Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ost-West-Differenzen und das republikanische Defizit der deutschen Einheit | APuZ 41-42/1998 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 41-42/1998 Ost-West-Differenzen und das republikanische Defizit der deutschen Einheit Die ostdeutsche Identität -Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie Soziale und liberale Wertorientierungen: Versuch einer situativen Erklärung der Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen Die deutsche Einheit und die Differenz weiblicher Lebensentwürfe Vater Staat und seine ungleichen Töchter

Ost-West-Differenzen und das republikanische Defizit der deutschen Einheit

Lothar Probst

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Aus einer verkürzten westlich-liberalen Perspektive, die für bundesrepublikanische Intellektuelle in den letzten drei Jahrzehnten mehr und prägend geworden ist, erscheint sowohl das in der friedlichen Revolution von 1989 artikulierte „Wir sind ein Volk“ als auch das jetzt von vielen Ostdeutschen geäußerte „Unbehagen in der Einheit“ als Relikt eines überschüssigen Gemeinschaftsdenkens, das in den antiliberalen Traditionen deutscher politischer Kultur verwurzelt ist. Der Topos von der „inneren Einheit" wird in diesem Zusammenhang als eine schädliche Denkfigur angesehen, die der notwendigen politischen und sozialen Ausdifferenzierung im Prozeß der deutschen Einheit eher im Wege steht als ihr nützt. Eine solche Position verfehlt jedoch die spezifische Qualität des ostdeutschen Aufbruchs, weil sie weder einen Zugang zu den Quellen der erfolgreichen Herbstrevolution noch zu den Verlusterfahrungen, die die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger im Zuge der Anpassungsleistungen an die Mechanismen einer modernen Ökonomie machen, ermöglicht. Freundschaften, Familienbeziehungen und interpersonale Netzwerke als wichtige Bestandteile der ostdeutschen Alltagskultur konnten unter den spezifischen Bedingungen der DDR-Diktatur nicht nur die soziale Kohäsion der Gesellschaft gegenüber den spaltenden Tendenzen des politischen Systems stärken, sondern in einem günstigen historischen Moment auch ein kritisches Potential entfalten, ohne das die Herbstrevolution 1989 nicht denkbar gewesen wäre. Die Bedrohung und der Zerfall dieser von unten geschaffenen „kommunitären“ Alltagskultur durch die Implementierung der Imperative des Marktes und der daraus folgenden funktionalen Interessendifferenzierungen hat unter einem Teil der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger Abwehrhaltungen ausgelöst, die nicht einfach als „vormodern“ und „rückwärtsgewandt“ qualifiziert werden können. Auch in den ausdifferenzierten „modernen“ Gesellschaften des Westens hängt die politische Stabilität und die Funktionsfähigkeit der politischen Institutionen in einem hohen Maße davon ab, welche Stützung „Freiheit als erste Grundrechtstitel einer republikanischen Verfassung“ durch diejenigen zivilen und interpersonalen Gruppen, Gemeinschaften, Vereinigungen und Netzwerke erfährt, die nicht dem Kalkül einer ökonomischen oder politisch-instrumentellen Rationalität unterworfen sind. Vor diesem Hintergrund könnten die ostdeutschen Gemeinschaftserfahrungen sogar eine wichtige Quelle der Inspiration für eine gemeinsame republikanische Binnenidentität des staatlich vereinten Deutschland sein.

