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Forschung und Lehre -das Ideal Humboldts heute | APuZ 15/1998 | bpb.de

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APuZ 15/1998 Forschung und Lehre -das Ideal Humboldts heute Die deutschen Universitäten, der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit empfohlen! Plädoyer für eine neue Hochschulpolitik „Differenzierte Hochschulen“ Ein Plädoyer für mehr Effizienz und Durchlässigkeit Hochschulreform aus der Sicht der Wirtschaft

Forschung und Lehre -das Ideal Humboldts heute

Jürgen Mitteistraß

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die jüngere Geschichte der deutschen Universität ist durch eine idealistische Theorie der Universität geprägt, deren Kern in den Formeln Einheit von Forschung und Lehre sowie Bildung durch Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Dabei war die Humboldtsche Universitätsreform, in der diese Theorie verwirklicht werden sollte, ursprünglich als eine Reform nicht für die Universität, sondern gegen die Universität (in ihren überkommenen Formen) gedacht. Daß aus ihr dennoch eine neue Universität und nicht eine gänzlich neue Institution neben den Universitäten und den Akademien entstand, war das Ergebnis eines Kompromisses, vor dessen Hintergrund heute in den Universitäten systematische Ungereimtheiten zunehmen. Zu diesen Ungereimtheiten gehört eine wachsende Unordnung des Wissens, die nur über die Realisierung der Idee einer praktizierten Transdisziplinarität des Wissens wieder zu einer tragfähigen Ordnung führen wird. Mit ihr erhält auch die Idee der Einheit von Forschung und Lehre, verstanden als das Prinzip, Lehre aus Forschung zu entwickeln, noch einmal eine Realisierungschance, desgleichen die Idee einer Bildung durch Wissenschaft. Zu den Voraussetzungen dafür, das heißt für eine neue Ordnung von Forschung und Lehre, gehört insgesamt, daß in der Universität neben dem Prinzip der Transdisziplinarität auch wieder für die Prinzipien der Universalität, der Identität in Pluralität und der Qualität gesorgt wird. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, wird das Paradigma Schule an die Stelle des Paradigmas Universität treten. Die (idealistische) Theorie der Universität fände ihr Ende.

Leicht veränderte Fassung eines Vortrags auf einer von der Societas Humboldtiana Polonorum 1997 in Krakow veranstalteten Konferenz „Systemwandel und die polnische Wissenschaft im europäischen Kontext“ (Jagiellonen-Universität, Krakow, 23. -25. Mai 1997). Der Vortrag erscheint in den Konferenzakten.

In Deutschland scheint es derzeit in der Hochschuldebatte mal wieder um Leben oder Tod zu gehen. Allerdings weniger um Leben oder Tod des Hochschulwesens, obgleich auch dessen Zustand meist in medizinischen Begriffen wie Krankheit und Siechtum beschrieben wird, als vielmehr um das Schicksal eines längst unter den olympischen Göttern Geglaubten. Diese Debatte wird wesentlich mit Formeln bestritten und geht zu Lasten eines Dritten. Die Rede ist von Wilhelm von Humboldt. , Humboldt lebt! ’ hallt es hinüber, Humboldt ist tot! ’ hallt es herüber. Wieder einmal -in den sechziger Jahren war es ähnlich, aber für den Betroffenen besser -muß der gute alte Humboldt, vom Februar 1809 bis zum April 1810 als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Innern in Berlin zuständig für das preußische Hochschulwesen, für die Einfallslosigkeit moderner hochschulpolitischer Debatten in Deutschland herhalten. Man läßt ihm keine Ruhe, und so geistert er denn, gespenstergleich, durch alle hochschulpolitischen Lager, als Symbol mal einer besseren Gegenwart, mal einer verlorenen Vergangenheit, wenn es um eine Idee, eben die Idee Humboldts, und deren institutionelles Schicksal geht.

Was ist das für eine Idee? Sie gibt sich heute in erster Linie selbst wieder in Formeln zu erkennen. Diese lauten: , Bildung durch Wissenschaft 4, , Forsehen in Einsamkeit und Freiheit , , Einheit von Forschung und Lehre 4. Vor allem diese dritte Formel ist es, die immer wieder hochgehalten und immer wieder belächelt wird. Wie soll denn auch ein System, das quantitativ über alles für Forschung und Lehre einträgliche Maß hinausgewachsen ist, noch jene übersichtlichen Strukturen bieten können, in denen Lehre wirklich aus Forschung erfolgt -eben dies besagt die Einheitsformel -und damit auch das Lernen der Forschung nahebleibt? Die Totengesänge gelten diesem Umstand, die Beschwörungen Humboldts der wohl richtigen Wahrnehmung, daß mit der Humboldtschen Idee der Universität die Universität selbst, nämlich als wissenschaftliche Hochschule, in der nicht nur wissenschaftlich gelehrt, sondern auch wissenschaftlich geforscht wird, untergeht. Entweder -so lautet hier kurz und bündig die Botschaft -hat die Universität eine Idee, und diese ist ihre Humboldtsche oder idealistische Idee, oder es gibt keine Universität mehr.

Im folgenden soll dieser Idee bzw.dem Humboldtschen Ideal der Universität und den Überlebenschancen, die Idee bzw. Ideal noch haben mögen, nachgegangen werden. Ich wähle dazu die Thesen-form und scheue angesichts der auffälligen Blässe, die in Deutschland nicht nur die Universitätsentwicklung selbst, sondern auch den hochschulpolitischen Umgang mit dieser Entwicklung beschlichen hat, nicht vor kräftigen Urteilen zurück. Wer hinter den sicheren Linien dieser Entwicklung und dieses Umgangs mit ihr bleibt, wird selber blaß. Und das soll mir hier nicht passieren. Meine Stichworte lauten: idealistische Einheit von Forschung und Lehre, Mythos Humboldt, Unordnung des Wissens, Bildung durch Wissenschaft, Universalität oder Partikularität.

