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Unkonventionelle B eteiligungsformen und die Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft | APuZ 38/1998 | bpb.de

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APuZ 38/1998 Das Demokratrie-Dilemma im Zeitalter der Globalisierung Unkonventionelle B eteiligungsformen und die Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft Bürgergesellschaft Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen Engagement und Engagementpotential in Deutschland. Erkenntnisse der empirischen Forschung

Unkonventionelle B eteiligungsformen und die Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft

Thomas Leif

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Zusammenfassung

Der Beitrag geht von einem Problemrelief der Politik bzw.der politischen Institutionen der Bundesrepublik aus und mustert kritisch Tendenzen, die in der Öffentlichkeit mit den Begriffen „Reformstau“, „Reformblockade“ oder dem Schlagwort vom „Ende der Politik“ kontrovers und nachhaltig diskutiert werden. Aufbauend auf dieser Krisen-Skizze wird der Kerngedanke entwickelt, daß unkonventionelle, neuartige Beteiligungsformen die Bürgergesellschaft vitalisieren und somit den kritisierten Tendenzen des „demokratischen Verfalls“ entgegenwirken könnten. Da nach empirischen Befunden durchaus ein großes Aktivierungspotential in der Bürgerschaft angelegt ist, werden konkrete Beispiele diskutiert, die eine Trendumkehr von der Zuschauerdemokratie zur Bürgergesellschaft begünstigen könnten. Die vorgestellten Leitmotive für mehr Mitwirkung, Beteiligung, Transparenz und Partizipation gehen von der grundlegenden Vorstellung aus, daß eine demokratische Öffnung der Gesellschaft auf allen Ebenen mit auf Deutschland bezogenen kommunitaristischen Konzepten eine neue Motivation zur demokratischen Mitwirkung auslösen würde. Wenn das Raster der gängigen Politikformen kritisch überprüft und schließlich modernisiert würde, wenn Direktwahlen, Volksentscheide und durchgehend mehr Bürgerbeteiligung ermöglicht würden und wenn die öffentlichen Debatten über wesentliche Streitfragen abseits von Medien-Inszenierungen geführt würden, wären wichtige Schritte hin zur notwendigen Vitalisierung der Bürgergesellschaft eingeleitet.

„Modell Deutschland ‘ 21 -Wege in das nächste Jahrhundert“ lautet der Titel eines ungewöhnlichen Reformberichts, der sich anschickt, die heikle Frage zu beantworten, „wie Deutschland es schaffen kann“. Vier renommierte, international agierende Unternehmensberatungen hatten sich im Frühjahr 1997 zusammengetan, um der Politik konkrete Gestaltungsvorschläge zu unterbreiten. Zu vier großen Politikfeldern -einer Arbeitsmarktinitiative, einer Initiative für Verwaltungsservice, einer Innovationsinitiative und einer Bildungsinitiative -werden nüchtern Lösungsvorschläge präsentiert, über die es sich zu streiten lohnt. Doch das Interesse der auf Bundes-und Landesebene Verantwortlichen an den konzeptionellen Entwürfen und dem Erfahrungswissen der Berater war gering.

Dieses Beispiel wirft ein Schlaglicht auf die Bonner Republik. Niemand erwartet, daß die Vorschläge von Unternehmensberatern kritiklos , abgenickt'werden. Sicherlich verfolgen die der Wirtschaft verbundenen Unternehmensberater eigene Ziele. Aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einem gründlichen Beratungsangebot wäre angemessen gewesen, selbst wenn man die leitenden Interessen der unternehmensnahen Berater als „neoliberal gerichtet“ wertet. Im Diskurs mit den Beratern und allen im Bundestag vertretenen Parteien hätte -beispielsweise in Form einer Enquete-Kommission außerhalb des Parlaments oder einer Denkschrift -eine nüchterne Politikbilanz vorgenommen werden können, die den Markt an gemeinsamen und trennenden Positionen emotionsfrei analysiert.

Erhard Eppler nimmt den skizzierten Bonner „IstZustand“ in seinem neuen Buch mit dem provokativen Titel „Die Wiederkehr der Politik“ auf und kommt zum Kern des Dilemmas: , „Muddle through’ plus Sonntagsreden ergibt noch keine Politik. Auch die politische Talkshow kann Politik nicht ersetzen und also auch nicht Gesellschaft integrieren. Sogar ein demokratischer Diskurs kann es nicht, wenn er keine Folgen, keine praktischen Ergebnisse hat. (...) Wo die Verbindung zwischen Reden und Tun reißt oder gar nicht mehr gewollt ist, findet keine Politik mehr statt, die Gesellschaft integrieren könnte. Die aber wäre nötiger denn je.“

Ende der neunziger Jahre kollabiert das deutsche Wohlstandsmodell unter dem Druck der von der Politik scheinbar nicht mehr steuerbaren Weltmärkte. Die Grenzen des qualitativen Wachstums -lange prognostiziert -sind überschritten, über die Grenzen der Umweltbelastung wird erbittert gestritten, die Verteilungskämpfe und Interessen-gegensätze zwischen Ost-und Westdeutschland drohen zu eskalieren. Doch es gibt keine seriöse Debatte über die Zukunft einer gespaltenen Gesellschaft zwischen Marburg und Magdeburg, zwischen Frankfurt am Main und an der Oder. Statt dessen: Jammern auf hohem Niveau, Ankündigungsrituale, Rückblicke auf frühere Leistungen, Ressentiments gegen die Politik, kalkulierte Angriffe auf politische Gegner und Beifall für Fensterreden, die berechenbar folgenlos bleiben. Der Bundespräsident hat die Verfallserscheinungen im Prozeß der politischen Auseinandersetzung früh erkannt und in seiner Funktion immer wieder ungewöhnlich klar und provokativ formuliert: „Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem“ -so Bundespräsident Roman Herzog in seiner „Berliner Rede“. Es müsse ein Ruck durch die Gesellschaft gehen und Schluß sein mit dem Gejammere. Ungeklärt ist -bezogen auf diese Position -allerdings, warum das vorhandene Wissen etwa zu Ökonomie und Ökologie meist brachliegt und Kern aller Entscheidungen bzw. Nicht-Entscheidungen stets spezifische Interessen einzelner Lobbygruppen sind.

