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Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen | APuZ 6/1999 | bpb.de

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APuZ 6/1999 Bioethik und Bioethikkonvention Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen Klonen. Die künstliche Schaffung des Menschen? Xenotransplantation zwischen medizinischen Möglichkeiten und ethischen Ansprüchen Dissens in Fragen von Leben und Tod: Können wir damit leben?

Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen

Michael Emmrich

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die medizinische Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die dem nicht mehr zustimmen können oder wollen, hat sich zu einem zentralen Konfliktfeld der aktuellen bioethischen Debatte entwickelt. Sie entzündet sich vor allem an der umstrittenen Bioethik-Konvention des Europarates. Die vom Straßburger Europarat bereits beschlossene und in endgültiger Fassung vorgelegte Konvention ist von Deutschland bisher nicht unterzeichnet und ratifiziert worden. Das parlamentarische Verfahren dazu wird voraussichtlich im Frühjahr oder Frühsommer 1999 in die entscheidende Phase treten. Deutschland hat sich im Ministerkomitee des Europarates bei der Abstimmung über den völkerrechtlich verbindlichen Text der Stimme enthalten -vor allem im Hinblick auf die in Deutschland kontrovers und hart geführte Debatte über die Zulässigkeit der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen. Die damalige konservativ-liberale Bundesregierung wollte mit ihrem Abstimmungsverhalten im Ministerkomitee am 19. November 1996 die deutsche Debatte nicht präjudizieren. Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation im Bioethik-Komitee des Europarates, wo die Konvention erstellt wurde, war der Bonner Philosoph Ludger Honnefeider. Er hat den Kern der bioethischen Auseinandersetzung auf den Punkt gebracht: „Die Restfrage, die bleibt, ist, ob das gesundheitliche Wohl des Einzelnen verletzt werden darf, wenn es um das Wohl einer Gruppe von Kranken geht.“

Eine auf den ersten Blick simple Frage brach nach exakt 50 Jahren mit einem Tabu in Deutschland. Dürfen Ärzte an Demenzkranken forschen? fragten die Psychiater Hanfried Heimchen und Hans Lauter Die Debatte über Forschung an und mit Menschen, die aufgrund ihres Krankheitszustandes nicht mehr in der Lage sind, Experimenten zuzustimmen oder sich ihnen zu widersetzen, bekam damit eine völlig neue Stoßrichtung. Denn erstmals wurde in Deutschland so klar, massiv und offensiv das bis dahin geltende ethische und auch rechtliche Prinzip, diese Forschung abzulehnen, in Frage gestellt. Die bis dahin breit akzeptierte Leitlinie zur Forschung an Menschen war aus dem Nürnberger Kodex hervorgegangen und abgleitet worden, der selbst wiederum ein Teil der alliierten Rechtsprechung gegen NS-Mediziner nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur war.

Der 1946 in Nürnberg begonnene und im August des folgendes Jahres abgeschlossene Prozeß endete nicht nur mit einer juristischen Verurteilung zahlreicher angeklagter Ärzte, die US-Militärrichter verankerten darüber hinaus vor dem Hintergrund der NS-Menschenversuche den sogenannten Nürnberger Kodex in ihrem Urteilsspruch als moralisches Fundament für die Arzt-Patienten-Beziehung im Kontext medizinischer Experimente. Der zentrale Satz des Zehn-Punkte-Kataloges steht gleich am Anfang, klar, eindeutig und ohne Kompromisse: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich.“

Warum das Buch von Heimchen und Lauter für die Bundesrepublik Deutschland eine derart zentrale und bedeutende Rolle spielt, erklärt sich vor allem aus zwei Punkten, die ein Umfeld bereiteten, in dem dieses Buch erst seine explosive Wirkung entfalten konnte: Einerseits wurden zu dieser Zeit mit der Deklaration der Unesco, der Wissenschafts-und Kulturorganisation der Vereinten Nationen, zum Schutz des menschlichen Erbgutes und der Bioethik-Konvention des Europarates zur biomedizinischen Forschung zwei internationale Dokumente vorbereitet, die eben diese Experimente an Menschen, die nicht mehr in der Lage sind zuzustimmen, unter bestimmten Voraussetzungen legitimieren und erlauben.

Diese Dokumente sind nun andererseits hervorgegangen aus dem enormen Fortschritt und Wissens-zuwachs vor allem durch die Gentechnologie und in ihrem Gefolge der Biomedizin. Mit der Gentechnik erwarten sich Wissenschaft und Pharmaforschung, Krankheiten endlich nach einem logischen Prinzip und kausal auf der molekularen Basis erkennen, verstehen und auch therapieren zu können. Die bis dahin unbekannte und zugleich revolutionäre Eingriffstiefe der Gentechnologie in Lebensprozesse sowie ihre Fähigkeit, Erbinformationen über Artgrenzen hinweg austauschen und das Genom in seinem Informationsgehalt manipulieren zu können, haben diese internationalen Vereinbarungen notwendig gemacht.

Gleichzeitig sind die Autoren dieser Dokumente aber überzeugt, daß vor dem Hintergrund dieser enormen Heilsversprechen und -erwartungen der Gentechnologie Forschung an Menschen möglich sein müsse, um wenn nicht den Betroffenen direkt, so doch künftigen Generationen helfen zu können. Und genau um diese Frage ist seit einigen Jahren ein heftiger -und in Deutschland noch lange nicht entschiedener -Streit entbrannt: Inwieweit darf Forschung sich wehrloser Menschen bedienen, um an diesen Experimente im so definierten Gemeinwohlinteresse vorzunehmen, die zudem den Betroffenen selbst nichts nützen und ihnen womöglich Leid und Schmerzen zufügen? Darüber wird die Debatte kontrovers und stark polarisiert geführt.

Die Auseinandersetzung entzündet sich vor allem an der Bioethik-Konvention des Europarates. Vor allem wegen dieser Forschung an sogenannten nichteinwilligungsfähigen Menschen hat die Bundesrepublik Deutschland das völkerrechtlich ver-bindliche Dokument bisher (noch) nicht unterzeichnet. Die Frage der Forschung an Menschen, ohne daß sie eine Zustimmung gegeben haben, ist zu einem der zentralen Streitpunkte in der aktuellen bioethischen Debatte geworden. Die Bioethik-Konvention des Europarates selbst hat den Anspruch formuliert, verbindliche internationale Mindeststandards für die Forschung und zugleich für den Schutz des einzelnen zu etablieren. Die Konvention sieht aber zugleich eine Klausel vor, wonach jedes Land, das die Konvention unterzeichnet, ein eventuell eigenes höheres Schutz-niveau beibehalten darf. Kritiker argumentieren, daß eine international verflochtene Forschung natürlich dorthin tendieren wird, wo sie die für sie geeignetsten Bedingungen vorfinden wird, und einzelne Länder, so sie den Anschluß an die internationale Wissenschaft nicht verlieren wollen, darauf angewiesen sein werden, ihre „Forschungshemmnisse“ an den niedrigen Standard der anderen anzupassen.

