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Der Jugoslawien-Konflikt als Testfall europäischer Sicherheit | APuZ 29/1997 | bpb.de

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APuZ 29/1997 Zum äußeren und inneren Frieden. Kann die heutige Demokratie den Gefahren der Zukunft standhalten? Die Zukunft der deutschen Streitkräfte Warum wir die Wehrpflicht (noch) brauchen Der Jugoslawien-Konflikt als Testfall europäischer Sicherheit

Der Jugoslawien-Konflikt als Testfall europäischer Sicherheit

Carsten Giersch

/ 34 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit den Kriegen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina war zwischen 1991 und 1995 der schlimmste anzunehmende Fall ethnisch-territorialer Konflikte in Europa eingetreten. Die militärische Expansionspolitik Serbiens stellte eine außerordentliche Herausforderung für die multilateralen Institutionen dar, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine Neubestimmung ihrer künftigen sicherheitspolitischen Rolle vornahmen. OSZE, EU, UNO und NATO bildeten den Rahmen für die internationale Jugoslawien-Politik. In ihrem Namen ist zwar ein breites Spektrum von Interventionsformen zur Anwendung gekommen. Die multilaterale Zusammenarbeit in und zwischen den Institutionen führte jedoch nicht zur gemeinsamen Entwicklung einer wirksamen Strategie zur Konfliktregulierung, mit der eine rasche Beendigung der Gewalt sowie konstruktive politische Lösungen hätten durchgesetzt werden können. Die OSZE vollzog bis 1994 einen umfassenden Prozeß der Institutionalisierung und führte innovative Mechanismen zur Konfliktprävention ein. Als Organisation kooperativer Sicherheit spielte sie jedoch im Jugoslawien-Konflikt nur eine begrenzte Rolle. Die EU hat bei ihren Vermittlungsbemühungen nicht den Beweis der Fähigkeit zu einer konzeptionellen und konsequenten Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) erbracht. Der UN-Sicherheitsrat, verantwortlich für die Wahrung des Weltfriedens, beschloß zwar eine Reihe von wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen, verweigerte der bosnischen Regierung aber die Hilfe zur Selbstverteidigung. Die unparteiisch durchgeführten UN-Blauhelmoperationen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina leisteten keinen Beitrag zur Konfliktregulierung. Die NATO übernahm unter der Ägide der UNO militärische Aufgaben bei der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats, stellte damit jedoch ihre eigene Handlungsfähigkeit in Frage. Am Ende wurden die Konflikte in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina militärisch entschieden, und die Friedenslösungen sind unbefriedigend ausgefallen. Nachdem der Jugoslawien-Konflikt gezeigt hatte, daß ein System kollektiver Sicherheit in Gesamteuropa kaum zu erreichen ist, bleibt das Sicherheitsmodell regionaler Integration durch die Erweiterung von NATO und EU die einzige realistische Alternative.

Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris der Friedensvertrag für Bosnien und Herzegowina unterzeichnet. Damit endete vorläufig der langjährige und opferreiche Krieg in Jugoslawien, der im Juni 1991 mit der gewaltsamen Intervention der Jugoslawischen Volksarmee (JVA) gegen die Unabhängigkeitserklärungen der Teilrepubliken Slowenien und Kroatien begonnen hatte. Zuvor waren Verhandlungen über eine Reform der föderalen Staatsstruktur gescheitert. Die Führung Serbiens unter Präsident Milosevic hatte dabei erfolglos den Standpunkt vertreten, daß bei einer Auflösung der jugoslawischen Föderation die außerhalb der Mutterrepublik lebenden Serben das Recht auf Selbstbestimmung hätten. In Kroatien und ab April 1992 auch in Bosnien-Herzegowina wurde daraufhin der Anschluß serbisch besiedelter Gebiete mit militärischen Mitteln verfolgt. Die Regierung in Zagreb unter Präsident Tudjman erhob ihrerseits Ansprüche auf die mehrheitlich kroatische Herzegowina, so daß bei der drohenden Teilung Bosnien-Herzegowinas lediglich ein muslimischer Rumpfstaat verblieben wäre.

In Kroatien und Bosnien-Herzegowina war der schlimmste anzunehmende Fall einer Eskalation ethnisch-territorialer Konflikte eingetreten. Die Rückkehr des Krieges nach Europa und planmäßige „ethnische Säuberungen“ zur exklusiven nationalen Kontrolle von Territorium stellten eine außerordentliche Herausforderung an die Staatengemeinschaft dar Die schier endlose Verzögerung eines entschlossenen Eingreifens hat nicht nur zu einer unnötig langen Dauer des Krieges, sondern auch zu höchst unbefriedigenden Ergebnissen geführt. Die internationale Jugoslawien-Politik war gekennzeichnet von einer Kette von Fehl-

Wahrnehmungen der Konfliktstrukturen, von unzureichenden politischen Konzepten der Konfliktlösung sowie vom unangemessenen Einsatz der zur Verfügung stehenden Instrumente der Konfliktintervention Der Jugoslawien-und Militärexperte James Gow hat hierfür in seiner jüngst erschienenen Untersuchung vor allem den fehlenden politischen Willen der Regierungen der maßgeblichen Großmächte verantwortlich gemacht

Den Rahmen für die internationale Jugoslawien-Politik gaben die Institutionen europäischer Sicherheit ab. Im Namen der Organisation für Sicherheit und Zuammenarbeit in Europa (OSZE), der Europäischen Union (EU), der Vereinten Nationen (UNO) und der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) ist zwar ein beachtlich breites Spektrum von Interventionsformen zur Anwendung gekommen. Offenbar hat jedoch die multilaterale Zusammenarbeit in und zwischen den Institutionen nicht dazu geführt, gemeinsam eine wirksame Strategie zur Konfliktregulierung zu entwickeln, mit der eine rasche Beendigung der Gewalt und konstruktive politische Lösungen hätten durchgesetzt werden können. Für diese internationalen Organisationen, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts allesamt auf der Suche nach ihrer neuen sicherheitspolitischen Rolle befanden, galt der Jugoslawien-Konflikt als Testfall ihrer Leistungsfähigkeit. Es ist ein kaum zu übersehendes Paradoxon, daß ausgerechnet während der Diskussion über die Gestalt der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur militärisehe Gewalt auf dem Balkan so ungehemmt entfesselt werden konnte.

Nachstehend soll daher ein Überblick zur Rolle der OSZE, der EU, der UNO und der NATO im Jugoslawien-Konflikt gegeben werden, wobei der Kontext wichtiger institutioneller Reformprobleme zu beachten ist Nach einer knappen Charakterisierung der begrenzten Rolle der OSZE folgt eine Bewertung der erfolglosen Vermittlungsbemühungen der EU. In diesem Zusammenhang ist anschließend die außerinstitutionell agierende Großmächte-Kontaktgruppe zu betrachten. UNO und NATO werden wegen ihrer engen Verbindung bei der Anwendung militärischer Sanktionen zusammen behandelt. Abschließend wird noch kurz auf die veränderten Konstellationen einzugehen sein, die zum Friedensschluß von Dayton führten

Die begrenzte Rolle der OSZE

Die KSZE mit ihrem den atlantischen und eurasischen Raum umfassenden Kreis von Teilnehmer-staaten durchlief von der Verabschiedung der „Charta von Paris für ein neues Europa“ im November 1990, der die Institutionalisierung der „Konferenz“ einleitete, bis zum Budapester Gipfeltreffen im Dezember 1994, auf dem die Umbenennung in „Organisation? (OSZE) erfolgte, einen erstaunlichen Entwicklungsprozeß Am rechtlichen Status änderte sich wegen des weiterhin fehlenden Gründungsvertrags dadurch nichts, und die im Rahmen von KSZE/OSZE eingegangenen Verpflichtungen sind mit Ausnahme des Vergleichs-und Schiedsverfahrens völkerrechtlich unverbindlich Insbesondere im Bereich der Menschenrechte wurden aber eine Reihe von Innovationen eingeführt, welche die OSZE zur präventiven Diplomatie auch in ethnischen Konflikten befähigen. Neben der Entsendung von Beobachtermissionen in Teilnehmerstaaten ist als beachtli-eher Fortschritt zur Frühwarnung die Einrichtung des Amtes des „Hohen Kommissars für nationale Minderheiten“ zu werten, der auf eigene Veranlassung rechtzeitig mit vermittelnden „Guten Diensten“ aktiv werden kann Auch die Verwirklichung des sogenannten Stabilitätspakts -das von der Europäischen Union initiierte Netzwerk bilateraler Nachbarschaftsverträge zwischen den osteuropäischen Staaten zur Garantie bestehender Grenzen und zur Regelung von Minderheitenrechten -ist der OSZE übertragen worden.