I.

In der deutschen Universität verbindet sich der traditionelle Bildungsauftrag von Universitäten mit der idealistischen Idee des autonomen Subjekts. Deshalb gibt es auch eine Theorie der Universität, die in den Formeln Einheit von Forschung und Lehre und Bildung durch Wissenschaft zum Ausdruck kommt.

Mark Twain, der Autor der Abenteuer Tom Sawyers und Huckleberry Finns, ist ein vielgereister Mann. 1878 reist er durch Europa, ein neuer Kolumbus, der nach Osten geht, um die europäische Kultur neu auszumessen. Nach einem Besuch Heidelbergs notiert er: Der deutsche Student hat „das Gymnasium mit einer Bildung verlassen, die so umfangreich und vollständig ist, daß die Universität höchstens noch einige ihrer tiefgründigeren Spezialgebiete vervollkommnen kann. Es heißt, wenn ein Schüler das Gymnasium verläßt, besitzt er nicht nur eine umfassende Bildung, sondern er weiß, was er weiß -er ist nicht von Ungewißheit umnebelt, es ist so in ihn hineingebrannt, daß es haftet. Zum Beispiel liest und schreibt er nicht nur Griechisch, sondern er spricht es auch; das gleiche gilt für Latein. Ausländische Jünglinge machen um das Gymnasium einen Bogen; seine Regeln sind zu streng. Sie gehen zur Universität, um ein Mansardendach über ihrer ganzen Allgemeinbildung zu errichten; aber der deutsche Student hat schon sein Mansardendach, darum geht er hin, um ein Türmchen in Gestalt irgendeines Spezialfaches hinzuzufügen, wie etwa eines besonderen Zweiges der Gesetzeskunde oder der Medizin oder der Philologie -beispielsweise internationales Recht oder Augenkrankheiten oder ein spezielles Studium der alten gotischen Sprachen.“

Das deutsche Gymnasium als der eigentliche Ort der Bildung, die Universität unter Gesichtspunkten der Vervollständigung und der Spezialisierung des Wissens als seine institutionelle Fortsetzung und wissenschaftliche Krönung -so stellen sich die schulischen und universitären Verhältnisse Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland dar, und so bestimmen sie weitgehend auch noch die Entwicklung im 20. Jahrhundert. Erst in den letzten Jahrzehnten ist beides problematisch geworden: die Idee des Gymnasiums als Königsweg der Bildung und die Idee der Universität als deren Fortsetzung unter den Gesichtspunkten einer Bildung durch Wissenschaft, realisiert in der Einheit von Forschung, Lehre und Lernen. Wie sieht diese idealistische Idee, die in Humboldts Universität ihre institutionelle Realisierung findet, aus?

Nach Johann Gottlieb Fichtes „Deducirtem Plan einer zu Berlin zu errichtenden hohem Lehranstalt“ (1807) soll Wissenschaft in ihrer in den Akademien und Universitäten institutionalisierten Form, unter dem Gesichtspunkt einer „Erziehung der Nation ... zu Klarheit und Geistesfreiheit“, „die Erneuerung aller menschlichen Verhältnisse vorbereiten und möglich machen“ Friedrich Schleiermacher, der theologische Kollege Fichtes in Berlin, drückt dasselbe, nur schlichter, in der Bemerkung aus, „es solle unter den Menschen nicht nur Kenntnisse aller Art geben, sondern auch eine Wissenschaft“ Wilhelm von Humboldt wiederum ruft den Staat auf, „seine Universitäten weder als Gymnasien noch als Specialschulen (zu) behandeln“ und unterstellt dabei, „daß. wenn sie (die Universitäten) ihren Endzweck erreichen, sich auch seine (des Staates) Zwecke, und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen läßt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als er in Bewegung zu setzen vermag“ Noch 1956 bestätigt der Historiker Hermann Heimpel der deutschen Universität, daß die ihr zugrunde liegende „Bildungsidee des deutschen Idealismus im Sinne Fichtes vielleicht erschüttert, aber nicht bestritten ist: Anwendung der Wissenschaft, Bildung des Menschen durch Wissenschaft; durch eine Wissenschaft, welche nicht als ausgebreitetes Dogma, sondern als Einheit von Forschung und Lehre besteht“ Diese Einheit wiederum war der zentrale Gedanke der Humboldtschen Universitätsreform. Er wird von Schleiermacher wie folgt wiedergegeben: „daß sie (gemeint sind die Studenten) lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewußt zu werden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität“

Diesem Geschäft scheint die deutsche Universität heute nicht mehr nachzukommen, und wo sie dies dennoch zu tun glaubt, wird unverhohlen von der Lebenslüge der deutschen Universität gesprochen. Hat sich die ursprüngliche (idealistische) Wahrheit, damit auch der idealistische Anspruch einer Bildung durch Wissenschaft, zur Unwahrheit entwickelt? Oder ist nur noch Lüge, was sich nach wie vor als Wahrheit gibt? Tatsächlich deutet heute in der Wirklichkeit der deutschen Universitäten, die sich, wie andernorts, von kleinen herzoglichen Gründungen in Massenuniversitäten verwandelt haben, vieles darauf hin. Der Ruf . Humboldt ist tot! 1 spiegelt diesen Befund wider, aber auch eine Analyse, wie sie zuletzt Peter Glotz mit seinem Buch „Im Kem verrottet? Fünf vor zwölf an Deutschlands Universitäten“ (1996) vorgelegt hat. Und doch ist damit über die ursprüngliche Wahrheit einer idealistischen Theorie der Universität noch nicht endgültig entschieden. Denn, auf die Formel Einheit von Forschung und Lehre und die Aufgaben eines Universitätslehrers bezogen: Wer die Forschung aus dem Auge verliert, wer nicht weiß, wo die Forschungslinien seiner Disziplin liegen und in welcher Entwicklung er sich mit seinem eigenen Wissen befindet, der lehrt auch schlecht und bildet schlecht aus, jedenfalls unter Gesichtspunkten einer universitären Lehre und Ausbildung. Und wer nicht zu lehren vermag, in Ausbildungszusammenhängen nicht weiterzugeben vermag, was er forschend weiß, dessen Wissen bleibt ein Element des Ungewissen, weil es dem Grundsatz widerspricht: Wissen heißt lehren können. In diesem Sinne zeugt der Schatten, der heute auf den deutschen Universitäten liegt, noch immer von viel Licht -Humboldts Licht.