Pro-Argumente

Heimchen und Lauter entwickeln ihr Begründungsszenario am Beispiel der psychisch Kranken. Doch die Argumentation darf als idealtypisch gelten, denn sie ist auch auf die anderen großen Gruppen, um die es geht, übertragbar: Alzheimer-Patienten, Schlaganfallkranke, Sterbende und Kinder. Heimchen konstatiert einen „dringenden Bedarf“ dieser Forschung an Nichteinwilligungsfähigen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei zuerst eine quanitative Beschreibung der Demenzerkrankungen: Danach sind derzeit rund fünf Prozent der Menschen im Alter von mehr als 65 Jahren von einer mittleren oder schweren Demenz betroffen, mit zunehmendem Alter steigt der Anteil exponentiell an.

Um die Situation sowohl für die Kranken selbst als auch deren Umfeld zu verbessern -zum Beispiel werden 80 Prozent der Alzheimer-Patienten in der Familie betreut -, ist nach Heimchen und Lauter eine intensive Erforschung der Demenzerkrankung notwendig. Heimchen sieht in diesem Zusammenhang aber zugleich ein „gravierendes medizin-ethisches Grundproblem“. Da es weder adäquate Tiermodelle gebe und die Forschung an gesunden und einwilligungsfähigen Menschen nicht weiterführe, bliebe nur die Orientierung am Kranken.

Eine argumentative Unterstützung erhielten Heimchen und Lauter vom Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Recht in Freiburg, Albin Eser. Ein Verzicht auf diese Forschung, unterstreicht er, bedeute zugleich, daß es für bestimmte Patientengruppen damit keine Aussicht auf Besserung ihres Leidens geben werde. Und Eser fährt fort: „Was uns nicht weniger beunruhigen sollte, ist das ichbezogene Menschenbild, mit dem Nutzen für andere abgewertet und der Eigennutz zum Primat erhoben wird: So sehr der Mensch zuallererst , Individuum ist, so ist er horizontal zugleich . Mitmensch und zudem vertikal zugleich . Mitglied in einer Generationenkette. Was wären wir ohne die -gewiß nicht immer freiwilligen -Opfer unserer Vorfahren? Und was dürfen unsere Nachfahren erwarten, wenn wir unsererseits nicht zu ähnlichen Opfern bereit sind?“

Wofür diese Opfer gedacht sind, zeigt ein internes Argumentationspapier aus dem Bundesgesundheitsministerium. Die Liste ist noch unter der Amtsführung von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) entstanden und diente dazu, die in der Bioethik-Konvention zugelassenen Forschungen für die skeptische deutsche Öffentlichkeit inhaltlich abzustützen und zu begründen. Einen breiten Raum nimmt darin die Gruppe der Kinder ein. Die Aufzählung hat den Zweck, anhand von Beispielen die Notwendigkeit der fremdnützigen Forschung zu erläutern. Einige Auszüge: „Bei frühgeborenen Kindern ist es oft erforderlich, Sauerstoff zu verabreichen, weil die unfertigen Lungen sich nur in unzureichendem Maße entfalten können. Zu wenig Sauerstoff kann zu Gehirn-schäden führen, zu viel Sauerstoff führt zu Blindheit. Um die normalen Sauerstoffwerte im Blut feststellen zu können, untersucht man Blutproben von gesunden Neugeborenen ohne Atmungsprobleme. Diese haben keinen individuellen Nutzen von der Forschung.“ Es folgt ein Beispiel zur Leukämie-Forschung: „Hinter jedem therapeutischen Erfolg der Kinder-Onkologie steht jahrelange Grundlagenforschung, zu der auch Blutproben von Gesunden unerläßlich sind, wobei man selbstverständlich von Befunden bei Erwachsenen nicht so einfach auf die Situation bei Frühgeborenen, Neugeborenen und Säuglingen, Kleinkindern und älteren Kindern schließen kann. Um die Krankheitsursachen zu erforschen, müssen diagnostische Untersuchungen an Kindern mit Leukämie durch-geführt werden, auch wenn die Resultate dieser Studien nicht mehr mit Sicherheit den betroffenen Kindern werden helfen können. Jedoch werden heute über Dreiviertel der Leukämien bei Kindern aufbauend auf solchen Untersuchungen der Krankheitsursachenforschung geheilt.“

Das Argumentationspapier nennt aber noch drei weitere Beispiele, die das breite Spektrum der vom Ministerium so gesehenen Forschungsnotwendigkeit dokumentieren sollen: „Infektionen mit unbekanntem Erreger: Die im vergangenen Jahr aufgetretene Infektion mit dem Ebola-Virus hat gezeigt, daß u. a. bei sehr akut und epidemiologisch bedrohlich verlaufenden Krankheiten Krankheitsursachenforschung unabdingbar ist. Bei dieser Infektionskrankheit stand man zunächst -bevor die Ätiologie (Krankheitsursache, M. E.) geklärt wurde -medizinisch vor einem völligen Rätsel. Es wäre unethisch zu behaupten, daß die Forschungsanstrengungen, die zur Aufklärung der Ursache führten, einen direkten Nutzen für die (z. T. aufgrund des foudroyanten Verlaufs der Infektion) im Finalstadium Befindlichen (d. h. i. d. R. nichteinwilligungsfähigen Menschen) hätten erbringen können.“ „Intensivmedizin: Intensivpatienten sind in ihren Vitalfunktionen konstant gefährdet. Die Atmung wird künstlich durch ein Beatmungsgerät unterstützt. Die Herz-Kreislauf-Funktion wird kontrolliert und ggf. subtil variiert. Ähnliches gilt für Temperatur, Stoffwechsel, Ausscheidungen und anderes. Derartige Patienten sind nicht-einwilligungsfähig. Sie sind häufig mehr oder weniger sediert. Bei solchen Patienten wird und muß ohne Frage medizinische Forschung -z. B. eine gezielte Auswertung der Vitalfunktionen in Abhängigkeit vom therapeutischen Vorgehen -durchgeführt werden, um Verbesserungen der intensivmedizinischen Versorgung zu erreichen.“ „Schlaganfall: Patienten, die akut einen Schlaganfall erleiden, sind in der ersten Phase der Krankheit zumeist nicht ansprechbar, d. h. nichtinformiert einwilligungsfähig. Trotzdem muß an diesen Patienten in dieser frühen Phase Forschung (Prognose und Verlauf) erfolgen, um in einem zweiten Schritt therapeutische Konzepte entwickeln zu können. Zur Prognose und Verlaufsforschung gehört, daß Patientendaten, d. h.der neurologische Befund (Sensorik, Motorik, Ansprechbarkeit), internistische Parameter (Kreislaufstatus, Blut­ werte) und der radiologische Befund (Llltraschall/Doppler, CT [Computertomographie, M. E. ], NMR [Kernspinresonanz, M. E. ], Kontrastuntersuchungen) vorgenommen und systematisch evaluiert werden. Diese Untersuchungen gehen, obwohl die gleichen Untersuchungsmethoden angewendet werden (!) über die normale Behandlung hinaus und sind somit medizinische Forschung, welche u. a. wie alle beschriebenen Beispiele erst nach Einwilligung des gesetzlichen Vertreters und nach Zustimmung eines Ethikkomitees erfolgen darf.“