Als Institution kooperativer Sicherheit fehlen der OSZE jedoch weiter gehende Sanktionsmittel, um nach dem Ausbruch bewaffneter Konflikte ihre Vermittlungsbemühungen durch effektiven Druck auf die Konfliktparteien verstärken zu können. So hat die OSZE bei der internationalen Regulierung des Jugoslawien-Konflikts nur eine marginale Rolle gespielt. Nach Ausbruch des Krieges in Slowenien und Kroatien übernahm die EG die Vermittlungsinitiative, wobei die damalige KSZE quasi als Legitimationsrahmen diente. Auch nahm eine Reihe von Vertretern aus KSZE-Ländern an der Beobachtermission der EG zur Überwachung von Waffenstillstandsvereinbarungen in Kroatien teil. Eigene Beobachtermissionen der KSZE, die zur Erkundung der Lage in die sechs jugoslawischen Republiken im Dezember/Januar 1991/92 entsandt wurden, haben die internationale Gemeinschaft offenbar nicht veranlaßt, gegenüber dem eskalierenden Konflikt in Bosnien-Herzegowina gewaltabschreckende Maßnahmen zu entwikkeln. Die Verantwortung für den Krieg in Bosnien-Herzegowina seit April 1992 wurde im KSZE-Rahmen aber eindeutig Belgrad und der Jugoslawischen Volksarmee angelastet, mit der Folge, daß Restjugoslawien (Serbien und Montenegro) schließlich am 8. Juli 1992 vom KSZE-Gipfeltreffen in Helsinki ausgeschlossen wurde.

Zugleich liefen Vorbereitungen zur Entsendung von Langzeitmissionen in die ethnischen Spannungsgebiete in Serbien, in den mehrheitlich von Albanern besiedelten Kosovo, in die Vojvodina mit einer ungarischen Minderheit und in den Sandjak mit einer muslimischen Minderheit Im Hinblick auf die dazu erforderliche Kooperation mit Belgrad bahnte sich allerdings ein Widerspruch zu den diplomatischen Sanktionen der KSZE an. Zwar konnten die Missionen ihre Tätigkeit ab September 1992 in den betreffenden Gebieten zunächst aufnehmen, doch nachdem die Suspendierung Restjugoslawiens von der KSZE aufrechterhalten wurde, weigerte sich die serbische Regierung Ende Juni 1993, einer Verlängerung der Beobachtertätigkeit zuzustimmen. Präventive Diplomatie ist ohne Zustimmung des Ziellandes nicht möglich, und damit war die KSZE-Haltung gegenüber Serbien, zumindest was die Beobachtung der Lage der Minderheiten in dieser Republik anging, kontraproduktiv.

Vor diesem Hintergrund erschien es auch nicht unbedenklich, daß mit den Langzeitmissionen zugleich die Beteiligung der KSZE an der Durchsetzung der von den Vereinten Nationen verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Restjugoslawien begann. In Zusammenarbeit mit der EG entsandte die KSZE „Sanctions Assistance Missions" in die Nachbarstaaten Albanien, Bulgarien, Ungarn und Rumänien, nach Kroatien und Mazedonien sowie in die Ukraine. Die Sanktionsbeobachter sollten die lokalen Behörden bei der Überwachung der Einhaltung des Embargos beraten. Den KSZE-Missionen ist zu bescheinigen, daß ihre Präsenz die internationale Isolation Serbiens verdeutlichte und zur insgesamt doch beachtlichen Wirksamkeit der Sanktionen beigetragen hat.

Dennoch bleibt die Mitwirkung an der Durchführung konfrontativer Maßnahmen der Konfliktregulierung aus grundsätzlicher Sicht problematisch. Die Stärke der OSZE liegt letztlich in einem kooperativen Politikansatz. Ihren „Guten Diensten“ wird sich ein Zielland eher öffnen, wenn keine ernsthaften Repressalien zu erwarten sind. Es wäre daher zu bedenken, ob angesichts der Möglichkeiten der OSZE hauptsächlich im Bereich der präventiven Diplomatie die Anwendung schärferer Sanktionsmaßnahmen nicht grundsätzlich den internationalen Organisationen Vorbehalten bleiben sollte, die auch über das entsprechende Potential verfügen -also der EU, der UNO und der NATO. Dies gilt insbesondere für die Frage eines Einsatzes von Friedenstruppen im Rahmen der OSZE.

Gegen eine mögliche Ausweitung des Jugoslawien-Konflikts auf Mazedonien mit seiner albanischen Minderheit, die schlimmstenfalls einen großen Balkankrieg durch die Involvierung der Nachbar-staaten hätte bedeuten können, entsandte die KSZE auf der Grundlage einer Vereinbarung mit der Regierung in Skopje im November 1992 eine sogenannte „Spillover-Mission“. Zusammen mit den an die Grenze zu Serbien und Albanien Anfang 1993 entsandten UN-Friedenstruppen und der amerikanischen Interventionsdrohung für den Fall einer Konfliktausdehnung hat die Beobachter-mission sicherlich zur Stabilisierung Mazedoniens beigetragen. Bemerkenswert ist, daß die Republik wegen einer griechischen Blockade ihrer Anerkennung noch nicht der KSZE angehörte.

Ausgerechnet der Budapester OSZE-Gipfel im Dezember 1994, der vorläufige Höhepunkt des Institutionalisierungsprozesses, zeigte, wie störanfällig die Kooperation in der einzigen gesamteuropäischen Organisation weiterhin war. Bei der Diskussion über unterschiedliche Modelle europäischer Sicherheit stießen russische Vorstellungen einer Aufwertung der OSZE zur zentralen Sicherheitsorganisation auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrags mit dem Vorhaben der NATO-Erweiterung zusammen, wobei die Allianz mit ihrer im Januar 1994 aufgelegten „Partnerschaft für den Frieden“ zugleich ein eigenes Programm sicherheitspolitischer Zusammenarbeit mit den Staaten des OSZE-Raumes initiiert hatte. Vor dem Hintergrund gegenseitigen Mißtrauens kam keine entschiedene Erklärung zum Bosnien-Krieg mehr zustande. Der rücksichtslose Militäreinsatz Rußlands gegen die abtrünnige Republik Tschetschenien seit dem 11. Dezember 1994 machte den in Budapest verabschiedeten „Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit“ innerhalb weniger Tage zu Makulatur.

Das Scheitern der Vermittlungsbemühungen der Europäischen Union

Die EG/EU hat im Verlauf des Jugoslawien-Konflikts nicht den Beweis ihrer Fähigkeit zu einer geschlossenen und effektiven Außen-und Sicherheitspolitik erbracht. Die traditionellen Schwächen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) waren bekannt, als die Mitgliedstaaten 1991 neben der Bildung einer Wirtschafts-und Währungsunion auch die Konturen einer Politischen Union berieten Zwar bestand mit dem Politischen Komitee der Politischen Direktoren der Außenministerien, den Arbeitsgruppen und den europäischen Korrespondenten ein dichtes Netzwerk von Arbeitsbeziehungen. Die EPZ hatte jedoch ihren intergouvernementalen Charakter behalten. Die nationale Strukturierung der Wil10 lensbildung erschwerte aber die vorausschauende konzeptionelle Entwicklung gemeinsamer Positionen gegenüber Krisensituationen. Die Optionen einer operativen europäischen Außenpolitik wurden wiederum zum einen durch die Widerstände begrenzt, die einige Mitgliedstaaten der Zusammenführung der bereits durch den EWG-Vertrag vergemeinschafteten Außenwirtschaftspolitik mit der EPZ entgegensetzten, so daß die geschlossene Anwendung von Handelssanktionen die Ausnahme blieb. Zum anderen verfügte die EG über kein militärisches Instrumentarium, weil die Westeuropäische Union (WEU) in der Zeit des Kalten Krieges gegenüber der NATO ein Schattendasein führte.

Auch der im Dezember 1991 in Maastricht verabschiedete Vertrag über die Europäische Union hat ungeachtet der Umbenennung der EPZ in Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) an den bestehenden Strukturen kaum etwas geändert. Und das, obwohl der 1991 von der Krise zum Krieg eskalierende Jugoslawien-Konflikt die Dringlichkeit einer machtgestützten europäischen Ordnungspolitik praktisch vor Augen führte. Die GASP wurde nicht vergemeinschaftet und stand als eigene Säule -wie auch die Zusammenarbeit in der Justizpolitik -neben der Wirtschaftsgemeinschaft. Die WEU blieb institutionell getrennt und sollte nicht zum militärischen Arm der Europäischen Union werden. Weniger erstaunlich als die starke Beschränkung möglicher Mehrheitsentscheidungen bei der GASP auf Ausführungsbestimmungen -selbst da versehen mit Ausstiegs-klauseln -war der Verzicht auf weiter reichende organisatorische Verbesserungen zur außenpolitischen Planung und zur Entwicklung von Handlungsoptionen. Das hätte keineswegs bedeuten müssen, der Europäischen Kommission, die im Bereich des EG-Vertrags über das Initiativrecht verfügt, auch die Kompetenz für die Vorbereitung der GASP zuzuerkennen. Naheliegender wäre es gewesen, das EPZ-Sekretariat, das bis dahin der administrativen Unterstützung der halbjährlich wechselnden EG-Präsidentschaft diente, in eine zentrale Analyse-einrichtung umzuformen. Unter der Leitung eines Generalsekretärs wäre es so möglich geworden, die unterschiedlichen nationalen Sichtweisen durch eine sachkundige, eigenständige und europäische Perspektive gegenüber außenpolitischen Herausforderungen zu ergänzen. Leider haben nicht die Anforderungen einer strategischen Konfliktregulierung im ehemaligen Jugoslawien, sondern erst die außerordentlichen Fehlschläge der Europäischen Union bei ihrer kraftlosen Vermittlungspolitik dazu geführt, daß die Staats-und Regierungschefs bei ihrem Amsterdamer Gipfeltreffen zur EU-Vertragsreform am 16. /17. Juni 1997 nunmehr die Einrichtung einer „Strategieplanungs-und Frühwarneinheit“ beschlossen.