II.

Humboldts Universitätsreform war ursprünglich als eine Reform nicht für, sondern gegen die Universitäten gedacht. Seine (und Fichtes) Visionen reichten weiter. Sie zielten auf eine gänzlich neue Institution -und einen neuen Menschen.

Wenn von der Humboldtschen Universitätsreform die Rede ist, dann in der Regel so, daß dabei unterstellt wird, daß es Humboldt um die Universitäten und nichts als die Universitäten und deren Zukunft ging. Tatsächlich hatte er mit der Berliner Universitätsgründung 1810 etwas ganz anderes im Auge. So entwickelt er seine Vorstellungen, die seither als die eigentliche Begründung und Theorie der deutschen Universität gelten, in einer Situation, die einerseits durch einen dramatischen Verfallsprozeß der Universitäten -zwischen 1792 und 1818 schließt die Hälfte aller deutschen Universitäten wegen Bedeutungslosigkeit und Auszehrung (ihnen liefen die Studenten weg) -, andererseits durch den Aufstieg der , nützlichen 4 Akademien oder , Spezialschulen 4 geprägt ist Das Stichwort stammt von Gottfried Wilhelm Leibniz: „theoria cum praxi“ Das Wissen soll sich mit der Praxis verbinden, Wissenschaft soll nützlich werden; und auch dies zu leisten, schien die zeitgenössische Universität außerstande zu sein. In dieser Konstellation sollte die Berliner Universität nicht nur gegen die nützlichen’ Akademien, sondern auch gegen die Universitäten gegründet werden.

Humboldts Reform, und die aus ihr schließlich doch hervorgegangene neue Universität, verstand sich damit in erster Linie nicht als eine Reform zugunsten der Universität, sondern als ein institutioneller Schritt, dem die Universitäten zum Opfer fallen sollten. Der Auswanderung der nützlichen’ Forschung aus den Universitäten sollte eine Auswanderung der , reinen 4 Forschung folgen. Entsprechende Pläne (etwa des preußischen Kabinettsrats und späteren Ministers Karl Friedrich Beyme) gehen, wie sich dies später, nämlich in der 1834 erschienenen Schrift „Universitäten und Hochschulen in einem auf Intelligenz sich gründenden Staate“ des Leipziger Privatdozenten und Hegelianers Oswald Marbach formuliert findet, von dem Gedanken „einer oder mehrerer, den herkömmlichen Universitäten übergeordneter Hochschulen“ aus und eben dies ist auch die Konzeption Humboldts, die dieser in der Formel , Forschung in Einsamkeit und Freiheit 4 zusammenfaßt. Selbst der Name Universität sollte vermieden werden. Fichte spricht noch 1807 von einer zu gründenden , höheren Lehranstalt 4 oder , Bildungsanstalt 4, nicht von einer neuen Universität, die die Misere der alten Universitäten beenden solle. Allerdings erkennt Humboldt sehr bald, daß die (politischen) Chancen der Durchsetzung einer neuen Bildungsanstalt größer sind, wenn man sie doch als Universität und nicht gegen die Universität gründen würde.

Die Humboldtsche Reform ist damit nichts anderes als ein Kompromiß; daß sie zur Universitätsreform wird, war gar nicht beabsichtigt. An diesen Kompromiß heften sich zudem sofort konservative Erneuerer, deren prominentester Vertreter der schon genannte Theologe Friedrich Schleiermacher ist. Dieser wendet sich gegen die Humboldt-sehe Vorstellung einer Einheit von Forschung und Lehre, weist auch die Forschung den Akademien zu und fordert von den Universitäten, daß diese so eingerichtet sein müßten, „daß sie zugleich höhere Schulen sind, um diejenigen weiter zu fördern, deren Talente, wenn sie auch selbst auf die höchste Würde der Wissenschaft Verzicht leisten, doch sehr gut für dieselbe gebraucht werden können“ Was schon überwunden schien, kehrt bei Schleier-macher im Gewände einer Universitätsreform wieder. Gegen Humboldt (und Fichte) soll auch die neue Universität ihren institutioneilen Ort zwischen der Schule und der Akademie finden. So wird das Humboldtsche Programm zu einer Universitätsreform wider Willen. Schleiermachers Halbheiten siegen über Humboldts und Fichtes Visionen -noch heute, wenn man dabei an eine derzeit drohende neue Ordnung von Lehre und Forschung denkt, in der sich die Universität primär über die Lehre und allenfalls sekundär über die Forschung definieren soll.

