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Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz | APuZ 16/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 16/1999 Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber? Richter oder Schlichter?. Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz Das Bundesverfassungsgericht und sein Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz

Peter Häberle

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das 1982 vom Verfasser erstmals formulierte, seither nach und nach ausgebaute Programm einer Verfassungslehre als „Kulturwissenschaft“ eröffnet einen vertieften, disziplinübergreifenden und methodenpluralistischen Zugang zur Verfassung des Grundgesetzes. Zunächst werden die methodischen Grundlagen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes vorgestellt und dann exemplarisch die wesentlichen Inhalte und Funktionen verfassungsrechtlicher Verfassungen erläutert: von der Menschenwürde als anthropologischer Prämisse über das Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat bis hin zur Wirkung von Verfassungspräambeln und Ewigkeitsklauseln. In einem zweiten, konkretisierenden Schritt werden die einzelnen Etappen der bundesdeutschen Verfassungsentwicklung seit 1945 bzw. 1949 einschließlich der maßgeblichen Verfahren und der am Entwicklungsprozeß Beteiligten in kulturwissenschaftlicher Sicht dargestellt.

I. Einleitung

„Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ ist ein erstmals 1982 formuliertes und nach und nach ausgebautes Programm Im Gegensatz zur Allgemeinen Staatslehre geht sie von einer in Zeit und Raum vergleichenden Analyse der Verfassungen aus, wobei sie sich von der Einsicht eines R. Smend und A. Arndt leiten läßt, daß es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert. Erarbeitet werden die einzelnen Elemente des Typus Verfassungsstaat unter Einbeziehung von Klein-staaten und Entwicklungsländern. Diese höhere Abstraktionsebene vernachlässigt indes nicht die je individuellen Ausformungen konkreter Beispielsnationen als Materialien, etwa ihres spezifischen kulturellen Erbes, ihrer oft schmerzhaften Erfahrungen, aber auch beflügelnden Hoffnungen. Ist der Verfassungsstaat als Typus eine immer wieder gefährdete, sich aber auch fruchtbar fortentwickelnde kulturelle Leistung par excellence, so geworden nicht zuletzt dank Klassikertexten von Aristoteles bis J. Rawls (1971) und H. Jonas (1979) (vgl. jetzt Art. 20 a GG), von den Federalist Papers in den USA (1787) bis zu Traktaten von Montesquieu (1748) und I. Kant als Verfassungstexten im „weiteren Sinne“, so richtet sich der kulturwissenschaftliche Blick immer zugleich auf die Identität und Individualität der einzelnen Verfassung und der sie lebenden Nation oder nationalen Vielfalt (wie die Schweiz) bzw. die sie ausmachende Kultur. A. Gehlens „Zurück zur Kultur“ ist ein Leitmotiv, das die Methoden und Inhalte mitsteuert und die Verfassungslehre zur juristischen Text-und Kulturwissenschaft ebenso macht wie die These, es gebe nur kulturelle Freiheit: Freiheit aus und dank Kultur!

Der Beitrag konzentriert sich wegen des Jubiläums auf das Grundgesetz (GG). Solche feierliche Vergegenwärtigung einer gelungenen und stets neu in der Bewährungsprobe stehenden Verfassung trägt ihrerseits zur Verfassungskultur bei, so wenig sich die Staatsrechtslehre als Wissenschaft und Literatur überschätzen darf. Sie ist nur eine Stimme im Ganzen der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. Ermutigen darf, daß das Kulturthema wie kaum jemals zuvor 1998 Gegenstand des Bundestagswahlkampfes war (Stichwort: Kulturbeauftragter des Bundes). Mitzudenken sind die den föderalistischen Rahmen der „Werkstatt Bundesstaat“ original und vital ausfüllenden elf, jetzt 16 Länderverfassungen, ebenso wie die rasante Europäisierung der nationalen Verfassungen, Teilrechtsordnungen und Wissenschaftlergemeinschaften (Stichwort: „europäischer Jurist“). Die Entwicklung von „gemeineuropäischem Verfassungsrecht“ öffnet dem GG neue Horizonte und Wirkungsmöglichkeiten, relativiert es aber auch, insofern klassische Staatlichkeitselemente wie die Währungshoheit, die höchste „letzte“ nationale Gerichtsbarkeit, das Staatsgebiet bzw. die Staatsgrenzen teils wegfallen, teils umgewandelt werden (vgl. auch die neue „Unionsbürgerschaft“) und der europäische Verfassungsraum durch ein Ensemble von Teilverfassungen buchstäblich „wachsend“ konstituiert wird.

II. Das Programm einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft

1. Methodenfragen

Die Verfassungslehre als „Kulturwissenschaft“ zu etablieren verlangt interdisziplinäre Sensibilität und spezifische Wege, das Problem der Kultur aufzuschlüsseln. Methoden und Gegenstand bestimmen sich dabei wechselseitig. Die Unterscheidung in „Hochkultur“ im Sinne des „Wahren, Guten und Schönen“, „Volkskultur“ (auch Minderheiten-kultur nach Art Schweizer Kantonsverfassungen) sowie „Alternativ “ bzw. Subkultur (z. B. die jetzt „klassischen“ Beatles in ihrer Frühzeit) gibt eine erste Hilfestellung. Erweiterungen über den traditionellen Aspekt hinaus in Richtung auf J. Beuys’ Motto „Jeder Mensch ein Künstler“ (freilich ist nicht jeder ein Beuys!) sind speziell im Bereich der Kunst im Konzept des offenen Kunstbegriffs bei Art. 5 Abs. 3 GG (BVerfGE 67, 213 [223 ff. ]) präsent, flankiert von einem sich bei der Wahrheitssuche als ewig unterwegs begreifenden Wissenschaftsverständnis (vgl. BVerfGE 35, 79 [113]) sowie von der Toleranz in Glaubensdingen (BVerfGE 41, 29 [51 f., 63]). Die Staatsrechtslehre hat rechtzeitig den Gedanken von der „ideellen Reproduktion der Gesellschaft“ beigesteuert Abs. 3 GG (BVerfGE 67, 213 [223 ff. ]) präsent, flankiert von einem sich bei der Wahrheitssuche als ewig unterwegs begreifenden Wissenschaftsverständnis (vgl. BVerfGE 35, 79 [113]) sowie von der Toleranz in Glaubensdingen (BVerfGE 41, 29 [51 f., 63]). Die Staatsrechtslehre hat rechtzeitig den Gedanken von der „ideellen Reproduktion der Gesellschaft“ beigesteuert 3, zuvor das offene, pluralistische Kulturkonzept gewagt . Andere Disziplinen haben Wege bereitet: so in Gestalt des mittlerweile Allgemeingut gewordenen Begriffs der „politischen Kultur“. Weitere Schlüsselbegriffe für kulturwissenschaftliches Arbeiten folgten: die „Grundrechtskultur“, die „Verfassungskultur“, das „Textstufenparadigma“ und der Gedanke, die Inhalte der Verfassungstexte seien erst durch ihre kulturellen Kontexte zu erschließen. Von hier aus eröffnet sich der Weg zur Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung bzw. „fünfter“ Auslegungsmethode und zur „europäischen Rechtskultur“ 5. Mit all dem wird auf der Basis verschütteter Ansätze schon der Weimarer Zeit (H. Heller, G. Holstein, R. Smend, zuvor M. Weber) in Abgrenzung zum Positivismus einerseits, zu bloß sozialwissenschaftlichen Ansätzen andererseits die Verfassungslehre mit kulturwissenschaftlichen Methoden ausgestattet, was viele Horizonte eröffnet: insonderheit die Wirkweise von Klassikertexten und Rezeptionsprozessen, die Unverzichtbarkeit grundierender Grundwerte und eines inspirierenden „Utopienquantums“ des Verfassungsstaates, die Katalysatorfunktion aller Künste und vieler Religionen, die Ergänzung des bekannten Verfassungsverständnisses um das spezifisch Kulturwissenschaftliche und die Dimension des (Erfahrungen transportierenden) kulturellen Generationenvertrages. Sogar „Wahrheitsprobleme“ werden neben den Gerechtigkeitsmaximen zu einer relevanten Fragestellung, die vorläufige Teil-antworten ermöglicht (erfolgreich etwa in Gestalt der Wahrheitskommissionen in Südafrika, El Salvador und Guatemala)