Die Reformbilanz der „Deutschland AG“ ist mehr als bedenklich: Eine grundlegende, gerechte Steuerreform, eine faire Neustrukturierung des Sozialstaates, eine tragfähige Rentenreform oder der zukunftsweisende Umbau des Bildungssystems sind auf der Bonner Bühne nicht einmal in Umrissen erkennbar. Und obwohl zum Teil ausgereifte politische Gestaltungskonzepte auf dem Tisch liegen, werden diese nicht einmal in den als konstruktiv gewürdigten Programmpunkten umgesetzt Gibt es demnach nur ein Umsetzungsproblem oder doch divergierende Problemsichten und unüberbrückbare Interessengegensätze, die eine entschlossene Umsetzung blockieren? Immer wieder wird beklagt, daß Politik heute nur noch eine Summe von Einzelfallentscheidungen sei, der große Wurf aber fehle. Kohärente Programmentwürfe, die die schwierigen Problemfelder der Zukunft gründlich in den Blick nehmen, lägen kaum vor. Positionen, Programme und Profile der großen Volksparteien seien zudem aufgrund ihrer bewußt offengehaltenen Aussagen nahezu austauschbar Offenbar liegen die Probleme also tiefer als nur in der griffigen Vereinfachung von unterschiedlichen Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat. Es gilt, nach den Motiven und Ursachen dafür zu fragen, warum der politische Wille zur Gestaltung des Gemeinwesens bei Regierungen und Oppositionen in Bund, Ländern und Kommunen so unterentwickelt und zum Teil verkümmert ist.

I. Was ist überhaupt Politik -ein Problemrelief

Gemeinhin wird Politik als die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen verstanden. Politik hat Probleme für die Bürger -eingebunden in das Wertekonzept der Verfassung -zu lösen und die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Gemeinwesen zu setzen. An dieser Aufgabe arbeiten Tausende von Berufspolitikern mit einem Heer von Zuarbeitern in den staatlichen Behörden und Verwaltungen -mit begrenztem Erfolg.

Eine Begriffspräzisierung bietet die klassische Dreigliederung der Politikwissenschaft. Sie fragt erstens nach der institutionellen Verfassung des politischen Gemeinwesens als der Selbstorganisation der Gesellschaft (polity), zweitens nach den (normativen) Inhalten politischer Programme zur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse (policy) und schließlich, drittens, nach dem Prozeß der politischen Auseinandersetzung um Machtanteile und Machtpositionen (politics). Alle drei -die institutioneile Form als polity, der normative Inhalt als policy und der prozessuale Verlauf als politics -machen zusammen das aus, was man als Politik bezeichnen kann. Probleme und Defizite gibt es freilich auf allen drei Ebenen. Wechselseitig verstärken sich die Krisensymptome. Die entscheidende Neubestimmung von politischem Handeln besteht jedoch in der mit rasantem Tempo fortschreitenden Ablösung des Primats der Politik durch das Primat der Ökonomie, vielfach beschrieben durch die Herausforderung der globalisierten Märkte. Die wechselvolle Debatte um die Qualität des , Standorts Deutschland'illustriert diese These.

Die Kluft zwischen Politikern und Unternehmern ist nach Auffassung des früheren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth heute größer als jemals zuvor. „Die Wirtschaft hat sich durch die Globalisierung von den Ebenen der Politik gelöst und sich von der Nation verabschiedet.“ Schonungslos urteilte der Jenoptik-Chef: „Das geht nicht in die Bonner Köpfe, daß Unternehmer und Unternehmen heute mächtiger sind als die Politik.“

Die Auswirkungen dieser politischen Tendenz, die Endpunkte politischer Handlungsspielräume markieren, hat Richard Sennett in eindringlichen Fragen formuliert: „Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert? Dies sind die Fragen zum menschlichen Charakter, die der neue flexible Kapitalismus stellt.“

Diese Ausgangslage stellt politische Akteure auf allen politischen Ebenen vor neue Herausforde-rungen und wirft Fragen der politischen Steuerung des Gemeinwesens in prinzipieller Form auf. 1. Die Krise der Akteure Zukunftsthemen und Fragen der künftigen Lebensgestaltung werden längst nicht mehr allein durch die legitimierten Institutionen von Staat und Parlament auf die Tagesordnung der Gesellschaft gesetzt, sondern oft von öffentlich nicht kontrollierten Unternehmen, Managern, Finanzmaklern sowie Expertengremien vorgegeben. Wenn von diesen Akteuren nun auch noch in zunehmendem Maße Entscheidungen getroffen werden, muß gefragt werden, welche Gestaltungsspielräume dem parlamentarischen Prozeß überlassen bleiben. Zugespitzt diagnostiziert Claus Offe: „Politische Großorganisationen, vor allem politische Parteien, aber auch Gewerkschaften und andere Verbände haben gegenüber Mitgliedern und der Öffentlichkeit yiel von ihrer umfassenden Orientierungsfunktion verloren. Angesichts der Komplexität der von ihnen zu produzierenden Entscheidungen und der Pluralität der dabei zu berücksichtigenden Wert-und Interessengesichtspunkte verlieren die gestaltenden Akteure selbst an Gestalt. Sie hinterlassen ein politisch-moralisches Führungsvakuum und setzen sich dem Verdacht aus, im wesentlichen als opportunistische Patronage-und Machterhaltungskartelle zu operieren.“ 2. Die Krise der politischen Klasse Forciert und verschärft werden die umrissenen Problemfelder des Institutionensystems durch eine immer größer werdende Kluft zwischen den Problemlösungsforderungen der Bürger einerseits und der Hilflosigkeit und Überforderung der „politischen Klasse“ andererseits. „Als politische Klasse lassen sich Gruppen bezeichnen, denen bei der Artikulation von politischen Bedürfnissen und Interessen eine kontinuierliche aktive Rolle zufällt.“ Eine neue Tendenz bei der Debatte um die politische Elite in Deutschland kann dadurch markiert werden, daß die Kritik die Akteure selbst erreicht hat und -im geschützten Rahmen von Hintergrundgesprächen und zum Teil in Veröffentlichungen -ein äußerst ungewöhnliches Maß an Selbstkritik und Zweifeln zu Vernehmen ist. Der massive Funktionsverlust der Landesparlamente, die Übermacht der Regierungen und Fraktionsspitzen, die Aushöhlung parlamentarischer Rechte und der schmerzhafte Ansehensverlust bei den Bürgern sind nur einige Themen, die zu Selbst-zweifeln bei Politikern beigetragen haben

In Rekrutierungsfragen der politischen Klasse kommt den politischen Parteien eine zentrale Rolle zu. Sie stellen das Personal, das die politischen Geschicke mitbestimmen und führen soll. Die abgeschotteten, auf den engen Parteikreis zentrierten Rekrutierungsverfahren liefern zugleich ein mögliches Erklärungsmuster dafür, daß es innerhalb der politischen Klasse immer weniger mutige, vorausblickende Persönlichkeiten mit einer überzeugenden , Vita‘ gibt. Der Großteil der Politiker hat selbst kein , Anliegen'mehr, sondern reagiert vielmehr auf das, was von oben (Parteiführungsgremien) oder von außen (Lobbygruppen mit Wahlkreisinteressen) angeregt oder verfügt wird.