Mit der Humboldtschen Reform, die eine Universitätsreform wider Willen, weil eigentlich gegen die Universitäten gerichtet, ist, verbindet sich - und das ist vielleicht der markanteste Teil dieser Reform -der Aufstieg der Philosophischen Fakultät. Deren Theorie hatte schon Immanuel Kant in seiner Schrift über den Streit der Fakultäten (1798) formuliert, indem er die Philosophische Fakultät mit dem Begriff der Wahrheit, die soge-nannten oberen Fakultäten wieder mit dem Begriff der Nützlichkeit verband Wahrheit und Nützlichkeit -die eine kritisch beäugt, die andere den Akademien zugewiesen -sollen in der Universität, nicht außerhalb, eine institutioneile Heim-statt finden. Damit wird aber (in den Worten Schleiermachers) die Philosophische Fakultät zur , eigentlichen Universität; die Unterscheidung zwischen Universität und Spezialschulen’, als die nun die anderen, die oberen Fakultäten gelten, verlagert sich in die Universität. Die vergißt alsbald, daß sie ein Humboldtscher Kompromiß ist, und feiert sich, mit Fichte, als institutionellen Inbegriff der Idee des Menschen überhaupt. Die Universität soll nicht nur der Wissenschaft, sondern im Sinne des Humboldtschen Programms einer Bildung durch Wissenschaft auch der sittlichen Vervollkommnung des Menschen dienen. Der Mythos Humboldt ist perfekt.

Tatsächlich hat niemand die der Humboldtschen Reform zugrunde liegende Idee radikaler ausgedrückt als Fichte. Nach Fichte soll der Gelehrte „der sittlich beste Mensch seines Zeitalters“ sein und Wissenschaft in ihrer in den Universitäten und Akademien institutionalisierten Form, unter dem Gesichtspunkt einer , Erziehung der Nation zu Klarheit und Geistesfreiheit, „die Erneuerung aller menschlichen Verhältnisse vorbereiten und möglich machen“ Die Universität im Sinne Fichtes wäre der institutionalisierte Fichte gewesen.

Der philosophische Zuschnitt der Konzeption Fichtes deutet auf eine erhebliche Realitätsferne hin. Und doch kommt in ihr, wie in den Vorstellungen Humboldts, nur der eigentliche theoretische Anspruch zum Ausdruck, der sich mit einer allgemeinen Reform des Bildungswesens verbinden sollte. Deren Träger wird von nun an, zunächst wider Willen, später ihre Vergangenheit in einem Humboldt-Mythos verklärend, die Universität. Hier waren eben nicht Bürokraten und Schulmänner am Werk, sondern Philosophen und Wissenschaftler, die Wissenschaft nicht nur als ein nützliches Wissen, sondern auch wieder als Lebensform, zugleich als Lebensform der Vernunft zu begreifen suchten. Kein Wunder aber auch, daß der idealistischen Theorie einer neuen Universität alsbald der Wind ins Gesicht schlägt (schon Fichtes philosophischer Kollege Karl Solger befindet, daß Fichte „für nichts einen Maßstab“ habe Fichtes Gelehrten ist dasselbe Schicksal beschieden wie Platons Philosophenkönig. Eine Idee verabschiedet sich aus der Wirklichkeit der Universität. Zurück bleiben mißgelaunte Kollegen und lachende thrakische Mägde.

III.

In der deutschen Universität, die noch immer für sich beansprucht, Humboldts Universität zu sein, nehmen systematische Ungereimtheiten zu. Zu diesen Ungereimtheiten gehört auch die Abenddämmerung der Ordnung des Wissens, einschließlich der disziplinären Ordnung. Nur über die Idee einer praktizierten Transdisziplinarität wird die Universität wieder zu einer tragfähigen Ordnung finden.

Die Krise, in der sich die deutschen Universitäten gegenwärtig befinden, geht noch tiefer, als es der Begriff der Lebenslüge, bezogen auf die Idee einer Einheit von Forschung und Lehre, beschreibt; sie hat auch den Wissenschaftsbegriff und die Ordnung des Wissens erfaßt. Die Universitäten scheinen heute in falsch verstandener institutioneller Autonomie mit der disziplinären Ordnung des Wissens nach der Maxime umzugehen: Alles geht! So sind die Unfähigkeit, in Disziplinaritäten zu denken, und eine damit verbundene Atomisierung der Fächer -man zählt mittlerweile über 4 000 -unübersehbar. Die schon fast beliebige Zusammenstellung von Fächern zu Fachbereichen oder Fakultäten und die Auflösung der großen alten Fakultäten bis in Ein-Fach-Fakultäten -ich nenne sie die McDonalds der neuen Hochschulstruktur -nehmen zu. Die Unüberschaubarkeit der Wissenschaft, die in Forschungsdingen ihre produktive Unendlichkeit ausmacht, setzt sich völlig unnötig in ihre organisatorischen und institutioneilen Formen hinein fort -und wer deren , Vernunft 4 oder , Effizienz 4 sucht, stößt häufig nur auf institutionelle Ignoranz oder auf Hochschullehrer, die sich entweder riechen oder nicht riechen können und danach . ihre 4 Institutionen bauen.

Mit anderen Worten: Den Universitäten entgleiten ihre wissenschaftlichen Strukturen und damit auch ihre Ideen. Denn welchen Sinn sollte eine (rhetorisch festgehaltene) Einheit von Forschung und Lehre noch haben, wenn sich die Unendlichkeit der Forschung in die unendliche Beliebigkeit der Fachlichkeiten (mit nachgereichten Studien-und Prüfungsordnungen) hinein fortsetzt? Daß die Universität aus der Sicht der Studierenden zunehmend weniger , studierbar 4 wird, liegt eben nicht nur an quantitativen und finanziellen Entwicklungen, sondern auch an systematischen Ungereimtheiten. Und diese hat die Universität allein zu vertreten, nicht -was in Deutschland gerne als Ausrede verwendet wird -die Politik. Die Krise der deutschen LJniversitäten ist auch eine Strukturkrise.