In kulturwissenschaftlicher Sicht ist die Verfassung nicht nur juristisches Regelwerk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-) Produktion und Rezeption sowie Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, „Erfahrungen“, „Erlebnissen“, sogar „Weisheiten“. Die Verfassung ist mit einem auf Goethe bezogenen Wort H. Hellers „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Andere Verfassungsverständnisse behalten ihr relatives Recht: etwa R. Smends „Anregung und Schranke“ oder U. Scheuners „Norm und Aufgabe“, wobei die Nationen ihre Akzente unterschiedlich setzen mögen (man denke etwa an den spezifischen Nation-und Republikbegriff Frankreichs). Das „gemischte Verfassungsverständnis“ vermag die verschiedenen Aspekte in Zeit und Raum miteinander zu verbinden. Am Verfassungsstaat als kultureller Leistung par excellence arbeiten alte und neue Klassikertexte mit: stimulierend, inspirierend und konservierend. Für das GG „gelten“ in diesem Sinne Texte von H. Heller und C. Schmid („sozialer Rechtsstaat“), zuletzt das Prinzip Verantwortung von H. Jonas (via Art. 20 a). Sogar Nationalhymnen können als integrierende Klassikertexte wirken: so im Herbst 1996 in Italien (Mailand) Verdis „Nabucco“ (Gefangenenchor) als Absage an U. Bossis „Padanien“.

2. Zehn inhaltliche Beispielsfelder

Zwar will der kulturwissenschaftliche Ansatz viele Inhalte und Funktionen einzelner Prinzipien der verfassungsstaatlichen Verfassung erklären; doch drängen sich schon prima facie besondere Arbeitsfelder auf, die hier am Beispielsmaterial des GG und deutscher Landesverfassungen illustriert seien: 1. Die Menschenwürde ist die kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, sie hat die pluralistische Demokratie zur „organisatorischen Konsequenz“. Anders gesagt: Grundrechtliche Menschenwürde und die Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung, z. B. in Gestalt der Schweizer Volksrechte oder Brandenburgs „Politischer Gestaltungsrechte“, gehören zusammen. Die Würde des Menschen, früh in der UN-Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum Klassiker-text geronnen, ist in fast allen Verfassungen heute der geschriebene Grundwert, aus dem vieles folgt: vom Verbot der Folter und des Lügendetektors bis zum Schutz der Alten und Behinderten. Die von G. Dürig (1956) und dem BVerfG justitiabel gemachte „Objektformel“ I. Kants ist auf der Theorieebene durch kulturwissenschaftliche Identitätskonzepte anzureichern Dabei verknüpfen sich universale und nach Kultur bzw. Rechtskreisen variable partikulare Inhalte zu einem oft erst im Fallmaterial auslotbaren Ganzen, in dem der kulturelle Wandel ebenso relevant wird wie der soziokulturelle Du-Bezug. Die „Leistung“ zu einem Kriterium gemacht zu haben, gehört zu den fruchtbaren Irrtümern der Systemtheorie 9.

2. „Freiheit aus Kultur“ ist eine Ausprägung der Würde des Menschen. Es gibt keine „natürliche Freiheit“ vor der Kultur, so wichtig die Fiktion vom Beginn der Freiheit mit der Geburt in vielen Menschenrechtserklärungen bleibt: Freiheit „erfüllt“ sich erst in, aus und dank der Kultur. Sie „wird“ erst in komplexen kulturellen Sozialisationsprozessen jenseits des klassischen „Naturzustandes“. Kulturelle Grundrechte sind triadisch die Freiheit von Religion, Kunst und Wissenschaft, im Goethe-Diktum tiefgründig verknüpft: „Wer Wissenschaft und Kunst hat; hat Religion; wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion.“ Der Verfassungsstaat ist heute das Forum für ein „Welt-bürgertum aus Kunst und Kultur“ einerseits, das Menschenrecht auf Heimat im kleinen (wie der Region) andererseits.

3. Erziehungsziele und Orientierungswerte gewinnen aus dieser Sicht ihren verfassungsstaatlichen Stellenwert. Erziehung, von Hegel als „zweite Geburt“ des Menschen eingestuft, ist heute vor allem Erziehung zu den Menschenrechten, wie UNESCO-Texte und manche Entwicklungsländerverfassungen (z. B. Art. 72 Verf. Guatemala von 1985) dekretieren. Die deutschen Länderverfassungen haben im Gefolge des Pionierartikels 148 Weimarer Reichsverfassung (WRV) einen gemeindeutschen Kanon ausdifferenziert, der den Zusammenhang von Kultur, Freiheit und Verfassungsstaat beleuchtet. Erinnert sei an Bayerns „Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen“, „Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne“, Brandenburgs „Anerkennung der Demokratie und Freiheit“ sowie „Solidarität im Zusammenleben der Kulturen der Völker“ oder Sachsen-Anhalts Verantwortung „gegenüber künftigen Generatio­ nen“. Die Orientierungswerte meinen die Inhalte des unverzichtbaren Grundkonsenses eines Verfassungsstaates, im GG z. B.den Föderalismus; im übrigen finden sie sich in Grundnormen der Ethik, in Religionen, aber auch in (variablen) Parteiprogrammen und Vereinszielen. Sie beeinflussen die offene Gesellschaft und verhindern, daß der einzelne buchstäblich ins Bodenlose stürzt.

4. „Staatssymbole“ wie Flaggen und Hymnen beinhalten im Verfassungsstaat einen dem (instrumentalen) Staatsverständnis entsprechenden sekundären Stellenwert (vgl. Art. 1 Abs. 1 HCHE von 1948: „Der Staat ist um des Menschen willen da“, nicht umgekehrt). Die Feiertage gehören zu den „irrationalen Konsensquellen“ eines Gemeinwesens. Sie berücksichtigen, daß der Mensch und Bürger ein Wesen mit ratio und emotio ist. Die Lehre von den drei Staatselementen (G. Jellinek: Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk) bedarf der Revision: Kultur ist das „vierte“, wenn nicht sogar erste sogenannte „Staatselement“. Wie prekär und unsicher in Deutschland hier manches ist, zeigt der hannoversche Streit um das Deutschland-lied im Herbst 1998 (musikalische „Anreicherung“ um Teile der DDR-Hymne) oder die Schwierigkeit, einen den USA oder Frankreich vergleichbaren Verfassungs-bzw. nationalen Feiertag im öffentlichen Bewußtsein zu „verankern“.

