ergeben zu haben. So drängte die KPdSU Anfang der fünfziger Jahre auf eine Betonung des Nationalen in der innerdeutschen Auseinandersetzung, während sich die Führung der SED mehr „internationalistisch“ orientierte, d. h., von der „nationalen“ zu einer neuen sowjetisch geprägten Identität gelangen wollte. Lebte hier in der Führung der SED um Ulbricht zumindest in Krisensituationen die alte Perspektive eines Sowjetdeutschland aus der Zeit vor 1933 wieder auf? Die UdSSR benötigte ein patriotisch drapiertes Kontrastbild zur amerikanischen „Überfremdung“. Auch das zwang die SED zur „Rückbesinnung“ auf deutsche Traditionen Der sowjetische Impetus, die DDR gegenüber dem Westen als den eigentlich deutschen, selbstbestimmten Staat darzustellen, hatte Langzeitwirkungen. Auch später entstand bei vielen der Eindruck, daß die DDR doch der „deutschere“ Staat sei

Widersprüche bei der Sowjetisierung der Wirtschaft z. B. ergaben sich nicht zuletzt aus der Tatsache einer weitgehenden Ausrichtung der ostdeutschen Industrieproduktion auf sowjetische Bedürfnisse. Zwar mußte die Behandlung der DDR wirtschaftlich faktisch als eine Sowjetrepublik hingenommen werden, weil nur Moskau das ökonomische Überleben der DDR sichern konnte. Doch besaß die SED ein vitales Interesse am Handel mit dem Westen, speziell mit der Bundesrepublik. Dieser Warenverkehr bremste in gewissem

Maße nicht nur spezifische Sowjetisierungsprozesse ab, sondern wirkte auch den Eigengesetzen einer isolationistischen wirtschaftlichen Ostintegration in gewissem Umfang entgegen. Handfeste politische Differenzen zwischen den Führungen der SED und der KPdSU zeigten sich in einer zeitweilig zugespitzten Art in der Berlinkrise von 1958 bis 1963

VIII. Sowjetisierung von „oben“ versus „Verwestlichung von unten“

Einer Sowjetisierung deutscher Identität in der SBZ/DDR stand ein wichtiger weiterer Faktor entgegen: die Bundesrepublik. Kaum ein gesellschaftlicher Bereich in Ostdeutschland blieb von ihrer Politik unberührt, kaum eine Entscheidung von Politbüro und Regierung von ihr unbeeinflußt. Die Omnipräsenz der Bundesrepublik, ihr in politischen Entscheidungen der SED sichtbarer „Magnetismus“ stellten -zumindest bis zum Mauerbau -eine existentielle Bedrohung für die Herrschaft der SED dar und begrenzten deren politische Handlungsspielräume erheblich. Der Westen lieferte, im großen wie im kleinen, nicht nur die jeweils aktuelle Vergleichsgröße; für viele Menschen in der DDR geriet er zum Maßstab aller Dinge überhaupt.

