Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ist Europa schon reif für die Währungsunion? | APuZ 47/1997 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 47/1997 Ist Europa schon reif für die Währungsunion? Der Euro vor der Einführung Der Amsterdamer Vertrag zur Reform der Europäischen Union. Ergebnisse, Fortschritte, Defizite Die Europäische Union nach Amsterdam: Stärkung ihrer Identität auf internationaler Ebene?. Zur Reform der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der EU

Ist Europa schon reif für die Währungsunion?

Manfred J. M. Neumann

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag geht im wesentlichen auf zwei europäische Probleme ein: die hohe Arbeitslosigkeit und die unzureichende Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Die hohe Arbeitslosigkeit bildet eine schwerwiegende Hypothek für die Währungsunion. Der Euro wird keine Arbeitsplätze schaffen, sondern das Beschäftigungsproblem tendenziell verschärfen, weil er den Strukturwandel beschleunigen wird. Aufgrund der mangelnden Flexibilität der Arbeitsmärkte in den großen Mitgliedsländern wird das zu einem weiteren Ansteigen der Arbeitslosigkeit führen. Da Korrekturen des Wechselkurses nicht mehr möglich sein werden, wird die Lohnpolitik disziplinierter als bisher geführt werden müssen, um zu verhindern, daß Arbeitsplätze auswandern. Viele Mitgliedsländer werden trotz kosmetischer Korrekturen mit Staatsdefiziten von rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Währungsunion eintreten. Ein negativer Schock zu Ende 1998 wird daher ausreichen, die Defizite der konjunkturell miteinander verbundenen Länder in die verbotene Zone zu treiben. Dann besteht die Gefahr, daß die Mehrheit der Länder sich gegen die Anwendung des Stabilitätspaktes wenden wird. Eine Verschiebung würde es ermöglichen, die Haushalte durchgreifend zu sanieren. Der Euro begänne dann auf solider Grundlage.

Nicht mehr sehr lange wird die D-Mark währen, sollten sich die Hoffnungen der Befürworter einer termingerechten Verwirklichung der Europäischen Währungsunion erfüllen. Daß es so kommen könnte, dafür sprechen die von der Europäischen Kommission publizierten Schätzungen der für 1997 zu erwartenden staatlichen Defizite der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Nimmt man diese Angaben für bare Münze, dann wird die Währungsunion sogar mit elf Ländern beginnen können. Allerdings zeigen die Erfahrungen, daß diesbezügliche Angaben der Kommission mit einer gehörigen Portion Skepsis zu genießen sind.

Die endgültigen politischen Entscheidungen über den Beginn der Währungsunion und die Zusammensetzung der Ländergruppe werden im Mai 1998 fallen. Kurz danach, im Juni 1998, werden wir einen runden Geburtstag feiern können: die D-Mark wird dann 50 Jahre alt sein. Wir werden uns dann daran erinnern, daß die D-Mark den Wieder-aufstieg Deutschlands zu Wohlstand nicht einfach begleitet, sondern daß sie ihn nachhaltig gefördert hat durch eine im internationalen Vergleich eindrucksvolle Stabilität nach innen und folgerichtig eine zunehmende Aufwertung gegenüber anderen Währungen der Welt. Es gibt keine Währung, die über die vergangenen 50 Jahre gesehen stabiler gewesen wäre als die D-Mark, nicht einmal der Schweizer Franken konnte da ganz mithalten. Der D-Mark vertrauen nicht nur die Bürger dieses Landes, sondern ihr vertraut die Welt. So wurde sie zu der führenden Weltreservewährung nach dem US-Dollar.

Geldwertstabilität ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Wachstum der Wirtschaft und für das Wohlergehen aller. Die Bürger unseres Landes wissen das, und sie haben gelernt, wie schwierig es ist, die Stabilität der Währung sogar in einem Land zu bewahren, in dem es bei allem politischen Streit doch einen Grundkonsens gibt über die Bedeutung von Geldwertstabilität. Die Tatsache, daß zirka zwei Drittel der Bevölkerung eine Verschiebung der Währungsunion befürworten, sollte nicht hochfahrend als Ausdruck irrationaler Ängste vor dem Euro abgetan werden. Die Wirtschaftsgeschichte ist reich an Beispielen hochinflationierter Währungen, die schließlich beerdigt werden mußten. Historisch gesehen ist es dagegen ein einmaliger Vorgang, daß ein Land eine stabile Währung aufgibt zugunsten einer gemeinschaftlichen Währung mit anderen Ländern, über die es keine Erfahrungen gibt. Die Hoffnung der Befürworter eines termingerechten Beginns ist, daß es auch nach Beginn der Währungsunion einen vergleichbaren Stabilitätskonsens in den anderen Ländern der Europäischen Union geben wird. Das darf aber aufgrund der langen historischen Erfahrungen auch heute noch bezweifelt werden. Zwar haben sich in Europa, ja weltweit, die Inflationsraten eindrucksvoll zurückgebildet. Aber daraus zu schließen, daß es von nun an immer so bleiben werde, daß sich etwa alle vom Saulus zum Paulus gewandelt hätten, das wäre doch zu einfach gedacht. Daher sind die Bürger zu Recht skeptisch, daß der Euro eine ebenso gute Währung sein wird, wie es die D-Mark bisher war. Es sollte der Politik zu denken geben, daß sie es bisher nicht geschafft hat, das notwendige Vertrauen für den Euro zu erwerben. Da hilft es wenig, Angst als „die größte Feindin des europäischen Fortschritts“ auszumachen. Wer Angst abbauen will, darf sich nicht mit hohlen Sprüchen behelfen, sondern muß konkret und ungeschminkt über die mit der Währungsunion verbundenen Probleme sprechen.