Zustimmung findet diese Haltung auch bei der Bundesärztekammer (BÄK). Der Medizin-Professor und Mitglied der deutschen Delegation im Bioethik-Komitee des Europarates, das die Konvention ausgearbeitet hat, Elmar Doppelfeld, präzisierte 1997 bei einer Veranstaltung der BÄK seine Position und kommt zu dem Ergebnis: „Persönlich möchte ich keinen Zweifel an meiner Auffassung lassen, daß medizinische Forschung an Nichteinwilligungsfähigen unverzichtbar ist. Es gilt, unter Beachtung bestehender Gesetze für diesen besonders sensiblen Bereich der medizinischen Forschung Bedingungen zu formulieren, die die Würde und Unversehrtheit des Menschen wahren.“

Der Bonner Philosoph Ludger Honnefeider ist in Deutschland zu einer der Schlüsselfiguren in der Debatte über die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen geworden. Er ist zugleich Mitglied im Bioethik-Komitee des Europarates und Vorsitzender einer noch von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer berufenen Ethik-Beratergruppe beim Bundesgesundheitsministerium. Honnefeider hat sich von Anfang an als Befürworter der Konvention und damit auch der Erlaubnis der Versuche an Nichteinwilligungsfähigen profiliert. Er verteidigt bei einer Veranstaltung der deutschen Forschungsgemeinschaft 1996 den -damals noch nicht endgültigen -Entwurf der Bioethik-Konvention: „Aus diesem Grund formuliert Artikel 17, 2 dann die vieldiskutierte Ausnahmeregelung, die über die Helsinki-Deklaration (des Weltärztebundes, d. V) und das deutsche Recht hinausgeht: Gemeint sind Untersuchungen an einwilligungsunfähigen Personen, die nicht deren eigenem Nutzen dienen, ohne die aber die Ursachen von Krankheiten nicht erforscht werden können, an denen ausschließlich Personen leiden, die die erforderliche Zustim-mung nach Aufklärung nicht geben können -sei es auf Grund ihres Alters oder ihres physischen oder psychischen Zustandes also Minderjährige, Bewußtlose, geistig Schwerstbehinderte oder hochgradig altersdemente Personen. ... Wie soll . . . ein Impfmittel für Kinder entwickelt werden, wenn nach Labor und Tierversuch nicht bei Kindern selbst geprüft wird, ob sich Antikörper bilden -ein Verfahren, das ohne Risiko ist, aber für das untersuchte Kind noch keinen individuellen Nutzen hat. Ähnliche Beispiele ließen sich für Untersuchungen an Patienten mit akuten oder chronischen Hirnschädigungen anführen. . . . Der Grundgedanke (des Konventionsentwurfs, d. V.) ist der, daß der nichteinwilligungsfähige Mensch in die soziale Gemeinschaft eingebunden ist, zu ihr beiträgt, ihre Ressourcen in Anspruch nimmt und vor allem den Mitmenschen in Solidarität verbunden ist, die an der gleichen Kankheit oder Störung leiden oder sich in der gleichen Situation befinden wie er und daß es diese Person nicht in ihrem Kern und damit nicht in ihrer Menschenwürde berührt, wenn ihr mit Einwilligung ihres Vertreters und unter weiteren Voraussetzungen minimale Risiken und Belastungen zugemutet werden, wie sie mit einer Messung, einem Speichelanstrich, einer Urin-probe oder der Nutzung einer im Rahmen der Krankenversorgung vorgenommenen Blutentnahme verbunden sind.“

Die Rechtslage

Das deutsche Recht kennt nur eine Ausnahmebestimmung, die die Forschung an Menschen ohne deren Einwilligung zuläßt, wenn es um Experimente und Untersuchungen geht, die nicht dem Nutzen der Betroffenen dienen. Sie findet sich im Arzneimittelgesetz und bezieht sich alleine auf Minderjährige. In einem Interview hat sich Hanfried Heimchen mit der aktuellen deutschen Rechtsprechung und Gesetzeslage auseinandergesetzt und vor diesem Hintergrund eine Rechtsänderung gefordert: Prinzipiell sieht das deutsche Gesetz vor, daß eine sogenannte Behandlungsoder Therapieforschung erlaubt ist, auch wenn der Patient nicht zustimmt oder zustimmen kann. Dahinter verbirgt sich eine Forschung, die am direkten Nutzen für den konkreten einzelnen Patienten ausgerichtet sein muß. Aber schon diese Therapieforschung sieht Hanfried Heimchen als in der Praxis schwer behindert, wenn nicht sogar als unmöglich an. Außerdem seien die Interpretationen der deutschen Bestimmungen nicht ganz klar. Heimchen erläutert deshalb: „Die Behandlungsforschung nun ist bei diesen nicht einwilligungsfähigen Kranken zwar nach dem Arzneimittelgesetz in Deutschland theoretisch möglich, aber praktisch eben kaum: weil sie nur zulässig ist, wenn ein Betreuer anstelle des Patienten einwilligt. Eine Betreuung besteht aber meist nicht. Die Einrichtung einer Betreuung nur zum Zwecke einer Forschungsbehandlung stößt jedoch auf Zweifel. Aber selbst wenn man sie über einen Eilantrag ans Gericht beantragt, geht dies oft nicht so schnell, wie dies im Rahmen akuter Therapieerfordernisse notwendig ist. Das Gesetz gibt sogar die Möglichkeit, eine akut notwendige Forschungsbehandlung ohne Einwilligung des Betreuers durchzuführen, wenn davon auszugehen ist, daß der Betreuer diese Einwilligung nachreichen wird. Wenn aber kein Betreuer da ist, ist es rechtlich fraglich, ob man so verfahren darf.“