Analysiert und bewertet man den Einfluß der Bundesrepublik und seine Wirkung, so läßt sich -gerade was die sozial-und alltagsgeschichtliche Entwicklung der DDR angeht -die Tendenz einer (relativen) „Verwestlichung“ der DDR-Gesellschaft feststellen. Diese „Verwestlichung von unten“, die Durchdringung von der Basis her, bildete als ein Entwicklungszug der DDR-Gesellschaft die wichtigste Gegentendenz zur Moskauer Penetrierung der DDR. Über das Medium Bundesrepublik vollzog die DDR-Bevölkerung -hier besonders die junge Generation der fünfziger Jahre -auch den amerikanischen Einfluß auf die westdeutsche Lebenswelt, auf Kultur, Lebensstil, Kunst und Mode, bedingt nach. Die Gesellschaft der Bundesrepublik gab auch ihre Erfahrung mit Amerika nach Osten -zumeist über Presse, Rundfunk und über den Besucherverkehr -weiter. Bis 1961 spielte dabei West-Berlin -vor allem für die der Stadt nähergelegenen Regionen -eine wichtige Rolle. Diese Tendenz zur „Verwestlichung von unten“ bremste das Tempo vor allem einer geistig-politischen Sowjetisierung ab. Dies schloß nicht aus, daß „Verwestlichung“ zumindest zeitweilig die Sowjetisierung indirekt beschleunigte, wenn die SED als Reaktion darauf ihren Gegenkurs forcierte. So zogen z. B. Elvis-Kult und Rock ’n’ Roll eine von vielen belächelte Offensive russischer Folklore und 1958 die Kreation eines nur mäßig begeisternden neuen Tanzes, des „Lipsis“ und die neuesten Errungenschaften westlicher Elektronik eine systematische Sputnik-Propaganda nach sich. Die SED nahm den Kalten Krieg in praxi zu einem Gutteil als den Widerstreit „Verwestlichung“ versus sozialistischen Aufbau wahr.

Der Widerspruch zwischen der von der ostdeutschen Bevölkerung getragenen Tendenz einer „Verwestlichung von unten“ und der „Sowjetisierung von oben“ geriet der SED zu dem vielleicht folgenreichsten geistigen Entwicklungsproblem der DDR. Ein großer Teil der Bevölkerung stand dem „fremden“ Gesellschaftssystem reserviert gegenüber, viele wiesen es vor allem gefühlsmäßig zurück. Insofern erhielt das Konzept der SED nach 1949, die antifaschistisch-demokratische bzw. sozialistische, d. h. sowjetisierte Ordnung auf Westdeutschland zu übertragen, eine zusätzliche illusionäre Dimension. Dazu trugen auch „hausgemachte“ Fehleinschätzungen der westdeutschen Entwicklung als „restaurativ“ bei. Modernisierungsprozesse im Westen wurden nicht erkannt bzw. geleugnet oder tendenziös umgedeutet. Allerdings darf die Resistenz weiter ostdeutscher Bevölkerungskreise gegenüber einer Sowjetisierung ihres Alltagslebens mit ihrer Haltung zum SED-Regime, das von vielen zwar als kommunistisch, aber doch als deutsch gesehen wurde, nicht gleichgesetzt werden. Viele Bürger der DDR sahen durchaus einen Unterschied zwischen den „Russen“ und der SED, der viele DDR-Deutsche zubilligten, unter sowjetischer Hegemonie nicht anders als von Moskau bestimmt handeln zu können.

IX. Die mißglückte Sowjetisierung: Kultur-und Alltagsleben in der SBZ/DDR

Die von der UdSSR und der SED aufwendig betriebene Sowjetisierung des Alltagslebens und der Kultur der DDR blieb im wesentlichen erfolglos. So stießen z. B. die Formen der öffentlichen Selbstdarstellung der DDR als „wirtschaftlich leistungsfähiger, sozial dem Westen überlegener, militärisch potenter Staat“ zunehmend auf Ablehnung. Sowjetisierung bedeutete hier die Übernahme von Symbolen, Stilmitteln und Inszenierungsformen, die dem politischen Habitus der sowjetischen Großmacht entlehnt waren. Es handelte sich vor allem um Gesten der Stärke, „etwa in Gestalt von Militärparaden; dem Aufmarsch von paramilitärischen Verbänden, der Betriebs-kampfgruppen und der Gesellschaft für Sport und Technik“. Die „Erfolgs-und Überlegenheitsrhetorik“, das Zelebrieren von Rekorden bei der Plan-erfüllung u. a. m. sollten nach innen und außen Siegeszuversicht, politische Überlegenheit und Abschreckung gegenüber den , Feinden des Sozialismus’ suggerieren Weniger monströs verlief der Versuch einer sowjetischen Penetrierung des kulturellen, insbesondere des Kunst-und literarischen Lebens in der SBZ/DDR. Interessant bleibt die Phase einer relativen Toleranz 1945/46, hier vor allem gegenüber Schriftstellern und Filmschaffenden. Im späteren „Leseland“ DDR lasen zwar viele Zeitgenossen mit Freude russische Klassiker und die Spitzenwerke der Sowjetliteratur -man diskutierte Scholochows „Der stille Don“ und Simonows „Die Lebenden und die Toten“ -und die Kinder begeisterten sich an den sowjetischen Märchenfilmen. Doch die ideologische Botschaft, daß die Sowjetunion und ihre Menschen ein nachzueiferndes Vorbild für die Deutschen seien, kam nicht an. Eine Sache, ein Kunstwerk, gefiel oder gefiel nicht. Eine Reihe sowjetischer Dramen und Filme begeisterte, viele andere erlebten -trotz aufwendiger Propaganda und des Engagements des „Kulturbundes“ sowie der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF) -leere Häuser und Kassen.