5. Das dank der Kulturhoheit in den Länderverfassungen sich vielfältig weiterentwickelnde Kulturverfassungsrecht ist für kulturwissenschaftliche Arbeitsmethoden paradigmatisch: Die Prinzipien wie offenes Kulturkonzept, kultureller Trägerpluralismus (z. B. zwischen Elternhaus, Schule, Universitäten, Kirchen und Verbänden, öffentlich-rechtlichem und privatem Fernsehen) sind ebenso exemplarisch wie die Teilgebiete vom Schul-, Bildungs-und Medienrecht über den Denkmal-und Kulturgüterschutz bis zum sogenannten „Staats-kirchenrecht“ (besser: „Religionsverfassungsrecht“), das in Europa vor besonderen Herausforderungen steht und über Art. 151 Amsterdam („Kultur in den Mitgliedstaaten“) in seinen Grundzügen bewahrt werden kann. Der Verfassungsschutz der Sorben (Brandenburg und Sachsen) gehört ebenso zum Kulturverfassungsrecht wie die Sprachenartikel in der Schweiz und der Minderheitenschutz in den Baltischen Staaten oder in Ungarn (Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“). legitimiert alle Bundesstaatlichkeit in der Tiefe eines Volkes. Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit. Soweit sich heute klassische Einheitsstaaten zum Regionalismus hin entwickeln (Großbritannien, Frankreich, vorbildlich schon Spanien), wird eine kulturwissenschaftlich arbeitende Regionalismuslehre erforderlich, die auf ihre „Federalist Papers“ freilich noch warten muß

7. Nicht nur ein „Annex“ ist das rasch wachsende Umweltverfassungsrecht. Zwar Teil der mit der Kultur in variantenreicher Spannung stehenden „Natur“ (vgl. Goethes „Natur und Kunst...“), präsentiert es sich als vom Menschen mitgestaltete Umwelt doch auch als ein Stück Kultur. Geschützt wird die Umwelt nicht zuletzt auch um des Menschen willen (anthropozentrischer Ansatz) Der Verfassungsstaat hat über den herkömmlichen „Naturschutz“ hinausgehend jüngst viele Formen des Umweltschutzes herausgebildet: von der Staatsaufgabe Umweltschutz über das Erziehungsziel bis zur „sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft“ (Verf. Thüringen) und zur Grundpflicht von jedermann, dem Umweltinformationsrecht (Verf. Sachsen) und sogar einem Umweltgrundrecht (Verf. Türkei, 1982). Mag es an einem „grünen Kant“ noch fehlen: H. Jonas („Prinzip Verantwortung“ hat als moderner Klassikertext die philosophischen Grundlagen für das gelegt, was an Umweltverfassungsrecht heranwächst und ins Globale zu erweitern ist (Umweltvölkerrecht, Klimakonvention, Artenschutzabkommen, Weltgesellschaftsvertrag etc.).

8. Die Wiederbelebung der Republik-Klausel (Art. 20, 28 GG) läßt sich nur aus kulturellen Wachstums-und Differenzierungsvorgängen erklären. Lange Zeit mit G. Jellinek nur negativ/formal als „Nicht-Monarchie“ definiert, gewann sie Anfang der achtziger Jahre in Deutschland inhaltliche, auf Demokratie, Freiheit und Gemeinwohl bezogene Aspekte zurück die etwa im deutschen Vormärz vor 1848 bzw. in Ciceronischer Tradition („res publica res populi“) sowie im französischen Begriff der „libertes publiques“ virulent geblieben waren. In Spanien hat sie ihre Bewährungsprobe bestanden, insofern das Testament Picassos in Sachen „Guernica“ („Rückkehr republikanischer Verhältnisse“) trotz der monarchischen Staatsform 1981 als erfüllt angesehen wurde. Juan Carlos I. wird heute in Iberoamerika als „König der Republik Spanien“ begrüßt.

9. Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien nach dem Beispiel Norwegens (1814), von Art. 79 Abs. 3 GG und seitdem vieler neuer Verfassungen (z. B. Portugal, 1976, und Angola, 1992) sind in ihren Möglichkeiten und Grenzen letztlich aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu bestimmen Ein in seiner politischen Kultur so gefestigtes Land wie die Schweiz hat sie nicht, braucht sie auch nicht; (z. T ungeschrieben) mental als Demokratie, Bundesstaat, Grundrechtsgemeinschaft und Sprachenvielfalt gelebt und immer neu als Erziehungsziel und Orientierungswert praktiziert, bedarf es in der Schweiz offenkundig keiner verfassungstextlich zementierten Regelung. Die wesentlichen Inhalte der Verfassungsthemen in Kantonen und Bund sind von den Bürgern so verinnerlicht, daß die traditionelle Rechtskultur die sicherste „Ewigkeitsklausel“ bildet. Ganz anders Deutschland mit seinen in einem halben Jahrhundert gleich zwei totalitären Staaten.

10. Am Anfang verfassungsstaatlicher Verfassungen stehen als Grundlegung und Bekenntnis die Präambeln. Sprachlich formal können sie wie im GG „Textereignis“ sein. Kulturwissenschaftlich Prologen oder Ouvertüren und Präludien vergleichbar, ist ihr Gehalt oft in bürgernaher Feiertagssprache formuliert, eine Art „Verfassung in der Verfassung“. Sie konzentrieren Wesentliches (z. B. Sachsen-Anhalt: „Freiheit und Würde“, „Grundlagen für ein soziales und gerechtes Gemeinschaftsleben“), verarbeiten Geschichte (z. B. Sachsen: „leidvolle Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft“) und entwerfen Zukunftshoffnungen, ja Utopien (wie bis 1990 das GG für die deutsche Einigung) oder Aufgaben (Bayern: Sicherung der „Menschlichkeit und des Rechts“). Sie wollen die Gefühle des Bürgers „ansprechen“, ihn für das Werk des konkreten Verfassungsstaates „gewinnen“. Verfassung als Kultur zu verstehen hat in den Präambeln einen optimalen Gegenstand Die Grundlagenfunktion der Präambel integriert viele oft getrennte Aspekte: das Aufgabendenken, das Programmatische, die juristische Geltung, die symbolische Bedeutung, das psychologische Moment, die integrierende Wirkung und die kulturelle Tiefendimension. Die Erfolgsgeschichte der Präambel des deutschen GG wird zu Recht oft gerühmt. Ein juristischer Grund hierfür war das Grundlagenvertragsurteil von BVerfGE 36, 1 (15 ff., 24 ff.; s. auch E 77, 137 [148 ff. ]), ein letzter Akt die Wiedervereinigung. Die „Europafreundlichkeit“ eröffnet zusammen mit Art. 23 n. F. GG neue Horizonte.

III. 50 Jahre Grundgesetz kultur-wissenschaftlich betrachtet

1. Verfahren und Beteiligte, die Skala der institutioneilen Formen und informellen Foren für Wandel und Entwicklung, „Zeit und Verfassungskultur“

Zu den großen Leistungen der Entwicklungsgeschichte des Verfassungsstaates" gehört sein differenziertes Instrumentarium, das den „Zeitfaktor“ verarbeitet. Was immer die „Zeit“ ist: der Verfassungsstaat lebt auf der „Zeitachse“, er richtet „Zeitfenster“ ein, um der Dialektik von Statik und Dynamik, Wandel und Bewahrung im Sinne seiner Bewährung gerecht zu werden. Einschlägig wird folgende Typologie bzw. Skala zum Thema „Zeit und Verfassungskultur“ formuliert: -Totalrevisionen sind die stärkste Form der Verarbeitung von Wandel. Die Schweiz hat auf Kantonsebene für diese intensivste Form der „evolutionären Verfassunggebung“ schon klassische Formen und Verfahren entwickelt. Ein Regelbestand trifft Aussagen über die Ingangsetzung, die Beteiligten, insbesondere das Volk, und die Verfahren im einzelnen -Die Verfassungsänderung („Teilrevision“) ist die nächstschwächere Form. Voraussetzungen, Formen, Verfahren und Beteiligte lassen sich vergleichend auf gewisse Grundstrukturen bringen. Im Bundesstaat gibt es unverzichtbare Varianten Ist die „Verfassungsänderung“ Änderung des Verfassungstextes, so kennen wir den „Verfassungswandel“, die Änderung ohne Textänderung. Von G. Jellinek früh beschrieben, ist sie ebenfalls ein unentbehrliches Medium der Fortbildung der Verfassung. -Gesetzesnovellen bilden die nächste Form; insbesondere Experimentiergesetze mit Erfahrungsklauseln haben sich in Deutschland in den siebziger Jahren z. B. für die Hochschulen bzw.