Die Errichtung der Europäischen Währungsunion ist ein politisches Ziel, dessen Rang sich aus dem übergeordneten politischen Ziel einer sowohl politischen wie wirtschaftlichen Integration der Länder Europas ergibt. Wer dieses große Ziel akzeptiert, wird nicht fragen, ob die Errichtung der Währungsunion überhaupt sinnvoll ist. Ohne Zweifel entspricht die Errichtung der Währungsunion der langfristigen Logik des europäischen Integrationsprozesses ebenso wie die Errichtung einer Politischen Union, mit der es ja bisher nicht weit her ist. Für Realisten ist der deutsche Traum von einer föderal geprägten Politischen Union vorerst ausgeträumt. Tatsächlich greift er dem, was mittelfristig politisch machbar ist, zu weit voraus. Die Einführung der Währungsunion dagegen ist durchsetzbar. Aber, so ist zu fragen, ist die Europäische Union politisch und ökonomisch schon reif für den Über-gang zum Euro? Es sollte klar sein, daß der erfreuliche Rückgang der Inflationsraten für sich genommen kein hinreichendes Argument darstellt, diesen großen Schritt zu tun. Es geht vielmehr um eine nüchterne Prüfung, ob die politischen und ökono­mischen Anwendungsbedingungen für den Termin 1999 stimmen. Ein zu frühzeitiger Beginn der Währungsunion birgt die Gefahr eines Scheiterns, das den europäischen Einigungsprozeß auf lange Zeit zurückwerfen könnte. Auch deshalb darf sich kein Politiker, der auf die Entscheidung Einfluß hat, die Antwort zu leicht machen.

I. Staatsdefizite 1997: Die Drei-Prozent-Grenze

Im Vordergrund des öffentlichen Interesses steht die Entwicklung der staatlichen Defizite der Mitgliedsländer des Jahres 1997, und es wird viel darüber spekuliert, wie nahe die Länder der im Vertragswerk von Maastricht festgesetzten Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts kommen werden. Zugleich wird darüber gestritten, ob die Maßgabe von drei Prozent als 3, 0 Prozent zu interpretieren ist oder ob sich nicht auch ein Ergebnis von beispielsweise 3, 3 Prozent damit vereinbaren läßt. Diese Diskussion ist verständlich, wenn man bedenkt, daß es lange Zeit gängige politische Meinung war, den Bürgern zu versprechen, daß die Bundesregierung auf einer strikten Einhaltung der Konvergenzkriterien bestehen werde. Neuerdings tönt es anders. Politiker, die dem politischen Lager der Koalition angehören, verweisen darauf, daß man nicht päpstlicher sein solle als der Papst und schon gar nicht, wenn es um die Teilnahme anderer Länder gehe. Das ist schwer einzusehen, denn die Währungsunion soll eine un-auflösliche Schicksalsgemeinschaft sein. Da ist es ein Gebot der Vernunft zu prüfen, ob die Partner aktiv für Stabilität einstehen werden oder ob man damit rechnen muß, daß einzelne den anderen zur Last fallen werden.

II. Die erreichte Konsolidierung muß nachhaltig sein

Im Hinblick auf die Bedeutung des Defizitkriteriums sind zwei Umstände zu bedenken. Zum ersten verlangt der Vertrag von Maastricht nicht, daß ein Defizit den Grenzwert von 3, 0 Prozent nicht übersteigen darf. Defizite müssen lediglich „in der Nähe“ des Grenzwerts liegen. Die Politik verfügt also über Spielraum für eine weichere Interpretation und Länder, die es nötig haben, werden darauf pochen. Hier liegt eine Gefahr.

Zweitens, und das ist wichtiger, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte muß nachhaltig sein. In dem kürzlich von Wolfgang Schäuble, Michael Glos, Rudolf Seilers und Karl Lamers verfaßten Positionspapier wird das so interpretiert, daß die Entscheidung über den Teilnehmerkreis der Währungsunion „aufgrund der erzielten Ergebnisse in 1997 und im Lichte der Soll-Zahlen für 1998“ gefällt werden sollte. Zwar sind Soll-Zahlen mit Vorsicht zu betrachten, weil es Finanzministern bekanntlich nicht allzu schwer fällt, Zahlen aufzuschreiben und im Parlament beschließen zu lassen, für die keine hinreichende Grundlage besteht, aber der Ansatz ist richtig.