Die Propagierung der Sowjetkultur traf auch auf „hausgemachte“ Hindernisse. Die Verherrlichung Stalins -mit Grausen erinnern sich die Älteren an die „Stalin-Kantate“ Kubas (Text) und Forest’s (Musik) -, der 1951 eröffnete dogmatische Kampf gegen den „Formalismus“ und damit gegen Kunstwerke, die den Realismusvorstellungen und dem kleinbürgerlich-biederen Geschmack sowjetischer und ostdeutscher Funktionäre nicht entsprachen oder in den Verdacht „dekadenter“ amerika-nischer Machart gerieten stieß kritische Zeitgenossen ab. Die vor allem den Jugendlichen in der DDR angebotenen sowjetischen Idole wurden nur in den seltensten Fällen angenommen. So gab der zwar tendenziöse, aber literarisch gute Roman Nikolais Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“ mit seiner Heroisierung von Aufbauleistungen und eines bis in die Selbstaufgabe getriebenen kommunistischen Enthusiasmus für viele der „FDJ-Generation“ durchaus eine „moralische Richtschnur“ ab

In der Tat könnte man die Geschichte der Sowjetisierung in der DDR auch „anhand der Rekonstruktion der Entwicklung des Literaturimports aus der Sowjetunion nachzeichnen“ Dabei stößt der Interessierte nicht nur auf zeitbedingte methodische Fragen einer geistigen Sowjetisierung, sondern auch auf das prinzipielle Problem einer Klärung des Verhältnisses der DDR-Bevölkerung zur Sowjetunion

X. Schlußbemerkungen

In erheblichem Maße assoziierten die Begriffe „Stalin“, „Sowjetunion“, „Russen“ oder „sowjetische Befreier“ Gewaltherrschaft, Verhaftungen, Verschleppungen, Lager und Rückständigkeit. Während viele Deutsche in Amerika das Moderne an sich, Freiheit und Wohlstand, schlicht etwas sahen, dem nachzueifern sei, wurde das von der SED propagierte Vorbild Sowjetunion von den meisten nicht angenommen. Für viele war es das Gegenstück zu Amerika: unmodern, arm, „asiatisch“. Alte, nie überwundene Feindbilder lebten auf. Dieser sehr emotionale Antisowjetismus ließ Differenzierungen kaum zu. Ein wirkliches gegenseitiges Kennenlernen von sowjetischen und ostdeutschen Bürgern blieb weitgehend aus. Dazu trug die Praxis des bürokratisierten und gelenkten Reiseverkehrs bei, die private Kontakte behinderte. So führt indifferentes bis prosowjetisches Handeln wieder zu der Frage, warum verschiedene politische und soziale Gruppen in der DDR die

Sowjetisierung tolerierten bzw. sie begrüßten. Inwiefern taten das die Aktiven unter ihnen in dem Bewußtsein, daß das Sowjetsystem, dessen „kleine Fehler“ man eben hinnehmen müsse, den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentiere und für eine Erneuerung Deutschlands unverzichtbar sei?