Heimchen gibt als Motiv seines Einsatzes für die Erlaubnis der Forschung an Nichteinwilligungsfähigen an, das Los zukünftiger kranker Menschen bessern zu wollen: „Ethisch und rechtlich ist dies fraglos zulässig, wenn ein einwilligungsfähiger Patient nach entsprechender Aufklärung in Forschung, therapeutische wie nichttherapeutische Forschung, einwilligt und die notwendigen Voraussetzungen und Kontrollen, also etwa Stellungnahme einer Ethikkommission, Begrenzung von Risiken usw., gegeben sind. Auch bei nichteinwilligungsfähigen Kranken ist dies rechtlich und ethisch zulässig im Falle therapeutischer Forschung, also Forschung mit unmittelbarem potentiellen Nutzen für den in die Forschung einbezogenen Kranken selbst, allerdings nur unter sehr viel stärkeren Kontrollen und Vorkehrungen zum Schutz des Patienten. Nichttherapeutische, also auf Erkennung und Entstehungsbedingungen der Krankheit gerichtete Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Kranken ist hingegen in Deutschland rechtlich nicht zulässig, erscheint aber in genau definierten und kontrollierten Ausnahmefällen ethisch dann vertretbar, wenn ein potentieller Nutzen für den Patienten zu erwarten ist.“ Heimchen beklagt zugleich, daß viele Menschen, die zu dem Zeitpunkt, wo sie noch einwilligungsfähig sind, auch an solchen Forschungsfragen teilnehmen wollten, dies aber später nicht dürften. Esgehe nicht nur darum, Menschen vor dem Zugriff der Wissenschaft zu schützen und ihre Würde zu bewahren; auf der anderen Seite müsse es auch möglich sein, Patienten einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten und beitragen zu lassen, was ebenfalls ihrem Würdebegriff entsprechen könne. Einen Aufopferungsanspruch für andere, betont Hanfried Heimchen, gebe es in unserer Gesellschaft zum Glück nicht, „aber für viele der zur Teilnahme an Forschung bereiten Patienten spielen doch auch Erwägungen der Solidarität mit anderen Kranken eine Rolle. Und warum sollten diese Erwägungen keine Bedeutung mehr haben, wenn der Kranke einwilligungsunfähig wird? Darüber sollte jeder für sich nachdenken und entscheiden, in gesunden Tagen und solange er kann.“

Heimchen plädiert als Folge seiner Überlegungen in dem mit Lauter verfaßten Buch für eine Änderung des deutschen Rechts: „Zum einen haben wir eine Modifikation des Arzneimittelgesetzes vorgeschlagen, um auch Diagnostikforschung mit möglichem unmittelbaren Nutzen für den einzelnen Kranken in gleicher Weise für Erwachsene zu ermöglichen, wie dies bei Minderjährigen zulässig ist. Zum anderen sollte Krankheitsursachenforschung auch ohne unmittelbaren, aber potentiell zumindest mittelbaren individuellen Nutzen bei nichteinwilligungsfähigen Patienten als Ausnahme unter gesetzlich definierten Kriterien zulässig sein . . . Ausgeschlossen bleiben muß eine ausschließlich fremdnützige Forschung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten.“ Damit hat der Autor im Prinzip das formuliert, was die Bioethik-Konvention des Europarates in ihren Paragraphen niederlegt. Auch sie bedient sich schließlich in ihrer Endfassung der Konstruktion des zumindest potentiellen Nutzens für nichteinwilligungsfähige Patienten. In früheren Fassungen der Konvention war von den nun festgelegten Schutzkriterien für die Betroffenen und dem Voraussetzungskatalog dagegen noch kaum die Rede. Erst die Proteste vor allem der deutschen Öffentlichkeit haben dann über die deutschen Teilnehmer an der Konventionsarbeit zu den massiven Verbesserungen geführt, die Kritikern allerdings immer noch nicht weit genug gehen. Denn diese halten insbesondere den Begriff des potentiellen Nutzens für eine Gummiformulierung, die letztlich jede Art von Forschung ermöglichen und sanktionieren werde.

Die Bioethik-Konvention befaßt sich hauptsächlich in den Artikeln 16 und 17 mit der Forschung an Menschen. Während sich Artikel 16 mit den Einwilligungsfähigen befaßt, ist die darauffolgende Bestimmung an die nichteinwilligungsfähigen Patienten adressiert. Dort heißt es: Forschung an einer nichteinwilligungsfähigen Person soll nur dann zulässig sein, wenn folgende Vorausetzungen erfüllt sind: Die Ergebnisse sind „potentiell für die Gesundheit des Betroffenen von wirklichem und unmittelbarem Nutzen“ die Experimente können nicht an Einwilligungsfähigen vorgenommen werden, „der Betroffene widerspricht nicht“ die Forschung hat zum Ziel, „durch eine spürbare Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses für den Zustand, die Krankheit oder die Störung der Person beizutragen, letztlich Ergebnisse zu erreichen, die geeignet sind, dem Betroffenen oder anderen Personen, die sich in der gleichen Altersstufe befinden oder die an der gleichen Krankheit oder Störung leiden oder sich in dem gleichen Zustand befinden, zu nutzen“ Schließlich wird noch festgelegt, daß die Forschung für den Betroffenen nur mit „einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung“ einhergehen darf.

Kontra-Argumente

Die Kritiker der Bioethik-Konvention, deren zentrale Einwände sich gegen die fremdnützige Forschung richten, werden vor allem durch die Internationale Initiative gegen die Bioethik-Konvention repräsentiert. Diese Organisation hat in der Bundesrepublik mittlerweile mehr als zwei Millionen Unterschriften gegen das Papier gesammelt und ist damit zu einer mächtigen Bürgerbewegung geworden. Ihre Kritik beginnt schon weit vor dem eigentlichen Wortlaut zur Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen. Die Konvention selbst ist in ihren Augen schon ein Konstruktionsfehler und demokratisch zweifelhaft legitimiert. Denn die Parlamentarische Versammlung des Europarat ist kein klassisches Parlament und besteht nicht aus frei und direkt gewählten Abgeordneten. Vielmehr werden nach einem bestimmten Proporz-system Abgeordnete aus den nationalen Parlamenten der mehr als 40 Mitgliedsstaaten nach Straßburg entsandt. Der Europarat ist deshalb nicht mit der Europäischen Union und seinem direkt und frei gewählten Europaparlament zu verwechseln. Hinzu kommt schließlich noch, daß das Ministerkomitee des Europarates, in dem die Regierungen der Mitgliedsstaaten vertreten sind, nicht an Weisungen, Empfehlungen und Abstimmungen der Parlamentarischen Versammlung gebunden ist.