I. „Innere Einheit“ und moderne Gesellschaftstheorie

Die in den letzten Jahren gewachsenen und in zahlreichen Umfragen bestätigten Kommunikationsstörungen zwischen Ost-und Westdeutschen haben in der öffentlichen Diskussion die Befürchtung ausgelöst, daß die vielbeschworene „innere Einheit“ der Deutschen zu einer Fiktion zu werden droht. Während Politiker und ein Teil der Medien die „Entfremdung“ zwischen Ost-und Westdeutschen beklagen, mehren sich in den Politik-und Sozialwissenschaften die Stimmen derer, die das Diktum von der „inneren Einheit“ als Ziel-größe des Einigungsprozesses kritisch hinterfragen. Es wird der Verdacht geäußert, daß sich hinter dem Imperativ der „inneren Einheit“ „die alte deutsche Sehnsucht nach Harmonie“ verstecken könnte, eine Sehnsucht, die zum „Einfallstor für einen neuen Gemeinschaftsmythos“ tauge. Der Begriff der „inneren Einheit“, so wird argumentiert, versperre den Blick auf die Frage, „welchen Bedarf an mentaler Integration und politisch-kultureller Homogenität, an Uniformität in bezug auf kollektive Identität eine vielfältig ausdifferenzierte Gesellschaft in einer pluralistischen Demokratie eines föderalistisch strukturierten, seine Souveränitätsrechte an inter-und supranationale Organisationen abtretenden Staates eigentlich hat“ Differenzen und Differenzierungen zwischen Ost-und Westdeutschen seien im Grunde beruhigende Anzeichen einer wünschenswerten verfassungsrechtlichen Normalität im vereinten Deutschland. Zur Unterstützung dieser Argumentation wird u. a. ausgeführt, daß landsmannschaftliche Stereotype und Vorurteile innerhalb der alten Bundesrepublik schließlich auch kein grundlegendes Problem gewesen seien, sondern im Gegenteil das „föderale Kolorit“ bereicherten. Das Fazit der hier angedeuteten Positionen liegt auf der Hand: Wenn die institutionelle Verfestigung des Vereinigungsprozesses, politische und soziale Ausdifferenzierung, die Legitimität des Interessenpluralismus und die Verfahrensregeln des liberalen Rechtsstaates allgemein akzeptiert werden, ist der Topos von der „inneren Einheit“ im Grunde überflüssig bzw. sogar schädlich. Statt dem falschen Verlangen nach „Einheit“ nachzugeben, müsse es darum gehen, die Pluralität der Interessen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung angemessen zur Geltung zu bringen. Diese Argumentation legt den Umkehrschluß nahe, daß die Kommunikationsstörungen und politisch-kulturellen Differenzen zwischen Ost-und Westdeutschen, wie sie im Prozeß der deutschen Einheit sichtbar geworden sind, geradezu förderlich sind für die Über-windung eines falschen Gemeinschaftspathos und für die Festigung eines Politik-und Gesellschaftsverständnisses, das sich ohne Umschweife an den Vorgaben der alten westdeutschen Gesellschaft mit ihrem liberalen Grundkonsens orientiert und an dieses anschlußfähig ist.

Soweit es darum geht, illusionäre und normativ fragwürdige Erwartungen, die mit dem Topos von der „inneren Einheit“ verbunden sein können, zu hinterfragen und zu kritisieren, kann die hier dargestellte Position im Sinne eines Frühwarnsystems dazu beitragen, vor Irr-und Abwegen im Prozeß der deutschen Einheit zu warnen. Sollte tatsächlich mit dem Begriff der „inneren Einheit“ als Zielgröße des Vereinigungsprozesses die Erwartung assoziiert werden, daß sich „Einstellungen, Werthaltungen, Weltanschauungen, Mentalitäten, Vorurteile und Sympathien, Antipathien und Verhaltensweisen“ mehr oder weniger „homogenisieren“ müßten um dem Gebot der „inneren Einheit“ zu gehorchen, wäre dies eine bedenkliche und sowohl verfassungsrechtlich wie politisch zu verwerfende und zu bekämpfende Position. Genausowenig kann, wie Hans-Joachim Veen überzeugend darlegt, mit dem Begriff der „inneren Einheit“ die Vorstellung von einer „Einheitlich-keit der materiellen Lebensverhältnisse und der wirtschaftlichen Entwicklung“ in ganz Deutschland verknüpft werden, da -jenseits der bestehenden verfassungsrechtlichen finanziellen und sozialen Ausgleichsmechanismen -Disparitäten innerhalb der föderalen Struktur der Bundesrepublik in Kauf genommen werden müssen. Es überstiege die Möglichkeiten der Politik, soziale Ungleichheiten und Diskrepanzen sowohl im Nord-Süd-als auch im Ost-West-Verhältnis zu verhindern. Auch die Tatsache, daß sich im Prozeß der deutschen Einheit zwei unterschiedliche politische Kulturen begegnen, kann kein Grund sein, unter „innerer Einheit“ mehr zu verstehen als eine gemeinsame Verpflichtung auf die Werte des Grundgesetzes. Zusammenfassend könnte man sagen, daß von einem liberalen Gesellschafts-und Politikverständnis aus die Einwände gegen eine „übersteigerte“ Aufladung des Begriffs ,, innere Einheit“ wohlbegründet und berechtigt sind.

