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Strukturprobleme der Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts | APuZ 29-30/1998 | bpb.de

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APuZ 29-30/1998 Ende der Innenpolitik? Politik und Recht im Zeichen der Globalisierung Korporatismus und Konfliktkultur als Ursachen der „Deutschen Krankheit“ Strukturprobleme der Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Strukturprobleme der Demokratien zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Joachim Krause

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Trotz des Triumphes der demokratischen Gesellschaften über die kommunistischen Gesellschaftsmodelle mehren sich die Anzeichen, daß die demokratischen Verfassungsstaaten sich in einer tiefen Krise befinden. Sie ist durch das Zusammentreffen alter und neuer Strukturprobleme liberaler Demokratien sowie der Krise des modernen Wohlfahrtsstaates charakterisiert. Beide Krisen gehören aufs engste zusammen und lassen sich in absehbarer Zeit auch nur gemeinsam lösen. Sie erfahren eine Verschärfung infolge jener Veränderung des internationalen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technologischen und politischen Umfelds, die gemeinhin als „Globalisierung“ bezeichnet wird. Um die Krisen meistern zu können, müssen die liberalen Demokratien international kooperieren und eine Art internationaler Solidarität der demokratischen Staaten bilden bzw. fortentwickeln.

I. Einleitung

Der Zusammenbruch der kommunistischen Regierungssysteme in den Jahren 1989/90 gilt für gewöhnlich als Triumph der westlichen Demokratien. Tatsächlich hat sich das Modell der repräsentativen Demokratie in vielerlei Hinsicht dem Gegenmodell des „Wissenschaftlichen Sozialismus“ als überlegen erwiesen. Es kann aber daraus nicht der Schluß gezogen werden, die demokratischen Systeme seien gleichsam unangreifbar. Im Gegenteil: Seit einiger Zeit mehren sich -nicht zuletzt unter dem Eindruck der Diskussion über Globalisierung -die Stimmen, die eine Periode der Krise für die westlichen Demokratien heraufziehen sehen. Der amerikanische Historiker Arthur Schlesinger warnte in diesem Zusammenhang davor, daß der Höhenflug der westlichen Demokratien nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sehr schnell in eine Phase des Rückzugs übergehen könnte, weil die westlichen Demokratien angesichts der Globalisierung an ihren inneren Problemen scheitern. So wie der Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Optimismus über das unvermeidlich anbrechende Zeitalter der Demokratie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerstob, so könnte auch das beginnende 21. Jahrhundert zu einem Debakel für den demokratischen Verfassungsstaat werden

Anlaß für derartige pessimistische Szenarien sind immer wieder die Unbeweglichkeit und Selbst-blockaden der Demokratien sowie die Befürchtung, daß sich im Zuge der Globalisierung und Internationalisierung unserer Lebenswelt die Grundlagen der demokratischen Verfassungsstaaten verändern. Die Globalisierung, so ist immer wieder zu vernehmen, führe zu einem globalen Kapitalismus, der den demokratischen Verfassungsstaaten den Boden unter den Füßen wegziehe. Vom Verlust des „politischen Raums“ ist auch die Rede, innerhalb dessen sich Demokratie überhaupt entfalten kann, bzw. vom Verlust jener gesellschaftlichen Solidarität, die die Basis für die Demokratie darstellt

Den westlichen Demokratien ist wiederholt der Niedergang vorausgesagt worden -zuletzt Mitte der siebziger Jahre, als die Ölpreiskrise und das Ende des Vietnamkriegs den Abschluß einer Hochphase der westlichen Demokratien abzustekken schien Wie ernsthaft sind die Probleme der westlichen Demokratien? Wie kann die derzeitige Krise beschrieben und analysiert werden? Was kann, was muß geschehen, um sie zu lösen?

Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen kann die Demokratietheorie sein. Diese sollte im allgemeinen drei wesentliche Aufgaben bewältigen: Erstens soll sie Klarheit über die Grundprinzipien, Grundbegriffe und Strukturen herstellen, die heute das Wesen liberaler Demokratien entwickelter westlicher Staaten ausmachen. Zweitens sollte sie der Erarbeitung eines begrifflichen und methodischen Instrumentariums dienen, um den Wandel der Demokratie und die Wechselbeziehungen zwischen dem demokratischen System und seiner Umwelt zu erfassen Drittens gilt es darüber hinaus, einen breiteren, strategischen Blick auf die Lage der westlichen Demokratien in einer im Wandel befindlichen Welt zu gewinnen.

Um dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden, muß die demokratietheoretische Diskussion nicht nur auf Grundfragen und Strukturprobleme der Demokratie rekurrieren, sie muß auch die soziale Dimension der Demokratie und die internationale Dimension berücksichtigen. Was die letztgenannte betrifft, so ist festzustellen, daß die herrschende Diskussion primär auf nationalstaatlich verfaßte Gesellschaften fokussiert ist. Wir leben aber bereits seit 50 Jahren in einer zunehmend internationalisierten Welt, und es ist erstaunlich, wie wenig dieser Umstand in der heutigen Demokratietheorie reflektiert ist