Insgesamt erwies sich das Verhältnis der DDR-Deutschen zu ihrer Hegemonialmacht „als eine recht sperrige Konstellation von Nähe und Distanz, von Unterordnung, Kooperation und Konflikt, von Heuchelei und ehrlichem Aufeinanderzugehen, von Ablehnung und Akzeptanz“ Doch obsiegte die Ablehnung über die Akzeptanz. Im Alltag verweigerten viele DDR-Bürger ihre Teilnahme an prosowjetischen Veranstaltungen oder nahmen Pflichtaktionen nur formal -durch bloße Anwesenheit -wahr. Die Aversion gegen das „Russische“ schloß vor allem in den fünfziger Jahren bei vielen jungen Menschen auch einen hinhaltenden Widerstand gegen das Erlernen der russischen Sprache ein. Russischunterricht war obligatorisch; man „lernte“ diese Sprache zwar über viele Jahre -und lernte sie doch nicht.

Während die staatlichen und gesellschaftlichen Gremien und Instanzen das Vorbild Sowjetunion mit aller Kraft und großem Aufwand propagierten, wandte sich die Mehrzahl der Menschen in der DDR in eigener Initiative der öffentlich verteufelten westlichen Massenkultur zu oder zog sich auf das individuelle Kultur-und Kunsterlebnis zurück.

Die Begriffe „Sowjetisierung“ und „Amerikanisierung“ als verschiedene Synonyme wurden schon in den fünfziger Jahren von der deutschen Bevölkerung negativ, z. T. verächtlich verwandt. Sie wiesen daraufhin, daß die Einflüsse der UdSSR, und bedingt auch der USA, als Versuch einer Fremdbestimmung des deutschen Alltagslebens, von Kultur, Mode, Lebensweise u. a. m„ gewertet und von vielen Deutschen zurückgewiesen wurden. Die nachhaltigen geistigen Wirkungen von Antisowjetismus und Antiamerikanismus zeigen, daß verschiedene Bevölkerungskreise in beiden deutschen Staaten konfrontative Argumente und Aversionen zum Teil tief verinnerlicht hatten.

Ein Vergleich verweist jedoch auf den Unterschied. Die vorrangig im Kulturellen und im Alltag sichtbare „Amerikanisierung“ wurde von den meisten Deutschen als ein „Import“ auf weitgehend freiwilliger Basis interpretiert, die „Sowjetisierung“ hingegen vorrangig als ein nichtgewollter Export Moskaus. Diese durch spezielle Untersuchungen zu erhärtende oder einzuschränkende Aussage bezieht sich in erster Linie auf die fünfziger Jahre, die hier im Vordergrund der Betrachtung standen. Denn später, nach dem Mauerbau von 1961, begannen sich viele DDR-Deutsche mit den sozialistischen Verhältnissen abzufinden und sich in der DDR einzurichten. In der DDR leben, hieß eben auch, mit den Ergebnissen einer langjährigen Sowjetisierung zu leben. Doch nicht nur Gewöhnung spielte eine Rolle. Am Ende der fünfziger Jahre flaute die Sowjetisierung deutlich ab. Die „Entstalinisierung“ 1956 hatte verschiedene ihrer Prinzipien in Frage gestellt. Und es bleibt auch ein interessantes Forschungsproblem, ob und inwiefern Ergebnisse und Folgen von Sowjetisierungsprozessen rückgängig gemacht wurden oder sich im Alltag selbst abbauten, während sich die sowjetische politische Einflußnahme auf die DDR in der Ära Breschnew eher verstärkte. Einer weiteren Klärung bedürfen auch die Fragen, inwiefern die Sowjetisierung eine Form der „Modernisierung“ der Gesellschaft in der SBZ/DDR darstellte und von deren politischen Eliten als eine solche wahrgenommen wurde. Das Problem von möglichen Langzeitwirkungen der Sowjetisierung bleibt bestehen. Hinterließen sie vor allem im mentalen Bereich Spuren? Mit einiger Sicherheit läßt sich abschließend doch eine Aussage treffen: Eine von der UdSSR und von der Führung der SED gewünschte Sowjetisierung von Kultur und Alltag in der DDR ließ sich nicht durchsetzen. Ein Identitätswandel der Deutschen in diesem Land fand insgesamt nicht statt. Hinweise der Redaktion:

Aufgrund eines redaktionellen Versehens enthält in dem Artikel von Professor Dietmar Kahsnitz: Politische Bildung: Ohne Krisenbewußtsein in der Krise, Heft B 47/96, S. 23, rechte Spalte, der letzte Satz eine Passage, die nicht vom Autor stammt. Dieser Satz muß richtig lauten: „So haben z. B. unzureichende bildungs-und gesellschaftstheoretische Begründungen, Inkonsistenzen und Vagheiten der Didaktik der politischen Bildung wesentlich zu ihrem Reputationsverlust beigetragen.“

Die in dem Heft B 47/96 veröffentlichte Dokumentation des „Darmstädter Appells“ ist -wie auch andere Materialien zur politischen Bildung -kostenlos erhältlich bei der Schader-Stiftung, Karlstraße 85, 64285 Darmstadt, Fax: (0 61 51) 17 59 25.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu die Überlegungen von Jan Foitzik, Sowjetische Hegemonie und Kommunismus in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37-38/96, S. 29-37, hier besonders S. 36.

  2. Vgl. u. a. Michael Reimann „Sowjetisierung“ und nationale Eigenart in Ostmittel-und Südosteuropa. Zu Problem und Forschungsstand, in: Hans Lemberg (Hrsg.), unter Mitwirkung von Karl von Delhaes u. a., Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, Limburg/Lahn 1991, S. 3; Hans Lemberg, Sowjetisches Modell und nationale Prägung: Resümee einer Diskussion, in: ebd., S. 357-366; Georg von Rauch, Sowjetrußland von der Oktoberrevolution bis zum Sturz Chruschtschows 1917-1964, in: Handbuch der europäischen Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder, Bd. 7, Stuttgart 19922, S. 481-521; Ernst Birke/Rudolf Neumann (Hrsg.), Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas. Untersuchungen zu ihrem Ablauf in einzelnen Ländern, hrsg. im Auftrag des Johann Gottfried-Herder-Forschungsrates, Frankfurt/M. 1959.

  3. „Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970“. Veranstalter der Konferenz in Berlin waren die Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte der FU Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Am Potsdamer Zentrum beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe mit dem Thema: „Die SBZ/DDR zwischen Sowjetisierung und Eigenständigkeit 1945-1963“.

  4. Konrad H. Jarausch/Hannes Siegrist (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt a. M. 1997, S. 12 f.

  5. Vgl. Ludolf Herbst, Option für den Westen. Vom Marshallplan zum deutsch-französischen Vertrag, München 1989, S. 46 f.; Josef-Hermann Rupieper, Amerikanisierung in Politik und Verwaltung Westdeutschlands. Ein problematisches Konzept, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 49-65.

  6. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, in: Ludolf Herbst u. a. (Hrsg.), Vom Marshallplan zur EWG, München 1990, S. 612.

  7. Nach dem endgültigen Scheitern des Grotewohl-Vorschlags zur Bildung eines Gesamtdeutschen Konstituierenden Rates im Frühjahr 1951 verfolgte Ulbricht einen auf den Sturz Adenauers gerichteten konfrontativen Kurs gegenüber der Bundesrepublik, der eher die Absicht einer gewollten Fortführung des deutschen Spaltungsprozesses als den Willen zur „Annäherung“ beider deutscher Staaten erkennen ließ. Die Politik der „allseitigen Stärkung“ der DDR nahm schärfere Konturen an. Während die Einheit nach außen weiterhin als Hauptziel propagiert wurde, lehnte Ulbricht deren in der Moskauer Führung bereits favorisierten Verwirklichungsmechanismus -die Neutralität -ab. Noch im November 1951 erklärte er im Parteivorstand der KPD: „Ihr wißt sehr gut, daß wir keine Anhänger der Neutralität sind.“ Vgl. Stenogr. Niederschrift der 2. Parteivorstandssitzung der KPD, 9. -11. 11. 1951, in: Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), Zentrales Parteiarchiv (ZPA), IV 2/10. 03/237. Bl. 98 f.