Allerdings wird darauf zu achten sein, daß die Angaben für 1998 nicht ebenfalls an der Grenze von drei Prozent liegen. Sie müssen vielmehr deutlich niedriger liegen und das heißt bei weniger als 2, 5 Prozent. Wenn rückläufige Defizite nicht vorgewiesen werden können, so kann von einer nachhaltigen Haushaltskonsolidierung nicht die Rede sein. Man darf nicht vergessen, daß im Grunde eine tiefer greifende Prüfung der längerfristigen, Haushaltsstrukturen erforderlich wäre. Für die Fragilität der deutschen Haushaltslage spricht beispielsweise, daß es bisher nicht zu bindenden Vereinbarungen über die Beachtung der Maastricht-Vorschriften durch die Bundesländer gekommen ist. Andererseits ist dieser Fehler harmlos im Vergleich zu der unzureichenden Sanierung des italienischen Staatshaushalts. Zwar haben sich die italienischen Haushaltszahlen bemerkenswert verbessert. Dazu hat die Erwartung beigetragen, Italien werde von Beginn an an der Währungsunion teilnehmen können. Das hat den Rückgang der italienischen Zinssätze und damit der hohen Zins-last im italienischen Staatshaushalt begünstigt. Aber es ist leider auch viel Kosmetik im Spiel. Wenn es nicht gelingt, die italienische Sozialversicherung durchgreifend zu sanieren, dann wird es immer wieder zu hohen gesamtstaatlichen Defiziten kommen. Italien ist ein klares Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Strukturen zu prüfen. Wo es an politischer Stabilität fehlt, kann es keine dauerhafte Budgetdisziplin geben.

III. Nicht von Kosmetik blenden lassen

Der Streit um die Zahl 3, 0 mag manchem als müßig erscheinen. Er ist es nicht. Zwar ist es rein makroökonomisch betrachtet, beispielsweise im Hinblick auf negative Zinseffekte, unerheblieh, ob ein Defizit 3, 0 oder etwa 3, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Aber wenn man schon bei der Entscheidung über den Eintritt in die Währungsunion den Nachweis einer nachhaltigen Etaushaltskonsolidierung großzügig behandelte, dann beginge man einen folgenreichen Fehler. Nicht nur beschädigte man damit die eigene Glaubwürdigkeit, man setzte vor allem das falsche Signal für das finanzpolitische Verhalten der Mitgliedsländer nach Beginn der Währungsunion. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die für das Jahr 1997 vorgewiesenen Ergebnisse ohnehin besser aussehen werden, als es der tatsächlichen Lage entspricht. Alle Länder profitieren von dem ungewöhnlich niedrigen Zinsniveau, das die öffentlichen Zinsausgaben und damit die Defizite unter Normal hält. Dabei wird es nicht bleiben. Die absehbaren Preisauftriebstendenzen in Deutschland werden die Bundesbank zwingen, das kurzfristige Zinsniveau allmählich höher zu schleusen. Weiter ist zu bedenken, daß fast überall zu Maßnahmen gegriffen wurde, die einmalig verschönernd wirken, aber nicht dauerhaft sind. Erinnert sei nur an die Einmaleinzahlung der französischen Telekom in den Staatshaushalt. Auf diese Weise hat Frankreich sein Defizit um fast 0, 5 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts herunter manipuliert. Daß Brüssel das für zulässig erkannte, wird nicht verwundern. Aber daß Politiker, die das Problem der Nachhaltigkeit erkannt haben, das hinnehmen, ist schwer zu verstehen. Es gibt einen weiteren Aspekt, warum eine seriöse Prüfung der Beitrittsfähigkeit unverzichtbar ist. Wenn es nicht wirklich zutrifft, daß sich die Mitgliedsländer auf dem Pfad dauerhaft rückläufiger Defizite befinden, dann besteht die Gefahr, daß der Stabilitätspakt zu frühzeitig angewendet werden muß, aber nicht angewendet werden wird. Befinden sich die Defizite der Mitgliedsländer zu Beginn der Währungsunion zu nahe an der Drei-Prozent-Marke, dann genügt ein negativer konjunktureller Schock, um die Defizite in die verbotene Zone zu bringen. Sollte eine größere Zahl von Mitgliedstaaten davon betroffen werden, so besteht die Gefahr, daß sie sich darauf verständigen, die Bestimmungen des Paktes nicht anzuwenden. Zwar kann ein Land, dessen Defizit in Rede steht, im Europäischen Rat nicht mit darüber abstimmen, ob sein Defizit als „exzessiv“ zu bewerten ist. Aber das bedeutet nicht viel, wenn sich andere Länder in vergleichbarer Lage befinden, also gleichermaßen auf Geben und Nehmen angewiesen sind. Wird der Stabilitätspakt schon beim ersten einschlägigen Fall nicht konsequent angewendet, dann wird er nie mehr angewendet werden. Das sollte nicht riskiert werden.

IV. Der Stabilitätspakt

Der Stabilitätspakt soll sichern, daß auch in der Währungsunion finanzpolitische Disziplin gewahrt wird. Der Vertrag von Maastricht wurde in dieser Hinsicht unzureichend ausgehandelt. Der Pakt soll daher gewissermaßen nachträglich Korsettstangen einziehen. Er zielt darauf, erstens das in Art. 104 c EG-Vertrag vorgesehene Verfahren zur Feststellung eines exzessiven Defizits zu präzisieren, zweitens die Drohung von Sanktionen für den Fall mangelnder Haushaltsdisziplin wirksam zu operationalisieren und damit dieses Instrument zu schärfen und drittens das gesamte Feststellungs-und Sanktionsverfahren zu beschleunigen.