Ein Ansatzpunkt zum Verständnis der heutigen Krise der Demokratie ist ein traditionelles, immer wiederkehrendes Thema der Demokratietheorie: die strukturellen Defizite und Dilemmata der liberalen, repräsentativen Demokratie -zumeist als Strukturprobleme bezeichnet. Hierbei handelt es sich um immanente, strukturbedingte Probleme der Demokratien, die als Folge prinzipieller Widersprüche oder Unzulänglichkeiten entstehen. Die Beschäftigung mit Strukturproblemen der Demokratie läßt sich bis in die frühen theoretischen Auseinandersetzungen mit den liberalen, repräsentativen Demokratien zurückverfolgen. Alexis de Toqueville etwa hat in seiner Beschreibung der amerikanischen Demokratie 1835 die erste umfassende Bestandsaufnahme von Strukturproblemen einer Demokratie geliefert Viele dieser damals diskutierten Strukturprobleme muten noch immer zeitgemäß an -auch wenn sie vor mehr als 160 Jahren formuliert worden sind, und sie finden sich in Variationen auch bei anderen Autoren wieder Im großen und ganzen kann man festhalten, daß es eine gewisse Konstanz der Strukturprobleme gibt. Was deren Bedeutung für die Politik betrifft, so ist zwischen guten und schlechten Zeiten zu unterscheiden. In guten Zeiten fallen Strukturprobleme nicht sonderlich ins Gewicht; man kann mit ihnen leben wie mit kleinen menschlichen Schwächen -es sei denn, die Folgen kumulieren im Laufe der Zeit. In schlechten oder schwierigen Zeiten können sie erhebliches Gewicht bekommen; sie verstärken bestehende Krisen und können dazu beitragen, daß eine die Demokratie insgesamt gefährdende Dynamik an Raum gewinnt. Strukturprobleme können auch dann an Relevanz gewinnen, wenn die Demokra-tie sich aufgrund äußerer Umstände einer neuen Herausforderung gegenübersieht.

Das analytische Konzept der Strukturprobleme hilft, die heutige Krise der Demokratie besser zu verstehen. Diese soll mit den folgenden vier Thesen umschrieben werden:

1. Die heutige Krise der Demokratie ist durch das Zusammentreffen altbekannter und neuer Strukturprobleme liberaler Demokratien mit einer Krise des modernen Wohlfahrtsstaates charakterisiert. Beide Krisen gehören aufs engste zusammen und lassen sich absehbar auch nur gemeinsam lösen.

2. Diese Doppelkrise erfährt eine Verschärfung infolge jener Veränderung des internationalen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technologischen und politischen Umfelds, die gemeinhin als „Globalisierung“ bezeichnet wird.

3. Liberale, repräsentative Demokratien können mit dieser Doppelkrise fertig werden -vorausgesetzt, sie sind bereit, auf alte Gewohnheiten zu verzichten, und vorausgesetzt, sie sind in der Lage, politische und gesellschaftliche Solidarität auf andere Art und Weise zu realisieren.

4. Um die Krise meistern zu können, müssen die liberalen Demokratien international kooperieren, und sie müssen eine Art internationaler Solidarität der demokratischen Staaten bilden bzw. fortentwickeln.

Um die Dimensionen der derzeitigen Krise -die kein vorübergehendes Phänomen ist -richtig beurteilen zu können, bedarf es zuerst der Analyse jener strukturellen Faktoren, die vornehmlich in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die westlichen, liberalen Demokratien so erfolgreich und stark gemacht haben. Im wesentlichen gelang es den meisten westlichen Staaten in dieser Zeit, ein funktionierendes System der leistungsorientierten Elitenkonkurrenz (oder in den Worten Giovanni Sartoris: einer verdienst-orientierten selektiven Polyarchie) mit eingebauten Machtblockaden zu entwickeln. Die Leistungsorientierung wurde durch die Bindung der politischen Eliten an Wahlen bewirkt, Machtbeschränkung und -mäßigung erfolgten durch Gewaltenteilung oder andere Formen der Balance (wie z. B. die Möglichkeit des Wechsels durch Wahlen zu fairen Bedingungen). Der Erfolg der modernen

II. Die Stärken der Demokratien repräsentativen Demokratien ist aber nur mit dem gleichzeitigen Entstehen des Wohlfahrtsstaates erklärbar. In allen westlichen Demokratien nahm der Staat eine aktive, gestaltende Rolle im Bereich der Wirtschaftssteuerung, der Umverteilung, der sozialen Sicherung, der Finanz-und Währungspolitik und der Zukunftssicherung ein, die mit der Entwicklung ziviler Methoden der Regelung des Streites zwischen Arbeit und Kapital einherging. Dadurch entstand eine weitgehende Identifikation von Bürgern verschiedener Herkunft mit dem Staat als Vertreter der Allgemeininteressen. Erst diese Identifikation gab den westlichen Demokratien jene Stärke, die sie brauchten, um im Ost-West-Konflikt überlegen zu sein.

Wichtig dabei war, daß die großen sozialen Konflikte zwischen Arbeit und Kapital abgemildert und im Rahmen des politischen Systems verträglich ausgetragen werden konnten. Dies erfolgte in einigen Ländern im Rahmen eines Parteiensystems, welches auf zwei großen Lagern basierte (Großbritannien, Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Neuseeland, Kanada), in anderen im Rahmen eines auf politische Konkordanz angelegten Systems (wie bei den meisten kleineren westeuropäischen Demokratien, insbesondere in der Schweiz). Pluralismus wurde zum gesellschaftlichen Grundprinzip, die Möglichkeit des Machtwechsels zur Garantie dafür, daß moderate Wege anstelle der kompromißlosen Durchsetzung der eigenen Ziele gewählt wurden. Wirtschaftliches Wachstum war in den fünfziger und sechziger Jahren im übrigen ein wichtiger Faktor, um die dafür notwendige Umverteilung vorzunehmen.