Dennoch leidet dieses Verständnis von Gesellschaft und Politik, wie ich im weiteren Verlauf dieses Beitrages zeigen möchte, an einem Defizit republikanischer Staats-und Politikauffassung. Es verbleibt in einer typisch westdeutschen Perspektive, die in bezug auf die Ausstattung und die grundlegenden Merkmale einer liberalen Demokratie glaubt, auf der Höhe der Zeit zu sein, aber nicht in der Lage ist, den in den Kommunikationsstörungen und Differenzen zwischen Ost-und Westdeutschen aufscheinenden Mangel an gemeinsamer Verständigung über Fragen der kollektiven Identität angemessen zu verstehen. Aus einer verkürzten westlich-liberalen Perspektive, die für bundesrepublikanische Intellektuelle mehr und mehr prägend geworden ist, können sowohl die in der Revolution von 1989 artikulierte Auffassung „Wir sind ein Volk“ als auch das jetzt von vielen Ostdeutschen geäußerte „Unbehagen in der Einheit“ immer nur als Relikte eines überschüssigen Gemeinschaftsdenkens sowie als Fortsetzung antiliberaler Traditionen deutscher politischer Kultur interpretiert werden, der es an Konfliktfähigkeit und einem Verständnis für interessengeleitete Politik fehle. Das Kultivieren einer diffusen „OstIdentität“ erscheint vor diesem Hintergrund entweder als Kontinuität des sozialistischen Erbes, als Nostalgieverlangen nach den Sicherheiten des versorgenden Wohlfahrtsstaates oder als Abgrenzung gegenüber den Zumutungen der westlichen Gesellschaft

Dabei zeigt meines Erachtens gerade der Rückzug vieler Ostdeutscher in die „posttotalitäre Melancholie“ einer von interpersonalen Beziehungen geprägten Lebensweise, wie wenig „der“ alte Westen auf das ostdeutsche Begehren nach „Einheit“ aus einer republikanischen Perspektive heraus zu antworten in der Lage war. Die Entwicklung einer ostdeutsch geprägten „Wir-Identität" in den letzten Jahren korrespondiert unmittelbar mit dem Gefühl, gründlich mißverstanden worden zu sein. Im Zuge der Verengungen einer liberal-rationalistischen Politikauffassung fehlte und fehlt in der alten Bundesrepublik sowohl der Zugang zu den Quellen des ostdeutschen Aufbruchs, der in einer erfolgreichen und friedlichen Revolution mündete, als auch das Einfühlungsvermögen in die Verlusterfahrungen, die die Ostdeutschen im Zuge der Anpassung an die Mechanismen einer modernen Ökonomie und einer beschleunigten Modernisierung durchlaufen. Ich werde im folgenden versuchen, Gründe für die Einheits-und Gemeinschaftsvorbehalte in der alten Bundesrepublik, wie sie im Prozeß der deutschen Einheit zum Tragen gekommen sind, genauer herauszuarbeiten und sie ins Verhältnis zu lebensweltlich verankerten interpersonalen Gemeinschaftserfahrungen in der DDR zu setzen. Daran anschließend unternehme ich den Versuch, die Bedeutung dieser „kommunitären“ Erfahrungen für eine gemeinsame Binnenidentität und ein republikanisch untermauertes Demokratieverständnis zu entwickeln.