die Juristenausbildung entwickelt und kehren heute etwa im Kommunalrecht wieder. -Generalklauseln in formellen Parlamentsgesetzen sind ein unentbehrliches „Zeitfenster“ für den Werte-und Wirklichkeitswandel. Man denke vor allem an die Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) („Treu und Glauben“, „Sittengesetz“ etc.), die den „Richter als Gesetzgeber“ (A. Meyer-Hayoz) wirken lassen und sensible Fortschreibungen eröffnen. -Als „feinstes“ Verfahren sei das verfassungsrichterliche Sondervotum z. B. beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erwähnt. Es gibt Beispiele für große Sondervoten (SV), die buchstäblich Verfassungsgeschichte geschrieben haben, indem sie später von der Mehrheit im BVerfG übernommen wurden (schon klassisch SV Rupp von Brünneck in Sachen sozial-rechtliche Ansprüche als Eigentum i. S. von Art. 14 GG, vgl. E 32, 129). Bei allen Verfahren sind die Beteiligten in je eigener Weise definiert: Das reicht formalisiert vom Volk als „pouvoir constituant“, nur in bezug auf das deutsche GG 1949 und dann (leider) wieder 1990 ausgeschaltet, über Bundestag und Bundesrat bei Verfassungsänderungen (Art. 79 GG), über die parlamentarischen Gremien bei einfachen Gesetzen bis zum Richter bei Generalklauseln und dem BVerfG allgemein. Informell ist die Wissenschaftlergemeinschaft beteiligt, sei es durch „Verfassungslehre als Literatur“, sei es als Ex-post-Rezensent oder Ex-ante-Gutachter. Nicht zuletzt ist die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ engagiert. -Eigens erwähnt seien Verfassungsreformkommissionen: speziellere etwa bei der Neugliederung nach Art. 29 GG (ohne praktische Konsequenzen: „Luther-Kommission“ 1955), ebenfalls bei der Bestimmung von Staatszielen als Sachverständigenkommission, 1983 („Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge“), zuvor schon allgemeiner als Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages in den siebziger Jahren in der damaligen DDR der Ostberliner „Runde Tisch“ und zuletzt im vereinten Deutschland die sogenannte „Gemeinsame Verfassungskommission“, mit 64 Mitgliedern Ausdruck der „höheren Mathematik“ des deutschen Föderalismus (2 X 16 Ländervertreter von Bundesrat und Mitgliedern des Bundestages). Es zeugt von der spezifischen Verfassungskultur der Schweiz, daß es dort eine Tradition von privaten Verfassungsentwürfen gibt, etwa von den Gelehrten M. Imboden bzw. A. Kölz/J. P. Müller. Auf Länderebene kam es zu Verfassungsreformkommissionen, z. B. in den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg und jüngst in Rheinland-Pfalz.

Die Verfassungsgeschichte unserer Republik läßt sich formal an den erwähnten Wegen, Verfahren und Beteiligten, inhaltlich an den hier behandelten Themen buchstäblich „ablesen“: von der nicht zustandegekommenen „großen“ GG-Reform im Zuge der deutschen Einigung (1990) über die 46 unterschiedlich wichtigen Verfassungsänderungen (gescheiterte, wie der Minderheitenschutz, seien eigens erwähnt), von großen Reformgesetzen des Parlaments (z. B. das Mitbestimmungsgesetz von 1976 oder die dynamische Rente von 1957, zuletzt die Pflegeversicherung von 1996) bis hin zu Grundsatzentscheidungen des BVerfG, die materiell der Verfassunggebung nahe kommen, jedenfalls die Verfassung im materiellen Sinne schöpferisch fortentwickelt haben: z. B. das Lüth-Urteil (E 7, 198 aus dem Jahre 1958), das erste Fernsehurteil (E 12, 205 von 1961), das Volkszählungsurteil mit dem neu kreierten Grundrecht auf informationeile Selbstbestimmung (E 65, 1 von 1983) oder das Mitbestimmungsurteil (E 50, 290 von 1979). Das BVerfG hat, wie kaum ein anderes Verfassungsgericht in Europa mit weiten Zuständigkeiten ausgestattet, am Grundkonsens Deutschlands mitgearbeitet und im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung viel befriedende Prätorik in klugem Wechselspiel von „judicial activism“ (z. B. in Sachen Fünf-Prozent-Klausel E 82, 322) und „judicial selfrestraint“ (im Bodenreform-Urteil E 84, 90) geleistet. Es hat den Gesellschaftsvertrag „fortgeschrieben“, und erst jüngst scheint es in eine „Krise“ geraten zu sein (Kruzifix-Beschluß: E 93, 1; „Soldaten sind Mörder“: BVerfGE 93, 266; Sitzblockaden: E 92, l) Die Tradition der Sondervoten als „Alternativjudikatur“ ist ein spezifischer Beleg für das pluralistische offene und öffentliche Verfassungsverständnis.

2. Etappen der Verfassungsentwicklung -zeitliche Phasen

Die Etappen der Verfassungsentwicklung seien im folgenden aus einer zeitlichen und einer inhaltlichen Perspektive skizziert; die zeitliche unter dem Vorbehalt, der allen „Periodisierungen“ gegenüber angebracht ist: Oft sind die inneren, „stillen“ Wandlungen und die „Inkubationszeiten“ verfassungsrechtlicher Entwicklungen nicht an der äußeren „Ereignisgeschichte“ festzumachen.

Die „Vorgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland (1945 bis 1949)

Der Begriff „Vorgeschichte“ hat sich eingebürgert Verfassungsmitgestaltende Kräfte auf der Tabula rasa der totalen Kapitulation vom Mai 1945 wuchsen früh in Gestalt der Gemeinden heran, die „Daseinsvorsorge“ fürs unmittelbare Überleben zu leisten hatten. Moralisch einigermaßen „unbeschädigt“ waren nur die beiden christlichen Großkirchen geblieben, was dazu geführt hat, daß man ihnen in Kirchenverträgen und in Konkordaten einen spezifischen Öffentlichkeitsauftrag auch textlich bescheinigt hat, wie er sich in der werdenden (Verfassungs-) Wirklichkeit entwikkelt hatte Im übrigen waren die (westdeutschen) Länder die ersten Verfassunggeber auf ihrem Terrain: Bayern und Hessen fast gleichzeitig (im Dezember 1946) mit um die beste Verfassungspolitik konkurrierenden Verfassungen. Auch „Bindestrichländer“ wie Nordrhein-Westfalen haben ein „Wir-Gefühl“ entwickelt. Die rasche Konstituierung der Länder nach 1945, ihr Erlaß von „Vollverfassungen“ (z. B. Rheinland-Pfalz 1947) kann in ihrer Bedeutung für den Föderalismus bzw. für das GG kaum überschätzt werden Die Vorgeschichte des GG akzentuiert sich in den Stichworten: Verfassungsentwurf Herrenchiemsee (1948), Parlamentarischer Rat in Bonn und Verabschiedung des GG im Mai 1949, Zustimmung der Länderparlamente bei Stimmenthaltung Bayerns (1949) ohne Zustimmung des (west) deut-schen Volkes sowie unterschiedlich stark bewerteter Einfluß der drei westlichen Besatzungsmächte