Wie kommt es, daß die Politik sich beispielsweise gegenüber Experten und Wissenschaft abkapselt und die bestellten Gutachten und Empfehlungen oft nur halbherzig zur Kenntnis nimmt? Politik, so der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, sei in vielen Fragen oft nicht mehr aufnahmefähig. Gesellschaftliche Krisenerscheinungen und Signale würden nicht (mehr) rechtzeitig aufgenommen und entsprechend kommuniziert. Entwicklungen des Wahlverhaltens in Ostdeutschland, aber auch Entscheidungen der verantwortlichen Politiker werden nicht selten als überraschend und kaum nachvollziehbar empfunden. Das sind Indikatoren für einen fortgeschrittenen Wahrnehmungsverlust der etablierten Politik -trotz Wahlforschung, Medienauswertung und professioneller politischer Beratung mit erfahrenen Mitarbeiterstäben.

Daß sich bei der Rekrutierung der politischen Klasse, vor allem von Parlamentariern auf Landes-und Bundesebene, etwas ändern kann, beweisen die zunehmenden Kampfabstimmungen in den Wahlbezirken vor der Bundestagswahl 1998. Hin und wieder kommt es auch zu spektakulären Plazierungen von Seiteneinsteigern. Obgleich auch hier längst nicht die notwendigen Regenerierungsprozesse in Richtung „Verjüngung“, „Feminisierung“ und „Verbreiterung der Berufsfelder“ lau-fen, muß doch festgestellt werden, daß in diesem Feld die größten Lernprozesse der etablierten Parteien eingeleitet wurden. 3. Die Krise der politischen Steuerung Diese innerstaatlichen Problem-und Konfliktfelder lassen berechtigte Zweifel an der Handlungsund Entscheidungsfähigkeit der Politik und an den Möglichkeiten politischer Steuerung überhaupt aufkommen. Doch gerät die Politik nicht nur durch interne Probleme in eine prekäre Situation, sondern auch durch den (ökonomischen) Globalisierungsdruck von außen. „Mit der Internationalisierung der Kapitalmärkte hat die nationale Politik kaum noch eine Chance, Massenarbeitslosigkeit durch Globalsteuerung zu verhindern; und mit der Liberalisierung des Handels und der freien Standortwahl vermindert sich auch die Fähigkeit des Staates und der Gewerkschaften, die Ausbeutung von Arbeitskraft und Natur durch marktbeschränkende Regulierung zu begrenzen und die kapitalistische Verteilung von Lebenschancen mit den Mitteln der Steuer-und Sozialpolitik oder der Lohnpolitik zu korrigieren. Der Staat mag zwar noch über das territorial begrenzte Monopol legitimer Gewaltsamkeit verfügen, aber er verfügt nicht mehr über das Regelungsmonopol“, bilanziert Fritz W. Scharpf

Das Entstehen neuer internationaler Netzwerke setzt eine nationale Politik von zwei Seiten unter Druck. Zum einen gilt es, angemessene politische Reaktionen auf weltweite ökonomische Entwicklungen zu finden, zum anderen müssen die Folgen vor der eigenen Bevölkerung gerechtfertigt werden. Das heißt, die politischen Handlungs-und Entscheidungsträger müssen auf einen Druck von außen (auf Sachzwänge, Marktimperative) reagieren, ohne dabei ihre Legitimationsgrundlage innerhalb der (Wahl-) Bevölkerung aus den Augen zu verlieren. Es ist also eine Quadratur des Kreises -denn die nationalen Handlungsmöglichkeiten sind ebenfalls ausgereizt. Die jahrzehntelang rücksichtslos betriebene Verschuldung fesselt die Akteure. Deshalb sehen wir wohl einer nur noch auf Sparzwänge und Standortkonkurrenz „spezialisierten“ und von der Wirtschaft „getriebenen“ Politik entgegen, die zwar noch weitgehende Gestaltungsoptionen benennt, sie aber nicht mehr zum Gegenstand politischer Entscheidungen machen kann. 4. Die Krise der Institutionen Seit Jahren wird über die Reform und die damit verbundene Verkleinerung von Bundestag und Landtagen debattiert. Auffallend ist bei der Beobachtung dieses komplizierten Reformprozesses der „Parlamente durch das Parlament“, daß seit Jahren durchaus respektable Vorschläge vorliegen, daß die Umsetzung dieser Vorhaben im Bund jedoch erst im Jahr 2002 mit vorsichtigen Kürzungen beginnt. Das gleiche gilt für den oft beklagten Einflußverlust der Parlamente bei gleichzeitigem Machtgewinn der Regierungen und Kabinette. Die Korrektur erkannter Fehlentwicklungen und die Optimierung des politischen Prozesses bleibt wohl im Stadium der Ankündigung stecken. Mitglieder von Enquete-Kommissionen und Fachgremien glauben nicht mehr daran, daß sie selbst kleine Reformen -wie einen häufigeren Tagungs-Rhythmus der Parlamente -auf den Weg bringen können.

Das gleiche Prinzip gilt für die Reform der Parteien. Der Reformbedarf wurde bereits vor Jahren registriert, zahlreiche Kommissionen mit Arbeitsaufträgen beschäftigt. Es liegen sorgfältig ausgelotete und praxistaugliche Handlungsvorschläge vor, die alle in die gleiche Richtung gehen: mehr Rechte für die Parteibasis, Öffnung der Parteien hin zum gesellschaftlichen Umfeld sowie Maßnahmen, die den Einfluß der Parteispitzen zähmen und sie zu intensiveren Rückkopplungen mit der Basis zwingen.

Auch hier gilt: Das Feld möglicher Reformen ist präzise abgesteckt, die Handlungsschritte sind genau formuliert. Aber: mit der Umsetzung läßt man sich Zeit oder reduziert das bereits eingeleitete Reformniveau etwa im Feld der Basisbeteiligung wieder Auch die Praxis der föderalen Strukturen in Deutschland steht immer wieder auf dem Prüfstand, mal in Form des Länderfinanzausgleichs, mal in der Praxis der Bundesratsentscheidungen. Auch hier werden Reformvorstellungen nur selten zu verhandlungsfähigen Paketen gebündelt und abstimmungsreif vorbereitet. Alle drei Beispiele haben eine gemeinsame Klammer: Der Reformbedarf der Institutionen wird seit Jahren erkannt, die konzeptionelle Arbeit für Alternativentwürfe sogar in Auftrag gegeben, Lösungen werden erarbeitet und präsentiert. Doch am Ende dieses „normalen“ politischen Prozesses scheitern die Anstrengungen immer wieder. Dieser Prozeß markiert Handlungsgrenzen und einen Stillstand mit verheerender Signalwirkung auf die interessierte Bürgerschaft. Vertreter einer reform-orientierten Perspektive der Veränderungen des politischen Institutionensystems sollten die Partizipation an diesen Systemen wieder in den Vordergrund rücken lassen; sie sollten überlegen, ob die Willensbildungskanäle des politischen Institutionensystems derart geöffnet werden können, daß möglichst vielen der Zugang gesichert werden kann. Große Legitimationspotentiale für die parlamentarische Demokratie könnten mit Hilfe dieser Öffnungsprozesse fruchtbar gemacht werden.