Die EG wirkte im Frühjahr 1991 mit ihrem dogmatischen Festhalten an der Einheit der jugoslawischen Föderation nicht gerade abschreckend gegen eine drohende Intervention der Jugoslawischen Volksarmee in den nach Unabhängigkeit strebenden Republiken Slowenien und Kroatien. Als die Krise Ende Juni tatsächlich gewaltsam eskalierte, beanspruchte die Gemeinschaft den Vorrang in der internationalen Jugoslawien-Politik und erzielte zunächst hinsichtlich des Rückzugs der JVA aus Slowenien und einer dreimonatigen Aussetzung der Unabhängigkeitserklärungen auch einen vermeintlichen Vermittlungserfolg. Gegenüber dem von serbischen Milizen mit Unterstützung der JVA geführten Krieg in Kroatien zeigte sich die EG allerdings ohnmächtig. Noch war eine gesamt-jugoslawische Konfliktlösung das vorherrschende Ziel, obschon Deutschland und einige andere Mitgliedstaaten zunehmend das Selbstbestimmungsrecht Sloweniens und Kroatiens betonten.

Ratlosigkeit über das weitere Vorgehen und der Versuch, einen gemeinsamen Nenner unter den Mitgliedstaaten zu bewahren, führten dazu, daß die operative Jugoslawien-Politik nun in die Anfang September 1991 beginnende Haager Friedenskonferenz ausgelagert wurde Mit der Suche nach einer Konfliktlösung wurde als EG-Vermittler der ehemalige britische Außenminister Lord Carrington beauftragt. Die EG erklärte zwar, gewaltsame Gebietseroberungen und Grenzänderungen nicht anerkennen zu wollen. Doch der europäische Ansatz der Verhandlungsdiplomatie, der auch künftig bestimmend bleiben sollte, war der Wirklichkeit des Konflikts nicht angemessen.

Als Voraussetzung für eine politische Verhandlungslösung fehlte ein wirksamer Waffenstillstand. Die von der EG nach Kroatien entsandten Beobachter konnten die Einhaltung entsprechender Vereinbarungen nicht sicherstellen. Für eine friedenserhaltende WEU-Operation gab es unter den EG-Mitgliedstaaten jedoch keinen Konsens. Eine entschiedene Forderung der EG, einer Militärmission zur Trennung der Konfliktparteien zuzustimmen, hätte den Friedenswillen Präsident Miloevics auf eine untrügliche Probe gestellt. So aber gewannen die Serben durch die Haager KonferenzZeit für ihren Vormarsch. Die internationale Jugoslawien-Politik erfuhr Anfang Oktober 1991 eine institutionelle Spaltung, als die Vereinten Nationen die Initiative zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes und hinsichtlich des geplanten Einsatzes von UN-Blauhelmen übernahmen.

Die Ernennung des Sonderbeauftragten Carrington erschien auf den ersten Blick als eine Innovation für die Durchführung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Doch besaß der EG-Vermittler nicht die Autorität wie die regionalen US-Sonderbeauftragten, die in der Regel auf der Grundlage eines politischen Konzepts, einer geschlossenen Position sowie der Fähigkeit zur Machtprojektion agieren. So fehlte dem im Oktober 1991 vorgelegten Carrington-Friedensplan, der unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten eine vernünftige Lösung darstellte, der nötige politische und militärische Nachdruck. Nachdem er selber unverändert militärische Tatsachen schaffen konnte, sah der serbische Präsident keine Veranlassung, einem Friedenskonzept zuzustimmen, das die Möglichkeit zur Unabhängigkeit der Republiken vorsah und der serbischen Bevölkerung in den Republiken Kroatien und Bosnien-Herzegowina Minderheitenrechte und in mehrheitlich besiedelten Gebieten einen autonomen Status einräumte. Auch die schließlich von der EG Anfang November 1991 faktisch Serbien angedrohten Wirtschaftssanktionen konnten keine Überzeugungskraft mehr entfalten.

Der kurz nach Abschluß des Maastrichter Gipfels am 16. Dezember 1991 von Deutschland insbesondere gegen Frankreich und Großbritannien durchgesetzte Beschluß zur Anerkennung der Republiken, die ihren Unabhängigkeitswillen bekundet hatten, strapazierte den Zusammenhalt in der EG in erheblichem Maße. Die Anerkennung war jedoch unter den gegebenen Umständen die einzige verbleibende Alternative. Denn sie erhob die territoriale Integrität Kroatiens, wo die Krajina-Serben die Kontrolle über die von ihnen eroberten Gebiete unter der Präsenz der UN-Blauhelmmission „United Nations Protection Force“ (UNPROFOR) in der Folgezeit aufrechterhalten konnten, zum verbindlichen Prinzip.

Während Kroatien und Slowenien im Januar 1992 die Anerkennung durch die EG-Staaten erfuhren, wurde dies Mazedonien und Bosnien-Herzegowina verwehrt. Im ersteren Fall blockierte Griechenland einen entsprechenden Beschluß, und im zweiten Fall sollte zunächst ein Referendum über die Unabhängigkeit abgehalten werden. Statt Bosnien-Herzegowina in einem völkerrechtlichen Schwebezustand zu belassen, wäre es besser gewesen, die Republik sofort anzuerkennen, um serbischen Gebietsansprüchen eine entschiedene Absage zu erteilen. Die Behauptung, das deutsche Dringen auf eine Anerkennung Kroatiens und Sloweniens, die zugleich den Zerfall der jugoslawischen Föderation bestätigte, habe den Bosnien-Krieg ausgelöst, entspricht nicht den Tatsachen. Es ist erwiesen, daß die JVA bereits im Herbst 1991 die militärischen Vorbereitungen traf und die bosnischen Serben durch die Bildung autonomer Gebiete auf eine ethnische Teilung der Republik hinarbeiteten Angesichts der akuten ethnischen Spannungen versäumten es die Regierungen der EG, aus den Erfahrungen des Kroatien-Kriegs Lehren zu ziehen und den unverhohlenen serbischen Kriegsdrohungen für den Fall der Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas abschreckend entgegenzutreten.

Statt dessen wurde die EG-Friedenskonferenz im Februar 1992 fortgesetzt. Fatal war es, daß der Vermittler Carrington und der portugiesische Sonderbeauftragte Cutilheiro mit den Führern der drei bosnischen Parteien -mit dem muslimischen Präsidenten Izetbegovic, dem Kroaten Boban und dem Serben Karadzic -über die Bildung sogenannter ethnischer Kantone verhandelten. Trotz der weitgehend gemischten Besiedlung wurde ausgerechnet ein Konfliktlösungsansatz verfolgt, der den Ansprüchen der bosnischen Serben, aber auch der bosnischen Kroaten auf exklusive Kontrolle von Territorium Vorschub leistete. Nicht die ethnische Teilung von Gebieten, sondern allein die Teilung der Regierungsmacht im gesamtbosnischen Staat und kulturelle Autonomie für die drei Volks-gruppen konnten die Aussicht auf ein friedliches Zusammenleben eröffnen.

Die Verhandlungen scheiterten, und die Katastrophe nahm ihren Lauf, als die bosnischen Serben -ausgestattet mit den Ressourcen der JVA und gelenkt von der Führung in Belgrad -Anfang April 1992 ihren militärischen Feldzug begannen. Die jetzt vorgenommene internationale Anerkennung Bosnien-Herzegowinas verlieh dem Krieg den Charakter zwischenstaatlicher Aggression. Dennoch hat die internationale Gemeinschaft auf die Konfliktausweitung im ehemaligen Jugoslawien und die von brutalen „ethnischen Säuberungen“ begleitete Kriegsführung der Serben, durch die sie die Kontrolle über 70 Prozent des Territoriums Bosnien-Herzegowina erlangten, keine angemessene Antwort gefunden. Zwar verhängte der UN-Sicherheitsrat Ende Mai 1992 WirtschaftsSanktionen gegen Serbien und Montenegro, und die von diesen Republiken proklamierte „Bundesrepublik Jugoslawien“ wurde bis auf weiteres nicht anerkannt. Statt militärische Gegenmaßnahmen zur Eindämmung der serbischen Gewaltpolitik in Bosnien-Herzegowina zu ergreifen, erfolgte jedoch nur eine humanitäre Intervention von UN-Friedenstruppen (UNPROFOR II) zur Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung mit Hilfsgütern, worauf noch eingegangen wird.