Eine wichtige Bestimmung des Paktes besteht in der Verpflichtung der Mitgliedsländer, mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder gar einen Überschuß aufweisenden Haushalt anzustreben. Wenn es schon heute so weit wäre, dann könnte man der Währungsunion gelassener entgegensehen. Dann wäre nämlich gesichert, daß für den Fall negativer makroökonomischer Schocks ein hinreichender Spielraum verbliebe, die Defizite unterhalb der Drei-Prozent-Grenze zu halten. Aber einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen erfordert, durch Ausgabenkürzung das strukturelle Defizit zu beseitigen. Davon sind praktisch alle Mitglieds-länder heute noch weit entfernt. Das trifft insbesondere auch für Deutschland zu, wie sich an den verzweifelten Bemühungen des Bundesfinanzministers, für 1997 überhaupt die Drei-Prozent-Marke zu erreichen, ablesen läßt.

Der Pakt sieht vor, daß die Länder mehrjährige Stabilitätsprogramme vorlegen sollen, in denen sie ihre Haushaltsziele ausweisen und einen Anpassungspfad für die Defizite festlegen. Es handelt sich um eine Art mittelfristige Finanzplanung, die -wie wir aus den deutschen Erfahrungen wissen -in der Regel Makulatur ist, weil sie verständlicherweise auf in der Regel zu optimistischen Prognosen über Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Steuereinnahmen aufgebaut wird. Auch eine jährliche Aktualisierung ändert an der Tendenz des „Schönrechnens“ nichts.

Der Stabilitätspakt bestimmt, daß Kommission und Rat (Ecofin) anhand dieser Programme und der aktuellen Entwicklung prüfen, ob Anlaß zu einer Frühwarnung besteht. Gegebenenfalls soll der Rat Empfehlungen aussprechen. Überschreitet das Defizit eines Landes die Drei-Prozent-Marke, so ist zu entscheiden, ob das Defizit als übermäßig einzustufen ist und damit Folgen hat. Ein Defizit wird als Ausnahme und damit als nicht übermäßigeingestuft, wenn es auf ein außergewöhnliches Ereignis oder auf einen Wirtschaftsrückgang von zwei Prozent oder mehr zurückzuführen ist. Das ist akzeptabel. Bei einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um weniger als zwei Prozent kann die Kommission das Defizit als übermäßig kennzeichnen. Sie muß es aber nicht tun. Hier ergibt sich eine offene Flanke, weil die Einschätzung der Kommission praktisch das weitere Verfahren prägt, auch wenn der Europäische Rat anders entscheiden könnte. Sofern ein Wirtschaftsrückgang weniger als zwei Prozent, aber mindestens 0, 75 Prozent beträgt und die Kommission das Defizit als übermäßig feststellt, gestattet der Pakt dem Mitgliedstaat, gegenüber dem Rat Einwendungen folgender Art zu erheben: Die Rezession sei plötzlich eingetreten, oder die Volkswirtschaft leide unter kumulierten Wachstumsverlusten im Vergleich zu früheren Trends. Insbesondere die letztgenannte Qualifikation ist äußerst schwammig und bietet daher Spielraum für Entschuldigungen, die das Land vor Konsequenzen bewahren. Wäre es etwa Deutschland bei seinen hohen Defiziten der vergangenen Jahre schwergefallen zu argumentieren, es leide unter kumulierten Wachstumsverlusten im Vergleich zu früheren Trends?

Insgesamt ist zu schließen, daß ein Defizit von der Kommission allenfalls dann als exzessiv bezeichnet werden wird, wenn die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts positiv ist oder, falls sie negativ ist, jedenfalls nicht die Marke von 0, 75 Prozent überschreitet. Aber sogar in diesen Fällen muß der Rat nicht (mit qualifizierter Mehrheit; Art. 104 c Abs. 6 EG-Vertrag) ein übermäßiges Defizit feststellen. Er wird sich um so schwerer tun, wenn für mehrere Länder gleichzeitig diese Vermutung gilt. Das wird aufgrund des relativ engen Konjunktur-verbundes der Mitgliedsländer häufiger der Fall sein. Nun darf zwar -wie oben erwähnt -der jeweils betroffene Staat nicht über seinen eigenen Fall abstimmen, wohl aber über die Berechtigung gleichzeitiger Defizite anderer Länder. Das lädt zu Kollusion ein.

Anzuerkennen ist, daß das an die Feststellung eines übermäßigen Defizits sich anschließende Verfahren der Mahnungen bis zum Verhängen von Sanktionen präzisiert und zeitlich konkretisiert wird. Das vorgesehene Verfahren erscheint in sich schlüssig. Es enthält aber Fußangeln. Ein weit wirksameres Verfahren hätte eine automatische Verhängung von Sanktionen vorgesehen, ausgelöst vom Bericht der Kommission. Das konnte nicht durchgesetzt werden. Der Vorteil wäre gewesen, daß der betroffene Mitgliedstaat Gründe hätte vortragen müssen, die den Rat zur Aufhebung der Sanktionen veranlassen konnten. Eine Aufhebung von Sanktionen wäre politisch weniger leicht zu erreichen als die Verhinderung des Verhängens von Sanktionen. Allerdings muß man sich darüber im klaren sein, daß der Stabilitätspakt nur Wirkung haben wird, sofern einerseits Kommission und Rat ihn konsequent anwenden, die Mitglieds-länder andererseits ihnen aber selten dazu Anlaß geben. Anderenfalls wird sich der Pakt schnell abnutzen, insbesondere dann, wenn er gleich zu Beginn der Währungsunion angewendet werden muß. Letztlich dürften finanzielle Bußen, mit denen der Pakt droht, nicht durchzusetzen sein.