Aber auch die Erfahrung der Freiheit war von ebensolcher Bedeutung. In den meisten Ländern wurde es möglich, die Balance zwischen System-leistung (im Sinne von Entscheidungen über Richtungen und Werte, im Sinne positiven Staats-handelns sowie von Regelungsleistungen des Politischen Systems) und Machtbeschränkung (Verbreiterung von Entscheidungsbefugnissen; Föderalismus; W’ahlprozeß, Öffentlichkeit; Verfassungsgerichte etc.) sowie zwischen zuviel und zuwenig Systemleistung zu wahren. Der vorherrschende Eindruck war der. daß der Staat Regelungsleistungen erbrachte, Umverteilung vornahm, Vorsorge trieb und für das gesamtwirtschaftliche Wohl Verantwortung übernahm, ohne dabei die Freiheitsrechte der Bürger zu sehr zu beeinträchtigen.

Demokratien waren im Vergleich zu anderen Systemen lernbereiter und zu größerer Leistung angesichts sich wandelnder politischer, wirtschaftlicher und technologischer Umstände fähig. Den hohen Grad an Komplexität politischer Materien konnten sie durch ein hohes Maß an Spezialisierung auf Seiten der Bürokratie und Professionalisierung auf Seiten der Politiker auffangen.

Ganz entscheidend war aber, daß das internationale Umfeld so angelegt war, daß sich die Katastrophen der zwanziger und dreißiger Jahre nicht wiederholten, wo eine Demokratie nach der anderen dem Faschismus, dem Nationalsozialismus, anderen autoritären Herrschaftsstrukturen oder schließlich der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft erlag. Die gemeinsame Erfahrung von Faschismus und Weltkrieg sowie die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus erwiesen sich als wichtige Bindeglieder. Aber auch die vor allem von den USA angetriebene Politik der weltweiten Liberalisierung von Handel und Verkehr sowie der Herstellung von Währungskonvertibilität trugen hierzu bei. Die nach dem Kriege geschaffenen internationalen Zusammenschlüsse der westlichen Welt (OECD, Europäische Gemeinschaften, NATO) symbolisierten die internationale Solidarität der Demokratien, ohne die deren Erfolg nicht denkbar gewesen wäre. Diese Solidarität hat es auch jenen Demokratien, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs relativ erfolglos blieben (Belgien, Italien), ermöglicht, dennoch an den Segnungen der neuen Zeit teilzuhaben, und sie hat jenen Staaten (wie Portugal, Spanien und Griechenland), die erst mit Verspätung den demokratischen Kurs einschlugen, die politische Transformation erheblich erleichtert.

III. Strukturprobleme heutiger Demokratien

Wenn wir heute von Strukturproblemen der liberalen, repräsentativen Demokratien zum Jahrhundertwechsel sprechen, dann handelt es sich vor allem darum, daß deren Erfolg einen vergessen läßt, auf welchen Tugenden er beruhte 9. In der politischen wie in der wissenschaftlichen Literatur werden eine Vielzahl von Defiziten angesprochen. Die folgenden drei Probleme werden dabei am häufigsten genannt:

1. Als erstes ist der „Verlust des Politischen“ zu erwähnen. Dies ist die moderne Variante der These von Tocqueville, daß Demokratien sich strukturell gesehen schwer tun, langfristige Probleme zu lösen. Im Grunde geht es darum, daß das, was den modernen Wohlfahrtsstaat und damit die Demokratie hat stark werden lassen, mittlerweile zu seiner Lähmung führt. Durch die Bedie- nung vieler Interessen und Anliegen, durch ein Übermaß an Subventionierung, Umverteilung und staatlicher Wirtschaftstätigkeit sowie durch Über-regulierung verzetteln sich die Demokratien. Anstelle politischer Richtungsentscheidungen wird Politik in heutigen Demokratien zu einem großen Markt, auf dem verschiedene Interessen miteinander konkurrieren und in dem es immer schwieriger wird, Richtungsentscheidungen strategischer Art zu treffen „In einer fortgeschrittenen Demokratie“, so der französische Politologe Jean-Marie Guehenno, „wird es immer schwieriger, sich über die Einzelinteressen zu erheben, um den Blick aus der Vogelperspektive zu bekommen.“ Er sieht sogar das Ende des Gesellschaftsvertrags kommen, wenn demokratische Politiker immer weniger in der Lage sein sollten, politische Führungsfunktionen wahrzunehmen, sondern sich vielmehr als Teilnehmer eines professionell betriebenen Streits um Macht und Interessen verstehen. Die derzeitige Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland um Renten-und Steuerreform sowie Subventionsabbau liefert ein gutes Beispiel dafür, ebenso wie die vergeblichen Versuche Präsident Bill Clintons, in seiner ersten Amtsperiode eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens durchzusetzen. Die Politikblockierung (das „gridlock“, wie es die Amerikaner nennen) wird immer mehr zum Charakteristikum des politischen Alltags moderner Demokratien. Dabei zeigt es sich, daß diejenigen demokratischen Regierungssysteme, die großes Gewicht auf Mächtebalance legen, am stärksten betroffen sind. 2. Mit dem Verlust des Politischen geht ein weiteres Strukturproblem einher: die strukturelle Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Die öffentliche Verschuldung in fast allen Demokratien hat heute ein Ausmaß erreicht, das als atemberaubend bezeichnet werden muß. Ein Anteil der Staatsschulden von 60 Prozent am Bruttosozialprodukt und eine jährliche Neuverschuldung von drei Prozent (BSP-Anteil) bzw. von über zehn Prozent am Gesamthaushalt des Staates gelten schon als moderat; einige Staaten haben eine Gesamtverschuldung, die bei 120 bis 130 Prozent des Bruttosozialprodukts liegt. Schulden als solche sind keine Schande für eine Demokratie, ja in vielen Situationen ist es geradezu geraten, daß auch der Staat Schulden macht -sei es, um größere Investitionen zu finanzieren, sei es, um einen Beitrag zur wirtschaftlichen Belebung in Zeiten wirtschaftlicher Flaute zu leisten. Leider ist das Schuldenmachen aber viel zu häufig als Mittel der Defizitfinanzierung genutzt worden, da es immer noch bequemer ist, Schulden zu machen, als finanzielle Anforderungen organisierter politischer Interessen zurück-zuweisen. Im Ergebnis entsteht ein gefährlicher Teufelskreis: Staatsverschuldung trägt zur drastischen Verringerung des staatlichen Handlungsspielraums bei und verschärft den politischen Streß, der zum erneuten Schuldenmachen führt. Es ist kein Zufall, daß die politisch instabilsten Demokratien Europas die höchsten Schuldenquoten haben: Belgien, Italien, Irland und Griechenland. 3. Ein drittes, mit beiden vorstehend genannten eng zusammenhängendes Strukturproblem ist das abnehmende Vertrauen bzw. die abnehmende Kompetenzerwartung, die die Bevölkerung der „Politischen Klasse“ entgegenbringt. Schon die Tatsache, daß der Begriff „Politische Klasse“ immer häufiger benutzt wird, sagt vieles aus Das Ansehen der Politiker generell ist in allen modernen Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten in erschreckendem Maße gesunken Noch 1964 gaben etwa drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung an, daß sie der Bundesregierung in Washington vertrauen, heute liegt diese Zahl gerade noch bei 25 Prozent Die Bevölkerung traut den Politikern immer weniger zu und mißtraut immer häufiger ihren politischen und finanziellen Entscheidungen. Das Strukturproblem ist heute jedoch noch sehr viel akzentuierter. Als Folge der sinkenden Kompetenzerwartung in die Politik sind die Bürger immer weniger bereit, die öffentliche Finanzierung von Parteiausgaben und von Wahlkämpfen zu tragen -nicht zu reden von Politikergehältern. Peter Glotz brachte dieses Problem einmal polemisch auf den Punkt, als er schrieb: „Das Volk beginnt sich immer häufiger zu fragen, ob die Politiker eigentlich das Geld wert sind, das für sie ausgegeben wird.“ In der Folge wird das Problem immer mehr verschärft, denn das, was gute Führungskräfte in die Politik locken könnte -die gute Bezahlung -, wird immer schwieriger zu realisieren. Auch hier ist eine Art Teufelskreis in Kraft gesetzt, bei dem Parteien oder Spitzenpolitiker auf immer unkonventionellere Wege der Geldbeschaffung verfallen, die -sind sie einmal aufgedeckt -eine neue Welle der Beschränkungen der Finanzierung von Parteien und Politikern auslösen. Dadurch wird eine Spirale der abnehmenden Qualifikation der Politiker bei abnehmender Bezahlung ausgelöst, die nichts Gutes verheißt. In den USA hat diese Entwicklung vor allem im Kongreß schon zu einer erheblichen politischen Immobilität und Provinzialisierung beigetragen: gleichzeitig entsteht in der Bevölkerung ein nicht mehr zu unterschätzendes breites Milieu der totalen Politikablehnung. In Europa und in Japan liegen die Dinge etwas anders, da hier vor allem der Parteien-staat am Pranger steht. Hier steht die Parteienfinanzierung in erster Linie im Mittelpunkt der Kritik. zunehmend aber auch die Korruption wie in Italien, Japan oder Belgien. In der Folge erodiert das hergebrachte Parteiensystem. Die großen Volksparteien verlieren ihre ehemals stabilen Mehrheiten: neue, oftmals rechts-oder linkspopulistische Parteien und manchmal auch Separationsbewegungen gewinnen an Zulauf und werden zu wichtigen politischen Kräften -je nachdem, welche Möglichkeiten ihnen das jeweilige politische System bietet.

All diese drei hier genannten Strukturprobleme haben die unangenehme Wirkung, daß sie sich gegenseitig verstärken: Die Finanzprobleme machen die Überdehnung der Staatsaufgaben durch die Bedienung partikularer Interessen und Anliegen immer deutlicher spürbar, umgekehrt ist der politische Spielraum für Einsparungen im Haushalt überall gering. Die Einschätzung der Kompetenz der politischen Klasse nimmt in dem Maße ab. wie die Finanzprobleme nicht gelöst und der Verlust des Politischen nicht rückgängig gemacht werden kann.

IV. Die Globalisierung und die Strukturprobleme der Demokratien

Diese Probleme werden in dem Maße zunehmend spürbar, wie die Globalisierung und Internationalisierung unserer Lebenswelt fortschreiten. Mit diesem Begriffspaar ist ein Prozeß beschrieben, bei dem mehr und mehr Bereiche unseres Lebens durch Entwicklungen strukturiert und bestimmt werden, die außerhalb des Zuständigkeitsbereiches und des Zugriffs der meisten Nationalstaaten liegen. Der Begriff „Globalisierung" allein ist mit einer gewissen Vorsicht zu handhaben, weil er als Schlagwort für die These eines angeblich global um sich greifenden Kapitalismus herhalten muß.der alle Gesellschaften in eine kleine Schicht der alles besitzenden Shareholders und in die Mehrheit der Besitzlosen und Unterbezahlten aufteilt und damit Demokratie und Rechtsstaat gefährdet Diese These ist nicht unumstritten: andere Autoren begreifen Globalisierung eher als Chance manche halten sie gar für irrelevant Tatsächlich wird vieles als „Globalisierung" interpretiert, was eher Regionalisierung oder Internationalisierung heißen sollte -und meist wird das Ausmaß der Globalisierung übertrieben. Dennoch sind einige Trends zu identifizieren, die für die Frage der Zukunft der Demokratie von großer Bedeutung sind. Teilweise engen sie den Spielraum ein, teilweise sind sie demokratischen Entwicklungen förderlich.