II. Gemeinschaftsvorbehalte und Kommunikationsverweigerung im Westen Deutschlands

Die Gemeinschaftsvorbehalte in der politischen Kultur der alten Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung haben vor allem historische Gründe. Es gehörte gewissermaßen zur Grundausstattung des kritisch-intellektuellen Denkens, jegliche Gemeinschaftsrhetorik in den verhängnisvollen Traditionen der deutschen Geschichte zu verorten. Von der Romantik über die erste Reichsgründung bis zum Nationalsozialismus, so der Grundtenor, reiche die Spur eines antiliberalen, antiwestlichen Gemeinschaftsdenkens, in dem die Deutschen als Nation sich sittlich über andere Völker gestellt hätten. Alleine deshalb verbot es sich von selber, „Nation“ und „Gemeinschaft“ zu erstrebenswerten Zielen politischer Sinnstiftung zu erklären. Die Herausbildung dieses Konsenses unter dem meinungsbildenden Kernder intellektuellen Eliten war, gemessen an den Anfängen der westdeutschen Republik, keineswegs selbstverständlich. Obwohl die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Erhöhung der eigenen Nation nach der Gründung der Bundesrepublik viel unmittelbarer waren als in den späten achtziger Jahren, war der Wunsch nach der Wiederherstellung der Einheit der Nation und der Glaube an eine kollektive Identität der Deutschen sowohl unter den politischen und intellektuellen Eliten als auch in der Bevölkerung bis in die sechziger Jahre hinein zunächst ungebrochen, auch wenn die operative Politik angesichts der Unterordnung der DDR unter die Machtinteressen der Sowjetunion mit der politisch alternativlosen Westbindung andere Wege gegangen ist. Ein langsamer Paradigmenwechsel setzte erst im Zuge der neuen Ostpolitik Ende der sechziger Jahre ein. Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik fühlten sich politisch und psychologisch nach und nach in der Zweistaatlichkeit heimisch, das Ziel der deutschen Einheit trat hinter die Zuwendung zu den Werten und kulturellen Orientierungen der westlichen Zivilisation zurück. Im Gegenteil: Unter dem Einfluß der 68er-Generation begann sich eine Art „negativer Nationalismus“ herauszubilden, der „Nation“ und „Demokratie“ als natürliche Gegensätze betrachtetet Die ideologische und emotionale Abkehr vom Willen zur nationalen Einheit wurde im Westen theoretisch durch das Postulat des Verfassungspatriotismus ersetzt, ein Begriff, der von Dolf Sternberger stammte und insbesondere von Jürgen Habermas popularisiert wurde. Nicht nationale Identität, sondern postnationale Identität, die auf die universalistischen Prinzipien des Rechts und der Demokratie verpflichtet ist, sei, so Jürgen Habermas, das Gebot der Stunde

In der Gegenüberstellung von Verfassungspatriotismus und nationaler Identität wird häufig übersehen, daß Sternberger Verfassungspatriotismus in Anknüpfung an die republikanische Staatstheorie als Verbindung eines Gefühls-und eines Rechts-verhältnisses verstanden hat. Verfassungspatriotismus meinte in seinem Verständnis „eine wertrational geklärte und fundierte Zuneigung zum eigenen Land, den Willen zu einer guten, einer freiheitlichen Ordnung für das Volk, dem man angehört“

Dieser Zusammenhang ist in einer verkürzten Interpretation des Terminus „Verfassungspatriotismus“ mehr und mehr verlorengegangen. Statt dessen degenerierte er zu einem Kürzel für eine abstrakte postnationale Identität, die nicht mehr an eine bestimmte politisch-kulturelle Geschichte zurückgebunden ist. Der Historiker Christian Meier weist auf dieses Defizit hin, wenn er schreibt: „Zu einer Demokratie gehört, nach allgemeiner Erfahrung, ein gewisses Zusammengehörigkeitsbewußtsein derer, die in ihr verfaßt sind.

Es ergibt sich nicht nur aus der gemeinsamen Herkunft, sondern auch aus den gemeinsamen Grundüberzeugungen, aus Erwartungen, auch aus einem Wissen voneinander.“ Als in den Wintermonaten des Jahres 1989 Hunderttausende ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger die Einheit der Nation einklagten, zeigte sich, wie wenig ein abstrakter 'Begriff von Verfassungspatriotismus, der die Verbindung eines Rechts-und eines Gefühlsverhältnisses auseinanderreißt, in der Lage ist, ein solches Zusammengehörigkeitsbewußtsein auszudrücken.

Der Wunsch nach Einheit gehörte gewissermaßen untergründig zum „mentalen Reservat gegen den stets gängelnden totalitären Staat“ auch wenn er nicht offen artikuliert wurde.