Zu dieser Strukturkrise gehört ganz allgemein auch -und sicher nicht nur auf die deutschen Universitäten bezogen -, daß die Antwort der Universität auf ihre zunehmende strukturelle Unübersichtlichkeit der Spezialist ist. Sie folgt darin einer allgemeinen Tendenz der Wissenschaft. Diese schränkt sich, in disziplinären Dingen längst unsicher geworden, in ihren Subjekten ein, macht sie zu Spezialisten, entlastet sie von dem Zwang, Sachverstand in unbegrenzten Bereichen zu sein. Als Spezialist und Experte droht der Wissenschaftler zugleich zum Symbol der modernen Welt und ihrer Probleme zu werden. Dabei ist es in der Wissenschaft, nicht nur in der universitären, schön und angesehen, Spezialist zu sein, und es ist irgendwie auch unvermeidlich. Und doch ist reines Spezialistentum eher ein Schwächezeichen der Wissenschaft als Ausdruck ihrer Stärke. Schließlich schafft die Wissenschaft mit der Glorifizierung des Spezialistentums selbst ein zusätzliches Stück Unübersichtlichkeit. Sie zerlegt sich über Gebühr in immer kleinere Segmente, in denen der Spezialist wie der Maulwurf, der die Welt der anderen längst aus dem (fast blinden). Auge verloren hat, seine Gänge zieht. Der Spezialist ist nicht so sehr zum Symbol des Wissens als vielmehr zum Symbol des Nichtwissens geworden. Die Universität aber verliert ihren Anspruch, Ausdruck der Universalität des Wissens zu sein. Was die Universität, was die Wissenschaft in einer Welt wachsenden Wissens und Nichtwissens, desgleichen in einer Welt wachsender Probleme, die sich nicht mehr allein fachlich und disziplinär definieren, braucht, sind daher auch disziplinäre Grenzgänger, das heißt Wissenschaftler, die die Grenzbereiche ihrer Disziplin mehr lieben als die ausgetretenen disziplinären Pfade, die transdisziplinär denken und forschen. Wer in der Wissenschaft nur die Wege der anderen geht, wird den Fortschritt verfehlen -und die mit ihm zu lösenden Probleme auch.

Heute ist in diesem Zusammenhang (nicht nur in Deutschland) viel von Interdisziplinarität die Rede. Doch Interdisziplinarität ist nicht genug. In interdisziplinären Forschungskontexten rücken die Disziplinen lediglich auf Zeit zusammen; sie bleiben, wie sie sind, zumal es auch keine interdisziplinären Kompetenzen gibt, die disziplinäre Kompetenzen ersetzen könnten. Anders im Falle der Transdisziplinarität Mit ihr bezeichne ich Forschung, die sich aus ihren disziplinären Grenzen löst, die ihre Probleme disziplinenunabhängig definiert und disziplinenunabhängig löst. Das hat bedeutende Forschung im übrigen immer schon getan. Disziplinäre Zuordnungen kommen meistens zu spät, sie erklären die eigentliche Leistung nicht. War, so ließe sich zum Beispiel fragen, Max Weber ein Historiker oder ein Soziologe, Gottlob Frege ein Mathematiker oder ein Philosoph, Max Delbrück ein Biologe oder ein Physiker? Mit anderen Worten: Disziplinarität ist eine Voraussetzung für wissenschaftliche Leistungen, aber nicht schon das letzte institutioneile Wort. Dieses lautet in Forschungszusammenhängen Transdisziplinarität. Disziplinäre Kompetenzen müssen sich in einem im strengen Sinne nicht mehr disziplinär organisierten Forschungsfeld bewähren. Oder anders ausgedrückt: Wenn der Wissenschaftsstandort Universität, auch und gerade im Hinblick auf die Verbindung zwischen Forschung und Lehre, seine Bedeutung in Deutschland und andernorts auch gegenüber der außeruniversitären Forschung, bewahren will, dann muß er sich in seinen disziplinären und institutioneilen Strukturen verändern, einfallsreicher werden, sich zugleich aber auch wieder auf systematische Notwendigkeiten besinnen. Dazu gehört, daß Forschung in Zukunft im wesentlichen transdisziplinär organisiert sein muß, und Lehre in mancher Hinsicht auch. Denn wer nicht transdisziplinär gelernt hat, kann auch nicht transdisziplinär forschen.

IV.

In den Universitäten muß nicht nur die Idee der Einheit von Forschung und Lehre, verstanden als das Prinzip, Lehre aus Forschung zu entwickeln, sondern auch die Idee einer Bildung durch Wissenschaft wieder ihren angestammten Platz erhalten. Bleibt dieser Platz leer, erreicht das eigentliche Wesen der Wissenschaft die universitäre Ausbildung nicht und wird diese zum Breiten-statt zum Hochleistungssport.

Zur (traurigen) Wirklichkeit der modernen Universität gehört auch die weitgehende Entkoppelung von Wissenschaft und Bildung. Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Lebensform mit den nicht-wissenschaftlichen Lebensformen der Gesellschaft, wie sie die Humboldtsche Formel , Bildüng durch Wissenschaft 4 zum Ausdruck bringt, gehört nicht mehr zu den wahrgenommenen Aufgaben der Universität. Ausbildung ist an ihre Stelle getreten und Spezialisierung um jeden Preis. In einer Welt, die ihre Bildungs-und Ausbildungsgewohnheiten vornehmlich an Märkten orientiert und in der im Wissenschaftler der Gelehrte zum traurigen Spezialisten abgemagert ist, hat eben die Vorstellung, daß Bildung sich an den Idealen einer durch Wissenschaft aufgeklärten Gesellschaft orientiert, kaum mehr eine Chance. Schon einmal assistierte dabei der Ersetzung eines Bildungsauftrags der Universitäten durch einen Ausbildungsauftrag ein gehöriger Schuß Pessimismus. Ein Chronist berichtet im Zusammenhang mit den Josephinischen Universitätsreformen Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts: „Wie die Kirchenlehre den Satz zum Angelpunkt hat, daß der Mensch von Natur nichts Gutes tut, so beruhte die österreichische Staatspädagogik auf der Anschauung, daß er von Natur nichts le Jahrhunderts: „Wie die Kirchenlehre den Satz zum Angelpunkt hat, daß der Mensch von Natur nichts Gutes tut, so beruhte die österreichische Staatspädagogik auf der Anschauung, daß er von Natur nichts lernen wolle, wenigstens nicht das Rechte. Der alte Aristoteles war anderer Ansicht.“ 17