Das Grundgesetz: 1949 bis 1968

Diese Phase läßt sich wie folgt kennzeichnen Weitergeltung alten Rechts, „soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht“ (Art. 123 Abs. 1 GG), wobei das BVerfG in seiner umstrittenen Entscheidung von 1957 die Fortgeltung des Reichskonkordats bejaht, die Bindung der Landes-gesetzgebung jedoch verneint hat (E 6, 309 [340 ff. ]); im Bereich des öffentlichen Dienstes wurde Herkömmliches rezipiert (Art. 33 Abs. 5 GG; s. aber auch Art. 131 GG, dazu BVerfGE 3, 58); auf dem Felde des Staatskirchenrechts wurde das Weimarer Kompromißsystem der sogenannten „hinkenden Trennung“ zwischen Staat und Kirchen übernommen (Art. 140 GG). Einzelne Artikel wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Freizügigkeit wurden in Gestalt von Übergangsvorschriften verzögert (Art. 117 GG), und durch „verfassungskonforme Auslegung“ wurde zusätzlich Kontinuität geschaffen. Ein weiteres Stichwort für die Bewältigung der Nachkriegssituation durch den Verfassunggeber liefert die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen, die Finanzierung der Kriegsfolgelasten und die Durchführung des Lastenausgleichs (Art. 119 bis 120 a GG). In einer beispiellosen Gemeinschaftsleistung und auch individuellen Opferbereitschaft, die sich der Westen vielleicht auch im Zuge der deutschen Einigung 1990 hätte zumuten sollen, wurden fast neun Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten integriert. Durch relativ hohe Wahlbeteiligung bei den ersten Bundestagswahlen (1949/1953/1957), die Entwicklung einer spezifischen Stabilität des parlamentarischen Regierungssystems und die Herausbildung der „Kanzlerdemokratie“ unter K. Adenauer wurde der Text des GG auch im politischen Bereich mit Leben erfüllt. Nachdem der „Südweststaat“ 1951 durch Zusammenschluß der Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern durch Volksentscheid gebilligt worden war (Sonderregelung des Art. 118 GG, dazu BVerfGE 1, 14; s. aber auch E 5, 34) und später die Bevölkerung des Saarlandes das „Saarstatut“ abgelehnt hatte, so daß 1956 der Beitritt nach Art. 23 S. 2 a. F. GG möglich wurde, begann eine bewegte Epoche: 1954 der Beschluß zur Wiederaufrüstung der Bundesrepublik mit der Folge der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (vgl. Art. 12 a, 17 a, 45 a, 45 b GG etc.) im Jahre 1956, wobei das Verbot der KPD seitens des BVerfG (E 5, 85 ff.) ins Gesamtbild gehört. Schritt für Schritt wurde das Besatzungsrecht abgebaut (1955: Inkrafttreten des Deutschlandvertrages von 1952) und die „Westintegration“ der Bundesrepublik eingeleitet. Art. 24 GG (Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, kollektives Sicherheitssystem) eröffnete die Rückgewinnung der begrenzten Souveränität im Wege der Westintegration: Beitritt zur Nato und WEU gehören ebenso hierher wie die Vollmitgliedschaft im Europarat (1951) und die damit verbundene Ratifizierung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bzw.der Brückenschlag zu ihrer wachsenden „Grundrechtskultur“. Die „Römischen Verträge“ der sechs Gründerländer der EWG (1957), die man mindestens heute auch als Anknüpfung an die von Rom ausgehende europäische Rechtskultur „lesen“ kann, setzten kühn den Prozeß der europäischen Integration in Gang. Das Ausgreifen auf Europa hat gewiß zur Legitimation der jungen Republik beigetragen.

Eine schwere Bewährungsprobe hatte das GG 1968 vor sich. Sie war wohl nur durch die Große Koalition (1966-1969) zu bestehen. 1968 wurden die GG-Änderungen zur Notstandsverfassung (z. B. Art. 53 GG) in einem Klima großer Polarisierung in der öffentlichen Meinung mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat (Art. 79 Abs. 2 GG) verabschiedet; das neu aufgenommene Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4 GG) sollte die Gewerkschaften und „linke Kreise“ beruhigen. Die viele westliche Demokratien erfassende „ 68-Revolution“ mit ihren zum Teil militanten Erscheinungsformen „Außerparlamentarischer Opposition“ und dem Aufkommen neomarxistischer Strömungen („Marsch durch die Institutionen“) trug die Kontroversen bis in die deutschen Universitäten hinein, die im Grunde vom BVerfG „gerettet“ wurden (Hochschulurteil: E 35, 78: Sicherung der Freiheit der Wissenschaft gemäß Art. 5 Abs. 3 GG). In der Zeit der Großen Koalition wurden überdies GG-Änderungen zur Reform der Finanzverfassung und Einrichtung der „Gemeinschaftsaufgaben“ verabschiedet (vgl. z. B. Art. 91a und b, 104 a GG), womit ein Stück „kooperativer Föderalismus“ zum Verfassungstext „gerann“.Das Grundgesetz: 1969 bis 1982

Gewiß, das GG blieb für alle politischen Entwicklungen immer die „Rahmenordnung“. Indes veränderte sich dieser Rahmen schrittweise bzw. punktuell durch formelle Verfassungsnovellen bzw. durch verfassungsnahe Wandlungen. Einen Einschnitt bedeutete die Wahl W. Brandts zum Bundeskanzler im Herbst 1969, was zum Teil als „Machtwechsel“ gefeiert wurde (sein Motto: „Mehr Demokratie wagen“). Eröffnet wurde damals die „neue Ostpolitik“ (1970-1973), mit den Etappen der Verabschiedung der Ostverträge (mit der UdSSR und Polen: 1972) und des „Grundlagenvertrages“ mit der DDR (1972), der vom BVerfG (E 36, 1) gebilligt wurde, wobei es aber ebenfalls einstimmig zugleich den Wiedervereinigungsauftrag aus der Präambel und Art. 146 a. F. GG als rechtliches Gebot bekräftigte. Diese Entscheidung war wahrlich ein „Verfassungsurteil“. Das Grundgesetz: 1982 bis 1989

Dieser Zeitraum umfaßt zu Beginn den Sturz des Bundeskanzlers H. Schmidt durch H. Kohl auf dem Weg des erstmalig erfolgreichen „konstruktiven Mißtrauensvotums“ (Art. 67 GG). In den Augen des GG ist es ein „normaler“ Weg. Man wollte aus den negativen Erfahrungen der Weimarer Zeit lernen. Es kam auf umstrittenen Wegen 1983 zu Neuwahlen (vgl. BVerfGE 62, 1). Überhaupt ist in mancher Hinsicht das GG als „Gegenverfassung“ zu Weimar konzipiert worden. Stichworte sind die „wehrhafte Demokratie“ nach Art. 18, 21 Abs. 2 GG, die Aufwertung der Grundrechte (z. B. Art. 1 Abs. 3 GG) und die enorme Kompetenzfülle des BVerfG. Die Väter und Mütter des GG haben bei ihrem Werk bewußt „mit Weimar argumentiert“. Verfassungstheoretisch läßt sich dies als „erfahrungswissenschaftlicher Ansatz“ kennzeichnen.