Trotz ihres bisherigen Mißerfolgs hielt die EG am Ansatz der Konferenzdiplomatie fest, wenngleich in einem veränderten Rahmen. Mit der Londoner Konferenz Ende August 1992 wurde die „Internationale Konferenz über das ehemalige Jugoslawien“ in Genf eingerichtet Im Lenkungsausschuß waren verschiedene internationale Organisationen vertreten. Als dessen Vorsitzende fungierten der neue EG-Beauftragte und frühere britische Außenminister Lord Owen und der Beauftragte des UN-Generalsekretärs Vance Die beiden Vermittler leiteten die Verhandlungen mit den bosnischen Konfliktparteien auf der Grundlage der Londoner Prinzipien, gewaltsame Gebietseroberungen nicht anerkennen und die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas bewahren zu wollen. Zur fortgesetzten Delegierung der Verantwortung der EG für eine Friedenslösung in Bosnien-Herzegowina trat nun ihre Umverteilung im Rahmen der Internationalen Jugoslawien-Konferenz. Es wäre für die führenden EG-Regierungen längst an der Zeit gewesen, sich in enger Abstimmung mit den USA unmittelbar für ein Ende der Kämpfe einzusetzen.

Stattdessen unterhöhlten Spannungen zwischen den Europäern und der neuen US-Admininistration Präsident Clintons seit Jahresbeginn 1993 die Genfer Friedensverhandlungen, die von Owen und Vance erneut ohne die Voraussetzung eines Waffenstillstandes geführt wurden. Die relative Autonomie der beiden Vermittler bedeutete zugleich, daß sie nicht nur die Konfliktparteien, sondern auch die internationale Gemeinschaft von ihrem Lösungskonzept überzeugen mußten. Der Vance-Owen-Plan, über den zwischen Januar und Mai 1993 verhandelt wurde und der eine Regionalisierung Bosnien-Herzegowinas in zehn Provinzen vorsah, wies sicher schwerwiegende Mängel auf. Er war aber zweifellos „gerechter“ als alle nachfolgenden Pläne. Die EG-Staaten, die den Vance-Owen-Plan guthießen, waren schließlich nicht bereit, die bosnischen Serben durch die von Owen geforderten begrenzten militärischen Interventionsmaßnahmen zur Zustimmung zu zwingen -nicht zuletzt, weil die britische und die französische Regierung Vergeltung an den von ihnen entsandten Blauhelmen fürchteten. Die US-Regierung lehnte den Plan wegen zu großer Zugeständnisse an die serbische Seite ab und wollte außerdem keine eigenen Bodentruppen für eine notfalls gewaltsame Implementierung der Provinzgrenzen entsenden. Im euro-atlantischen Streit über die nicht mit einem alternativen Friedenskonzept verbundene US-Initiative zu „Lift and strike“, also Aufhebung des Waffenembargos gegen die bosnische Regierung und Luftschläge gegen die militärische Infrastruktur der bosnischen Serben, wurde der Vance-Owen-Plan begraben

Welche Folgen nicht ausreichend machtpolitisch, d. h. letztlich militärisch, abgestützte Vermittlungsbemühungen haben können, zeigte sich ein Jahr nach dem verhängnisvollen EG-Kantonisierungsplan erneut, als nun die bosnischen Kroaten im Zuge des Scheiterns des Vance-Owen-Plans ebenfalls dazu übergingen, ihre Gebietsansprüche systematisch mit militärischen Mitteln zu verfolgen, und heftige Kämpfe mit der bosnischen Regierungsarmee in Teilen Zentralbosniens ausbrachen. Die EG, der Kroatien die Anerkennung seiner Unabhängigkeit verdankte, brachte Zagreb nicht von der Teilungspolitik in bezug auf Bosnien-Herzegowina ab. Die Gemeinschaft vollzog die neue militärische Entwicklung praktisch nur nach. So wurde hingenommen, daß die Vermittler der Jugoslawien-Konferenz, Owen und der Vance-Nachfolger Stoltenberg, nunmehr im Juni 1993 neue Friedensverhandlungen auf der Basis eines Plans der Präsidenten Tudjman und Milosevic zur Konföderalisierung Bosnien-Herzegowinas begannen. Das Konzept einer Union aus drei faktisch unabhängigen ethnischen Teilstaaten der Kroaten, Serben und Muslime, das von den Prinzipien der Londoner Konferenz des Vorjahres abrückte, wurde aber im September 1993 seitens der bosnischen Muslime abgelehnt.

Zeitgleich zum Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages engagierten sich die Regierungen der Europäischen Union im November 1993 nun unmittelbar selbst, um die Teilung Bosniens zu konkretisieren. Der auf einer Initiative der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Kinkel und Juppe, beruhende sogenannte EU-Aktionsplan zielte auf eine stufenweise globale Lösung des Jugoslawien-Konflikts, sprach etwa im Hinblick auf die serbisch kontrollierten UN-Schutzzonen in Kroatien zunächst nur von einem „Modus vivendi“ und forderte drei Prozent mehr Land für die muslimische Republik. Den Kroaten wurden jetzt für den Fall weiterer militärischer Aktionen Zwangsmaßnahmen angedroht, Serbien die schrittweise Aufhebung der Sanktionen bei einer Verwirklichung von Friedenslösungen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina in Aussicht gestellt und der bosnischen Regierung verdeutlicht, daß es zu einer staatlichen Teilung keine Alternative gebe. Auf zwei gemeinsamen Sitzungen mit den Konfliktparteien am 29. November und am 22. Dezember 1993 boten die EU-Außenminister den lokalen serbischen und kroatischen Kriegstreibern noch ein Forum zur Präsentation ihrer nationalistischen Positionen.

Der Aktionsplan markierte zweifellos den Tief-punkt der bisherigen Jugoslawien-Politik der EU; erstens, weil er die eigenen Prinzipien -Nichtanerkennung gewaltsamer Gebietseroberungen und territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas -aufgab; zweitens exponierten sich die Außenminister, ohne über die Machtmittel zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen zu verfügen; drittens war der Plan unrealistisch, weil die bosnische Regierungsarmee inzwischen gegen die Milizen der bosnischen Kroaten Terrain gutgemacht hatte. Die Bereitschaft der Serben, sich mit 49 Prozent Bosniens , zu begnügen, erscheint unter diesen Umständen als eher fragwürdige Errungenschaft des EU-Aktionsplans.

Die Bildung der Kontaktgruppe

Die US-Regierung erkannte die veränderte Situation und setzte im Februar/März 1994 mit massivem Druck auf Präsident Tudjman die Bildung einer muslimisch-kroatischen Föderation durch. Die Föderationsverfassung und eine vorläufige Vereinbarung über eine Konföderation der bosnischen Föderation mit Kroatien wurden am 18. März 1994 in Washington unterzeichnet. Wenigstens endeten so an einer Front des Bosnien-Krieges die Kämpfe, und Kroatien war auf eine Abkehr von seinen Teilungsplänen festgelegt. Daß es in der Folgezeit nicht gelang, die Föderation mit Leben zu füllen, zeigte wiederum, wie wenig es die EU verstand, ihren Einfluß auf Zagreb geltend zu machen. Nicht einmal das Prestigeprojekt der vom ehemaligen Bremer Bürgermeister Koschnick seit Juli 1994 geleiteten Administration von Mostar, die als sogenannte Gemeinsame Aktion im Rahmen der GASP figurierte, erhielt den erforderlichen politischen Nachdruck der EU.

Deutschland hatte die Initiative der US-Regierung zur Bildung der Föderation unterstützt und sich damit teilweise vom EU-Aktionsplan abgesetzt. Im Hinblick auf eine umfassende Konfliktregulierung in Bosnien-Herzegowina entschlossen sich die Großmächte nun zur direkten Zusammenarbeit. Die Bildung der sogenannten Kontaktgruppe im April 1994 aus Vertretern der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Rußlands und Deutschlands folgte aus der Unfähigkeit der EU als Organisation, die Führungsrolle in der internationalen Jugoslawien-Politik zu übernehmen. Daß nun die drei wichtigsten EU-Mitgliedstaaten mit den USA und Rußland ein Großmächte-Konzert eingingen, war umgekehrt mit der GASP nur schwer vereinbar, auch wenn die EU-Partner konsultativ in den Beratungsprozeß einbezogen wurden

Allzu hohe Erwartungen an die „Rückkehr der Großen Mächte“ als Ordnungskraft in Europa, analog etwa zur Pentarchie des 19. Jahrhunderts, waren jedoch kaum angebracht. Rußland einzubinden schien sinnvoll, um so größeren Einfluß auf die Serben zu gewinnen; entsprechendes galt für die größere Nähe der USA und Deutschlands zur Sache der Kroaten und bosnischen Muslime. Großbritannien und Frankreich stellten die meisten UN-Blauhelme in Bosnien, so daß es durchaus sachliche Gründe für die Zusammensetzung der Kontaktgruppe gab. Zugleich kamen dort die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zusammen -mit Ausnahme Chinas, das sich im übrigen aus der europäischen Angelegenheit heraus-hielt -, und Deutschland konnte so in den prominenten Kreis aufgenommen werden. Im UN-Sicherheitsrat hatten sich vor allem Großbritannien und Rußland, aber auch Frankreich bisher gegen eine militärische Intervention in Bosnien-Herzegowina ausgesprochen, so daß von Anfang an fraglich war, ob die Kontaktgruppe militärischen Zwang zur Durchsetzung eines Friedenspla-nes ausüben würde. Bei der Vorlage des Kontaktgruppenplans im Juli 1994 wurde deutlich, daß dies nicht der Fall war. Erneut lehnten daher die bosnischen Serben den Vermittlungsvorschlag -sogar gegen den Willen Miloevis -ab.