Zum einen gehört hierzu der Prozeß der zunehmenden Internationalisierung von Märkten (im Sinne von Regionalisierung und Globalisierung); dieser Prozeß fing mit der Handelsliberalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg an und hat sich im Zuge der Uruguay-Runden sowie der Herausbildung regionaler Freihandelszonen bzw. im Falle Europas eines integrierten Marktes weiterentwikkelt und an Dynamik gewonnen. Mittlerweile sind die internationalen Finanzmärkte in einem Maße internationalisiert, welches vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar war. Zunehmend werden durch die regionale und globale Verlagerung von Produktionsstätten, durch „Outsourcing" sowie regionale und globale Verbindungen industrielle Herstellungsprozesse in einem Maße internationalisiert. daß dadurch in hochentwickelten Industriestaaten erhebliche Strukturverschiebungen eintreten können. Es kann zum „Export“ von Arbeitsplätzen kommen oder zum Nachlassen von Neuinvestitionen -in beiden Fallen ist dies mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit verbunden. Nationale Wohlfahrts-und Umverteilungssysteme können dadurch in Schwierigkeiten geraten, insbesondere dann, wenn ihre Finanzierung auf der Besteuerung von Arbeit beruht. Damit ist die Gefahr gegeben, daß ein zentrales Element heutiger demokratischer Stabilität verlorengeht -die Identifikation der Bürger mit einem Staat, der ihnen Rahmenbedingungen verschafft, um ein anständiges Leben zu führen, und der dafür Sorge trägt, daß Arbeitslosigkeit. Alter und Krankheit nicht zu persönlichen Katastrophen werden. Zum zweiten gehört zur Globalisierung und Internationalisierung eine zunehmende Diffusion nationaler Gesellschaften durch Wanderung, Kommunikation und Verkehr sowie durch das Wirken transnationaler Organisationen. Damit verbindet sich eine Angleichung von Lebensumständen sowie von gesellschaftlichen und politischen Regeln. Hierzu gehört aber auch das zunehmende Bewußtsein in den modernen Industriegesellschaften für die Notwendigkeit, globale Probleme in kooperativer Weise anzugehen, wie z. B. Klimaveränderungen, Umweltverschmutzung, organisiertes Verbrechen, unkontrollierte Migration usw.

Zum dritten hat die Globalisierung und Internationalisierung eine technologische Dimension, die insbesondere im Bereich der Kommunikation und des Verkehrs immer wieder neue qualitative Sprünge erlaubt. Damit bekommt der Prozeß der Globalisierung eine Zwangsläufigkeit, die eigentlich dem demokratischen Prinzip entgegenkommt, da er Meinungsfreiheit und freien Austausch von Ideen fördert.

Zum vierten hat die Globalisierung und Internationalisierung eine politische Dimension. Das, was wir heute in diesem Bereich erleben, ist das Resultat jahrzehntelanger politischer Bemühungen um Handelsliberalisierung und um den Abbau von nationalen Regulierungen, die die Freiheit von Menschen, Arbeit und Kapital behindern. Mit diesen Liberalisierungsschritten sollte primär ein Beitrag für Frieden und Wohlstand geleistet werden. Im großen und ganzen entspricht die Logik der Globalisierung und Internationalisierung auch der Logik moderner, freiheitlicher Gesellschaften. Globalisierung und Internationalisierung beinhalten also sowohl Segnungen wie Gefährdungen für moderne Demokratien. Was die oben beschriebenen Strukturprobleme betrifft, so stellt die zuerst genannte Dimension der Globalisierung (die Internationalisierung von Märkten und die Durchdringung der nationalen Gesellschaften durch Marktgesetze) tatsächlich einen Faktor dar, der die Auswirkungen der Strukturprobleme verstärkt.

Dies gilt auch anders herum: Die oben genannten Strukturprobleme führen dazu, daß die demokratischen Gesellschaften von der Wucht der Globalisierung ungleich stärker getroffen werden, als wenn es diese Strukturprobleme nicht gäbe.

V. Folgen für die Demokratietheorie

Was bedeutet dies alles für die Zukunft unserer Demokratien? Welche Schlußfolgerungen lassen sich für die Demokratietheorie ziehen? Die erste Schlußfolgerung muß lauten: Die Demokratien müssen lernen, sich selber aus den letztendlich selbstverschuldeten Strukturproblemen zu befreien bzw. diese Probleme so abzumildern, daß sie nicht akut werden. Die zweite Schlußfolgerung muß lauten, daß die Demokratien lernen müssen, mit den Problemen der Globalisierung fertig zu werden. Dies ist keinesfalls unmöglich. Der oft zu vernehmende Pessimismus, dem zufolge die modernen Demokratien mit dem Verlust des „politischen Raums“ nicht fertig werden können, ist unberechtigt. Im Vergleich zu allen anderen politischen Systemen dürften die modernen Demokratien immer noch besser ausgestattet sein, um mit diesen Problemen fertig zu werden. Bei der Auseinandersetzung mit diesen beiden Problemen kommt es darauf an, sich aus den Fesseln des traditionellen Verständnisses von demokratischen Verfassungen und Staatsgebilden zu lösen.