Bei der Bioethik-Konvention zum Beispiel hatte die Parlamentarische Versammlung dafür votiert, fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen zu verbieten, und das Ministerkomitee aufgefordert, die Konvention entsprechend zu verändern. Das Ministerkomitee setzte sich allerdings darüber hinweg und mißachtete die Wünsche der Versammlung. Kritiker halten deshalb die Legitimationsgrundlage, auf der die Konvention enstanden ist und die für 750 Millionen Menschen verbindlich werden soll, für demokratisch äußerst fragwürdig. Zugleich hat die Konvention in den Augen ihrer Gegner schon von Anfang an einen gefährlichen Fallstrick eingebaut, weil sie keinen wirklichen Adressaten kennt. Denn die Teilnehmerstaaten konnten sich nicht darauf einigen, was ein Mensch sei. So mußte der Generalsekretär des Bioethik-Komitees (CDBI) des Europarates, Carlos de Sola Llera, schon früh bekennen: „Der Text definiert nicht die Begriffe , menschliches Wesen'oder , Person'. Weil es keinen Konsens über diese Begriffe gibt, wird die Definition den verschiedenen nationalen Gesetzgebungen überlassen. Dies muß jedoch nicht die Versuche verhindern, nach Übereinkünften im Rahmen des grundsätzlichen Teils der Konvention oder der Protokolle über die Regeln, nach denen das menschliche Wesen im weitesten Sinne des Verständnisses zu schützen ist, zu suchen.“

Dies hat erhebliche inhaltliche Konsequenzen. Denn das Papier findet keine einheitliche Terminologie, es changiert zwischen verschiedenen Begrifflichkeiten. Ist in Artikel 1 noch von der „Identität aller Menschen“ die Rede, tauchen in Artikel 5 lediglich noch „Betroffene“ auf. Ein erneuter Perspektivwechsel ist dann nur eine Bestimmung weiter zu verzeichnen: Nun sind die Adressaten der Konvention alleine „Personen“. Die Segmentierung von Menschengruppen und die damit offenkundig verbundene Zuordnung verschiedener Rechtehierarchien wird immer deutlicher. Dies hat entscheidende Auswirkungen auf den Umgang mit nichteinwilligungsfähigen Menschen. Dann dahinter steckt die bioethisch-philo­ sophische Debatte um das Person-oder Mensch-sein. Nach der utilitaristischen Theorie sind Personen nur diejenigen, die einen Selbstbezug haben, Bewußtsein besitzen, kommunikationsfähig sind und ihre Interessen artikulieren können. Wenn diese Eigenschaften entfallen, sind sie zwar weiter Menschen, aber nicht mehr mit allen Rechten ausgestattet, die Personen zustehen. So taucht in der Konvention der Begriff der Menschenrechte an keiner einzigen Stelle mehr auf, er ist lediglich noch in der Überschrift enthalten und damit allenfalls noch schmückendes und täuschendes Bei-werk, befinden die Kritiker. Im Text wird dann vor allem von Interessen gesprochen, was bei den Gegnern den Verdacht nährt, daß sich die Konvention auf die Seite des Utilitarismus geschlagen habe. Danach kommen nur noch die Patienten in den Genuß voller Schutzrechte, die ihre Interessen artikulieren können. Komatöse, Embryonen, Demente und Schwerstbehinderte sind dagegen für eine gesellschaftliche Verwertung freigegeben. Dies korrespondiert dann für die Kritiker exakt mit jenem Artikel, der die Interessen des einzelnen gegen die der Gesellschaft und der Wissenschaft abwägt. Lediglich die „alleinigen“ Interessen der Gesellschaft reichten danach nicht aus, um die des einzelnen zu dominieren. Würden jedoch weitere Gründe angeführt, stehe das Individuum dann endgültig auf der Verliererseite.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie erkennt darin die Spaltung der Menschenrechte und die Verabschiedung vom kontinentaleuropäischen Ideal der Ethik der Würde, vom Kantschen Kategorischen Imperativ, der die zentraleuropäische Kultur entscheidend mitgeprägt hat. An dessen Stelle setze die Bioethik-Konvention ein lediglich eindimensionales und funktionelles Menschenbild. Sie verabschiede sich von einem einheitlichen und umfassenden Menschenbild und leiste so der Instrumentalisierung von Menschen durch Wissenschaft und Technik Vorschub. Schließlich sei die Konvention vorrangig technokratisch angelegt und konzipiert, von Pflege, Sorge, Zuwendung und Betreuung sei in ihr kein Wort zu finden. Das Grundrechte-Komitee fällt deshalb ein vernichtendes Urteil: „Die geneigten Leser des Übereinkommens werden radikal enttäuscht. Dieses entspricht in keiner Hinsicht vernünftigen Erwartungen. Das Übereinkommen zeichnet sich vielmehr durch eine ganze Sequenz von Listen und Tücken aus, die alle nur einem Interesse dienen: Macht, humangenetisch gruppierte Interessen, was ihr wollt, was ihr könnt. Allein dem verschieden motivierten Machbar-keitswahn wird gehuldigt. Die Listen und Tücken dienen dem Verkauf dieses Übereinkommens .. . Die erste List besteht darin, alle möglichen podesthohen Menschenrechtserklärungen nachdrücklich zu erwähnen, daraus jedoch nicht die Bohne einer Konsequenz zu ziehen.“