Trotz aller späteren Zugeständnisse, die Serbien im Gegenzug für eine Anerkennung Bosnien-Herzegowinas die Aufhebung der Sanktionen in Aussicht stellten und den bosnischen Serben die Möglichkeit besonderer Beziehungen mit Serbien anboten, traten die Vermittlungsbemühungen bis zum Sommer 1995 auf der Stelle. Als Führungsgremium der internationalen Jugoslawien-Politik hat sich daher auch die Kontaktgruppe nicht bewährt; ihr größter Nutzen dürfte darin bestanden haben, die zunehmenden Spannungen zwischen ihren Mitgliedstaaten in Grenzen zu halten. Im Hintergrund belastete vor allem die geplante Erweiterung der NATO die Beziehungen zu Rußland. In bezug auf Bosnien gab es Meinungsverschiedenheiten über die vom US-Kongreß erhobene Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos gegen die bosnische Regierung, während Rußland für Serbien eine schnellere Aufhebung des Wirtschaftsembargos erreichen wollte. Dauerhaften Anlaß für Ärger zwischen den USA auf der einen Seite und Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite gab die Durchführung des UN-Blauhelmeinsatzes in Bosnien-Herzegowina, den die NATO unterstützte, der aber zunehmend ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellte.

Das problematische Zusammenwirken von UNO und NATO

Der infolge der Handlungsschwäche der EU jahrelang dominierende Ansatz der Verhandlungsdiplomatie blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Rollen, die UNO und NATO im Jugoslawien-Konflikt spielten. Der UN-Sicherheitsrat war gefordert, der Autorität des Völkerrechts Geltung zu verschaffen und gegen die nach der internationalen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas von Serbien ausgehende zwischenstaatliche Aggression vorzugehen. Auch die Tatbestände schwerster Verletzungen des humanitären Völkerrechts -vor allem die ethnischen Säuberungen, welche die bosnischen Serben in den Ruch des geplanten Völkermords brachten -boten wegen der grenzüberschreitenden Auswirkungen hinreichend Anlaß für den Sicherheitsrat, gemäß Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen Gefährdungen der internationalen Sicherheit festzustellen und wirtschaftliche und militärische Sanktionen zu verhängen.

Tatsächlich wurden etliche gegen Serbien und die serbische Kriegsführung gerichtete kollektive Zwangsmaßnahmen beschlossen Dazu gehörten insbesondere die Wirtschaftssanktionen gegen Serbien/Montenegro vom 30. Mai 1992 (Res. 757), die in zwei Schritten am 16. November 1992 (Res. 787) und am 17. April 1993 (Res. 820) ausgeweitet wurden und mit der Ermächtigung zur gewaltsamen Durchsetzung in der Adria versehen waren. Auch das Verbot militärischer Flüge über Bosnien-Herzegowina vom 9. Oktober 1992 (Res. 781) stellte der Sicherheitsrat am 31. März 1993 (Res. 816) unter Gewaltandrohung. Als Novum erklärte sich in beiden Fällen die NATO mit See-und Luftstreitkräften zur Umsetzung der UN-Mandate bereit.

Zur Autorisierung einer direkten militärischen Intervention gegen die bosnischen Serben fehlte im UN-Sicherheitsrat jedoch der Konsens. Im Sinne einer strategischen Konfliktregulierung hätten begrenzte militärische Maßnahmen zur Herstellung eines Kräftegleichgewichts zwischen den Konfliktparteien die internationalen Vermittlungsbemühungen gestärkt und die Friedensaussichten verbessert. Die bosnische Regierung selbst hatte im Sommer 1992 nicht etwa eine umfassende Intervention von Bodentruppen gefordert, sondern lediglich gezielte Luftschläge gegen die militärische Infrastruktur der Serben Doch am 13. August 1992, im Vorfeld der Londoner Konferenz, wurden die Weichen in eine andere Richtung gestellt. Der Sicherheitsrat beschloß mit der Resolution 770 nur eine humanitäre Intervention, die schließlich als Begleitschutz für Hilfslieferungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) an die Zivilbevölkerung durch UN-Blauhelme Gestalt annahm (Res. 776 v. 14. 9. 1992). Die Beschränkung auf eine humanitäre Intervention war Ausdruck des Unwillens im Sicherheitsrat, gegen den Krieg selbst einzuschreiten; sie entsprach der im Rahmen der Internationalen Jugoslawien-Konferenz institutionalisierten Suche nach einer politischen Verhandlungslösung. In diesem Zusammenhang ist auch das Waffenembargo zu sehen, das bereits im September 1991 vom UN-Sicherheitsrat gegen Gesamtjugoslawien verhängt und dann auf die Nachfolgestaaten übertragen worden war (Res. 713). Die Aufrechterhaltung des Waffenembargos auch gegen Bosnien-Herzegowina sollte eine weitere Eskalation der Kämpfe verhindern, begünstigte jedoch einseitig die an militärischer Ausrüstung weit überlegenen bosnischen Serben. Dies führte dazu, daß der bosnischen Regierung das legitime Recht auf Hilfe zur Selbstverteidigung genommen wurde

Es stellt sich nun die Frage, warum nicht im Rahmen der NATO die Einsicht entstand, daß Konflikteindämmung und Konferenzdiplomatie allein nicht genügten, sondern vielmehr eine entschiedene westliche Machtprojektion auf dem Balkan erforderlich war, um dem serbischen Krieg und den ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina Einhalt zu gebieten. Hätte Rußland durch ein Veto gegen eine militärische Intervention den UN-Sicherheitsrat lahmgelegt, dann wäre auf der Basis von Art. 51 der UN-Charta notfalls das einseitige Vorgehen einer Koalition von NATO-Staaten zu rechtfertigen gewesen. Die Zurückhaltung der NATO hatte -abgesehen von der Furcht ihrer führenden Mitgliedstaaten vor militärischen Verwicklungen -offenbar auch Gründe, die mit der mühsamen Bestimmung der Rolle der Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges zusammenhingen

Gegründet zur kollektiven Verteidigung gegen eine sowjetische Bedrohung, sah die NATO ihre neue Aufgabe keineswegs darin, außerhalb ihres Bündnisgebiets ethnische Konflikte zu regulieren, obwohl das veränderte Strategische Konzept vom November 1991 die neuen Gefährdungen der Stabilität in Europa durch solche Konflikte durchaus identifizierte. Von übergeordneter Bedeutung war vielmehr die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie mit Rußland und den anderen Nachfolgestaaten der zerfallenen Sowjetunion im neuen NATO-Kooperationsrat, der im Dezember 1991 erstmals zusammentrat. Rasch aufkommende Beitrittswünsche ostmittel-und südosteuropäischer Staaten sowie die dann auch innerhalb der Atlantischen Allianz lange kontrovers geführte Erweiterungsdebatte brachten neue Spannungen im Verhältnis zu Rußland mit sich. Im Rahmen ihres im Januar 1994 initiierten Programms „Partnerschaft für den Frieden“ räumte die NATO Rußland zwar Sonderbeziehungen im Vergleich zu den anderen Teilnehmerstaaten ein. Insgesamt dürfte jedoch der Streit über die Stellung der NATO in der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur die Neigung verstärkt haben, im Jugoslawien-Konflikt keine einseitigen Maßnahmen zu ergreifen, sondern Moskau an einem praktischen Beispiel die Ernsthaftigkeit des Willens zur konstruktiven Zusammenarbeit zu demonstrieren. Daß Rußland die Einbeziehung in die Vermittlungsbemühungen, die schließlich in der Bildung der Kontaktgruppe gipfelte, dazu nutzte, seinen außenpolitischen Einfluß zu erweitern, wurde in Kauf genommen. Bei der Ablehnung schärferer militärischer Maßnahmen gegen die Serben bestand schließlich Übereinstimmung mit Großbritannien und weitgehend auch mit Frankreich.