Daraus läßt sich folgern: Die Institutionen müssen ihren schleichenden Verfall ernst nehmen, die seit Jahren ausgearbeiteten Reformvorschläge aufgreifen und umsetzen. Weil damit jedoch vordergründig ein Macht-und Positionsverlust der etablierten Politik verbunden wäre, scheitern diese notwendigen Veränderungen bislang noch.

II. Unkonventionelle Beteiligungsformen und die Notwendigkeit der Vitalisierung der Bürgergesellschaft

Parallel zu den skizzierten Krisen der Politik haben sich interessante Neuentwicklungen ergeben, die das partizipatorische Potential, das Ausmaß an Engagement und demokratischem Interesse einer vitalen Bürgergesellschaft kennzeichnen. Die positiven Erfahrungen mit Volksbegehren und Volksentscheiden, aber auch mit Direktwahlen von Bürgermeistern und Landräten verweisen auf eine Renaissance direktdemokratischer Verfahren in der Demokratie. Das in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommene produktive Wurzelgeflecht von vielfältigen Formen der Bürgerbeteiligung und „Community Organizing“ sowie die Konjunktur der Debatte um Ehrenamt und Freiwilligenarbeit illustrieren ein großes, noch längst nicht erschlossenes Reservoir aktiver Bürgerschaft.

Künftig könnte das Set traditioneller Formen des politischen Handelns in Parteien und Parlamenten sinnvoll ergänzt werden durch Aktivitäten außerhalb dieses Handlungsrahmens in Initiativen wie die „Stiftung Bürgerorientierte Kommune“, Arbeitsgruppen für Volksentscheide, Runde Tische zur kommunalen Energieversorgung, Planungszellen und ganz neue Formen demokratischer Konsensstiftung, etwa mit Hilfe professioneller Mediationsverfahren Aus dem produktiven Miteinander könnten Aktivierungspotentiale für eine demokratische Gesellschaft erwachsen, die bisher vernachlässigt wurden. Eine aktive Bürger-gesellschaft, die sich einer „starken Demokratie“ verpflichtet fühlt, ist allerdings auf eine motivierende Akzeptanz durch den etablierten Politikbetrieb angewiesen. Diese Unterstützung für den gesamten „Dritten Sektor“ zwischen Markt und Staat darf jedoch nicht länger nur in wohlwollenden Reden vorkommen. Künftig muß die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur für Initiativen, kommunale Agenturen, Informations-und Kontaktstellen vom Staat aktiv gefördert werden. Nur mit Hilfe einer solchen Infrastruktur können sich die vorhandenen Kräfte der Selbstorganisation und Selbstverwaltung in der Gesellschaft entfalten

Beispiel Ehrenamt: Das Thema hat Konjunktur auf Kongressen und Fachveranstaltungen. Einen Katalog konkreter Aktivitäten mit dem politischen Ziel, das längst noch nicht ausgeschöpfte Potential interessierter „Freiwilliger“ für die Gesellschaft zu erschließen, gibt es jedoch nicht. Nach dem holländischen Vorbild könnten etwa in allen Städten über 30000 Einwohner sogenannte Freiwilligen-zentren eingerichtet werden, um soziale Dienste zu vermitteln, aktiv für Engagement zu werben, Interessenten zu stützen und weiterzubilden. Ähnliche Infrastrukturhilfen -die für die Wirtschaft etwa im Feld der Existenzgründungen oder der Bereitstellung von Risikokapital ja selbstverständlich sind -könnten für Non-profit-Organisationen etwa im sozialen Feld ebenso ermöglicht werden. Die Erfolgsgeschichte der „Tafeln“ in Deutschland zeigt, wie mit relativ einfachen Mitteln überschüssige Lebensmittel eingesammelt und an Bedürftige verteilt werden können. Dieses Beispiel könnte -vom Prinzip her -auch in anderen Sektoren der Sozialpolitik angewandt werden: von der Vermittlung Langzeitarbeitsloser bis hin zur Betreuung von Senioren, Behinderten oder Kin-dem. Die Investitionen würden sich für den belasteten Staat, der gerade im Feld der Sozialpolitik aufgrund von Fehlsteuerungen vor einem Infarkt steht, lohnen. Denn mittel-und langfristig würde der Staat durch die Entfaltung von Bürgersinn und Förderung von Mitarbeit finanziell entlastet. Gleichzeitig würde die soziale Phantasie der Bürger und ihr nicht abgerufenes Engagement aktiviert. Begleitet werden könnte dieser Prozeß verstärkter Teilhabe der Bürger an ihren eigenen Belangen durch eine offene Diskurskultur. Viele Initiativen tragen dazu bei, Ideen für eine aktive Bürger-gesellschaft überhaupt erst bekannt zu machen. Seit April 1998 gibt die Stiftung Mitarbeit einen „Rundbrief Bürgerbeteiligung“ heraus, der durch die Vielzahl und kreative Vielfalt der präsentierten Initiativen überrascht. Mit großem Engagement und beachtlicher Effizienz unterstützt die Bertelsmann-Stiftung das Projekt „Bürgerorientierte Kommune“, das schon bundesweit Nachahmer findet. Die Robert-Bosch-Stiftung gibt Impulse für das Ehrenamt jenseits des allgemeinen Appells. Der Bundespräsident läßt sich beraten, wie solche bürgerorientierten Mitwirkungsangebote verstärkt werden können. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ begleitet diese Prozesse mit einer eigenständigen Redaktion, die sich als Reform-werkstatt versteht. Die Illustrierte „Stern“ läßt Megatrends nach dem Jahr 2000 ausführlich untersuchen. Dieses Geflecht von Interessierten und Engagierten, das noch viel weiter verzweigt ist, scheint der Beginn einer wirksamen öffentlichen Artikulation und ersten Vernetzung zu sein. Das generelle Ziel einer aktiven Bürgergesellschaft, die sozial verantwortlich handelt, wird also von vielen (die noch keine Öffentlichkeit erreicht haben) auf verschiedenen Wegen angesteuert. Durch bürgerschaftliche Projekte ergibt sich auch eine produktive Konkurrenz zu den etablierten Wohlfahrtsverbänden. Sie müssen ihre verkrusteten, eingefahrenen Strukturen in Frage stellen, ihr Leistungsangebot mustern und ihren oft rein funktionalen Umgang mit Ehrenamtlichen überdenken. Der Partizipationswille ist innerhalb der Gesellschaft durchaus vorhanden Nur sucht dieser Trend sich mittlerweile andere Ausdrucksformen: Initiativen, Vereine oder soziale Bewegungen. Sie scheinen mit ihrem offenen und diskursiveren, themen-und projektbezogeneren Politikstil nicht zuletzt Ausdruck dafür zu sein, was sich in einer rapide wandelnden Zeit in der Gesellschaft abspielt und somit auch auf die etablierten Handlungsträger des politischen Systems zurückschlägt. Kurz: Die abnehmende Integrationskraft der Parteien und Großorganisationen kann auch als eine Frage von gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen und pluralisierten Lebensstilen gewertet werden. Dieser Geist der Zeit spiegelt sich -seitens der Bürger -in punktuellem Engagement und unkonventionellen Politikformen wider Pointiert formuliert Michael Thomas Greven: „Einerseits sind die neuen Individualisten nicht apathisch oder duldsam genug und intervenieren mit neuartigen Formen des politischen Engagements durchaus wirkungsvoll in die verbliebenen Steuerungsversuche der politischen Klasse, andererseits stehen sie für die Routinearbeit der politischen Organisationen und Institutionen nicht zur Verfügung.“