  8. Die vor allem von Wolfram Hanrieder und James N. Rosenau beschriebenen Merkmale eines durch äußere Einschränkungen penetrierten System lassen sich offenbar weitgehend auch bei der Sowjetisierung der SBZ/DDR nachweisen. Vgl. Wolfram Hanrieder, West German Foreign Policy. Stanford 1967, S. 230, und James N. Rosenau. The Scientific Study of Foreign Policy, Revised and Enlarged Edition, London 1980, S. 137-169.

  9. Vgl. dazu exemplarisch die Geschichte der Arbeiterbewegung in acht Bänden, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, hier Band 1, Berlin 1966, Vorwort, S. 24-40.

  10. Vgl. Rede Grotewohls auf der 23. (37.) Tagung des Parteivorstandes der SED, 9. 10. 1949, in: SAPMO-BArch, ZPA, IV 2/1/38, Bl. 17.

  11. Vgl. Hermann Weber, Die Geschichte der frühen SED. Überlegungen gestern und heute, in: Gisela Helwig (Hrsg.), Rückblicke auf die DDR, Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle, Köln 1995, S. 17 f.

  12. Vgl. Merkblatt der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK), undatiert, offenbar Ende Juni 1953, in: SAPMO-BArch, NL 90/303, Bl. 354.

  13. Vgl. Arnd Bauerkämper, Amerikanisierung und Sowjetisierung in der Landwirtschaft. Zum Einfluß der Hegemonialmächte auf die deutsche Agrarpolitik von 1945 bis zu den frühen sechziger Jahren, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 198 f.

  14. Vgl. ebd., S. 203 f.

  15. Ebd., S. 206.

  16. Vgl. Referat Grotewohls vor der ostdeutschen Ministerkonferenz, 13. 3. 1949, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/142, Bl. 40.

  17. Vgl. Manuskript der Rede Grotewohls für das 21. Plenum des ZK der SED, 14. 11. 1954, in: ebd., NL 90/195, Bl. 40.

  18. Vgl. Monika Kaiser, Die Zentrale der Diktatur -organisatorische Weichenstellungen, Strukturen und Kompetenzen der SED-Führung in der SBZ/DDR 1946 bis 1952, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung, Aufsätze und Studien, Potsdam 1993, S. 75-77.

  19. Vgl. Nomenklatur-Entwurf des ZK und Listen der Staatlichen Stellenplankommission, 29. 3. 1953, in: SAPMO-BArch, ZPA, NL 90/431, Bl. 27-55.

  20. Vgl. Besprechungen Piecks und Ulbrichts mit der SKK (Tschuikow, Iljitschow. Kowal), 4. 2. und 14. 2. 1950, in: ebd., NL 36/736, Bl. 50 f.

  21. Vgl. Stephan Merl, Sowjetisierung in der Welt des Konsums, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 167-194.

  22. Vgl. Beschluß des Politbüros, Protokoll 75/50, 7. 3. 1950, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/75, Bl. 4.

  23. Vgl. Johannes L. Kuppe, Die DDR und die nicht-sozialistische Welt. Ein Essay zur Außenpolitik der SED, in: G. Helwig (Anm. 11), S. 175-182.

  24. Ludolf Herbst, Die DDR und die wirtschaftliche Integration des Ostblocks in den sechziger Jahren, in: Christoph Buchheim (Hrsg.), Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR, Berlin 1995, S. 379.