Sollte uns womöglich eine neue Josephinische Reform ins Haus stehen oder sich schließlich doch bewahrheiten, was der preußische Justizminister und Minister für das Geistliche Departement unter Friedrich Wilhelm III., Julius von Massow, 1797 zu einem Vorschlag, die Universitäten durch Gymnasien und Akademien der Medizin, Jurisprudenz etc. zu ersetzen, erklärt hatte? „Die Ausführung dieser in thesi sehr richtigen Idee erfordert so viele Vorbereitungen zu einer solchen wichtigen Reform und möchte für itzt so manche erheblichen Schwierigkeiten in einem Staat, wo einmal Universitäten sind, finden, daß in den ersten fünfzig Jahren wir noch wol die anomalen Universitäten werden dulden müssen.“ 18 Die , anomalen 4 Universitäten -es scheint das Schicksal der Universitäten zu sein, zwischen ihrer Theorie, die ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach mit Humboldt und Fichte eine idealistische, das heißt in der Philosophie des Deutschen Idealismus begründet ist, und ihrer Inanspruchnahme als Lehranstalt im üblichen, durchschnittlichen Sinne hin-und hergezerrt zu werden. In diesem Zusammenhang plädiere ich dafür, daß sie ihrem (idealistischen) Wesen nahebleibt. Denn -wie schon zu Beginn hervorgehoben -entweder hat die Universität eine Theorie oder eine Idee, und diese ist idealistisch, oder es gibt keine Universität.

Wenn die Universität aber ihrem Wesen nahe-bleibt und wir ihre Verfassung so einrichten, daß sie dies auch vermag, dann gehört zu diesem Wesen vor allem die Förderung der Hochleistung, auch (und das läßt sie für viele als so verdächtig erscheinen) als Elitenbildung bezeichnet. Eine Förderung der Hochleistung ist in der Wissenschaft das Normale, nicht das Ungewöhnliche -und als solches das gesellschaftlich Abträgliche. Wer in der Wissenschaft und in der wissenschaftlichen Ausbildung nicht auf die außerordentliche Leistung achtet, sie nicht sucht und fördert, muß sich mit dem Durchschnittlichen zufriedengeben. Ort dieser Suche und dieser Förderung sind aber die Universitäten, auch und gerade wenn sie vor dem Hintergrund eines sich weiter differenzierenden Hochschulsystems in einen Wettbewerb untereinander um wissenschaftliche Exzellenz treten.

Nun passen Eliteuniversitäten -darauf scheint ein solcher Wettbewerb hinauszulaufen -nicht in die deutsche Hochschullandschaft, macht es doch gerade das besondere Profil zumindest der deutschen Universitätsentwicklung und ihrer Leistungsfähigkeit aus, daß die herausragende Stellung einer Universität, stets auf Zeit und auf bestimmte Disziplinen bezogen, nicht (wie zum Beispiel in Frankreich) mit der Provinzialisierung anderer Universitäten bezahlt werden muß. Diese Entwicklung nachträglich unter den Universitäten heimisch machen zu wollen wäre dumm und dilettantisch. Und doch dürfte diese Entwicklung in gewisser Weise unvermeidlich sein. Es ist schließlich eine Illusion, zu glauben, unter den prekären Bedingungen der gegenwärtigen Universitätsverhältnisse ließe sich deren homogene Leistungsdichte auf Dauer aufrechterhalten. So gilt es denn auch, im Universitätssystem -nicht neben ihm -die Voraussetzungen für eine Förderung der Hoch-leistung zu schaffen bzw. aufrechtzuerhalten, selbst wenn dies in Deutschland auf eine neuartige Differenzierung der Universitäten untereinander hinauslaufen sollte. Exzellenz in Forschung und Ausbildung ist ein höherer Wert als die Homogenität des Systems, das sie schafft.

V.

Universitäre Forschung und Lehre gedeihen nur dort, wo für Universalität, Transdisziplinarität, Identität in Pluralität und Qualität gesorgt ist. Ist dies nicht der Fall, herrscht in der Universität das Paradigma Schule, nicht das Paradigma Universität.

Damit eine moderne Universität, die nicht neben der Wissenschaftsentwicklung herträumt, sondern den Humboldtschen Prinzipien einer Einheit von Forschung und Lehre sowie einer Bildung durch Wissenschaft wieder Geltung zu verschaffen sucht, ihren Aufgaben entspricht, muß sie neben dem schon Gesagten die folgenden Fragen beantworten bzw. auf deren institutioneile Beantwortung verweisen können: Wieviel Universalität muß sein, damit Universität stattfindet? Wieviel Disziplinarität muß sein, damit Transdisziplinarität eine Chance hat? Wieviel Pluralität muß sein, damit universitäre Identitätsbildung möglich ist? Wieviel Qualität muß sein, damit Exzellenz wirklich wird? Was ist gemeint? Ich gehe diese Fragen kurz durch (1) Wieviel Universalität muß sein, damit Universität stattfindet? Wissenschaft ist trotz aller Spezialisierungstendenzen etwas, das nur auf einem Boden gedeiht, den viele bestellen. Die große Leistung setzt nicht nur ein spezialisiertes Wissen, sondern auch die enge Nachbarschaft mit anderem Wissen voraus. Die Hinweise auf Gottlob Frege, Max Weber und Max Delbrück haben dies deutlich gemacht. Spezifische Grenzen definieren hier die eigentliche Leistung nicht. Im Gegenteil, diese Grenzen müssen in der Regel überschritten werden, um große Leistungen zu ermöglichen. Das gilt insbesondere von modernen Entwicklungen. Neue Einsichten bilden sich meist an den Rändern der Fächer und Disziplinen, im Übergang zu Nachbarfächern und Nachbardisziplinen, nicht in den Kernen, wo das Lehrbuchwissen sitzt. Also läßt sich auch Universalität, in ihren institutioneilen Formen im Fachlichen und Disziplinären, nicht beliebig einschränken.