Im übrigen war aber auch innerhalb der NATO deren künftige sicherheitspolitische Rolle umstritten. Frankreich, das seit 1966 der militärischen Integration nicht mehr angehörte, suchte der Dominanz der USA in Fragen der europäischen Sicherheit das Projekt einer eigenständig handlungsfähigen WEU entgegenzusetzen. Nach der Petersberger Erklärung vom Juni 1992, in der die WEU-Staaten den Willen zur Übernahme militärischer Aufgaben bekundeten, setzte sich jedoch die Auffassung durch, daß es wenig Sinn ergab, die NATO-Strukturen zu duplizieren. So wurde schließlich im Januar 1994 zur Stärkung des „europäischen Pfeilers“ der NATO die Entwicklung „trennbarer, jedoch nicht getrennter Fähigkeiten“ und das Konzept der „Combined Joint Task Forces“ beschlossen. Dadurch sollte es möglich werden, kollektive Ressourcen des Bündnisses für militärische WEU-Operationen zur Verfügung zu stellen. Die theoretischen Meinungsverschiedenheiten vor allem zwischen den USA und Frankreich über die künftigen Beziehungen von NATO und WEU haben zweifellos dazu beigetragen, den Blick auf die praktischen Erfordernisse einer gemeinsamen Machtprojektion auf dem Balkan zu verstellen und die autonome Handlungsfähigkeit der Allianz zu begrenzen.

Das zurückhaltende Engagement der NATO im Jugoslawien-Konflikt basierte auf den Beschlüssen von Oslo im Juni 1992 und Brüssel im Dezember 1992, von Fall zu Fall friedenserhaltende Maßnahmen der KSZE bzw.der UNO und die Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats unterstützen zu wollen. Zur Durchführung der Adria-Blockade zusammen mit WEU-Schiffen und der Überwachung des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina trat im Juni 1993 die Bereitschaft zur sogenannten Luftnahunterstützung für die in Bosnien operierenden UN-Blauhelme. Anfang Mai 1993 hatte der UN-Sicherheitsrat die von der bosnischen Regierungsarmee gehaltenen muslimischen Enklaven in Ostbosnien -Srebrenica, Zepa und Gorazde die Hauptstadt Sarajewo sowie das nordbosnische Tuzla und das westbosnische Bihac zu sogenannten Sicherheitszonen erklärt (Res. 824). Der UN-Sicherheitsrat erweckte durch eine Erweiterung des Mandats von UNPROFOR am 4. Juni 1993 (Res. 836) den Anschein, als sei es die künftige Aufgabe der Friedenstruppen, von serbischen Angriffen auf diese Sicherheitszonen abzuschrecken. Luftstreitkräfte sollten die Blauhelme bei der Ausführung ihres Mandats unterstützen, und diese Aufgabe übernahm die NATO

Im Zuge weiterer Beratungen wurde vereinbart, die Anforderung von NATO-Kampfflugzeugen unter den Entscheidungsvorbehalt des UN-Generalsekretärs Boutros-Ghali zu stellen. Die Einsatz-regeln waren jedoch so gehalten, daß nur bei einer akuten Bedrohung von Blauhelmen Luftnahunterstützung geflogen werden konnte. Eine wirksame Abschreckung von Angriffen auf die Sicherheitszonen wurde dadurch nicht erzielt. Die beiden Ultimaten im Februar und April 1994, mit denen die Atlantische Allianz unter Androhung von Luftschlägen gegen serbische Stellungen die Einrichtung von militärischen Ausschlußzonen um Sarajewo bzw. Gorazde erwirkte, blieben die Ausnahme.

Das neuartige Zusammenwirken von UNO und NATO litt unter der ungeklärten Frage, welchen Beitrag UN-Friedenstruppen zur Regulierung ethnischer Konflikte zu leisten vermögen. Seit der Entspannung des Ost-West-Konflikts in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war der Bedarf an Blauhelm-Missionen erheblich gestiegen, und auch eine Erweiterung des möglichen Aufgaben-spektrums war damit einhergegangen Traditionell waren sogenannte Peacekeeping-Operationen zur Überwachung von Waffenstillständen unparteiisch durchgeführt worden, und das Mandat zur Anwendung von Gewalt beschränkte sich auf Selbstverteidigung. In seiner „Agenda for Peace“ vom Juli 1992 wies der UN-Generalsekretär darüber hinaus, indem er insbesondere Optionen zur gewaltsamen Friedensdurchsetzung (peace-enforcement) erörterte. In der Wissenschaft und Publizistik wurde die Variante des „robusten“ Peacekeeping diskutiert Als „militarisierter internationaler Polizeieinsatz“ sollten UN-Operationen so ausgestattet werden, daß sie gegen den gewaltsamen Widerstand einer Konfliktpartei zur Mandatsverteidigung in der Lage wären.

Die Vereinten Nationen sind aber bekanntlich darauf angewiesen, daß die Mitgliedstaaten für Friedensmissionen eigene Kontingente zur Verfügung stellen. Anregungen, eine ständige UN-Eingreiftruppe zu schaffen, sind bislang nicht aufgegriffen worden. Die organisatorischen Voraussetzungen zur Führung multinationaler Militäroperationen, wie sie etwa bei der NATO bestehen, sind bei der UNO unzureichend entwickelt. Die fehlende einheitliche Struktur in bezug auf Kontrolle, Kommando, Kommunikation und Logistik erhöht jedoch das mit Enforcement-Aktionen verbundene Risiko für die UN-Soldaten. Auch eine Reihe von Reformen im UN-Sekretariat zur besseren Koordinierung der Einsätze konnten das Dilemma nicht aufheben Wenn jedoch in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina die Bereitschaft der Serben zur Kooperation von vornherein fehlte, dann war es höchst fragwürdig, Friedenseinsätze nach den Regeln des unparteiischen Peacekeeping durchzuführen.

Während die erste präventive Stationierung von UN-Truppen in Mazedonien seit Anfang 1993 als Erfolg gewertet werden kann, endeten die UNPROFOR-Operationen in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina wegen der mangelnden Fähigkeit zur Durchsetzung der Mandate in einem Debakel Ungehindert von den Blauhelmen konnten die Serben in den kroatischen UNSchutzzonen ihre unbeschränkte Kontrolle über die besetzten Gebiete aufrechterhalten. Es gelang weder eine Entmilitarisierung, noch konnten die kroatischen Flüchtlinge zurückkehren oder gemischte Polizeikräfte gebildet werden. Daß die kroatische Regierung die Existenz einer durch die UN-Präsenz abgeschirmten illegalen „Serbischen Republik Krajina“ in ihrem Hoheitsgebiet auf die Dauer nicht hinnehmen würde, war zu erwarten. Für die Krajina-Serben endete ihre Weigerung, sich mit einem Autonomiestatus zufriedenzugeben, in der Flucht vor der Rückeroberung aller Schutzzonen mit Ausnahme Ostslawoniens durch die kroatische Regierungsarmee im Mai und August 1995. Wäre die UNO zuvor entschiedener vorgegangen, hätte ein solch tragischer Ausgang vermutlich vermieden werden können.

Nicht weniger problematisch war die Anlage der humanitären Intervention in Bosnien-Herzegowina seit dem Herbst 1992. Das Ziel der Versorgung der Zivilbevölkerung vor Ort stand im Gegensatz zum Kriegsziel der bosnischen Serben, die muslimische Bevölkerung aus den eroberten Gebieten zu vertreiben. Mit serbischer Kooperation konnte daher nicht gerechnet werden. Doch schreckten die Blauhelme beim Begleitschutz für die Hilfslieferungen vor der Anwendung von Gewalt zurück und suchten statt dessen die Genehmigung von humanitären Transporten entsprechend den Peacekeeping-Grundsätzen durch Vereinbarungen zu erreichen. Vor allem die Serben nutzten dies für ihre militärischen Zwecke, indem sie nach Belieben Hilfslieferungen verhinderten oder Abgaben verlangten. Die kooperative humanitäre Intervention geriet zugleich in Widerspruch zum Schutz der UN-Sicherheitszonen: Hier war das Mandat mit dem Enforcement-Element des möglichen Einsatzes von NATO-Luftstreitkräften versehen. Von effektiven Luftangriffen auf die Serben wurde aber abgesehen, um die Peacekeeping-Mission am Boden und die Sicherheit der Blauhelme nicht zu gefährden

Ob nicht die Friedenstruppen durch militärische Vorkehrungen und Vergeltungsdrohungen besser vor Geiselnahmen hätten geschützt werden können, sei dahingestellt. So war es außerordentlich leichtsinnig, Blauhelme an Sammellagern für schwere Waffen ohne ausreichenden militärischen Eigenschutz zu exponieren. Auch kam die Entscheidung zur Entsendung einer schwerbewaffneten Schnellen Eingreiftruppe der Briten, Franzosen und Niederländer im Juni 1995 viel zu spät. So wird es für immer ein Schandmal der UNO wie der Europäer bleiben, daß die bosnischen Serben am 11. Juli 1995 ungehindert die Sicherheitszone Srebrenica erobern und anschließend bis zu 8 000 männliche Einwohner massakrieren konnten Nachdem auch die Sicherheitszone Zepa aufgegeben worden war, sprach die NATO schließlich Ende Juli/Anfang August 1995 entschiedene Sicherheitsgarantien für die verbliebenen Sicherheitszonen aus. Mit der UNO wurden neue Einsatzregeln vereinbart, die den Handlungsspielraum der NATO erweiterten. Im letzten Moment fand die Atlantische Allianz einen konsequenten Ausweg aus der Dauerkrise der UN-Operationen in Bosnien-Herzegowina.