Eine Bürgergesellschaft bedarf nicht nur eines reichen, ungehinderten Assoziationswesens als organisatorischem Substrat, sondern auch eines Bürgertyps, der eben nicht ausschließlich an seinen eigenen Nutzenkalkülen orientiert ist, sondern auch an Bürgersinn und einem funktionierenden Gemeinwesen. Doch gilt es für die Politik, eine solche Entwicklung konzeptionell zu unterstützen -im Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Praktisch hieße das jedoch, Macht und Beteiligung würden zum Teil neu -je nach ihrer inhaltlichen Qualität auf verschiedene Ebenen -verlagert; Politiker müßten sich stärker in Frage stellen lassen, und der politische Prozeß insgesamt wäre überprüfbarer. Es tritt also auch in diesem Themenkontext wieder die Frage nach den institutioneilen Arrangements auf den Plan. Das heißt: Inwieweit sind die Willensbildungskanäle für das politische Engagement der Bürger in Institutionen und Organisationen geöffnet? Könnte ein politisches Institutionengefüge nicht so gestaltet werden, daß es für Stimmen und Artikulationen der Bürger responsiv ist? Gleiches gilt für die Großorganisationen. Ihnen sollte eigentlich daran gelegen sein -wenn'sie nicht als Machterhaltungskartelle enden wollen -, daß gesellschaftliches Engagement auch über sie und mit ihnen als intermediäre Akteure verläuft. Andernfalls verlieren sie auf absehbare Zeit ihre Legitimation und damit ihre Handlungsspielräume. Freilich sollte nicht außer acht gelassen werden, daß Passivität -die Rolle des frustrierten Beobachters -recht bequem ist. Auf dem Weg von der verordneten zur erstrittenen Demokratie darf die zum Teil kultivierte Passivität nicht einfach hingenommen werden. Mehr Beteiligung fordern auch diejenigen, die es sich heute in der privaten Nische eingerichtet haben. In einem Memorandum der Bertelsmann-Stiftung unter dem Titel „Wege zur Erneuerung der Demokratie“ heißt es: „Die Rolle der Politik wandelt sich. Eine uneingeschränkt , souveräne Stellung ist nicht mehr zu behaupten. Allenthalben macht sich Unzufriedenheit breit, denn Leistungs-und Steuerungsversprechen werden nicht mehr eingelöst. Damit gerät aber zugleich die Legitimität gegebener Ordnungszusammenhänge in Bedrängnis.“ Genau aufgrund dieses Problemzusammenhangs muß der Staat bereit sein, eine aktive Bürgergesellschaft entschlossen und zielgerichtet zu fördern. Die daraus entstehenden Legitimationspotentiale stärken die Demokratie.

III. Perspektiven für eine Aktivierung der Bürgergesellschaft

Die Kritik am „Reformstau“ ist nicht neu, die Skepsis gegenüber der politischen Klasse auch nicht. Neu ist die öffentliche Wahrnehmung des Stillstands, maßgeblich zu verantworten von einer strapazierten und nicht selten überalterten Politikergeneration. Sogar die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth räumt Kommunikationsstörungen zwischen Bürgern und Politikern ein: Der Jargon der Politik werde zu einem „Element der Antidemokratisierung“. Gefragt sei dagegen eine „partizipatorische Bürgergesellschaft“ Solche Positionen sind erste Markierungspunkte auf dem Weg zur Erkenntnis, der zufolge Politik neu zu gestalten, der politische Entscheidungsprozeß zu reformieren ist. Wenn also die Krisenphänomene, die den demokratischen Prozeß und die Entwicklung der Gesellschaft blockieren, in der Gesamtschau registriert, gesichtet und kritisch gemustert werden, ist dies vielleicht der erste Schritt zur Umkehr.

Weitere Schritte könnten den beklagten Reform-stau lösen. Klar ist, daß dieser Veränderungsprozeß nicht einfach an die Politiker delegiert werden kann, sondern daß parallel dazu aus der Zuschauerdemokratie eine Bürgergesellschaft entwickelt werden muß. Reform ist jedoch nicht gleich Reform. Auf den Inhalt und die Richtung kommt es an. Wenn gründlich überlegt würde, welche Reformen mit welchen qualitativen Eckdaten umgesetzt werden sollten, dann könnte möglicherweise dem größten Problem der demokratischen Gesellschaft begegnet werden: dem rasant steigenden Legitimationsverlust der Politik. Die nachfolgenden Überlegungen könnten die Richtung für notwendige Reformen zugunsten einer aktiven Bürgergesellschaft weisen. In ihrer Verzahnung und wechselseitigen Verstärkung würden die genannten Maßnahmen eine erhebliche Dynamik für eine demokratische Bürgergesellschaft entfalten und Schritt für Schritt dazu führen, die Entscheidungsprozesse transparenter zu gestalten und insgesamt das demokratische Gemeinwesen zu beflügeln:

Erstens: Die handelnden politischen Akteure müßten sich über den vorhandenen Haushalt an Gemeinsamkeiten verständigen und die Substanz ihres Konsenses herausfiltern. Aus diesem Konzentrat -das gemessen an offiziellen Beschlüssen und Programmen nicht zu unterschätzen ist — könnte eine Agenda der dringlichsten Aufgaben abgeleitet werden. Am Beispiel der intensiv diskutierten Ökosteuern läßt sich nachweisen, daß etwa der Vorschlag des CDU-Fraktionsvorsitzenden, die Mineralölsteuer zu erhöhen, die gemeinsame Basis für einen Ökosteuer-Entwurf hätte sein können. Diese Ortsbestimmung des möglichen Handlungsradius schließt Streit und harte Auseinandersetzungen über unterschiedliche Lösungskonzepte -also Profilierung -nicht aus. Konsenspunkte können durchaus neben markierten Dissenspunkten stehen, womit den interessierten Bürgern die qualifizierte Bewertung von Politikentwürfen erleichtert würde.