Zur Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten erklärt das Komitee knapp: „Dieser Artikel hebt das Prinzip des Nürnberger Kodexes auf, der in Reaktion auf Menschenversuche während der nationalsozialistischen Herrschaft bestimmt hatte, daß nie wieder Versuche am Menschen ohne dessen freiwillige und informierte Zustimmung vorgenommen werden dürfen. Er erlaubt Menschenversuche an sogenannten Nicht-Einwilligungsfähigen sogar dann, wenn klar ist, daß die Versuche diesen selbst nicht nützen werden. Menschen dürfen zum bloßen Objekt der Forschung gemacht werden, wenn die Forschung das Ziel hat, wissenschaftliches Verständnis zu verbessern. Welcher Forscher würde das nicht von sich selbst behaupten. Die Frage, ob dieses Ziel mit dem jeweiligen Versuch überhaupt erreicht werden könne, ist bedeutungslos. Die einzige einigermaßen greifbare Einschränkung besteht darin, daß verlangt wird, die Forschung dürfe nur mit minimalem Risiko und minimalen Belastungen für die Betroffenen einhergehen. Nach allen bisherigen Erfahrungen muß angenommen werden, daß der nächste Schritt eine Änderung des Übereinkommens sein wird, in welcher diese Bestimmung gelockert wird.“

Zur Bioethik und zur Forschung an Menschen hat auch der Arbeitskreis zur Erforschung der , Euthanasie‘-Geschichte ein Papier vorgelegt. Darin kommt er zu der Einschätzung: „Für die große Gruppe der nichteinwilligungsfähigen Menschen mit geistigen Behinderungen, psychischen Krankheiten, Altersgebrechlichkeiten, Hirnerkrankungen oder vorübergehendem oder längerem Wachkoma soll die menschenrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Person aufgehoben und durch ein Sonderrecht ersetzt werden.“ Der Arbeitskreis beharrt dabei weiter auf dem Nürnberger Kodex als verpflichtender Leitlinie für den Umgang mit Patienten. Denn dem Kodex zufolge stehe der Mensch mit seinen individuellen und garantierten Grundrechten im Mittelpunkt der Medizin, „nicht der wissenschaftliche Fortschritt und nicht der Nutzen der Gesellschaft“ Basis einer humanen Medizin müsse deshalb die freiwillige Einwilligung nach umfassender Information sein. Auf diese Einwilligung könne nicht verzichtet und sie dürfe auch nicht ersetzt werden.

Versuche, den Nürnberger Kodex zu revidieren und ihn an Forschungsbedürfnisse anzupassen, seien immer wieder vorgenommen worden und zahlreich. Die Grafenecker Erklärung sieht in der Erklärung des Weltärztebundes von Helsinki dagegen eine Präzisierung des Kodexes, der sie sich anschließe. Danach sei klar: „Medizinische Untersuchungen, die einen Nutzen für den Betroffenen haben, sind Heilversuche und können bei nichteinwilligungsfähigen Personen ersatzweise durch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters legitimiert werden.“ Die Grafenecker Erklärung erteilt den bioethischen Abwägungen zwischen individuellen Menschenrechten und dem Recht auf Forschung eine eindeutige Absage. Auch etwaige Kollektiv-Verpflichtungen weist sie zurück, denn Solidarität mit anderen Patienten und kommenden Generationen sei nur durch eine freiwillige Zustimmung des einzelnen zu erreichen, nicht aber durch Zwangsverpflichtungen und gesetzliche Erzwingungen. Den Ausführungen der Bioethik-Konvention stellt die Erklärung deshalb eine Formulierung von Jay Katz entgegen: „Bei Forschungen an Menschen dürfen die Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft niemals über den Erwägungen des Wohlbefindens des Einzelnen stehen, so wie er sie nach vollständiger Information durch den Arzt trifft und aufgrund derer beide zusammen eine bewußte und aufgeklärte Entscheidung fällen.“ Eine rechtliche Abstützung erfährt diese Position schließlich durch ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. Robert Antretter, der Sprecher der deutschen Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und entschiedener Kritiker der Bioethik-Konvention, hatte den Auftrag dazu gegeben. Dort kommen die Juristen zu einem anderen Schluß als das damals noch von Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) geleitete Bundesjustizministerium. Im Gutachten heißt es: „Problematisch ist dagegen, daß auch nach dem neuesten Konventionsentwurf unter bestimmten Einschränkungen, nicht-therapeutische Eingriffe an einwilligungsunfähigen Personen zugelassen werden, die diesen nicht unmittelbar zugute kommen.“ Anschließend referiert das Gutachten die Position des Bundesjustizministeriums und darauffolgend die Einwände der Kritiker. Diese Einwände aufnehmend, kommt es zu dem Ergebnis: „Dieser Auffassung ist zuzustimmen, da andernfalls die Gefahr besteht, daß einwilligungsunfähige Personen zum austauschbaren Objekt medizinischer Forschung werden und damit eine Verletzung des aus der Menschenwürde folgenden Prinzips auf freie Selbstbestimmung vorliegt. Um dies zu vermeiden, gilt nach deutschem Recht grundsätzlich ein Verbot des Forschungseingriffs bei Einwilligungsunfähigen.“

Der Gießener Staats-und Verwaltungsrechtler Wolfram Elöfling schlägt in dieselbe Kerbe. Bei seiner Betrachtung der Bioethik-Konvention weist er den Bestimmungen zur Forschung an Nichteinwillgungsfähigen aus rechtlicher Sicht eine besondere Brisanz zu. Er führt aus: „Auch in Deutschland, wo die Problematik im wesentlichen in den Paragraphen 40, 41 Arzneimittelgesetz (AMG) geregelt wird, gewinnen die Stimmen an Gewicht, die eine Lockerung der restriktiven gesetzlichen Vorgaben befürworten. Dies betrifft namentlich die umstrittene Frage nach der Zulässigkeit der Forschung mit beziehungsweise an Demenzkranken. Hier mahnen indes die bitteren Lehren der deutschen Geschichte zu höchster Vorsicht ... Es spricht zur Zeit viel dafür, dort, wo es bei Demenzkranken wegen Einwilligungsunfähigkeit an einem Informed Consent fehlt, die Möglichkeit zu medizinischen Eingriffen grundsätzlich auf den subjektiv indizierten Heilversuch zu beschränken. Humanexperimente sollten -der deutschen Rechtslage entsprechend -nicht zugelassen werden. Näherer und differenzierterer Überlegungen bedarf allerdings, ob für diagnostische Versuche, wie sie etwa zur Erforschung der Alzheimer-Demenz gefordert werden, etwas anderes gelten kann.“