Ein großer Teil der westdeutschen intellektuellen und politischen Eliten hat den besonderen Charakter der Freiheitsrevolution von 1989, der darin bestand, daß das nationale und das demokratische Element unmittelbar miteinander verknüpft waren, nicht verstanden und statt dessen den Verfassungspatriotismus in seiner verkürzten Lesart in Front gebracht gegen die Forderung der überwiegenden Mehrheit der Ostdeutschen nach demokratischer Teilhabe in einem verbindenden Gemeinwesen. In vielen Stellungnahmen klang es geradezu so, als ob die Ostdeutschen mit ihrem Wunsch nach Einheit das schöne Konstrukt von der postnationalen Identität kaputtgemacht hätten. Dieter Henrich gehört zu den wenigen, die die republikanische Perspektive der Herbstrevolution von 1989 hervorheben, wenn er schreibt: „Die staatliche Einheit der Deutschen in der einen Republik ist nunmehr der Einforderung der Freiheit zu verdanken. So können die Deutschen, die nicht zu den Nationen gehören, die als solche auch eine republikanische Geschichte haben, zum ersten Mal ihre staatliche Einheit auf ein historisches Ereignis gründen, das mit den Gründungsgeschichten der Schweiz, der Niederlande und der Vereinigten Staaten wenigstens in etwa zu vergleichen ist.“ Aus einer solchen Perspektive wäre es darauf angekommen, die von den Ostdeutschen aufgrund ihres Freiheitswillens ermöglichte deutsche Einheit zum Anlaß zu nehmen, um sich im Sinne einer kontinuierlichen Verständigungsarbeit der gemeinsamen Grundlagen der Nation zu vergewissern und das republikanische Moment, das in der Freiheitsrevolution von 1989 zum Tragen kam, zum Bestandteil eines gemeinsamen Geschichtsund Zukunftsbewußtseins zu machen. Der geteilte Stolz auf diese historische Leistung, die in erster Linie von den Ostdeutschen erbracht worden war, hätte dazu beitragen können, sich den Verfehlungen der deutschen Geschichte und „vor allem der politisch-moralischen Katastrophe, in der diese Verfehlungen endeten“, in einer Weise zu nähern, in der die „Identitätsbalance unter der Last der Erinnerung nicht zerbrechen müßte“ Dies wäre für die Wiederherstellung der Würde der politischen Nation in Deutschland eine entscheidende Voraussetzung gewesen.

Tatsächlich aber blieb das Echo in der westdeutschen Gesellschaft auf das Angebot der Ostdeutschen nach Einheit in Freiheit sehr schwach. Weder auf der institutioneilen noch auf der symbolisch-expressiven Ebene wurde die Leistung der Ostdeutschen politisch angemessen gewürdigt. Statt sich auf ein gemeinsames politisches „Wir“ einzulassen, das sich den Bürden der Vergangenheit und den Herausforderungen der Zukunft stellt, kehrten die . meisten Westdeutschen -nach einer kurzen Phase der Sympathie für die mutigen Landsleute im fernen Osten -ziemlich schnell zum business as usual zurück, so, als hätte die Revolution von 1989 nur für einen Augenblick die längst geordneten Dinge durcheinandergebracht. Während die politischen Eliten des Westens auf eine schnelle Eingliederung des „Beitrittsgebiets“ durch die schematische Übertragung von „erprobten“ Institutionen hinarbeiteten, setzten die etablierten Interessengruppen der alten Bundesrepublik ihre Verteilungskämpfe nach den bewährten Mustern fort, wobei der Osten lediglich als eine neue Domäne betrachtet wurde. Die aus dem Prozeß des Umbaus von Institutionen notwendigerweise resultierenden Reibungen und sozialen Verwerfungen hätten aber wahrscheinlich aufgefangen werden können, wenn die Westbürger den Ostbürgern signalisiert hätten, „daß man auch in den für sie unerwarteten Erfahrungen, die sie machen müssen, mit ihnen in Gemeinschaft steht, die auf westlicher Seite von Sympathie, Sorgfalt und natürlich auch von einer Bereitschaft zu materiellem Verzicht getragen ist“ Statt dessen dominierte in der öffentlichen Rede und in den einschlägigen Modernisierungstheorien der Sozial-wissenschaften das Bild von den rückständigen Ostdeutschen, die, aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsdefizite, einfach nicht verstehen, wie die moderne Interessengesellschaft funktioniert.