Zweitens: In den Bereichen, in denen heute weitgehend Konsens vorhanden ist, müßte gehandelt werden, was etwa auf dem Gebiet der von allen Parteien gewünschten Teilzeitarbeit und der Entlastung der Arbeitgeber von den Lohnnebenkosten möglich wäre. Auch bei der Investitionsförderung besteht ein Umsetzungsdefizit. Unter den politisch verantwortlichen Akteuren müßte zudem die Bereitschaft wachsen, auch verschiedene Wege hin zu einer Lösung zu akzeptieren. Warum ist das Interesse an (konkurrierenden) Modellen und Experimenten in Deutschland so gering? Von der Öffentlichkeit könnte Druck gegen die Apathie der Politik in dieser Frage ausgehen. Sinnvoller als nichts zu tun wäre es, Projekte zu erproben, internationale Erfahrungen auszuwerten und dabei auch das Risiko des möglichen Scheiterns einzugehen. Drittens: Dringend notwendig ist ein gesellschaftlicher Diskurs über langfristige Ziele, Orientierungen, Werte und Interessen der Republik. Wichtige Weichenstellungen -etwa in der Alterssicherung oder im Bildungssystem -erfolgen häufig noch auf der abgeschotteten und nicht legitimierten Experten-und Bürokratieebene. Um diesen Konsens zu erzielen, sind Streit und ein fairer Argumentationsaustausch notwendig. Die Politik sollte dafür die Rahmenbedingungen schaffen und diesen neuen Diskussionsprozeß ermöglichen bzw.selbst organisieren. Das wäre dann kein Dialog der Politik mit den Bürgern, sondern der Bürger mit der Politik. Vorurteile und angestaute Frustrationen über „die da oben“ würden so abgebaut. Der politischen Kraft, der es gelingt, diesen neuen Prozeß zu organisieren und dabei unabhängigen Sachverstand aus allen gesellschaftlichen Bereichen zu erschließen, gehört die Zukunft. Denn Transparenz und ein ehrlicher Politikstil werden von den Menschen anerkannt und schließlich auch gestützt. Der Streit um politische Konzepte würde wieder attraktiver, die Demokratie wieder lebendiger werden. Die Intellektualisierung der Politik bringt also nur Vorteile.

Viertens: Visionen und Politikkonzepte mit längerem Zeithorizont dürfen nicht -noch bevor die jeweiligen Projekte in ihren Umrissen überhaupt erkennbar sind -schon auf den Index gesetzt werden. Der Mut zu unkonventionellen Lösungen, die Einbeziehung ökologischer Standards und begründeter Verzicht in allen Politikfeldern erweitern den politischen Gestaltungsrahmen. Allzuoft sehen Politiker heute darin jedoch eine lästige Einengung ihres Handlungsspielraums. Politiker, die ständig die lernende Wissensgesellschaft proklamieren, sollten die Bereitschaft besitzen, selbst umzulernen, Widerspruch zuzulassen.

Fünftens: Politiker sollten ihre Arbeit kritisch reflektieren können, ohne gleich mit scharfen Sanktionen rechnen zu müssen. Außerdem sollte die Chance ergriffen werden, die oft schwerfälligen und wenig transparenten Verfahren des politischen Prozesses auf den Prüfstand zu stellen. Eine Öffnung der politischen Sphäre würde den politischen Meinungsstreit wieder vielfältiger und interessanter machen -eine Voraussetzung für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an politischen Auseinandersetzungen. Politik ist mehr als Lobbying in der Ellenbogengesellschaft, darf nicht reduziert werden auf Absprachen der Seilschaften und unkontrollierten Zirkel. Politiker brauchen weniger Gefolgschaft und mehr konstruktiven Widerspruch. Eine durchgreifende Parlamentsreform mit den Hauptzielen Aufgabenkonzentration, Verkleinerung, Entbürokratisierung, Transparenz, Effizienz und Verstärkung der Kontrollrechte der Opposition ist überfällig. Es sollte öffentlich mehr darüber nachgedacht werden: „Wer wird Politiker und warum?“ Ein Generations-und Typenwechsel in der Politik müßte in Gang gesetzt und kontinuierlich befördert werden. Auch im politischen Geschäft sollte künftig die Frage nach dem know why Vorrang vor dem know how haben. Die Zunahme von Kampfabstimmungen auch gegen etablierte Abgeordnete in den zurückliegenden Wahlkreiskonferenzen ist ein ermutigendes Zeichen für den Reifegrad zahlreicher Delegierter, die -zumindest auf der regionalen Ebene -eigenständiger und unberechenbarer geworden sind.

Sechstens: Auf allen Ebenen sollte die Sachkenntnis und die Mitwirkung der Bürger sowie das Erfahrungswissen aus allen Disziplinen anerkannt und fruchtbar gemacht werden. Nur so kann sich aus einer Passivgesellschaft eine Aktivgesellschaft entwickeln. Bürgerentscheide, Direktwahlen, Kampfkandidaturen und intensive Auswahlverfahren des politischen Personals nutzen der demokratischen Kultur und fördern langfristig das Interesse an Beteiligung und Mitwirkung. Mit solchen Gegenbewegungen zu den etablierten Politikformen könnten Glaubwürdigkeit und Offenheit demonstriert werden. Besonders auf Parteitagen sollten die Möglichkeiten zur demokratischen Auseinandersetzung verbessert werden. Rede -Gegenrede, Raum für Kontrastpositionen zu strittigen Sachverhalten, moderierte Konfliktgespräche der Kontrahenten etc. könnten die gewohnte Routine aufbrechen und signalisieren, daß es wirklich um die besseren Antworten auf die Fragen der Zukunft und am Ende um mehr intelligenten Konsens geht.