Militärische Diplomatie und der Friedensschluß von Dayton

Wie fragwürdig der seit 1991 von der EG/EU verfolgte Ansatz einer politischen Verhandlungslösung gewesen war, zeigte sich daran, daß die Konflikte in Kroatien und Bosnien-Herzegowina am Ende doch militärisch entschieden wurden. Hatten zunächst die bosnischen Serben mit der Eroberung Srebrenicas und Zepas im Juli 1995 nochmals Gebietsgewinne in Ostbosnien erzielen können, so begannen nach der Rückeroberung der Krajina Anfang August kroatische Einheiten und die bosnische Regierungsarmee einen gemeinsamen Vormarsch in Westbosnien, der erst Mitte September 1995 vor Banja Luka zum Stillstand kam. Neue, diesmal serbische Flüchtlingsströme waren die Folge, doch dürfte die gewaltsame „Vereinfachung“ der Landkarte nicht unwillkommen gewesen sein. Denn so ergab sich eine Annäherung an die im Friedensplan für Bosnien-Herzegowina vorgesehene Gebietsaufteilung zwischen der bosniakisch-kroatischen Föderation und dem serbisch kontrollierten Territorium im Verhältnis von 51 zu 49 Prozent Ein wesentlicher Gegenstand künftiger historischer Forschungen zum Jugoslawien-Konflikt wird zweifellos die Frage nach dem jeweiligen Anteil der EU und der USA an der Erfolglosigkeit der internationalen Vermittlungsbemühungen bis zum Sommer 1995 bleiben. Die Anzeichen sprechen jedenfalls dafür, daß die USA nun die Früchte ihres Ansatzes einer militärischen Diplomatie als Alternative zur europäischen Jugoslawien-Politik ernteten. Zunächst hatten die USA erfolglos „Lift and strike“ gefordert, um die bosnische Regierungsarmee zur Selbstverteidigung zu befähigen. Im Winter 1994 drängten sie auf die Wiederherstellung der muslimisch-kroatischen Kooperation durch die Bildung der Föderation und stärkten Kroatien als Gegengewicht zu Serbien. Außerdem gelangten mit Wissen und Billigung der Clinton-Administration Waffen aus islamischen Ländern, vor allem aus dem Iran, über Kroatien an die bosnische Regierungsarmee. Aber erst als sich durch die kroatisch-muslimische Offensive Anfang August 1995 die Kräfteverhältnisse zwischen den Konfliktparteien anglichen und durch die sich abzeichnende Pattsituation der „reife Moment“ für eine neue Friedensinitiative gekommen war, übernahmen die USA in der Kontaktgruppe die Führung der Vermittlungsbemühungen.

Ob die Verhandlungen, die der Unterstaatssekretär für Europaangelegenheiten im State Department, Holbrooke, nun direkt mit dem serbischen Präsidenten Milosevic führte, Erfolg haben würden, war freilich ungewiß. Insofern ist kaum zu bestreiten, daß die nach einem erneuten Beschuß Sarajewos Anfang September 1995 durchgeführten mehrtägigen Luftangriffe der NATO auf die militärische Infrastruktur der bosnischen Serben die diplomatischen Aktivitäten unterstützten. Nach der Einigung auf Grundprinzipien einer Friedenslösung für Bosnien-Herzegowina am 8. September, der Rahmenvereinbarung über die künftige politische Ordnung am 26. September und dem Abschluß eines Waffenstillstandes am 5. Oktober begannen schließlich am 1. November die Gespräche auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Wright-Patterson bei Dayton (Ohio), bei denen auch der exakte Gebietsumfang der sogenannten Entitäten, also der Föderation und der „Serbischen Republik“, festgelegt wurde.

Die umfassende Friedensvereinbarung für Bosnien und Herzegowina vom 21. November 1995 und die Probleme der Implementierung sind hier nicht im einzelnen zu erläutern. Insgesamt ist festzustellen, daß zwar die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas gewahrt wurde. Die beiden Teilstaaten erhielten jedoch nicht nur umfassende Kompetenzen, sondern auch das Recht, Sonderbeziehungen mit Kroatien bzw. Serbien einzugehen.

Die Zentralinstitutionen können gemäß den • Bestimmungen der neuen Verfassung nur funktionieren, wenn die früheren Kriegsgegner zusammenarbeiten.

Im Rahmen der internationalen Organisationen wird nun versucht, die vielfältigen militärischen und zivilen Bestimmungen des Friedensvertrags umzusetzen. Die NATO übernahm die militärische Entflechtung, die OSZE ist zuständig für die Durchführung freier Wahlen, die Beachtung der Menschenrechte und die Vereinbarung regionaler Rüstungsbeschränkungen, die UNO für die Rückkehr der Flüchtlinge und die Beobachtung der Tätigkeit der Sicherheitsbehörden, und die EU trägt erheblich zum Wiederaufbau bei. So sinnvoll diese institutionelle Arbeitsteilung erscheint, so wurde doch deutlich, daß die NATO-Friedenstruppe auch Polizeifunktionen zur Sicherung der Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatorte übernehmen muß. Ob die durch die ethnischen Säuberungen gewaltsam herbeigeführte Trennung der ursprünglich gemischt lebenden Bevölkerungsteile aufgehoben werden kann, bleibt abzuwarten. Es ist zu fragen, ob nicht ein vorübergehendes internationales Protektorat die geeignetste Methode zur Konflikttransformation dargestellt hätte. Für den damit verbundenen personellen und materiellen Aufwand fehlte auf Seiten der Großmächte die Bereitschaft.

Schlußbetrachtung

Die Erfahrungen des Jugoslawien-Konflikts haben gezeigt, daß OSZE, EU, UNO und NATO trotz einer Vielfalt von Interventionen und Formen der Zusammenarbeit keine kollektive Sicherheit in Europa boten. Aus dem Konzept des „interlocking of institutions" ergab sich kein gemeinsames Regime zur konsequenten multilateralen Konflikt-regulierung. Die Bildung der Bosnien-Kontakt-gruppe sollte helfen, die institutioneile Jugoslawien-Politik zu konzertieren. Doch abgesehen von der damit einhergehenden Diskriminierung kleinerer und mittlerer Staaten blieb ihre Führungsrolle begrenzt, weil vor allem die unterschiedlichen Interessen und Positionen der Großmächte auszutarieren waren. Auch wenn die Kontaktgruppe für Bosnien heute weiterbesteht, hat sie keinen Modellcharakter für die Etablierung eines ständigen und mit allen Fragen der europäischen Sicherheit befaßten Großmächte-Konzerts gewonnen. Die europäischen Großmächte haben im Jugoslawien-Konflikt die verschiedenen internationalen Organisationen als Plattformen zur Verfolgung einer ihren jeweiligen Interessen angepaßten, variablen Politik genutzt. Die Vorstellung, kollektive Sicherheit ließe sich durch eine ursprünglich auch von Rußland geforderte vertragliche Aufwertung der OSZE zur übergeordneten „Europäischen Sicherheitsgemeinschaft“ verwirklichen, hat sich folglich als unrealistisch erwiesen.

Um so wichtiger ist es, das Sicherheitsmodell der regionalen Integration in Europa zügig auszubauen Die Osterweiterung der EU und der NATO erhält ihre Bedeutung insbesondere durch die damit verbundene Ausdehnung der westeuropäischen Stabilitätszone und stellt die sicherste Methode der Konfliktprävention dar. Die Vielzahl der mittlerweile unter Mitwirkung der OSZE und des Europarates abgeschlossenen Grundlagenverträge zwischen den osteuropäischen Staaten ist zweifellos darauf zurückzuführen, daß EU und NATO die Beilegung von Grenzstreitigkeiten und die friedliche Regelung von Minderheitenproble‘ men zur Beitrittsbedingung erklärt haben. Der Prozeß der regionalen Integration wird freilich -

vor allem was die EU angeht -noch Jahre in Anspruch nehmen und räumlich begrenzt sein.

Damit sich keine abgeschlossenen Zonen unterschiedlicher Sicherheit bilden, ist der Ausbau der militärpolitischen Zusammenarbeit unter dem Dach des am 30. Mai 1997 geschaffenen „Euroatlantischen Partnerschaftsrates“ der NATO als Nachfolgeeinrichtung des Kooperationsrats von entscheidender Bedeutung. Er dient nicht nur der Vertrauensbildung, sondern auch der Vorbereitung von multinationalen, aber unter integriertem Kommando durchgeführten Friedenseinsätzen. Ob allerdings in diesem erweiterten Rahmen eindeutige Mechanismen für eine Intervention in möglicherweise eskalierende ethnische Konflikte vereinbart werden können, hängt davon ab, wie sich die in der Grundakte vom 27. Mai 1997 geregelten Sonderbeziehungen zwischen der NATO und Rußland im neuen „Ständigen Gemeinsamen Rat“ in bezug auf Fragen der gesamteuropäischen Sicherheit entwickeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der folgende Aufsatz basiert auf der Studie „Konfliktregulierung in Jugoslawien, 1991-1995. Die Rolle von OSZE, EU, UNO und NATO“, Baden-Baden 1997 (i. E.), die im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekts unter der Leitung von Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn entstanden ist. Daniel Eisermann, der die entwicklungsgeschichtlich angelegte Untersuchung „Der lange Weg nach Dayton. Die westliche Politik und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, 1991-1995“, Baden-Baden 1997 (i. E.) verfaßt hat, sei für seine Anmerkungen gedankt.