Was die bereits behandelten drei Strukturprobleme der heutigen liberalen Repräsentativdemokratien betrifft, so gibt es keine Patentrezepte. Wichtig ist jedoch, daß die hier genannten Probleme politisch direkt angegangen werden und nicht im Wege der permanenten Reformaufschiebung und Politikblockade aus dem Blick geraten.

Der oben beschriebene „Verlust des Politischen“ kann nur dann wieder ausgeglichen werden, wenn es zu einer entsprechenden politischen Führungsanstrengung kommt. Bei der Forderung nach politischer Führung muß allerdings eingeräumt werden, daß sich die verschiedenen Regierungssysteme in unterschiedlicher Weise hierfür eignen. Die Erfahrungen mit Großbritannien und Neuseeland haben gezeigt, daß ein auf dem Konkurrenz-system basierendes parlamentarisches Regierungssystem mit Mehrheitswahlrecht hierfür am ehesten geeignet ist. Schon mit etwas mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen kann man in Großbritannien einen politischen Wandel bewirken. Auch parlamentarische Konkordanzsysteme können -das zeigt das Beispiel der Niederlande -zur Wiedergewinnung des „Politischen“ in der Lage sein, da bei ihnen am ehesten unter den hauptsächlichen politischen Kräften die Einsicht wächst, daß etwas getan werden muß. Schwieriger sieht es schon bei den präsidentiellen und semi-präsidentiellen Systemen aus, da hier in zwei verschiedenen Wahlverfahren ein Mandat an unterschiedliche Akteure vergeben werden muß. Sowohl die jüngsten Entwicklungen in den USA wie in Frankreich zeigen, daß der Wähler eher zu einer Balance zwischen Präsident und Parlament tendiert, bei der sich beide Seiten primär die Waage halten und somit große politische Führungsanstrengungen erschwert werden. Am meisten Sorge bereitet in die- ser Perspektive das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Das deutsche politische System ist weder eine richtige Konkurrenzdemokratie noch eine richtige Konkordanzdemokratie und tut sich daher schwer, die Tugenden des einen oder des anderen Systems zu entwickeln. Hinzu kommt die fatale Politikblockierung infolge des föderativen Systems.

Die Wiederherstellung des Politischen in modernen Demokratien sollte sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Problemen einer eingefahrenen, nur noch auf die Verteidigung des Status quo gerichteten politischen Konstellation beschränken. Die Bewältigung der Herausforderungen der heutigen Demokratien durch die Globalisierung sollte dabei den äußeren Anstoß bieten, ohne den eine derartige Führungsaufgabe nicht möglich ist. Dabei liegt es geradezu in der Natur der Sache, dieses Problem gemeinsam auf europäischer oder internationaler Ebene politisch anzugehen. Hier liegt insbesondere eine Aufgabe für die Europäische Union.

Die Notwendigkeit der internationalen Kooperation ist noch stärker bei der Bekämpfung des zweiten Strukturproblems -der Defizitfinanzierung und strukturellen Staatsverschuldung -erkennbar. Die Europäische Währungsunion -deren dritte Phase im Jahre 1999 umgesetzt werden soll -stellt im wesentlichen den Versuch der europäischen Demokratien dar, sich gemeinsam auf die Reduzierung der Haushaltsdefizite und der Staatsschulden zu verpflichten, weil nur so dem Drängen der innenpolitischen Kräfte und Anliegen nach mehr Verschuldung entgegengewirkt werden kann. Aber auch hier sind weitere Schritte vonnöten: Die derzeitig vereinbarten Parameter sind noch weit davon entfernt, das Ende der strukturellen Staatsverschuldung einzuläuten. Die nach den Maastricht-Kriterien noch erlaubte jährliche Neuverschuldung der Staaten in Höhe von drei Prozent des Bruttosozialprodukts würde im Fall der Bundesregierung immer noch erlauben, daß diese pro Jahr Mehrausgaben in einer Größenordnung tätigt, die um etwa zehn Prozent über den Einnahmen liegen.

Die USA haben in den vergangenen zehn Jahren primär die Strategie verfolgt, die Defizitfinanzierung des Staatshaushaltes durch eine mit Steuersenkungen angeheizte Konjunkturbelebung zu verringern. Dies war nicht ohne Risiko. Die Steuersenkungspohtik der Ära Ronald Reagan hat in den achtziger und neunziger Jahren das größte Defizit in der Geschichte der USA verursacht, ohne daß die gewachsene Wirtschaftskraft des Landes in der Lage gewesen wäre, die Schuldenlast zu relativieren und abzutragen. Erst unter Präsident Clinton ist es einem gemeinsamen Kraftakt von Präsident und Kongreß zu verdanken, daß die Neuverschuldung des Bundes absehbar auf Null sinkt -womit die mehr als 5, 3 Billionen US-Dollar Schulden noch nicht abgetragen sind.

Für das dritte Strukturproblem -die Entfremdung der Politischen Klasse, zumeist der politischen Parteien -gibt es kein Patentrezept, außer daß sich die politischen Kräfte verstärkt um größere Bürger-nähe und -in Zusammenarbeit mit den Medien und anderen Mittlerorganisationen -um eine bessere Vermittlung politischer Themen zwischen Bürgern und Politikern bemühen müssen. Ganz bestimmt wird aber eine Lösung um so wahrscheinlicher, je erfolgreicher die ersten beiden Strukturprobleme angegangen werden. Um die politischen Parteien als wichtigsten Mediatisierungsfaktor wird keine Demokratie herumkommen.