Der Gütersloher Psychiater und Historiker Klaus Dörner geht noch einmal auf das Buch von Heimchen und Lauter ein, „daß ich für gefährlich halte, weil die ihm zugrunde liegende Haltung -trotz der zweifellos lauteren Absichten der Autoren -zum unreflektierten Denken der Mediziner der Vor-Nazi-Zeit zurückkehrt, als habe es die NS-Medizin und ihre Lehren nie gegeben“ Wie für viele andere Kritiker bleibt auch für Dörner die „normative Härte“ des Nürnberger Kodexes Bezugspunkt, an der sich die Mediziner reiben müßten. Dörner fährt dann fort: „Die medizinische Forschung wird dann leichter akzeptieren können, daß das Verbot der Forschung an Menschen unter geschlossenen Bedingungen, also an Menschen, denen ihre Freiheit genommen ist, eine kostbare Errungenschaft unseres Rechtsstaates ist, die es zu schützen gilt, selbst wenn einzelnen Menschen deshalb Vorteile vorenthalten werden . . . Sie wird akzeptieren, daß die , Forschungsbetreuung', also die Ermächtigung des Betreuers, stellvertretend für den nichteinwilligungsfähigen Dementen seiner Beforschung zuzustimmen, vielleicht in einer idealen Gesellschaft kein Problem wäre, in unserer Gesellschaft und in unserer Verfassung jedoch ein Unding wäre, da er im Fall des Fehlens eines potentiell individuellen Nutzens nicht mehr nur die Interessen des Betreuten, sondern auch die Interessen der Allgemeinheit auszubalancieren hätte, womit ebenfalls eine kostbare Errungenschaft unseres Rechtsstaates in Gefahr geriete.“ Dörner weist zugleich auch auf die Fragwürdigkeit des Forschungsoptimismus hin, der hinter diesen Begehrlichkeiten steckt. Denn die Erfahrung habe gezeigt, daß von den Heilsversprechen der Medizin in der Realität meist nur sehr wenig übriggeblieben sei.

Die Debatte um nichteinwilligungsfähige Menschen hat aber auch noch eine andere Dimension. Denn solchen Gruppen darf laut Konvention auch ohne ihre Zustimmung regenerierbares Gewebe entnommen, wodurch diese Menschen zu unfreiwilligen Organspendern gemacht werden. Dabei sind die einzelnen Artikel und Erläuterungen wiederum sprachlich nicht sauber ausformuliert und eröffnen verschiedenen Interpretationen Tür und Tor: So findet sich im entsprechenden Artikel 20 ein entscheidender Widerspruch. Während im Text alleine von regenerierbarem Gewebe, in erster Linie also Knochenmark, die Rede ist und der Geltungsbereich somit darauf eingeschränkt wird, taucht in der Überschrift der Begriff „Organentnahme“ auf. Heißt dies nun, daß Nichteinwilligungsfähigen auch ein Stück der Leber oder sogar eine Niere entnommen werden darf? Wohin die Konvention zielt und welche Absicht mit ihr verfolgt wird, macht aber das Kleingedruckte in einem anderen Papier deutlicher, nämlich der Erläuterungsbericht zur Konvention. Dort heißt es unverblümt: „Wenn zur Zeit hauptsächlich noch die Transplantation von Knochenmark unter Geschwistern die Bedingungen dieses Artikels erfüllt, so wird mit der Formulierung , regenerierbares Gewebe 4 den rasanten Entwicklungen auf dem Transplantationssektor Rechnung getragen.“ Mit diesem Hinweis auf den gesellschaftlichen Fortschritt, wenden Kritiker ein, ist ein Instrument geschaffen worden, künftig die Entnahme von Organen und Gewebe beliebig auszudehnen. Zugleich ist die Bedingung eines minimalen Risikos, das für die betroffenen Menschen noch bei der Forschung mit Nichteinwilligungsfähigen gelten soll, hier schon entschärft worden. Denn den unfreiwilligen Gewebe-und Organspendern darf in diesen Fällen ausdrücklich ein höheres, ein sogenanntes „vertretbares“ Risiko zugemutet werden.

Was die Bioethik-Konvention in ihrer Tendenz will, unterstreichen die Kritikergruppen. Sie haben es aber nicht so deutlich dargelegt wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Ihre Aussage, verknüpft mit der Bioethik-Konvention, deren heftige Verfechterin die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist, läßt die Befürchtungen der Gegner schon jetzt ziemlich realistisch erscheinen. „Zu bedenken ist, daß das Zurücktreten zum Beispiel des Grundrechts auf Leben . . . gegenüber dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit letztlich zu deren (der Menschen, d. V.) eigenem Schutz . . . geboten sein kann.“

Der deutsche Sozialdemokrat und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Robert Antretter, belegt die Konvention kurz vor ihrer endgültigen Verabschiedung mit einem harten Verdikt: Sie führe zu einem „Dammbruch im Respekt vor dem Leben wie seit der Nazi-Zeit nicht mehr“ Antretter bezieht sich neben den Experimenten mit Nichteinwilligungsfähigen dabei auch auf die Embryonenforschung. Denn auch Embryonen sind nicht einwilligungsfähig. Und da die Konvention nicht festlegt, wer ein Mensch sei, können die einzelnen Staaten des Europarates je nach Definition entscheiden, ob sie menschliche Embryonen als Menschen, als menschliche Wesen, als Personen oder als was auch immer ansehen möchten. Freigestellt ist es ihnen demnach auch, die verschiedenen Qualitätsstufen des Lebens mit verschiedenen Rechtehierarchien auszustatten. Die Konvention verbietet zwar die Herstellung von menschlichen Embryonen für die Forschung. Aber sie läßt Experimente zum Beispiel an Embryonen zu, die bei der künstlichen Befruchtung angefallen und nun überzählig sind. Antretter sieht deshalb die Gefahr eines „massenhaft Verbrauchs von Embryonen und Föten“

In die Problematik der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen spielt schließlich noch ein weiterer Punkt hinein: nämlich die Manipulation der menschlichen Geschlechtszellen durch einen gentechnischen Eingriff. Diese sogenannte Keimbahnintervention ist zwar auf den ersten Blick im Konventionstext untersagt, doch Kritiker halten die Passage für alles andere als „wasserdicht“. Sie fürchten, daß damit dem nach Maß geschneiderten Menschen der Weg bereitet werde. Der Staatsrechtler Wolfram Höfling hat darauf noch einmal nachdrücklich hingewiesen: „Artikel 13 des Konventionsentwurfs befaßt sich mit der Zulässigkeit von Eingriffen in das menschliche Genom. Er läßt eine Intervention zu präventiven, diagnostischen und therapeutischen Zwecken dann zu, , if its aim is not to introduce any modification in the genome of any descendants'. Damit werden nur gezielte Keimbahneingriffe untersagt. Nicht ausgeschlossen ist dagegen eine somatische Gentherapie, bei der Keimbahnauswirkungen wiederum nicht ausgeschlossen werden können.“

Resümee

Hinter der Debatte um die Bioethik und die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen verbirgt sich eine prinzipielle Auseinandersetzung. Darauf hat der Evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, hingewiesen. Er sieht den Streit zweier philosophischer und weltanschaulicher Denkrichtungen -zwischen der Ethik der Würde und der Ethik der Interessen. Der Satz „Es gibt kein lebensunwertes Leben“ bezeichnet die erste Denkrichtung. Die Ethik der Interessen, die derzeit offenkundig die Oberhand im bioethi-sehen Diskurs gewonnen hat, hält menschliches Leben und Menschenwürde dagegen prinzipiell für abwägungsfähig im Interessenkonflikt mit anderen Ansprüchen. Dieser Konflikt drückt sich wie unter einem Brennglas in der Auseinandersetzung um die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen aus.