V. Dauerhaft disziplinierte Finanzpolitik unerläßlich

Mancher mag sich fragen, ob das Insistieren auf dauerhaft disziplinierter Finanzpolitik nicht etwas übertrieben ist. Zunächst ist zu bedenken, daß nicht nur Inflation, sondern ebenso Staatsverschuldung ein süßes Gift ist, dessen negative Wirkungen auf die Entwicklung von Staatshaushalten und Gesamtwirtschaft anfänglich kaum auffallen. Wenn man etwas weiter zurückschauend die Entwicklung der Staatsfinanzen der europäischen Länder ansieht, dann wird deutlich, warum die Staatsverschuldung zu einem Dauerproblem geworden ist. Man hat sich seit den frühen siebziger Jahren zu gut damit eingerichtet, Defizite als normal anzusehen und ein allmähliches Ansteigen des relativen Schuldenstands für unbedenklich zu halten. Als diese Politik begann, hat man das gut begründen können mit der keynesianischen Botschaft, wonach das Verschulden in einer Rezession unbedenklich sei, weil im nachfolgenden Aufschwung reichlicher fließende Steuereinnahmen es ermöglichten, die Schulden wieder zu tilgen. Letzteres wurde aber unterlassen. Es wurde lediglich die Neuverschuldung reduziert. Da aber das Zinsniveau an den Kapitalmärkten in aller Regel höher ist als die normale Wachstumsrate der Volkswirtschaften und damit der Steuereinnahmen, entsteht bei Unterlassen von Tilgung eine Art „Schneeballeffekt“. Und zwar erzwingt das steigende Schuldenniveau selbst bei unverändertem Zinsniveau steigende Zinsausgaben, die ihrerseits das jeweils folgende Defizit und damit die Neuverschuldung vergrößern. Wartet man mit einer Konsolidierung der Staatsfinanzen zu lange, dann kann es leicht dazu kommen, daß die erforderlichen Einschnitte zu schmerzhaft erscheinen und daher politisch kaum mehr durchgesetzt werden können. Ein Entwicklungstrend zu übermäßiger Staatsverschuldung bedroht das reale Wachstum der Volkswirtschaften, weil mit der Belastung des Kapitalmarktes das reale Zinsniveau heraufgetrieben wird und damit arbeitsplatzschaffende, private Investitionen verdrängt werden, die sonst zum Zuge gekommen wären. Dies wäre weniger bedenklich, wenn sichergestellt werden könnte, daß die öffentliche Verschuldung nur der Finanzierung wachstumsfördernder öffentlicher Investitionen in die Infrastruktur dient. Aber die Praxis vieler Länder -wie derzeit auch Deutschlands -zeigt, daß ein erheblicher Teil der Neuverschuldung Staatskonsum finanziert. Das läßt sich allenfalls in einer Ausnahmesituation rechtfertigen, also in einer schweren Rezession. Die hohe Arbeitslosigkeit kann nicht zur Begründung herangezogen werden, weil sie struktureller Natur und zur Normalität geworden ist. Bei einer Schuldenfinanzierung von staatlichem Konsum entsteht eine öffentliche Zinslast, der keine irgendwie gearteten Erträge gegenüberstehen. Zukünftigen Generationen wird es überlassen, für den Konsum ihrer Vorfahren zu bezahlen.

Solange ein Land der Währungsunion nicht angehört, mag es das halten, wie es will. Wenn es aber der Währungsunion beitritt, dann hat es zu beachten, daß undisziplinierte Finanzpolitik negative Rückwirkungen hat für alle anderen Mitgliedsländer. Die zinstreibende Wirkung einer übermäßigen Beanspruchung des Kapitalmarkts durch einzelne Mitgliedsländer wirkt sich bei gemeinsamer Währung auf die Kreditkosten aller anderen Länder und auf die Investitionsbedingungen ihrer Unternehmen aus. Zwar ist die Zinswirkung aufgrund des größeren Währungsgebiets geringer, aber ohne effektive Begrenzungen der Verschuldung könnte das einzelne Regierungen dazu verleiten, noch weniger als früher auf nachhaltige Konsolidierung hinzuarbeiten.

Der hohe Rang der Schuldenkriterien ergibt sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank den Rücken frei zu halten. Verstrickung in übermäßige Staatsverschuldung und die drückende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte, die sie mit sich bringt, lädt unvermeidlich dazu ein, nach dem altbekannten Ausweg expansiver Geldpolitik zu suchen. Zwar haben die Mitgliedsländer nicht zu bestimmen, wie die Europäische Zentralbank ihre Geldpolitik führt. Aber das muß sie nicht hindern, nach niedrigen Zinsen zu rufen und politischen Druck auf die Bank auszuüben. Der Disput zwischen Bundesregierung und Bundesbank über die Frage einer Sonderausschüttung von Buchgewinnen auf Gold und Devisenreserven hat gezeigt, daß auch ein Statut der Unabhängigkeit nicht gegen Pressionsversuche feit.