  25. Ebd., S. 380.

  26. Beschluß des Politbüros, Protokoll 93/50, 6. 5. 1950, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/93, Bl. 11.

  27. Beschluß des Politbüros der SED, „Antrag an das Präsidium des ZK der KPdSU“, Protokoll 10/54, 19. 2. 1954, Bl. 1 und Anlage 1, Bl. 3-7, in: ebd., JIV 2/2/348.

  28. Vgl. Sitzung des Politbüros, Anlage 6 zum Protokoll 16/53, 17. 3. 1953, in: ebd., J IV 2/2/270, Bl. 37.

  29. Monika Kaiser, Sowjetischer Einfluß auf die ostdeutsche Politik und Verwaltung 1945-1970, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 121.

  30. Vgl. Besprechung Piecks und Ulbrichts mit der SKK (Tschuikow, iljitschow, Kowal), 4. 2. und 14. 2. 1950, in:

  31. Merkblatt der SKK, offenbar vom 10. 10. 1953, in: ebd., Bl. 228.

  32. Vgl. Schreiben Piecks an Ulbricht mit Bezug auf die Vorschläge Semjonows, 15. 6. 1950, in: ebd., NL 36/658, Bl. 38.

  33. Als „streng geheim“ eingestuftes Direktivenpapier, undatiert, höchstwahrscheinlich von Mitte November 1951, in: ebd., NL 90/301, Bl. 73.

  34. Vgl. Wilfried Loth, Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 205.

  35. Sitzung des Politbüros, 6. 6. 1953, Anlage zum Protokoll 33/53, in: SAPMO-BArch, ZPA, J IV 2/2/287, Bl. 16.

  36. Vgl. Bericht Hermann Materns an die 7. Tagung des ZK der SED „über die Ergebnisse der Überprüfung der Parteimitglieder und Kandidaten“, 18. -20. 10. 1951, in: ebd., IV 2/1/50, Bl. 7.

  37. Vgl. Martin Greifenhagen/Sylvia Greifenhagen, Eine Nation: Zwei politische Kulturen, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation -doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 32.

  38. Vgl. Michael Lemke, Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995, S. 149-158, 173-186, 207-215.

  39. Vgl. Uta G. Poiger, Rock ’n'Roll, Kalter Krieg und deutsche Identität, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 281.

  40. Jürgen Danyel, Politische Rituale als Sowjetimporte, in: ebd., S. 74.

  41. Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, Köln 1994, S. 30.

  42. Vgl. ebd., S. 34-44.

  43. Evemarie Badstübner-Peters, Ostdeutsche Sowjetunionerfahrungen. Ansichten über Eigenes und Fremdes in der Alltagsgeschichte der DDR, in: K. H. Jarausch/H. Siegrist (Anm. 4), S. 308.

  44. Siegfried Lokatis, Sowjetisierung und Literaturpolitik, in: ebd., S. 369.

  45. Vgl. Simone Barck, Die fremden Freunde. Historische Wahrnehmungsweisen deutsch-sowjetischer Kulturbeziehungen in der SBZ 1948/1949, in: ebd., S. 336.

  46. E. Badstübner-Peters (Anm. 42), S. 294.

Weitere Inhalte

Michael Lemke, Dr. phil. habil., geb. 1944; Studium der Geschichte und Germanistik in Potsdam; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR; jetzt am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Die deutschlandpolitischen Handlungsspielräume der SED innerhalb der sowjetischen Deutschlandpolitik der Jahre 1949-1955; in: Gustav Schmidt (Hrsg.), Ost-West-Beziehungen, Bochum 1983; CDU/CSU und Vertragspolitik der Bundesrepublik Deutschland 1969-1975. Kontinuität und Wandel christdemokratischer Ost-und Deutschlandpolitik, Saarbrücken 1992; Die DDR und die deutsche Frage 19491955, in: Wilfried Loth (Hrsg.), Die deutsche Frage in der Nachkriegszeit, Berlin 1994; Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im Ost-West-Konflikt, Berlin 1995.