Das gilt zunächst in den jeweiligen Grenzen der Natur-, Geistes-und Sozialwissenschaften, zunehmend aber auch über diese Grenzen hinaus. Wo Universitäten zu Ein-Fakultäten-Universitäten (Fakultät hier im Sinne der älteren Universitätsentwicklung verstanden) oder gar zu Ein-Disziplinen-Universitäten (etwa in Form einer Wirtschaftsuniversität) werden, trocknet der akademische Boden aus, auf dem große wissenschaftliche Leistungen wachsen können. Forschung und Lehre gedeihen allenfalls auf Zeit in fachlichen oder disziplinären Treibhäusern; wo der wissenschaftliche Durchzug fehlt, breitet sich die akademische Provinz aus. Deshalb muß die Universität an ihrem Universalitätsanspruch festhalten. Und dies kann sie mit Aussicht auf Erfolg nur, wenn sie dieser Universalität auch institutionell Ausdruck verleiht. Wo Universalität beginnt und wo sie beliebig wird, ist dann wieder Sache einer begründeten, wissenschaftsförderlichen Profil-und Schwerpunktbildung. (2) Wieviel Disziplinarität muß sein, damit Transdisziplinarität eine Chance hat? Träger der institutioneilen Einheit von Forschung und Lehre, über die sich die Universität gestern wie heute definiert, sind noch immer die Disziplinen, auch wenn die wissenschaftssystematische Erinnerung an das, was Disziplinen sind, was sie leisten und was sie von Fächerstrukturen unterscheidet, heute blaß geworden ist. Disziplinaritäten sind die systematischen Formen, in denen sich das wissenschaftliche Wissen, auch das fachliche Wissen, bildet, und das Medium, in dem sich das wissenschaftliche Lernen bewegt. Das gilt auch für die erwähnten Formen der Interdisziplinarität und der Transdisziplinarität. Voraussetzung für Transdisziplinarität als wissenschaftliche Arbeits-und Erkenntnisform, die über Interdisziplinarität im beschriebenen Sinne hinausgeht, sind und bleiben die Disziplinaritäten. Wo keine unterschiedlichen disziplinären Arbeitsformen in Forschung und Lehre sind, dort kann es auch keine transdisziplinären Arbeitsformen geben, dort bleibt der Erkenntnisfortschritt, der sich zunehmend transdisziplinären Orientierungen verdankt, aus. Das aber bedeutet wiederum, daß Universität Multidisziplinarität, das heißt einen lebendigen Teil jener Universalität voraussetzt, die einmal die Universitätsentwicklung bestimmte. Ein-Disziplinen-Universitäten erfüllen diese Voraussetzung nicht. Und wieder ist es Sache des wissenschaftssystematischen Augenmaßes, wieviel Disziplinarität sein muß und wie wenig Disziplinarität sein kann. (3) Wieviel Pluralität muß sein, damit universitäre Identitätsbildung möglich ist? Disziplinäre Pluralität sichert nicht nur die wissenschaftsfördernde Transdisziplinarität, die heute immer häufiger in der Wissenschaft an der Wiege des Neuen steht, sondern verschafft der Universität auch ein Bewußtsein von sich selbst, nämlich wirklich Universität zu sein. Ein-Disziplinen-Universitäten bilden kein universitäres Bewußtsein, sondern ein Schulbewußtsein aus. Die Einheit von Forschung und Lehre, von der schon gesagt wurde, daß sie nach wie vor das Wesen der Universität ausmacht, bildet sich hier monodisziplinär aus, definiert sich über das, was eine Disziplin, das heißt ein definierter Teil der Wissenschaft, weiß, damit aber auch über eine geschlossene Form der Forschung, nicht über eine offene Form, die sich heute transdisziplinär definiert. Das Paradigma Schule setzt sich an die Stelle des Paradigmas Universität. Die Universität als Lehranstalt schiebt sich vor die Universität als Forschungsanstalt; die Einheit von Forschung und Lehre verliert ihren Inhalt und erstarrt zur Rhetorik. Eben dies ist heute der Fall, nicht nur dort, wo Ein-Disziplinen-Universitäten wachsen, sondern auch in Universitäten alter Art. (4) Wieviel Qualität muß sein, damit Exzellenz wirklich wird? Universitäten sind wissenschaftliche Hochschulen in dem Sinne, daß sich die universitäre Lehre aus der universitären Forschung entwickelt und mit dieser auch im Prozeß des Lehrens und Lernens verbunden bleibt. Löst sich das Lehren und Lernen vom Forschungsprozeß oder bleibt es nur noch als Erinnerung an vergangenes eigenes Lernen mit diesem verbunden, verliert auch die Bezeichnung wissenschaftlich’ ihren Sinn, unterscheidet sich ein universitäres Lehren ünd Lernen nicht mehr von anderen, nicht-wissenschaftlichen Lehr-und Lernprozessen. Das bedeutet, daß sich auch die Qualität des Hochschullehrers in erster Linie nach seinen wissenschaftlichen Leistungen, das heißt seinen Leistungen in der Forschung, bemißt.

Hohe wissenschaftliche Leistung -wissenschaftliche Exzellenz -wiederum ist nur in einem Umfeld möglich, das dieser Leistung dienlich ist, das heißt in einem Umfeld, das wissenschaftliche Leistungen durch wissenschaftliche Leistungen provoziert und befördert. Mittelmäßige Verhältnisse schließen zwar große wissenschaftliche Leistungen, damit auch vereinzelte wissenschaftliche Exzellenz nicht aus, doch dürfte das eben die Ausnahme sein und sind mittelmäßige Verhältnisse eher auf wissenschaftliche Mittelmäßigkeit programmiert, getreu der alten universitären Weisheit, daß zweitklassige Leute drittklassige Leute berufen, also dafür sorgen, daß die Bäume nebenan nicht in den Himmel wachsen.