VI. Das Problem hoher Arbeitslosigkeit

Einen wichtigen Aspekt der Währungsunion, der lange Zeit in der öffentlichen Diskussion keine Rolle spielte, bildet das Problem der hohen Arbeitslosigkeit. Im Vertrag von Maastricht war von diesem Problem nicht die Rede. Es bedurfte der Forderung Frankreichs nach Aufnahme eines Beschäftigungskapitels in den Vertrag, daß dieser Aspekt der Währungsunion mehr Aufmerksamkeit erfährt. Die Befürworter einer termingerechten Einführung des Euro weisen allerdings den Gedanken weit von sich, daß es für die Funktionsfähigkeit der Währungsunion und für die Stabilität des Euro auch von Bedeutung sein könnte, ob die nationalen Arbeitsmärkte im Gleichgewicht sind, ob die Arbeitslosigkeit in einzelnen Ländern sehr hoch ist und daher wirtschafts-und sozialpolitisch ein vorrangiges Problem bildet oder ob sie relativ gering ist, ob bereits geeignete Maßnahmen ergriffen worden sind, die zu mehr Beschäftigung führen werden, oder ob man die Inangriffnahme dieses Problems verschiebt auf die Zeit nach Beginn der Währungsunion.

Die Struktur der Arbeitslosigkeit ist sehr unterschiedlich in Europa. Legt man anstatt der nationalen Angaben die vom statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften Eurostat ermittelten standardisierten Arbeitslosenquoten zugrunde, die die Zahl der Arbeitslosen in Prozent der zivilen Erwerbsbevölkerung ausdrücken, so ergibt sich folgendes Bild: In der Europäischen Union betrug die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt der siebziger Jahre 4, 2 Prozent. Sie stieg dann rasch auf mehr als das Doppelte im Durchschnitt der achtziger Jahre an, und zwar auf 9, 3 Prozent. Seitdem hat sie weiter zugenommen und liegt derzeit bei knapp elf Prozent. In den meisten Mitgliedsländern ist die Arbeitslosigkeit in derjüngsten Zeit nicht mehr weiter angestiegen, aber eine deutliche Trendumkehr ist auch nicht zu konstatieren. Vor allem unterscheiden sich die erreichten Niveaus sehr stark. Die höchsten Arbeitslosenquoten sind in Spanien (20 Prozent), Finnland (14 Prozent), Frankreich (12, 6 Prozent) und Italien (12, 4 Prozent) zu verzeichnen. Die niedrigsten Arbeitslosenquoten haben Luxemburg (4 Prozent), Österreich (4, 5 Prozent) und Holland (5, 5 Prozent). Hierzulande ist die Arbeitslosigkeit mit mehr als elf Prozent, laut amtlicher Statistik, bzw. knapp zehn Prozent, laut Eurostat, so hoch wie nie zuvor, wenngleich sie noch etwas unterhalb des europäischen Durchschnitts liegt. Aus der sehr unterschiedlichen Situation ergeben sich unterschiedliche Interessenlagen.Es muß damit gerechnet werden, daß Länder mit sehr hoher Arbeitslosigkeit darauf drängen werden, Gemeinschaftsprogramme in Gang zu setzen.

VII. Der Euro schafft keine zusätzlichen Arbeitsplätze

Eine gleichsam regierungsoffizielle These lautet, die Währungsunion werde zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Das wäre erfreulich. Die These ist aber leider falsch. Die Währungsunion wird Effizienzgewinne bringen, weil sie die Transaktionskosten und Informationskosten der Unternehmen wie der Bürger im grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs-und Kapitalverkehr senkt. Mit der Einführung des Euro werden die Kosten des Umtauschs und der Absicherung gegen Wechsel-kursschwankungen entfallen, und die Preise für Güter und Dienstleistungen werden über die nationalen Grenzen hinweg unmittelbar vergleichbar werden. Das zusammengenommen wird den Waren-und Dienstleistungsaustausch in Europa noch weiter intensivieren, wird die Integration der Märkte vertiefen und damit effizienzsteigernd wirken. Aber Effizienzgewinne werden sich nicht in zusätzliche Arbeitsplätze umwandeln lassen, weil die Arbeitsmärkte der meisten Mitgliedsländer zu inflexibel geworden sind. Die anhaltend hohen Arbeitslosenzahlen in Deutschland, Frankreich oder Italien sprechen eine deutliche Sprache.

Es darf nicht übersehen werden, daß die Ausschöpfung von Effizienzgewinnen sich in Form einer Verschärfung des innereuropäischen Wettbewerbs vollziehen wird, der den Strukturwandel weiter beschleunigen wird. Ein Beispiel bildet die Bank-und Finanzwirtschaft, in der die Fusionswelle noch ansteigen wird. Hier wie in anderen Bereichen muß mit einer Verschärfung des Rationalisierungsdrucks und mit einem Abbau von Mitarbeitern gerechnet werden. Gesamtwirtschaftlich gesehen wäre das nicht problematisch, wenn man darauf zählen könnte, daß an anderer Stelle vermehrt Arbeitsplätze entstehen werden. Aber das setzt eine wesentlich größere Flexibilität der Arbeitsmärkte voraus, als sie bisher gegeben ist.