Das Grundgesetz als Verfassung der vereinten Bundesrepublik Deutschland: 1990 bis heute Der Fall der Berliner Mauer (9. November 1989), zuvor die Ungarn zu verdankende Grenzöffnung, der u. a. durch das Wort „Wir sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ eingeleitete, durch die „Bürgerbewegungen“ in Ostdeutschland bewirkte unblutige Kollaps des SED-Regimes bzw. ihres „vormundschaftlichen Staates“ hat Entwicklungen eröffnet, die uns Deutsche überraschten, aber auch bis heute beglücken. Die (Welt-) Geschichte hatte sich im „annus mirabilis 1989“ fast atemlos beschleunigt. Im Vormärz 1990 kam es in der „Noch-DDR“ zu ersten freien Wahlen, im Juni 1990 trat der Vertrag über eine Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion in Kraft und am 23. August 1990 erklärte die Volkskammer der DDR den Beitritt nach Art. 23 S. 2 a. F. GG. Am 29. September 1990 trat der Einigungsvertrag in Kraft, nachdem kurz zuvor der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ unterzeichnet worden war. Der 3. Oktober wurde als Tag der Deutschen Einheit gefeiert, er löste den 17. Juni als Feiertag zur Erinnerung an den blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstand in der DDR von 1953 ab. Und am 2. Dezember kam es zu ersten gesamtdeutschen und Gesamtberliner Wahlen.

In der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit gab es im „Vormärz 1990“ heftige Kontroversen. Durchgesetzt hat sich unter Führung von Bundeskanzler H. Kohl der „Königsweg“ des Beitritts nach Art. 23 S. 2 GG. Dafür sprach wohl der Zeitdruck. Die „Stunde“ der Einigung war vielleicht nicht notwendig die „Stunde“ einer neuen Verfassung, auch wenn man auf der Basis des „bewährten“ GG hätte arbeiten können und die Weimarer Verfassung seinerzeit in wenigen Monaten gelungen war. Der Preis ist bekannt. Der Einigungsvertrag von 1990 hatte bei allem Respekt vor seinen Strukturen, auch manche Defizite, zu kurz waren vielleicht manche Übergangsfristen, und die „innere Vereinigung“ ist nicht vollendet. Auch hätte dem GG als Verfassung des wiedervereinten Deutschland ein Referendum „gutgetan“.

IV. Etappen der Verfassungsentwicklung in kulturwissenschaftlicher Sicht

1. Die Entwicklung der bundesdeutschen „Grundrechtskultur“

Intensive und extensive Wachstumsprozesse des GG geschahen von Anfang an auf dem Felde der Grundrechte. Sie sind heute, zusammen mit dem Rechtsstaatsprinzip, der Deutschen liebstes Kind, was sich nicht nur an der Beliebtheit der „Verfassungsbeschwerde“ zeigt (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG). Vorbereitet von G. Dürigs Lehre vom „Wertsystem der Grundrechte“, hat das BVerfG nach und nach fast alle wichtigen Einzelgrundrechte wie Menschenwürde und Gleichheit (Art. 1 bzw. 3 GG), aber auch mehr als bloße Fragmente zu einem „allgemeinen Teil“ der Grundrechte entwickelt. Es gibt eine spezifisch deutsche „Grund­ rechtskultur“, mit gelegentlichen Übertreibungen (nicht frei davon: E 65, 1: Volkszählung).

2. Der Ausbau des Sozialstaatsprinzips

Alle Staatsfunktionen waren am Ausbau des Sozialstaatsprinzips (Art. 20, 28 GG) beteiligt: das ganze Volk bei der Aufnahme der Millionen von Flüchtlingen nach dem Kriege; der parlamentarische Gesetzgeber z. B. bei der Kriegsfolgeregelung als Teil eines weitgreifenden Sozialsystems, das schon unter Bismarck begonnen hatte, der Schaffung des Lastenausgleichs, der „dynamischen Rente“ unter K. Adenauer (1957); das BVerwG in Berlin, insofern es (BVerwGE 1, 159) einen ein-klagbaren Anspruch auf Fürsorge, d. h. materielles Existenzminimum, anerkannt hat; das BVerfG durch schrittweise Konturierung des Sozialstaatsprinzips (z. B. E 40, 121; 59, 231) sowie die wissenschaftliche Literatur durch begleitende Theorie-vorschläge Mag heute über den Umbau des von H. Heller geschaffenen Begriffs des „sozialen“ Rechtsstaates zu diskutieren sein: Die Stabilität, auch Attraktivität unserer Republik, zusammen mit dem sogenannten „Wirtschaftswunder“ der „sozialen Marktwirtschaft“ eines L. Erhard zustandegebracht, verdankt sich dem durch die Sozialpartner Arbeitgeber und Gewerkschaften mitgeleisteten sozialen Frieden dank des Sozialstaatsprinzips.

3. Die freiheitliche Demokratie und die sukzessive „Parlamentsreform“ -der Machtwechsel von der Ära Kohl zu Rot/Grün

Die „freiheitliche Demokratie“ bewährte sich in der Nachkriegszeit zunächst durch das Verbotsverfahren gegen SRP und KPD (BVerfGE 2, 1 bzw. 5, 85), vor allem aber dank der „inneren Annahme“ der Demokratie durch die deutschen Bürger. Freilich kennt das GG grundsätzlich nur die repräsentative, nicht auch die unmittelbare Demokratie, anders die 16 deutschen Länder. Die Beteiligung bei Parlamentswahlen blieb bis heute relativ hoch. Stabile „Kanzlermehrheiten“ wurden auch durch das (im GG als solches nicht ausdrücklich garantierte) Wahlsystem (Verhältniswahlrecht mit Elementen der Persönlichkeitswahl) sowie die Fünf-Prozent-Klausel gesichert, wobei es für die Offenheit des „Systems“ spricht, daß diese Klausel von der Partei der „Grünen“ nachhaltig überwunden werden konnte (im Bundestag erstmals 1983). Gewiß, die „Parteienstaatlichkeit“ hat im System der staatlichen Parteienfinanzierung zu fragwürdigen Entwicklungen geführt, die durch das BVerfG erst nach und nach korrigiert wurden (vgl. E 20, 56 sowie E 24, 300 und besonders E 73, 40); das „Beutesystem“ der Parteien ist kritisch beim Namen zu nennen; indes haben die heute oft geschmähten Parteien auch eine große Integrationsleistung vollbracht, wobei sie die im Zuge der Wiedervereinigung (1989/90) so verdienstvollen „Bürgerbewegungen“ in Ostdeutschland an den Rand drängten.

Ein Wort zur Parlamentsreform: Sie wurde immer wieder als „große“ angemahnt, hat sich aber nur schrittweise als „kleine“ verwirklichen lassen Beispiele sind die Einsetzung von „Enquete-Kommissionen“ des Bundestages und die Anläufe zur Schaffung von „mehr Öffentlichkeit“ (öffentliche Hearings, die Offenlegung von Nebentätigkeiten von Parlamentariern). Der Bundestag gilt als „fleißiges Arbeitsparlament“, das „leere Plenum“ ist leider keine Seltenheit, aber die Hauptarbeit findet in den Ausschüssen statt. 1998 fiel das kritische Wort vom „Regierungsparlament“ (A. Vollmer). Der Bundesrat (Art. 50 GG) zeichnet sich durch eine besonders sachliche, „professionelle“ Arbeit aus. Der „Blockade“ -Vorwurf in Sachen Steuerreform am Ende der Ära Kohl sei erwähnt. Die Unaufgeregtheit und Normalität des Machtwechsels von H. Kohl zu Rot/Grün im Herbst 1998 hat gezeigt, wie gefestigt die politische Kultur des demokratischen Deutschland ist.