Mit anderen Worten: Es muß viel Qualität beisammen sein, um Exzellenz zu befördern. Qualität im Sinne des über Universalität, Transdisziplinarität und universitäre Identitätsbildung Gesagten nicht nur auf fachlichen oder disziplinären Inseln, die man selbst besiedelt, sondern in Form eines wissenschaftlichen Umfeldes, das durch Qualität und Exzellenz bestimmt ist. In diesem Sinne mögen sich dann auch Genialität und Exzellenz noch voneinander unterscheiden: Wahrend Genialität, die im übrigen keineswegs so häufig ist, wie die wissenschaftlichen Subjekte selbst meinen, überall wachsen mag, auch auf wissenschaftlichen Ödflächen, gilt dieses von Exzellenz nicht. Wissenschaft-liehe Exzellenz wird durch Qualität und Exzellenz geweckt, sie erfindet sich nicht selbst -und wenn ja, dann wie im Geniefalle höchst selten.

Das Prinzip oder die Idee der Einheit von Forschung und Lehre, über die sich die Universität nach wie vor definieren muß, wenn sie nicht ihr wissenschaftliches Wesen verlieren will, ist weder tot noch wirklich realisiert. Diese Einheit ist vielmehr das nie völlig eingelöste Versprechen einer Universität, die der ihr zugrunde liegenden idealistischen Theorie einer Bildung durch Wissenschaft nahebleibt, und zugleich die eigentliche institutionelle Idee von Forschung und Lehre. Wo dieses Versprechen nicht mehr präsent ist und diese Idee nicht mehr wahrgenommen wird, sei es aus hochschulpolitischen Gründen oder der Unfähigkeit der Universität, Autonomie auch in wissenschaftssystematischen Dingen zu praktizieren, wird das institutioneile Wesen der Universität blaß. Denn noch einmal: Entweder hat die Universität eine Theorie oder eine Idee, und diese ist mit den Humboldtschen Prinzipien die idealistische, oder es gibt keine Universität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mark Twain, Bummel durch Europa, in: Mark Twain, Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 3, München 19852, S. 639.

  2. Johann Gottlieb Fichte, Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden hohem Lehranstalt (1807), § 67, in: Eduard Spranger (Hrsg.), Über das Wesen der Universität, Leipzig 19192, S. 104.

  3. Friedrich Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende (1808), in: E. Spranger (Anm. 2), S. 109.

  4. Wilhelm von Humboldt, Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin 1903-1936, Bd. 10, S. 255.

  5. Ebd.

  6. Hermann Heimpel, Probleme und Problematik der Hochschulreform. Göttingen 1956, 19622, S. 7.

  7. F Schleiermacher (Anm. 3), S. 126.

  8. Vgl. Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Düsseldorf 19702, S. 141 ff.; ferner Gert Schubring, Spezialmodell versus Universitätsmodell: Die Institutionalisierung von Forschung, in: ders. (Hrsg.), . Einsamkeit und Freiheit* neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 276-326. Die folgende

  9. Gottfried Wilhelm Leibniz, Deutsche Schriften, hrsg. von Gottschalk Eduard Guhrauer, Berlin 1838/1840, Bd. 2, S. 268.

  10. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle 1910-1918, Bd. 1, S. 66. Vgl. die entsprechende Darstellung bei H. Schelsky und G. Schubring (Anm. 8).

  11. F. Schleiermacher (Anm. 3), S. 137.

  12. Vgl. Immanuel Kant, Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten (1798), in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main -Darmstadt 1956-1964, Bd. 6, S. 290f.

  13. Johann Gottlieb Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), in: ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hrsg. von Fritz Medicus, Leipzig 1910-1912, Bd. 1, S. 261.

  14. J. G. Fichte (Anm. 2), S. 104.

  15. Brief vom 22. März 1812 an Friedrich v. Raumer, in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. 260.

  16. Zu diesem Begriff und dem Gedanken einer Neuordnung der Disziplinaritäten vgl. Jürgen Mittelstraß, Wohin geht die Wissenschaft? Über Disziplinarität, Transdisziplinarität und das Wissen in einer Leibniz-Welt, in: ders., Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt am Main 1989, S. 72 ff.

  17. Ideen zur Verbesserung des öffentlichen Schul-und Erziehungswesens mit besonderer Rücksicht auf die Provinz Pommern, Annalen des preußischen Schul-und Kirchen-wesens, 1 (1800), S. 126 f. Der Vorschlag stammt von Heinrich Stephani, Grundzüge der Staatserziehungswissenschaft, Weißenfels 1797 (weiter ausgearbeitet, angeregt durch Julius von Massow, unter dem Titel: System der öffentlichen Erziehung, Berlin 1805).

  18. Die folgenden Überlegungen sind ausführlicher dargestellt in: Jürgen Mittelstraß, Abschied von der vollständigen Universität, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft, 52 (1997), S. 205-215 (zuvor, gekürzt, in: DUZ. Das Hochschulmagazin, 52 [1996] 23, S. 13-15).

Weitere Inhalte

Jürgen Mittelstraß, Dr. phil., geb. 1936; Ordinarius für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Konstanz, zugleich Direktor des dortigen Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Martin Carrier) Geist, Gehirn, Verhalten, Berlin -New York 1989; Der Flug der Eule, Frankfurt am Main 1989; Leonardo-Welt, Frankfurt am Main 1992; Die unzeitgemäße Universität, Frankfurt am Main 1994; (Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bände, Stuttgart -Weimar 1980-1996.