Die Währungsunion wird nicht zu einer Lösung des Beschäftigungsproblems in Europa beitragen, sondern es tendenziell verschärfen. Das Instrument des Wechselkurses, das die Wirkungen von Schocks zwischen Mitgliedsländern abpuffern kann, steht nach Beginn der Währungsunion nicht mehr zur Verfügung, eben weil es nur noch die gemeinsame Währung gibt. Innereuropäische Verzerrungen der relativen Preise können daher künftig nur noch durch entsprechende Anpassungen von Lohnniveau und Lohndifferenzierung abgebaut werden. Die Lohnpolitik muß diszipliniert auch den Part der Wechselkurspolitik übernehmen, damit gesamtwirtschaftliche Schäden vermieden werden können. Auf hinreichende Lohnanpassung ist aber kaum zu rechnen, solange es dabei bleibt, daß Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften unangefochten über Lohnniveau, Lohn-struktur und Arbeitsbedingungen bestimmen können. Im Unterschied zu den Gütermärkten versagen die Arbeitsmärkte, weil ihre Fähigkeit zur Stabilisierung außer Kraft gesetzt ist. Daran wird sich wenig ändern, solange man sich scheut, sich des politisch brisanten Themas einer durchgreifenden Deregulierung der Arbeitsmärkte ernsthaft anzunehmen.

VIII. Wird der Euro die Tariflohnpolitik disziplinieren?

Es gibt Befürworter einer frühzeitigen Währungsunion, die das anders sehen. Sie setzen darauf, daß die veränderten Bedingungen der Währungsunion die Tarifpartner zu mehr Selbstdisziplin anhalten werden. Aber was spricht dafür, daß die nationalen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften durch den Euro diszipliniert werden könnten? Richtig ist, daß in der Währungsunion kein Land mehr Rückgriff nehmen kann auf das alte Rezept, die negativen Konsequenzen einer zu großzügigen Lohnpolitik für die Beschäftigung notfalls durch eine korrigierende Abwertung der nationalen Währung aufzufangen. In der Währungsunion führt jede Veränderung von Nominallöhnen in einem Mitgliedsland unmittelbar zu einer Veränderung der Wettbewerbsposition dieses Landes im Rahmen des Binnenmarktes. Wird daher Lohn-politik undiszipliniert geführt, kommt es unvermeidlich zu weiterer Arbeitslosigkeit in diesem Land und, falls der lohnpolitische Kurs nicht korrigiert wird, zu einer Verbesserung der Beschäftigungslage in Partnerländern. Arbeitsplätze wandern gleichsam aus. Man kann das am Beispiel der seit langem bestehenden faktischen Währungsunion zwischen Deutschland und Holland studieren. Die holländische Volkswirtschaft ist sehr eng mit der deutschen verflochten und ebenso produktivitätsstark. Aber in Holland wurde seit Anfang der neunziger Jahre dafür gesorgt, daß der Anstieg der Lohnkosten je Produkteinheit unter dem Anstieg der deutschen Lohnkosten blieb. Das ist der Hauptgrund, warum in Holland die Arbeitslosigkeit in den vergange­nen Jahren abgenommen hat. Ein Abbau der Arbeitslosigkeit setzt voraus, daß der Anstieg der Arbeitskosten zurückbleibt hinter dem durch technischen Fortschritt ermöglichten Anstieg der Produktivität. In der Zukunft mag mehr als bisher bedacht werden, daß die Tariflohnpolitik darüber entscheidet, ob Arbeitsplätze abwandern oder zuwandern. Aber ist das mehr als eine vage Hoffnung? Warum sollte die Währungsunion Einsichten befördern, die bisher in den Wind geschlagen wurden? Wußte man etwa nicht um den Zusammenhang zwischen den Kosten der Arbeit und der Menge der Arbeitsnachfrage? Hat nicht der Ministerpräsident eines Bundeslandes mit hoher Arbeitslosigkeit gerade das Ende der Bescheidenheit propagiert?

IX. Beschäftigungskapitel erlaubt Verantwortung abzuschieben

Bis zum Beginn der Währungsunion bleibt klar, daß die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit eine nationale Aufgabe ist. Nach Beginn der Währungsunion besteht die nicht zu unterschätzende Gefahr, daß in Ländern, wo die Arbeitslosigkeit besonders drückend ist, politisch argumentiert werden wird, die nationalen Probleme seien nur zum Teil hausgemacht. Es bedürfe deshalb europäischer Initiativen zum Abbau der Arbeitslosigkeit und einer Geldpolitik, die den Euro nicht zu hart werden läßt. Diese Entwicklung ist bereits eingeleitet. Frankreich hat ihr den Weg gebahnt, indem es auf dem europäischen Gipfel von Amsterdam durchsetzte, daß in den Vertrag von Maastricht ein Beschäftigungskapitel eingefügt wird. Darin wird die Förderung der Beschäftigung als ein gemeinschaftliches Ziel festgeschrieben und der Grund für eine „koordinierte Beschäftigungsstrategie“ gelegt. Es soll beschäftigungspolitische Leitlinien geben, eine Koordinierung soll angestrebt werden, und es sollen europäische Pilotprojekte eingerichtet werden können. Die Bundesregierung hat sich zu Recht gegen eine auch nur partielle Verlagerung der Verantwortlichkeiten für die Beschäftigung von der nationalen auf die europäische Ebene gewehrt. Die hohe Arbeitslosigkeit ist eben nicht Folge einer unzureichenden Gesamtnachfrage auf europäischer Ebene. Daher besteht kein Bedarf für Koordination. Mit der Übertragung beschäftigungspolitischer Kompetenz auf die europäische Ebene nimmt man den Druck von den Tarifparteien, eine zurückhaltende Lohnpolitik zu betreiben. Leider hat die Bundesregierung schließlich doch nachgeben müssen und sich von der Zusage beruhigen lassen, daß es zu keinen neuen Kosten für die Mitgliedstaaten kommen werde. Realistisch betrachtet ist das aber nur eine Frage der Zeit.