In welche Richtung das Pendel letztlich ausschlagen wird, ist noch lange nicht entschieden. Zwar hat der Europarat seine Konvention fertiggestellt. Aber bisher haben nur etwa die Hälfte der Mitgliedsstaaten das -auch wegen noch zahlreicher anderer Punkte -umstrittene Papier unterzeichnet. Die Bundesrepublik Deutschland hat dies bislang noch nicht getan. Die entscheidende (parlamentarische Debatte) steht noch bevor. Wie offen die Entscheidung noch ist, hat das Europaparlament Ende 1998 demonstriert. Im Plenum stand die EU-Richtlinie zur „Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Human-arzneimitteln“ auf der Tagesordnung. Dahinter verbarg sich nichts anderes als eben jene Debatte um die Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen. Der Entwurf, der den Abgeordneten vorlag, wollte dies erlauben. Zwei Änderungsanträge wurden den Parlamentariern dazu vorgelegt: einer des CDU-Abgeordneten Peter Liese, der die Versuche begrenzen, aber unter gewissen Auflagen zulassen wollte, und einer der bündnis-grünen Abgeordnten Hiltrud Breyer, der sich strikt gegen diese Art Forschung wandte. Letzterem wurden eigentlich keine ernsthaften Chancen eingeräumt. Doch das folgende Votum war für viele überrraschend. Das von den Europäern in freier, gleicher und geheimer Wahl bestimmte Parlament sprach sich zwar mit knapper Mehrheit, aber dennoch kategorisch gegen Menschen-versuche aus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hanfried Helmchen/Hans Lauter, Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?, Stuttgart-New York 1995.

  2. Der Nürnberger Kodex, in: Medizin und Gewissen, hrsg. von Stephan Kolb/Horst Seithe/IPPNW, Frankfurt am Main 1998, S. 455.

  3. Vgl. Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte, in: Im Zeitalter der Biomacht. 25 Jahre Gentechnik -eine kritische Bilanz, hrsg. von Michael Emmrich, Frankfurt am Main 1999, S. 465 ff.

  4. Vgl. Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (früher: Bioethik-Konvention), in: Michael Emmrich, Der vermessene Mensch -Aufbruch ins Gen-Zeitalter, Berlin 1997, S. 121 ff.

  5. Albin Eser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. November 1996.

  6. Argumentationspapier aus dem Bundesministerium für Gesundheit, Bonn 1996.

  7. Ebd.

  8. Ebd.

  9. Ebd.

  10. Ebd.

  11. Elmar Doppelfeld, Redemanuskript zum Vortrag beim Presseseminar „Anfang und Ende des menschlichen Lebens“ am 13. März 1997 in Köln.

  12. Ludger Honnefeider, Vortrag „Bioethik im Streit“ bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft am 11. September 1996 in Bonn.

  13. Hanfried Heimchen, Hier ist ein dringender Bedarf, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Febraur 1996.

  14. Ebd.

  15. Ebd.

  16. Ebd.

  17. Bioethik-Konvention, in: M. Emmrich (Anm. 4).

  18. Ebd.

  19. Ebd.

  20. Ebd.

  21. Redemanuskript von Carlos de Sola Llera beim Robert-Schumann-Symposium, Universität Bonn, am 4. Mai 1994.

  22. Die Menschenrechte werden gespalten, die Menschen werden sortiert. Ein Memorandum, hrsg. vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Köln 1997, S. 10 f.

  23. Ebd, S. 27.

  24. Grafenecker Erklärung zur Bioethik des Arbeitskreises zur Erforschung der „Euthanasie“ -Geschichte, Juni 1996.

  25. Ebd.

  26. Ebd.

  27. Jay Katz, The Nazi-Doctors and the Nurembcrg Code, 1992, S. 232.

  28. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zur Vereinbarkeit des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin des Europarates vom 6. Juni 1996 (früher: Bioethik-Konvention) mit den Grundrechten, 7. November 1996, Bonn, Reg. -Nr. WF III-155/96.

  29. Ebd.

  30. Wolfram Höfling, Menschenrechte und Biomedizin, in: Universitas, 51 (1996) 603, S. 854 ff.

  31. Klaus Dörner, Kritische Position, in: Am Beispiel Demenz und Schlaganfall: Forschung mit einwilligungsunfähigen Patienten, Anhörung der Hirnliga e. V. und der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. am 27. November 1995 in Bonn, Schriftenreihe der Hirnliga e. V, Band 2.

  32. Ebd.

  33. Ebd.

  34. Entwurf des Erläuternden Berichts zum Entwurf des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin, Council of Europe, Directorate of Legal Affairs, Strasbourg, September 1996, Rohübersetzung.

  35. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Memorandum „Forschungsfreiheit“, Weinheim 1966. S. 11.

  36. Robert Antretter, Katholische Nachrichtenagentur vom 9. September 1996.

  37. Ders., in: Frankfurter Rundschau vom 30. Januar 1995.

  38. W. Höfling (Anm. 30).

Weitere Inhalte

Michael Emmrich, Dr. phil., geb. 1959; 1981-1988 Studium der Neueren Deutschen Literatur, der Politikwissenschaft und der Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main; seit 1988 Redakteur der Frankfurter Rundschau, zuständig u. a. für bioethische Themen; Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin; 1988 und 1994 ausgezeichnet mit dem Wächterpreis der Deutschen Tagespresse (1994 für die Berichterstattung über die Bioethik-Konvention des Europarates). Veröffentlichungen u. a.: Der vermessene Mensch, Berlin 1997; (Hrsg.) Im Zeitalter der Bio-Macht. 25 Jahre Gentechnik -eine kritische Bilanz, Frankfurt am Main 1999; zahlreiche Beiträge zu bioethischen Fragen in Sammelbänden, Fachzeitschriften und Tageszeitungen.