  2. Vgl. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/M. 19962, S. 217 ff.

  3. Vgl. James Gow, Triumph of the Lack of Will, international Diplomacy and the Yugoslav War, London 1997. Zu den wichtigsten Monographien über den Jugoslawien-Konflikt und die internationalen Reaktionen gehören Lenard J. Cohen, Broken Bonds. The Disintegration of Yugoslavia, Boulder u. a. 1993; Mark Almond, Europe’s Backyard War. The War in the Balkans, London 1994; Susan L. Woodward, Balkan Tragedy. Chaos and Dissolution after the Cold War, Washington D. C. 1995; Laura Silber/Allan Little, Bruder-krieg. Der Kampf um Titos Erbe, Graz u. a. 1995; Norman Cigar, Genocide in Bosnia. The Policy of „Ethnie Cleansing“, Texas A & M University Press 1995. Siehe ferner den Sammelband Richard H. Ullman (Hrsg.), The World and Yugoslavia’s Wars, New York 1996.

  4. Vgl. u. a. Ingo Peters (Hrsg.), New Security Challenges: The Adaption of International Institutions. Reforming the UN, NATO, EU and CSCE since 1989, Münster -New York 1996.

  5. Wegen des zusammenfassenden Charakters der Ausführungen wurden die Literaturhinweise in den Anmerkungen auf einige grundlegende Titel beschränkt.

  6. Vgl. Peter Schlotter/Norbert Ropers/Berthold Meyer, Die neue KSZE. Zukunftsperspektiven einer regionalen Friedensstrategie, Opladen 1994.

  7. Vgl. Jens Bortloff, Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Eine völkerrechtliche Bestandsaufnahme, Berlin 1996, S. 398 ff.

  8. Über die Vielfalt der Tätigkeitsbereiche informiert das vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg herausgegebene „OSZE-Jahrbuch 1996“, Bd. 2, Baden-Baden 1996.

  9. Vgl. u. a. Marcus Wenig, Möglichkeiten und Grenzen der Streitbeilegung ethnischer Konflikte durch die OSZE, dargestellt am Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, Berlin 1996, S. 245 ff.

  10. Vgl. zur Entwicklung der EPZ: Simon J. Nuttall, European Political Cooperation, Oxford 1992.

  11. Vgl. Carsten Giersch/Daniel Eisermann, Die westliche Politik und der Kroatien-Krieg, 1991-1992, in: Südosteuropa, 43(1994) 3-4, S. 91-125.

  12. Vgl. J. Gow(Anm. 3), S. 34f.

  13. Vgl. zur Struktur der Konferenz: Graham Messervy-Whiting, Peace Conference on Former Yugoslavia: The Politico-Military Interface (= Centre for Defence Studies, Nr. 21), London 1994.

  14. Vgl. die Erinnerungen an seine Vermittlertätigkeit: David Owen, Balkan-Odyssee, München -Wien 1996. Zur wissenschaftlichen Ausgabe gehört eine CD-ROM mit Dokumenten, die einen aufschlußreichen Einblick in den Verlauf der Verhandlungen gewähren.

  15. Vgl. dazu Thomas Paulsen, Die Jugoslawien-Politik der USA 1989-1994, Baden-Baden 1995, S. 118ff.

  16. Vgl. zur Kontaktgruppe die Studie von Francine Boidevaix, Une diplomatie informelle pour l’Europe. Le Groupe de Contact Bosnie, Paris 1997.

  17. Daniel Vernet, Le Groupe de contact: le retour des grandes puissances en Europe?, in: Relations internationales et strategique, Nr. 19, Herbst 1995, S. 132-138.

  18. Es sei an dieser Stelle auf den Internationalen Strafgerichtshof hingewiesen, der zur Ahndung schwerwiegender Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien eingesetzt wurde. Das Statut ist enthalten in UN-Dok S/25704 vom 3. 5. 1993. Die Einrichtung des Kriegsverbrecher-Tribunals hat freilich keine abschreckende Wirkung erzielt. Es ist zweifelhaft, ob die Drahtzieher der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zur Verantwortung gezogen werden. Vgl. dazu „A Prima Facie Case for the Indictment of Slobodan Milosevic“, prepared by Paul Williams and Norman Cigar (= Alliance to Defend Bosnia-Herzegovina), London 1996.

  19. Vgl.den Brief des bosnischen Präsidenten Izetbegovic an den Sicherheitsrat vom 22. Juni 1992, abgedruckt bei Snezana Trifunovska (Hrsg.), Yugoslavia through Documents. From its creation to its dissolution, Dordrecht 1993, S. 622 f.

  20. Vgl. Norman Cigar, The Right to Defence. Thoughts on the Bosnian Arms Embargo, London 1995.

  21. Vgl. Matthias Z. Karädi, Die Reform der Atlantischen Allianz. Bündnispolitik als Beitrag zur kooperativen Sicherheit in Europa?, Münster 1994.

  22. Vgl. Dick A. Leurdijk, The United Nations and NATO in Former Yugoslavia. Partners in International Cooperation (= Netherlands Institute of International Relations „Clingendael"). Den Haag 1994.

  23. Vgl. Hans-Georg Ehrhart/Konrad Klingenburg, UN-Friedenssicherung 1985-1995, Baden-Baden 1996 (mit einer umfassenden Bibliographie).

  24. Vgl. Winrich Kühne, Völkerrecht und Friedenssicherung in einer turbulenten Welt: Eine analytische Zusammenfassung der Grundprobleme und Entwicklungsperspektiven, in: ders. (Hrsg.), Blauhelme in einer turbulenten Welt, Baden-Baden 1993, S. 17-100 (S. 53 ff.).

  25. Vgl. Mats Berdal, Whither UN Peacekeeping? An Analysis of the Changing Military Requirements of UN Peacekeeping with Proposals for its Enhancement (= Adelphi Paper, Nr. 281), London 1993.

  26. Vgl. Age Eknes, Blue Helmets in a Blown Mission? UNPROFOR in Former Yugoslavia (= Norwegian Institute of International Affairs, Research Report, Nr. 174), Oslo 1993; Ben Cohen/George Stamkoski (Hrsg.), With no Peace to Keep ... United Nations and the War in the former Yugoslavia, London 1995.

  27. Vgl. zu Anspruch und Wirklichkeit des Sicherheitszonen-Konzepts: Marc Weller, Peace-Keeping and Peace-Enforcement in the Republic of Bosnia and Herzegovina, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völker-recht, 56 (1996) 1-2, S. 70-177 (S. 100 ff.).

  28. Vgl. die detaillierte Rekonstruktion der Vorgänge bei Jan Willem Honig/Norbert Both, Srebrenica. Record of a War Crime, London 1996.

  29. Vgl. dazu Marie-Janine Calic, Das Abkommen von Dayton. Chancen und Risiken des Friedensprozesses im ehemaligen Jugoslawien (SWP -AP 2948), Ebenhausen 1996.

  30. William I. Zartman, Ripe for Resolution. Conflict and Intervention in Africa, New York -Oxford 1985.

  31. In Auszügen dokumentiert in: Internationale Politik, 51 (1996) 1, S. 80 ff.

  32. Vgl. Uwe Nerlich, Das Zusammenwirken multinationaler Institutionen: Neue Optionen für kollektive Verteidigung und internationale Friedensmissionen?, in: Bernard von Plate (Hrsg.), Europa auf dem Wege zur kollektiven Sicherheit, Baden-Baden 1994, S. 283-303 (S. 292).

  33. Vgl. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Die europäische Sicherheitsgemeinschaft. Das Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert, Bonn 1995.

  34. Vgl. zum Konzept integrativer Sicherheit: Heinrich Schneider, Europäische Sicherheitsarchitektur. Konzeptionen und Realitäten, Frankfurt/M. 1996, S. 52 ff.

Weitere Inhalte

Carsten Giersch, Dr. phil., geb. 1965; Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren Geschichte und Geographie in Erlangen-Nürnberg und Bonn; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. Veröffentlichungen: (zus. mit Daniel Eisermann) Die westliche Politik und der Kroatienkrieg 1991-1992, in: Südosteuropa, 43 (1994) 3-4; in Vorbereitung: Konfliktregulierung in Jugoslawien, 1991-1995. Die Rolle von OSZE, EU, UNO und NATO, Baden-Baden 1997.