Die aus dieser Haltung resultierende Kommunikationsverweigerung eines großen Teils der westdeutschen Gesellschaft gegenüber den Ostdeutschen hat maßgeblich dazu beigetragen, daß die enttäuschten Erwartungen sehr schnell in einen Rückzug und in eine ostdeutsche „Trotzidentität“ umgeschlagen sind, die die eingeübte Distanz und mangelnde Identifikation gegenüber dem SED-Staat nun auf das neue Gemeinwesen überträgt Nicht ein Zuviel an falsch verstandenem Gemeinschaftspathos ist vor diesem Hintergrund das Problem des deutschen Einigungsprozesses, sondern ein Zuwenig an Verständigung und Gemeinsamkeit. Diese wären notwendig, um in einem republikanischen Sinne das Projekt „Deutsche Einheit“ zu begründen. Wer nur in den Kategorien der Gesellschaftstheorie denkt, bekommt das Defizit an republikanischer Gemeinsamkeit, daß in erster Linie der mangelnden Empathie der Westdeutschen für die historische Dimension des ostdeutschen Verlangens nach Einheit geschuldet ist, gar nicht erst in den Blick, sondern muß es zwangsläufig als Relikt eines überholten nationalen Identitätsdenkens abwerten. Richard Schröder hebt zu Recht den Mangel dieses Denkens hervor, wenn er schreibt: „Wo die Perspektive , Gesellschaft’ allein herrschend wird, besteht die Gefahr einer mechanistischen und technizistischen Außenperspektive des Gesellschaftsingenieurs auf das menschliche Zusammenleben, der Tilgung der Dimension der intersubjektiven Verständigung, die sich ja nur in einem , Wir vollziehen kann. Auf der Ebene der Gesellschaft kommt nur ein weltloser Individualismus und ein abstrakter Universalismus in den Blick.“

III. Die „kommunitäre" Erfahrung des Ostens als Chance für die Demokratie

Tatsächlich ignorieren die „Ingenieure“ der modernen Gesellschaftstheorie, deren liberal-rationalistisches Gerüst von widerstreitenden Interessen, Institutionen und Rechtsgarantien bestimmt ist, daß die Identität eines republikanischen Staates „nur zu einem Teil von den Prozessen innerhalb der Institutionen hergeleitet werden kann. Ohne Verwurzelung auch dieser Prozesse in subjektiven Einstellungen ist eine Republik ohne eine solche Identität.“ Werte wie Toleranz, Verantwortungsbewußtsein, Solidarität und Akzeptanz von Pluralität, die auch für die liberale Gesellschaft konstitutiv sind, setzen sich nicht einfach als universalistische Selbstverständlichkeiten oder als Rechtsgarantien von selbst durch, sondern bedürfen der Vergewisserung, Verstärkung und Tradierung in konkreten sozialen Zusammenhängen. Von dieser Warte aus stellt sich die Frage, wo in der modernen Gesellschaft der Ort ist, an dem diese das demokratische Projekt tragenden Einstellungen generiert und erfahren werden? Es sind in der Regel zivile Vereinigungen, Gemeinschaften und interpersonale Netzwerke, die im vorpolitischen Raum agieren, in denen Werthaltungen entstehen, „von denen der Gedanke der politischen Freiheit seine stärkste und wichtigste Fundierung“ erhält