4. Entwicklungslinien des Föderalismus und die „Wiederauferstehung“ der neuen Bundesländer

Zur Erfolgsgeschichte des GG gehört sein Föderalismus. Das Geheimnis seiner Bewährung liegt darin, daß er nicht nur „bewahrt“ wurde, sondern sich vital fortentwickelt hat. Waren 1949 die Länder besonders stark, so machten sich später schleichende und evidente Unitarisierungstendenzen bemerkbar, die K. Hesse 1962 auf den Begriff des „unitarischen Bundesstaates“ gebracht hat. In der Zeitachse lassen sich unterscheiden: der „separative federalism“, der „kooperative Föderalismus“ (Art. 91 a, 91 b GG von 1969); parallel dazu der „unitarische Bundesstaat“ und im Zuge der Wiedervereinigung der „fiduziarische Föderalismus“ auf Zeit, will heißen: für eine Übergangsphase zur Konsolidierung der deutschen Einheit haben die westlichen Länder und der Bund gesamthände-risch eine intensivierte Verantwortung für die fünf neuen Bundesländer (greifbar in Gemeinschaftswerken wie „Aufbau Ost“, föderales Konsolidierungsprogramm, Solidaritätsbeitrag: Finanzvolumen von jährlich bislang etwa 150 Milliarden DM Transfer von West nach Ost) übernommen. Jüngst haben die Länder ihre Positionen wieder gestärkt. Man spricht von „Reföderalisierung“, „Substanz-föderalismus“ statt Mitwirkungsföderalismus, greifbar in Verfassungsänderungen, die gewisse Kompetenzen an die Länder zurückgeben (z. B. Art. 72 Abs. 2, 75 Ziff. 6 GG), vor allem aber gehört der neue Europa-Artikel 23 GG auch in diesen Zusammenhang (vgl. Abs. 2 bis 7). Das eigentliche „Wunder“ aber ist die „Auferstehung“ der fünf neuen Bundesländer im Jahre 1990 fast über Nacht (z. B. in Wappen und Flaggen greifbar). Sie hatten in der kulturellen Tiefe unterhalb der Betondecke des Marxismus-Leninismus „überwintert“ (Bachs Leipzig, Goethes Weimar und Fontanes Mark Brandenburg).

5. Die europäische Einigung kulturwissenschaftlich betrachtet -die Bundesrepublik als „europäischer Verfassungsstaat“

Die Europäisierung des deutschen nationalen Verfassungsrechts sei als letztes auf der Zeitachse verlaufendes, aber die Verfassung zunehmend innerlich mitprägendes Prinzip erwähnt. Früh hat Italien in Art. 11 seinen Weg zur „offenen Staatlichkeit“ gewagt. Die „Römischen Verträge“ von 1957 waren nur so möglich. Das GG hat schon 1949 einen ähnlichen Artikel (24) geschaffen, der später auf den Begriff des „kooperativen Verfassungsstaates“ gebracht wurde. Die Integration der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsund Sicherheitssystem hat die deutsche Teilung erträglich gemacht und bei großen Optimisten sogar die „Utopie der Wiedervereinigung“ (vgl. Präambel und Art. 146 a. F. GG) „konkret“ gehalten. An die Stelle des Beitrittsartikels 23 a. F. GG trat nach deren Vollzug der neue Europa-Artikel, symbolträchtig genug. Denn die deutsche und die europäische Einigung sind die zwei Seiten derselben Sache. So sehr wir noch um die Vollendung der inneren Einheit ringen: die europäische Einigung ist auf dem Weg. Nach „Maastricht“, vom BVerfG ohne vorgängiges Referendum wie in Frankreich oder Dänemark in einem umstrittenen Maastricht-Urteil (E 89, 155) gebilligt, aber auch mit Grenzen versehen warten wir auf die Inkraftsetzung von „Amsterdam“ und die sich darin hoffentlich konsolidierende „europäische Öffentlichkeit“. Die EU-Staaten sind einander nicht mehr „Ausland“! Dabei ist nicht nur das Europa der 15 im Blick zu behalten, sondern auch das Europarecht im weiteren Sinne, d. h. Europarat und OSZE mit ihren fundamentalen Konventionen wie der EMRK oder der Charta von Kopenhagen bzw. Paris (1990). Europa ist ein Stück des inneren Staats-und Verfassungsverständnisses von Deutschland. Gewiß, es gibt europäische Lichtblicke und traurige Schattenzeiten. Indes deutet vieles darauf hin, daß gerade das wiedervereinte Deutschland nur als europäischer Verfassyngsstaat im Verein mit anderen Ländern Legitimität besitzt.

V. Ausblick

Eine Würdigung von „ 50 Jahren Grundgesetz“ muß seine große Ausstrahlungswirkung in und über Europa hinaus zur Sprache bringen. So wie das GG von seiner „Vorgeschichte“ und „Geburt“ an im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen stand und blieb so hat es nicht wenige seiner gelebten Verfassungsprinzipien „nach außen“ vermittelt: schon im Blick auf die Verfassung Griechenlands (1975), Portugals (1976) und Spaniens (1978), besonders aber seit der Welt-stunde des Verfassungsstaates, seit 1989: nach Osteuropa. Nicht nur die Beratungstätigkeit einiger deutscher Staatsrechtslehrer beförderte hier Prozesse der (schöpferischen) Rezeption von Verfassungstexten, Theorien und Judikatur, auch das Forum europäischer Verfassungsrichtertagungen trug dazu bei. Neben diesen eher informellen Rezeptionsvermittlern wirken die beiden europäischen Verfassungsgerichte: der (jetzt ständige) Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. In ihnen und über sie kommt es auch im Verbund der Texte von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) zu vielseitigen Rezeptions-und Produktionsprozessen, etwa in Sachen Rechtsstaat, Grundrechtsdogmatik, Übermaßverbot, pluralistische Medienverfassung, Parteienrecht, Verfassungsgerichtsbarkeit etc. Es entstehen Elemente gemeinsamer europäischer Verfassungskultur, die das Europarecht im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne von Europarat und OSZE inhaltlich anreichern. Man denke überdies an Aspekte des Minderheitenschutzes (Ungarn, Lettland) oder der Europäischen Charta für kommunale Selbstverwaltung (1985). Dieses europaweite, vom GG aus kräftig mitgesteuerte Geben und Nehmen in Sachen Verfassungsstaat lebt letztlich und in der Tiefe aus einer europäischen Öffentlichkeit, die sich primär der Kunst und Kultur verdankt, bislang leider nur sehr punktuell der Politik, etwa der Publizität des Europäischen Parlaments und seiner Parteien sowie des Rechnungshofes

So groß die „Erfolgsgeschichte“ des GG ist -sie wird zuletzt in bezug auf die Verfassung Polens, der Ukraine (1996) sowie Südafrikas (1997) sichtbar -, manche Defizite und bislang nicht erfüllte Reformen seien nicht verschwiegen. Zum einen sind die spezifischen Kultur-Probleme im Verlauf der deutschen Einigung beim Namen zu nennen, oft unter dem Stichwort diskutiert, nach der geglückten staatlichen stehe die „innere Einigung“ noch aus. So sehr Sprache und Kultur das während der Teilung den Deutschen letzte Gemeinsame geblieben war, so dringlich wäre neben oder nach der Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion 1990 eine „Kulturunion“ gewesen. Die Kulturartikel des Einigungsvertrages (z. B. Art. 35, 38) reichen offenbar doch nicht aus. Das viel zitierte „Kultur-sterben“ in den neuen Bundesländern die allzu rasche Ersetzung staatlicher (dirigistischer) Subventionskultur durch die Marktwirtschaft, brachte Verwerfungen mit sich, an denen das in Gestalt der Texte so vorbildlich ausdifferenzierte neue ostdeutsche Kulturverfassungsrecht deshalb leidet, weil es nicht hinreichend in die Wirklichkeit umgesetzt wird: sei es aus Gründen der Finanznot, sei es aus solchen „mentaler“ Art. Ganz allgemein ist angesichts des „Kultursponsoring“ auch an die unverzichtbaren Aufgaben „kultureller Grundversorgung“ (nicht nur in den Medien) zu erinnern.