Wie sollen Demokratien lernen, mit der Globalisierung umzugehen, ohne dabei ihren solidarischen Charakter zu verlieren, der wiederum die Voraussetzung für den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaften ist? Für dieses Problem gibt es keine Patentrezepte. Allerdings gibt es erste Beispiele (Neuseeland, Niederlande, Großbritannien), anhand derer erkennbar ist, wohin im Prinzip die Entwicklung gehen muß. Im wesentlichen muß es darum gehen, auf der Ebene des Nationalstaats „Solidarität“ anders zu definieren, als es traditionell der Fall war. Bislang hieß Solidarität in der Hauptsache Unterstützung für Arbeitslose, Arme und Rentner, Subvention für verschiedene Berufe (Bauern) und Branchen ohne große Zukunft (Kohle, Bergbau, Eisen, Schiffsbau) sowie eine Vielzahl kostenloser Dienstleistungsangebote, staatliche Infrastrukturangebote in vielen Bereichen und Regulierung auf allen Ebenen. Aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten (die die Lohnstückkosten erhöhen), der Veränderungen in der Sozial-und Altersstruktur der Bevölkerung und des damit verbundenen Trägheitseffekts ist diese Art von Sozialstaat angesichts der durch die Globalisierung vermittelten internationalen Konkurrenzlage immer weniger finanzierbar. Doch nicht nur das: Je intensiver und verbissener an dem derzeitigen Sozialstaat festgehalten wird, desto größer ist die Gefahr, daß der Standort dadurch so benachteiligt wird, daß die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt und die Finanzierung des Sozialstaats über die Besteuerung der Arbeit immer weniger erreicht werden kann.In der Zukunft muß Solidarität primär bedeuten, daß die Bürger bildungsmäßig auf die globale Konkurrenzsituation vorbereitet werden, daß die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze geschaffen werden und daß die Finanzierung der Altersversorgung weniger durch die Besteuerung der Arbeit als vielmehr aus den Kapitalerträgen erfolgt. Anstelle der Subvention von Arbeitslosigkeit sowie unergiebigen Industrien und Berufszweigen muß die Finanzierung von Zukunftsinvestitionen und Ausbildung stehen. Der Staat muß sich stärker als „Wettbewerbsstaat“ verstehen 20.

Sollten sich mehr und mehr Demokratien als „Wettbewerbsstaaten“ begreifen, so entsteht jedoch die Gefahr, daß sich Nationalstaaten bei dem Bemühen um mehr Investitionen in einen sozialen Abwertungswettlauf begeben. Das beste Mittel hiergegen kann nur die internationale Kooperation zwischen Regierungen sein -eine Kooperation, bei der unter relativ gleichgearteten Staaten einer überschaubaren Region Übereinstimmung über die Beibehaltung bestimmter Standards und bestimmter wettbewerbsmäßiger Rahmenbedingungen erzielt wird. Überhaupt ist die internationale Zusammenarbeit in vielen anderen Bereichen für Demokratien der vielversprechendste Weg, um verloren gegangene Handlungsfähigkeit wiedergewinnen zu können -sei es im Bereich der Standards, sei es im Bereich des Investitionsschutzes, des Schutzes geistigen Eigentums, der Bekämpfung internationaler Kriminalität oder der Umwelt. Dabei werden neue Qualitäten der internationalen Kooperation notwendig werden, und es werden mehr und mehr politische Materien nur noch international regelbar sein. Wie bereits ausgeführt, verbindet sich damit eine Herausforderung für das demokratische Prinzip.

Die Vorstellung eines souverän seine Angelegenheiten regelnden Staates, dessen Entscheidungsträger demokratisch gewählt und entsprechend verantwortlich gemacht werden können, gehört mehr und mehr der Vergangenheit an. Solange ein „Weltstaat“ mit einer entsprechenden Regierung nicht in Sicht ist, werden Nationalstaaten allerdings die primären Handlungsträger bleiben, an denen die Bürger sich orientieren Dies bedeutet, daß das primäre Interesse der Demokratietheorie auf die internationalen und transnationalen Verhandlungs-und Regimebildungsprozesse gerichtet sein sollte, an denen die demokratischen Verfassungsstaaten beteiligt sind. Diese sind entweder regionaler, regionenübergreifender oder aber auch globaler Natur. Dabei dürfte es aus demokratie-theoretischer Sicht gar nicht das Hauptproblem sein, daß Verhandlungsergebnisse nicht mehr durch demokratische Kontrolle rückgängig zu machen oder zu beeinflussen sind. In der Regel sind die Alternativen zu international vereinbarten Lösungen nachteiliger für den einzelnen Nationalstaat, zudem sind die meisten demokratischen Staaten parlamentarische Demokratien, in denen es ohnehin nicht üblich ist, daß das Parlament die laufende Regierungsarbeit mit jener kritischen Aufmerksamkeit (und mit jenen Interventionsmöglichkeiten) verfolgt, wie es der amerikanische Kongreß tut. In den meisten Demokratien steht die Gesamtrichtung der Politik einer Regierung und deren personelle Ausstattung zur Debatte, seltener jedoch das Verhalten in einzelnen internationalen Gremien.