Vor diesem Hintergrund gewinnen die „kommunitären" Beziehungen, die sich in der DDR als schützender Raum gegenüber den totalitären Ansprüchen des Staates herausgebildet haben, eine ganz neue Bedeutung. Angesichts der Zerstörung des öffentlichen politischen Raums als Ort der Auseinandersetzung und Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen spielten Freundschaften, Familienbeziehungen und interpersonale Netzwerke im Alltagsleben der Ostdeutschen eine zentrale Rolle. Ohne zu ignorieren, daß diese Lebensformen auch durch die Defizite in der Ökonomie und die repressiven politischen Strukturen erzwungen wurden, konnten sie dennoch, gestützt auf die reichlich vorhandene Ressource Zeit, in einem geschützten Raum ein kritisches Potential entfalten, ohne welches die Freiheitsrevolution von 1989 nicht denkbar gewesen wäre. In den Theorien der ostmitteleuropäischen Dissidenz, die die Entstehung dieser „kommunitären“ Kultur unter dem Stichwort der Antipolitik diskutiert hat, ist immer wieder ihre produktive Bedeutung für die Entstehung von Elementen einer zivilen Gesellschaft hervorgehoben worden. Obwohl die Kleingruppen und Vereinigungen dieser „kommunitären“ Kultur im unmittelbaren Sinne sich nicht als politisch verstanden, haben sie dennoch entscheidend die soziale Kohäsion der Bürgerinnen und Bürger untereinander gestärkt und damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, den politischen Spaltungstendenzen des Systems entgegenzuwirken. Es war eine Kultur, die die Menschen aus ihrem Wunsch nach Entfaltung ihrer unterdrückten Spontaneität heraus geschaffen haben und die ihnen einen Raum für die Entwicklung von Vertrautheit, Verläßlichkeit, gegenseitiger Hilfe und Offenheit eröffnet hat. Sie sollte deshalb nicht mit der künstlichen, von oben verordneten „Kollektivkultur“ verwechselt werden, die das realsozialistische System im Rahmen ihrer Zielkultur zu stiften versucht hat und die den meisten Ostdeutschen fremd geblieben ist. Die leeren Hülsen dieser oktroyierten „Kollektivkultur“, die u. a. in den Riten der betrieblichen Arbeitsorganisation verwirklicht werden sollte, wurden allenfalls genutzt, um vom System nicht intendierte persönliche Sozialbeziehungen einzugehen, die eine wichtige Quelle intersubjektiver Verständigung waren.

Angesichts der Bedeutung der von unten geschaffenen „kommunitären“ Alltagskultur für das spontane Leben im politisch repressiven Staat sind die vielfach zu beobachtenden Abwehrhaltungen und kulturellen „Eigensinnigkeiten“ der Ostdeutschen gegenüber der ökonomischen und sozialen Dynamik, die mit der Implementierung von Marktgesetzen und funktionalen Interessenauseinandersetzungen im Osten eingezogen ist, nicht einfach, wie es in der Sprache der westlichen Modernisierungstheoretiker gerne heißt, als „Modernisierungsrückstand“ zu qualifizieren. Sie sind vielmehr eine verständliche und zu verstehende Reaktion auf die Erosion von lebensweltlichen Gemeinschaften und interpersonalen Netzwerken, „in de-nen ihre persönliche Identität eine soziale Stütze gefunden hatte“ Die Charakterisierung dieser „kommunitären“ Erfahrungen als rückwärtsgewandte „Gemeinschaftssehnsucht“, die ihren Bezugspunkt in den unpolitischen Traditionen der deutschen Geschichte habe, verfehlt deren spezifische politische Qualität gleich auf zweifache Weise: Zum einen wird ihre Bedeutung als Quelle für die in der Herbstrevolution zum Tragen kommende Fähigkeit „to act in concert“ die eine entscheidende Vorbedingung für den Sturz der SED-Herrschaft war, unterschätzt, zum anderen wird ihr möglicher produktiver Beitrag für die Herausbildung eines republikanisch geprägten Staatsverständnisses, das sich nicht in Interessendenken und der Fixierung auf Institutionen erschöpft, vollkommen ignoriert. Diejenigen, die einem um seine republikanischen Dimensionen verkürzten westlichen Liberalismus das Wort reden, übersehen gerne, daß auch in den ausdifferenzierten „modernen“ Gesellschaften des Westens angesichts ökonomischer und sozialer Krisen sowie einer instrumenteilen Politik der privaten Nutzenmaximierung die Frage nach den die Demokratie stützenden republikanischen Fundamenten -jenseits der Rechtsbeziehungen und institutionellen Arrangements -erneut auf der Tagesordnung steht. Die „kommunitäre“ Erfahrung des Ostens läßt sich vor diesem Hintergrund ohne weiteres mit zeitgenössischen demokratietheoretischen Diskursen verbinden, in denen zu Recht darauf hingewiesen wird, daß der in der liberalen Gesellschaft „rechtlich konstituierte Staatsbürgerstatus angewiesen [bleibt] auf das Entgegenkommen eines konsonanten Hintergrunds von rechtlich nicht erzwingbaren Motiven und Gesinnungen eines am Gemeinwohl orientierten Bürgers“ Übersetzt in eine etwas weniger sozialphilosophisch daherkommende Sprache könnte man sa-gen: Welche Stützung „Freiheit [als] der erste Grundrechtstitel einer republikanischen Verfassung“ erfährt, hängt nicht zuletzt von der Qualität der soziomoralischen Grundlagen in diesem Gemeinwesen ab. Diese Grundlagen aber werden in erster Linie in den zivilen und interpersonalen Gemeinschaften, Vereinigungen, Netzwerken und Kleingruppen der Gesellschaft, die nicht dem Kalkül einer ökonomischen oder politischinstrumentellen Rationalität unterworfen sind, erworben, erfahren und tradiert. Von einer solchen Warte aus könnten die ostdeutschen Gemeinschaftserfahrungen eine wichtige Quelle der Inspiration für eine gemeinsame republikanische Binnenidentität des staatlich vereinten Deutschland sein. Gegenwärtig allerdings sieht es eher so aus, als wäre der Westen unfähig, eine politische Sprache zu finden, die dem Wunsch der Ostdeutschen nach Anerkennung und Gemeinschaft entgegenkommt. Die Kommunikationsverweigerung des Westens und das mangelnde Einfühlungsvermögen gegenüber den Lebens-und Revolutionserfahrungen der Ostdeutschen haben in den letzten Jahren statt dessen nicht nur die Renaissance eines ostdeutschen Sonderbewußtseins gefördert, sondern auch dazu geführt, daß sich die PDS das „Unbehagen in der Einheit“ nutzbar machen konnte, um die „kalte“ Gesellschaft des Westens gegen die „warme“ Gemeinschaft des Ostens auszuspielen. Weitaus mehr, als es ihr mit ihren ideologischen Positionen jemals möglich gewesen wäre, ist es der PDS dadurch gelungen, zur dritten politischen Kraft in Ostdeutschland zu werden und das eigentliche republikanische Erbe der Revolution von 1989 aus den Köpfen zu verdrängen. Die intellektuellen und politischen Eliten des Westens aber müssen es sich selbst zuschreiben, daß das Projekt „Deutsche Einheit“ hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans-Joachim Veen, Innere Einheit -aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Vereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 4041/97, S. 19f.