Siebtens: Die Macht der Medien ist gewachsen. Ihre Verantwortung bei der Inszenierung des Scheins und bei der Regie des politischen Spiels sollte intensiv hinterfragt werden. Politik darf sich nicht schon im Vorfeld von Entscheidungen auf die mediale Vermittlung konzentrieren und so an die Produktionslogiken der Medien anpassen. Auch für die kommerziellen Medien müßte es Standards und ethische Schranken geben, die in der Berichterstattung der Gesellschaft als Ganzem verpflichtet sind. Die unterentwickelte Debatte über die Rolle der Medien steht in keinem Verhältnis zu deren tatsächlichem Einfluß auf das politische Geschehen in Deutschland. Einem Einflußverlust der Institutionen steht ein Einflußgewinn der Medien gegenüber. Die Folgen dieser Entwicklung werden öffentlich kaum wahrgenommen. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf und die Notwendigkeit zu Korrekturen. Statt populäre Klagemauer zu sein, sollten die Medien stärker auch zu einem Forum für die Zukunftsfragen der Gesellschaft werden, solide und kreativ auch über schwierige Themenfelder informieren und so politisches Engagement auf allen Ebenen positiv begleiten und zur Mitwirkung am Gemeinwesen ermutigen

Achtens: Im Rahmen des notwendigen Verständigungsprozesses der Gesellschaft sollte geklärt werden, welche Aufgaben der Staat künftig wahrnehmen muß und welche der Gemeinschaft zufallen. Es sollten Strukturen geschaffen werden, die bürgerschaftliches Engagement ermöglichen und unterstützen, die Freiwilligenarbeit fördern und anerkennen. Armut in einer reichen Gesellschaft kann effektiv und sinnstiftend bekämpft werden. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele, die von den „Tafeln“ der modernen Armenspeisung bis hin zu durchdachten, sinnvollen Einsätzen von Sozialhilfeempfängern in den Kommunen reichen. Auch hier ist der Schritt von der Konzeption zur Umsetzung überfällig. Das notwendige kreative und ökonomische Potential ist vorhanden, es muß nur noch angestoßen und abgerufen werden Aber auch dieser Prozeß braucht staatliche Unterstützung und Begleitung. Richtschnur dafür sollte nicht die funktionale Entbürokratisierung unter Kostendruck, sondern die planvolle Entwicklung hin zu einer „Mitmachgesellschaft“ sein.

Neuntens: Es sollte über neue Controllingsysteme des politischen Prozesses nachgedacht werden. Politik muß effektiver kontrolliert, gemustert, konstruktiv begleitet und optimiert werden. Eine Ausdehnung der Kontrollbefugnisse bestehender Institutionen wie etwa der Rechnungshöfe, Enqueteoder Sonderkommissionen z. B. zu den Themen „Medien“ und „Parteienfinanzierung“ beim Bundespräsidenten wäre denkbar. Sinnvoll könnte auch die Schaffung neuer Expertenrunden sein, bestehend aus anerkannten Persönlichkeiten, die sich jenseits der Tagespolitik und unabhängig von Karriereinteressen mit Themen übergeordneter Relevanz befassen. Solche „Controlling teams“ könnten auch Mediationsaufgaben in der Politik übernehmen, wie das im Zusammenhang mit dem strittigen Ausbau des Frankfurter Flughafens gerade geschieht. Aufgabe von Expertenrunden müßte es auch sein, Politik zu übersetzen, verständlich zu machen und von der häufig beklagten Unüberschaubarkeit zu befreien. Erst Nachvollziehbarkeit schafft Aufmerksamkeit und damit mögliches Interesse. Solche ergänzenden „thinktanks“ könnten als eine Art Frühwarnsystem für Fehlentwicklungen wirken. Voraussetzung wäre allerdings die Weiterentwicklung von Beratungsfähigkeit und die Bereitschaft, Veränderungen auch gegen Widerstände durchzusetzen. Denkt man an die Flut unbeachteter Gutachten und verdrängter Expertisen, wird sinnfällig, wie wichtig die Implementierung von Wissen ist. Dieser Vermittlungsprozeß braucht mehr Beachtung und Pflege; hier steckt ein beachtliches Potential für die Neudefinition und Erfindung von Politik.

Zehntens: Politik darf nicht abgelöst werden von einem festen Wertegerüst der Gesellschaft. Das Herausfallen großer Bevölkerungsgruppen aus der Gesellschaft -also der vielen Verlierer -hat mittel-und langfristig schwerwiegende Folgen auch für die wenigen Gewinner. Arbeitslosigkeit belastet auch diejenigen, die in Arbeit versinken. Die Bedingungen und Auswirkungen von Handeln und Unterlassen im politischen Feld müssen klarer werden. In den vergangenen Jahren wurde parallel zur „Shareholder-value-Theorie" -also der stärkeren Gewinnausschüttung der Unternehmer im Sinne der Eigentümer -eine Politik des Egoismus befördert, die für die Gesellschaft als Ganzes unverträgliche Nebenwirkungen hat. Die eines unreflektierten Neoliberalismus, der sich allein dem survival of the fittest -dem Überleben der gut Ausgebildeten, Reichen und Erfolgreichen -verpflichtet fühlt, nimmt die Folgekosten stillschweigend in Kauf.

Notwendig ist die Wiederbelebung von Werten und daraus folgender praktischer Politik, die auch der Gesellschaft als Ganzes und nicht nur dem einzelnen zugute kommen. Wenn es um die Auflösung des Reformstaus in Deutschland geht, wenn es um die Behebung des beklagten Stillstands und um die Verringerung der Distanz der Menschen zur Politik geht, müßte eine demokratische Gesellschaft sich auch über die Koordinaten ihres Werte-systems und die Bedeutung des demokratischen Sinns einer modernen Gesellschaft verständigen. Politik steht in einer „globalisierten Welt“ unter verstärktem Begründungsdruck. Auch in diesem Feld sollten Politiker ihre Fähigkeit zum Umlernen unter Beweis stellen.

Fazit: Die politischen Prozesse in komplexen modernen Gesellschaften können nicht mehr näch den alten Mustern der Stellvertreterpolitik gesteuert werden. Schon heute wird zuviel inszeniert und zuwenig regiert. Eine Umkehr ist überfällig. Würden Elemente der zehn vorgestellten Leitmotive, die eine demokratische Öffnung der Gesellschaft mit kommunitaristischen Konzepten verbinden, aufgenommen, diskutiert, erweitert und miteinander verkoppelt, dann würde möglicherweise der verschwundene Ort der Politik wieder sichtbar werden. Aus dem Ende der Politik und der Verschärfung der skizzierten Krisenphänomene könnte ein kreativer Aufbruch für eine sozial verantwortliche Bürgergesellschaft werden. Sollten die beschriebenen Öffnungstendenzen jedoch keine Chance haben, dann werden die anfangs erläuterten Krisen-Tendenzen sich erheblich verschärfen und anomische Strukturen in einer (demokratischen) Gesellschaft fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Andersen Consulting/Arthur D. Little/Schitag Ernst & Joung/Joung & Rubicam, Modell Deutschland 21 -Wege in das nächste Jahrhundert, Reinbek 1998.