Zum anderen stehen Reformprobleme auf der Tagesordnung, welche die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft benennen kann: So muß an die Stelle des zum Teil wohl schmerzlich wahren, seit dem EURO aber entfallenden „DM-Nationalismus“ (J. Habermas) ein europäischer Verfassungspatriotismus treten, der .dem kulturellen Erbe der eigenen Nation den gebührenden Rang einräumt, aber überdies Deutschland als „europäisches Deutschland“ (T. Mann) erlebt. Das verlangt Wandel auf den emotionalen und rationalen Identitäts-und Identifikationsfeldern. Gleiches gilt für das drängende, auch kulturelle Problem der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts (Stichwort: doppelte Staatsangehörigkeit, erleichterte Einbürgerungen) sowie für die vielfach eingeforderte „Erinnerungskultur“ (Stichwort: Holocaust-Mahnmal in Berlin, Kontroverse I. Bubis/M. Walser). Mögen hier die Aufgaben und Möglichkeiten des (Verfassungs-) Rechts begrenzt sein, groß sind sie bei der äußeren und inneren Anerkennung des Islam (z. B. als ordentliches Lehrfach in den Schulen). Zwar hat Europa insgesamt zusammen mit dem Islam an einem verfassungsstaatlichen, d. h. auch toleranten „Euro-Islam“ zu arbeiten, doch stehen unter dem Dach des GG besondere „Hausaufgaben“ an. Schließlich fällt ein Schatten auf den europäischen Verfassungsstaat Deutschland wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Der Dauerarbeitslose verliert ein Stück seiner Identität als Mensch. Im Grunde wird ihm der gedachte und in vielen kulturellen Sozialisationsprozessen Tag für Tag gelebte Gesellschaftsvertrag „gekündigt“. Er wird ausgegrenzt. Gerade Jubiläums-und Verfassungstage müssen sich diesen Problemen stellen. Nur dann wird in weiteren 50 Jahren ein wiederum grundsätzlich positives Bild des deutschen Grundgesetzes zu zeichnen sein bzw. ein weiteres Kapitel einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft geschrieben werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin (1982) 19982.

  2. J. Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, Baden-Baden 1998; P. C. Müller-Graff/E. Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der EU, Baden-Baden 1998; R. Bieber/P. Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum, Zürich 1995; P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: Europäische Grundrechtszeitschrift (EuGRZ), (1991), S. 261 ff.

  3. D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), 42 (1984), S. 46 (60); vgl. auch U. Steiner, ebd., S. 7 ff.

  4. Vgl. dazu P. Häberle, in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, Berlin 1979, S. 88 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, Berlin 1992; ders., Europäische Rechtskultur, Baden-Baden 1994.

  5. Vgl. dazu P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, Berlin 1995, insbes. S. 20 f.

  6. G. Dürig, in: Gesammelte Schriften, Berlin 1984, S. 127 ff.; aus der BVerfG-Judikatur E 5, 85 (204 f.); 9, 89 (95); zuletzt E 94, 49 (102 ff.); 95, 96 (131, 140); 97, 391 (399); vgl. auch H. Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR), 118 (1993), S. 353 ff.

  7. Vgl. R Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts (HdBStR), Bd. I, (1987), S. 815 ff. (19952). 9 Vgl. N. Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin (1965) 19863, S. 68 ff.

  8. Vgl. dazu P. Häberle, Der Regionalismus als werdendes Strukturprinzip des Verfassungsstaates und als europarechtspolitische Maxime, in: AöR, 118 (1993), S. 1 ff.

  9. Vgl. M. Kloepfer, Umweltrecht, München 19982; H. Markt, Natur als Kulturaufgabe, Stuttgart 1986; W. Berg, Über den Umweltstaat. Festschrift für K. Stern, München 1997, S. 421 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Tübingen 1998, Art. 20 a.

  10. Vgl. dazu J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, Baden-Baden 1998.

  11. Vgl. J. Isensee, Republik -Sinnpotential eines Begriffs, in: Juristenzeitung (JZ), (1981), S. 1 ff.; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit, hrsg. von A. Peisl/A. Möhler, (1983) 19913, S. 328 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica Res populi, Berlin 1994.

  12. Vgl. P. Häberle (Anm. 1), S. 275 ff.

  13. Vgl. P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift für Broermann, Berlin 1982, S. 211 ff.

  14. Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts (JöR), 34 (1985), S. 303 ff., fortgeschrieben in: JöR, 48 (1999), S. 149 ff.

  15. Vgl. A. Rossnagel, Die Änderung des Grundgesetzes, Frankfurt a. M. 1981; B. O. Bryde, Verfassungsentwicklung, Baden-Baden 1982, S. 111 ff.; P. Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HdBStR. Bd. VH. (1992), S. 57 ff.

  16. Dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 19842, S. 666 (bes. 747 ff.).

  17. Vgl. die Berichte Fragen der Verfassungsreform, Zur Sache 1/73, (1973) 1; R. Wahl, Empfehlungen zur Verfassungsreform, in: AöR, 103 (1978), S. 477 ff.

  18. Vgl. M. Kloepfer, Verfassungsänderungen statt Verfassungsreform, Berlin 1995; U. Berlit. Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, in: JöR, 44 (1996), S. 17 ff.

  19. Vgl. H. Schulze-Fielitz, Das BVerfG in der Krise des Zeitgeistes, in: AöR, 122 (1997), S. 1 ff.

  20. Vgl. J. Becker (Hrsg.), Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1979.

  21. Zum Öffentlichkeitsauftrag die Pionierliteratur von R. Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht (ZevKR), 1 (1951), S. 4 ff.; später etwa K. Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik (HdBStKi), 2. Bd., Berlin 19962, S. 131 ff.

  22. Vgl. B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, Berlin 1973; ders., Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, in: JöR, 26 (1977), S. 1 ff.

  23. Vgl. JöR, Bd. 1 (1951), S. 14 ff.

  24. Vgl. M, Stolleis, Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945-1949, in: HdBStR, Bd. 1 (1987), S. 173 ff.; H. Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: ebd„ S. 259 ff.

  25. Vgl. zum folgenden H. Hofmann, ebd.

  26. Vgl, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 199520, S. 300 ff.; H. Hofmann (Anm. 26), S. 292 ff.

  27. Vgl. W. Schäuble, Der Vertrag, Stuttgart 1992; K. Stern/B. Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, 2 Bde., München 1990.

  28. Vgl. vor allem E. Forsthoff/O. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, in: VVDStRL, 12 (1954), S. 8 ff., 37 ff.; H. Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates, in: Der Staat, 34 (1995), S. 1 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HdbStR, Bd. I, (1987), S. 987 ff.

  29. Vgl. H. P. Schneider/W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin-New York 1989; S. Lemke-Müller, Zur Parlamentsreform im Deutschen Bundestag: Mehr Transparenz, Öffentlichkeit und Effektivität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/96, S. 3 ff.

  30. Vgl. aus der kritischen Literatur: J. Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1994), S. 1 ff.; J. H. Weiler, Der Staat über alles, in: JöR, 44 (1996), S. 91 ff.; G. Hirsch, EuGH und BVerfG. Kooperation oder Konfrontation?, in: NJW, (1996), S. 245 ff.

  31. Vgl. U. Battis/E. G. Mahrenholz/D. Tsatsos (Hrsg.), Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, Berlin 1990.

  32. Vgl. P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, in: Thüringer Verwaltungsblätter (ThürVBl.), (1998), S. 121 ff.

  33. Vgl.ders., Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung, in: JöR, 40 (1991/92), S. 291 (303 ff ).

Weitere Inhalte

Peter Häberle, Dr. jur., Dr. h. c., geb. 1934; Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Kirchenrecht an der Universität Bayreuth; ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen; Mitglied in der Bayerischen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin 1992/93. Veröffentlichungen u. a.: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl., Heidelberg 1983; Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl., Berlin 1998; Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998.