  2. Wolfgang Bergern, Deutschland-Ost und Deutschland-West: Kulturelle oder politisch-kulturelle Differenz?, unv. Ms., Wuppertal 1997.

  3. H. -J. Veen (Anm. 1).

  4. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Detlef Pollack in diesem Heft.

  5. Vgl. Andreas Huyssen, Wider den negativen Nationalismus, in: Frauke Meyer-Gosau/Wolfgang Emmerich (Hrsg.), Gewalt -Faszination und Furcht. Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland, 1 (1994), Opladen, S. 29.

  6. Vgl. u. a. Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990.

  7. Bernhard Sutor, Nationalbewußtsein und universale politische Ethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/95, S. 9.

  8. Christian Meier, Wir brauchen Vertrauen, in: Der Spiegel, Nr. 5/1995, S. 150.

  9. Roland Hahn, Die Idee der Nation und die Lösung der deutschen Frage, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/92, S. 12.

  10. Dieter Henrich, Deutsche Identitäten nach der Teilung, in: Politisches Jahrbuch, Stuttgart 1991, S. 31.

  11. Ebd., S. 31 f.

  12. Ebd., S. 21.

  13. Vgl. ebd., S. 26.

  14. Richard Schröder, Warum sollten wir eine Nation sein?, in: DIE ZEIT, Nr. 18 vom 25. April 1997, S. 3.

  15. D. Henrich (Anm. 10), S. 17.

  16. Ebd., S. 18.

  17. Ebd., S. 26.

  18. Hannah Arendt, On Violence, New York 1970, S. 52.

  19. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992, S. 641.

  20. D. Henrich (Anm. 10), S. 18.

Weitere Inhalte

Lothar Probst, Dr. phil., geb. 1952; Geschäftsführer und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für kultur-wissenschaftliche Deutschlandstudien (FB 10) an der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Ostdeutsche Bürgerbewegungen und Perspektiven der Demokratie, Köln 1993; (Hrsg. zus. mit Antonia Grunenberg) Einschnitte -Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen 1995; zahlreiche Zeitschriftenbeiträge zu Fragen der politischen Kultur in Deutschland sowie zur Parteien-und Bewegungsforschung.