  2. Die Vorlage einer Denkschrift zu „Garzweiler II" durch die Evangelische Kirche im Rheinland im Januar 1998 zeigte, wie effektiv solche Denkschriften zur Versachlichung einer emotional geführten Diskussion sein können.

  3. Erhard Eppler, Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt am Main-Leipzig 1998, S. 171. Vgl. auch Mathias Greffrath, Stillstand auf höchstem Niveau, in: Le Monde Diplomatique, Beilage in „die tageszeitung", Juni 1998, S. 3. Vgl. auch die Kritik der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Jutta Limbach, das Verfassungsgericht sei im Streit um den Länderfinanzausgleich „wiederum Reparaturbetrieb für ein Versagen der Politik“. Deutsche Presse Agentur (dpa), 28. 6. 1998.

  4. Vgl. die Ergebnisse der Zukunftskommission der Fried-rich-Ebert-Stiftung (Bonn 1998) oder der Sächsisch-Bayerischen Zukunftskommission (Dresden/München 1997), die überwiegend nur in der Fachöffentlichkeit rezipiert wurden.

  5. Nicht nur in der Außen-und Europapolitik, selbst bei der Inneren Sicherheit und beim „Aufbau Ost“ gibt es jenseits der öffentlichen Rhetorik ein breites Feld inhaltlicher Übereinstimmung unter den großen Volksparteien.

  6. Deutsche Presse Agentur (dpa), 27. 5. 1998.

  7. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 12. Auffallend ist auch das große publizistische Echo „kapitalismuskritischer“ Publikationen wie Vivianne Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997.

  8. Claus Offe, Wider scheinradikale Gesten, in: Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hrsg.), Die Kontroverse, Frankfurt am Main 1992, S. 134.

  9. Thomas Leif/Hans-Josef Legrand/Ansgar Klein (Hrsg.), Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, 19922, S. 10.

  10. Selbst die Protagonisten erwarten nicht, daß sich die Ergebnisse der rheinland-pfälzischen Enquete-Kommission 13/1 „Parlamentsreform“ in die Praxis umsetzen lassen, vgl. Pressedienst des Landtages Rheinland-Pfalz, 17. 6. 1998. Aufschlußreich ist hier auch die von der FDP geführte Reformdebatte. Das FDP-Präsidiumsmitglied Walter Döring formulierte in einem Positionspapier „Wie die Krise des Föderalismus überwunden werden kann“: Landespolitik sei „ziemlich unerheblich“. Der Bedeutungsverlust der Landtage sei noch größer als der der Landesregierungen (vgl. Stuttgarter Zeitung vom 25. 6. 1998 und Positionspapier o. O. u. D., Stuttgart, Juni 1998).

  11. Fritz W. Scharpf, Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie, DVPW-Vortrag (DVPW = Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft), Bamberg 1997, S. 2 f. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Ulrich Beck in diesem Heft.

  12. Vgl. Karlheinz Blessing (Hrsg.), SPD 2000 -Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993; ders., „Vorwärts, rückwärts, seitwärts . ..“ Das Lesebuch zur SPD-Organisationsreform, Köln 1991; Richard Meng, Nach dem Ende der Parteien. Politik in der Mediengesellschaft, Marburg 1997; vgl. auch: Gerd Mielke/Bodo Benzner, Direktwahlen von Bürgermeistern und Landräten in Rheinland-Pfalz. Anmerkungen aus wahlsoziologischer und kampagnenbezogener Sicht, Arbeitspapier o. O. u. D. (Mainz, 1998); Hans-Joachim Veen/Viola Neu, Politische Beteiligung in der Volkspartei. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung unter CDU-Mitgliedern, in: Interne Studien, (1995) 113.

  13. Vgl. Martin Greiffenhagen, Politische Legitimität in Deutschland, Gütersloh 1997, sowie das Themenheft des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen, (1997) 4, zum Thema „Mediation -Konfliktregelung durch Bürger-beteiligung“, Opladen 1997.

  14. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Warnfried Dettling in diesem Heft.

  15. Die Arbeit der Deutschen Tafeln wurde von der Unternehmensberatung McKinsey (München 1997) mit einem detaillierten „Organisations-Handbuch“ unterstützt. McKinsey & Company, Inc. (Hrsg.), Betrieb einer Tafel, München 1997.

  16. Vgl. Jörg Ueltzhöffer/Carsten Ascheberg, Engagement in der Bürgergesellschaft, Die Geislingen Studie, Stuttgart 1995, sowie Gerd Mielke, Von Preußen nach Brasilien? Zur Krise der demokratischen Institutionen und zu den Handlungsgrenzen der Politik, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (1998) 3 (i. E.).

  17. Vgl. dazu die zahlreichen Publikationen der Stiftung Mitarbeit (Bonn) und neuere Initiativen wie der Journalistenpreis „Ehrenamtliches Engagement“ der Robert-Bosch-Stiftung.

  18. Michael Th. Greven, Politisierung ohne Citoyen, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns, Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland, Bonn 1997, S. 249.

  19. Bertelsmann-Stiftung, Wege zur Erneuerung der Demokratie, Memorandum 15. 9. 1997, S. 3.

  20. Evangelischer Pressedienst (epd) vom 20. 3. 1998.

  21. Vgl. Thomas Meyer/Martina Kampmann, Politik als Theater. Die neue Macht der Darstellungskunst, Berlin 1998, sowie Thomas Meyer, Politik auf der Medienbühne. Neue Spielräume und neue Grenzen der Politik, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, (1998) 3 (i. E.).

  22. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Helmut Klages in diesem Heft.

Weitere Inhalte

Thomas Leif, Dr. phiL, geb. 1959; Studium der Politikwissenschaft, Publizistik und Pädagogik in Mainz und Frankfurt am Main; Chefreporter Fernsehen im SWR-Landessender Mainz; Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift „Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen“. Veröffentlichungen u. a.: Die strategische (Ohn-) Macht der Friedensbewegung. Kommunikations-und Entscheidungsstrukturen in den achtziger Jahren, Opladen 1990; (Hrsg. zus. mit Ansgar Klein und Hans-Josef Legrand) Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn 19922; (zus. mit Joachim Raschke) Rudolf Scharping, die SPD und die Macht, Reinbek 19942; (Hrsg.) Leidenschaft: Recherche, Opladen 1998 (i. E.).