Das Hauptproblem dürfte darin liegen, daß internationale und transnationale Verhandlungsprozesse außerordentlich mühsam und zeitraubend sind und dort wenig Ergebnisse versprechen, wo die Ausgangsinteressen der beteiligten Staaten weit auseinanderklaffen. Eine Möglichkeit zur Bewältigung dieses Problems kann -auf regionaler Ebene -der Übergang zur Bildung supranationaler Strukturen sein. Eine andere Möglichkeit ist das, was man als „Übernahme internationaler Führung“ durch demokratische Staaten bezeichnen kann. Die Diffusion der Rolle des Staates in der heutigen Weltpolitik fällt keinesfalls für die verschiedenen Demokratien gleichförmig aus. Diejenigen Staaten, die aufgrund ihrer Größe und ihrer strukturellen Machtvorteile dazu befähigt sind, können mehr als andere internationale Verhandlungsprozesse oder Regimebildung beeinflussen Dies gilt vor allem für die USA sowie für Japan und die größeren europäischen Mächte, wobei die USA zweifelsohne eine Kategorie sui generis darstellen. Die komplexen Abstimmungsprozesse in dieser Konstellation, die internationalen Auswirkungen nationaler Rechtssetzungsprozesse (etwa die extraterritoriale Anwendung amerikanischer Gesetze) sowie die Versuche der Gegenmachtbildung durch Regionalismus können an dieser Stelle nur erwähnt werden. Sie sind wesentlicher Gegenstand demokratischer Politik in den kommenden Jahren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Arthur Schlesinger, jr., Has Democracy a Future?, in: Foreign Affairs, 76 (1997) 5, S. 2-12.

  2. Vgl. Jean-Marie Guehenno, Das Ende der Demokratie, München 1994.

  3. Vgl. Michael J. Crozier/Samuel P. Huntington/Joji Watanuki, The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York -London 1975.

  4. Vgl. Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 19972, Kapitel I.

  5. Eine Ausnahme bildet Fritz W. Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, in: Internationale Politik, 51 (1996) 12, S. 11-20; ders., Legitimationsprobleme der Globalisierung. Regieren in Verhandlungssystemen, in: Carl Böhret/Göttrik Wewer (Hrsg.), Regieren im 21. Jahrhundert -Zwischen Globalisierung und Regionalisierung, Opladen 1993, S. 165-185; ders., Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26 (1985), S. 323356; ders., Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, Konstanz 1970; vgl. Karl Kaiser, Transnational Relations as a Threat to the Democratic Process, in: Robert O. Keohane/Joseph S. Nye (Hrsg.), Transnational Relations and World Politics, Cambridge, Mass. 1971, S. 356-370.

  6. Vgl. Alexis de Toqueville, Democracy in America, New York 1969, Volume One, Part II, Chapter 5, 6, 7 und 8.

  7. Vgl. Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 19972, S. 88; Raymond Aron, Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970, S. 111 f.; Ernst Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart u. a. 1964, S. 4868.

  8. Vgl. G. Sartori (Anm. 4), S. 179.

  9. Vgl. Charles Taylor, Der Trend zur politischen Fragmentarisierung -Bedeutungsverlust demokratischer Entscheidungen, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Demokratie am Wendepunkt. Berlin 1996, S. 254-273.

  10. J. -M. Guehenno (Anm. 2), S. 44.

  11. Vgl. Claus Offe, Bewährungsprobe: Über einige Beweislasten bei der Verteidigung der liberalen Demokratie, in: W. Weidenfeld, (Anm. 10), S. 130.

  12. Vgl. Robert D. Putnam, Symptome der Krise -Die USA, Europa und Japan im Vergleich, in: W. Weidenfeld (Anm. 10), S. 56.

  13. Vgl. Joseph S. Nye, jr. /Philip D. Zelikow/David C. King, Why People Don’t Trust Government, Cambridge, Mass. -London 1997.

  14. Zitiert in: Hans Herbert von Arnim, Parteiendefizite in der Parteiendemokratie, in: Mathias Schmitz (Hrsg.), Politikversagen? Parteienverschleiß? Bürgerverdruß? Streß in den Demokratien Europas, Regensburg 1996, S. 32.

  15. Vgl. Viviane Forrester. Der Terror der Ökonomie. Wien-Zürich 1997; Hans-Peter Martin Harald Schumann. Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, Reinbek 1996; Joachim Hirsch. Der nationale Wettbewerbsstaat. Berlin 1995.

  16. Vgl. Ulrich Beck. Was ist Globalisierung? -Irrtümer des Globalismus -. Antworten auf Globalisierung. Frankfurt a. M. 1997.

  17. Vgl.den Literaturüberblick bei Marianne Beisheim Gregor Walter. .. Globalisierung” -Kinderkrankheiten eines Konzeptes, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. 4(1997) 1, S. 153-180.

  18. Damit ist ausgesagt, daß zu viele Sozialleistungen und Subventionierungen dazu führen, daß mehr und mehr Menschen gar nicht mehr in den Produktionsprozeß einsteigen wollen und daß zudem Wirtschaftszweige gefördert werden, die keine Aussichten mehr haben, während Geld für die Förderung zukunftsträchtiger Vorhaben fehlt.

  19. Vgl. Stephen D. Krasner, Power Politics, Institutions, and Transnational Relations, in: Thomas Risse-Kappen (Hrsg.), Bringing International Relations Back in, Cambridge, Mass. 1995, S. 257-279; Jürgen Neyer, Globaler Markt und territorialer Staat. Konturen eines wachsenden Antagonismus, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 2 (1995) 2, S. 310.

  20. Vgl. Susan Strange, The Retreat of the State. The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge, U. K. 1996.

Weitere Inhalte

Joachim Krause, Dr. phil. habil., geb. 1951; Studium der Politikwissenschaften an der Universität Hamburg; Stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Privatdozent an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Veronika Büttner) Rüstung und Unterentwicklung, Baden-Baden 1995; (Hrsg. zus. mit Karl Kaiser) Deutschlands neue Außenpolitik -Interessen und Strategien, München 1996; Strukturwandel der Nichtverbreitungspolitik, München 1998.