X. Ruf nach mehr Transfers wird die Folge sein

Das Beschäftigungskapitel wird längerfristig zum Kristallisationspunkt für expansive Gemeinschaftsprogramme werden und der Kommission als Ansatzpunkt dienen, den zentralen Haushalt auszuweiten und dafür eigene Einnahmequellen zu fordern. Der Ruf nach gemeinschaftlicher Konjunkturstimulierung und schließlich auch nach ausgleichenden Transferzahlungen wird unvermeidlich kommen. Im Zuge dieser Entwicklung wird es als folgerichtig erscheinen, auch eine Koordination der Beschäftigungsmaßnahmen mit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank zu verlangen. Dabei wird man sich darauf berufen können, daß die Europäische Zentralbank im Vertrag von Maastricht darauf verpflichtet worden ist, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft zu unterstützen. Zwar gilt das nur insoweit, als das Ziel der Preisstabilität dadurch nicht beeinträchtigt wird, aber das ist bekanntlich eine Frage der Interpretation. Man darf nicht verkennen, daß auch eine weitgehend unabhängige Zentralbank sich auf Dauer solchen Forderungen nicht entziehen kann, wenn sie von einer größeren Anzahl von Mitgliedstaaten vorgetragen werden und in der Öffentlichkeit Resonanz finden. Es, war daher ein strategischer Fehler, den Vertrag von Maastricht um ein Beschäftigungskapitel zu ergänzen. Realistisch betrachtet ist es illusionär, darauf zu rechnen, daß der Euro eine ebenso stabile Währung wie die D-Mark werden wird. Das Ziel der Preisstabilität wird zwar überall bejaht. Aber in den meisten Partnerländern wird ihm nicht der gleiche Rang zuerkannt wie hierzulande. Daher gibt es auch weniger Hemmungen, eine aktive Wechselkurspolitik zu betreiben. Folgerichtig wird in Frankreich argumentiert, der Euro müsse als Instrument der Handelspolitik eingesetzt werden. Konkret bedeutet das, daß wir uns auf französische Initiativen werden einstellen müssen, der Europäischen Zentralbank allgemeine Wechselkursorientierungen für die Manipulation des Wechselkurses zum Dollar vorzugeben. Auch hier gilt, daß die Europäische Zentralbank nicht folgen muß, und ebenso, daß es letztlich eine Frage der Hartnäckigkeit und der öffentlichen Resonanz ist, wer sich durchsetzen wird.

XI. Verschiebung nicht tabuisieren

Die Währungsunion bildet den Schlußstein der sehr erfolgreichen wirtschaftlichen Integration Europas. Aber diesen Schlußstein bereits 1999 einzusetzen, wäre doch verfrüht. Wichtige, schwierige Hausaufgaben sind nicht erledigt worden. Mit der in den meisten Ländern hohen Arbeitslosigkeit wird eine schwerwiegende Hypothek in die Währungsunion eingebracht, die für die Stabilität des Euro wenig Gutes erwarten läßt. Diese Einschätzung folgt aus der Analyse, sie ist nicht Ausdruck von Angst. Die Option der Verschiebung sollte daher nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden. Es mag durchaus sein, daß eine Verschiebung der Währungsunion um drei bis fünf Jahre an der Beschäftigungslage in den Mitgliedsländern wenig ändern würde, weil der politische Mut oder die Fähigkeit zu grundlegenden Reformen fehlt.

Aber eine Verschiebung würde jedenfalls verhindern, daß eine Reihe von Mitgliedsländern die Währungsunion mit fragiler finanzpolitischer Lage beginnt. Die Verschiebung würde ihnen den Zeitbedarf verschaffen, ihre Haushalte wirklich durchgreifend zu sanieren. Ein Beginn der Währungsunion ohne Defizite dürfte es der Bevölkerung erleichtern, dem Euro den notwendigen Vertrauensvorschuß zu gewähren. Befürworter eines termingerechten Beginns argumentieren, eine Verschiebung werde einzelne Länder dazu veranlassen, in den Bemühungen um Konsolidierung nachzulassen. Aber das hieße doch, daß die finanzpolitischen Anstrengungen nur betrieben werden, um die Währungsunion zu erreichen. Wenn es so wäre, dann könnte man nicht darauf vertrauen, daß diese Politik nach Beginn der Währungsunion fortgesetzt werden wird. Dann sollte man sich eingestehen, daß die Währungsunion verfrüht ist, weil auf weichen Grund gebaut.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manfred J. M. Neumann, Dr. rer. pol., geb. 1940; seit 1981 Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften, insb. Wirtschaftspolitik, und Direktor des Instituts für Internationale Wirtschaftspolitik der Universität Bonn; Mitglied u. a.des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft (Vorsitzender). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geldtheorie und Geldpolitik sowie zu Fragen der internationalen Wirtschaftspolitik.