Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vom Mare Nostrum zum Mare Securum. Sicherheitspolitische Entwicklungen im Mittelmeerraum und die Reaktionen von EU und NATO | APuZ 17/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 17/1999 Der Maghreb und Europa. Perspektiven des „Barcelona-Prozesses“ Deutsche Mittelmeerpolitik im europäischen Rahmen. Defizite im Nahen Osten und in der Türkei Entwicklung und Entwicklungsprobleme in Ländern des südlichen Mittelmeerraums Vom Mare Nostrum zum Mare Securum. Sicherheitspolitische Entwicklungen im Mittelmeerraum und die Reaktionen von EU und NATO

Vom Mare Nostrum zum Mare Securum. Sicherheitspolitische Entwicklungen im Mittelmeerraum und die Reaktionen von EU und NATO

Andreas Jacobs/Carlo Masala

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach dem Ende des Ost-West-Konfiikts hat es den Anschein, als ob sich das mittelmeerisch-afrikanische Vorfeld Europas erneut anschickt, die Geschichte des alten Kontinentes zu bestimmen, wie dies bis ins 16. Jahrhundert der Fall war. Die Zunahme ethnischer und zwischenstaatlicher Konflikte an Europas mittelmeerischer Peripherie, Probleme mit dem islamischen Fundamentalismus und Terrorismus aus dem Maghreb und dem Nahen Osten, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und unkontrollierte Migrationsbewegungen -all dies sind Herausforderungen, denen sich Europa zunehmend aus dem Mittelmeerraum ausgesetzt sieht und auf die es bereits erste Antworten gegeben hat. Der Beitrag skizziert vor dem Hintergrund einiger grundlegender Überlegungen zum Sicherheitsbegriff, welche konkreten sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Mitgliedstaaten von NATO und EU im Mittelmeerraum bestehen. Anschließend wird gezeigt, wie sowohl die NATO als auch die EU versuchen, die Stabilitätsrisiken im Mittelmeerraum durch eine institutioneile Verdichtung ihrer Beziehungen zu den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern abzubauen. In der Bewertung wird deutlich, daß sowohl der politische Dialog im Rahmen des von der EU initiierten Barcelona-Prozesses als auch der NATO-Mittelmeerdialog an den unterschiedlichen Erwartungen und Interessen ihrer Teilnehmerstaaten kranken. Vor allem diese Interessendivergenzen sind der Grund dafür, daß die beiden Mittelmeerdialoge kaum zu mehr Sicherheit und Stabilität im Mittelmeerraum beitragen können.

I. Einleitung

Der Kölner Historiker Theodor Schieder sah Europa in der Vergangenheit von drei Vorfeldern umgeben: dem eurasischen, dem atlantischen und dem mittelmeerisch-afrikanischen. Die zentrale Frage sei, so Schieder, ob und bis zu welchem Grade diese Vorfelder an der europäischen Geschichte teilhaben und auf welche sich der Schwerpunkt europäischer Geschichte verschiebt Bis ins 16. Jahrhundert hinein bestimmte das mittelmeerisch-afrikanische Vorfeld als Drehscheibe des Handels den Schwerpunkt dieser Geschichte. Aber ähnlich wie der Handel zum kennzeichnenden Merkmal der Mittelmeerregion wurde, prägten auch Kriege und Konflikte um die Hegemonie über dieses Binnenmeer das Bild der Region. Diese Politik, die von verschiedenen Mächten betrieben wurde (Venedig, Byzanz, Osmanisches Reich, Großbritannien), fand unter dem Begriff „Mare Nostrum“ Eingang in die Geschichtsbücher. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich die weltpolitische Position Europas grundlegend. Das atlantische und das eurasische Vorfeld Europas bestimmten nun die Struktur des internationalen Systems; die Staaten Europas wurden ihrerseits zu Vorfeldern der beiden antagonistischen Hauptmächte USA und UdSSR. Das Mittelmeer wurde in diese macht-und ordnungspolitische Auseinandersetzung miteinbezogen und ihr untergeordnet. Den Kampf um die mittelmeerische Hegemonie konnte jedoch keiner der beiden Kontrahenten für sich entscheiden. Anstelle eines „Mare Nostrum“ wurde das Mittelmeer im Ost-West-Konflikt zum „Mare Divisum“ mit klar abgegrenzten Einflußund Interessenzonen (Balkan und Südeuropa), aber auch mit Zonen der scharfen Machtkonkurrenz (wie z. B.dem Nahen Osten).

Heute, neun Jahre nach Ende des Ost-West-Konflikts, hat es den Anschein, als ob sich das mittelmeerisch-afrikanische Vorfeld Europas erneut anschickt, die Geschichte des alten Kontinentes mitzubestimmen. Die Zunahme ethnischer und zwischenstaatlicher Konflikte an Europas mittelmeerischer Peripherie, Probleme mit dem islamischen Fundamentalismus und Terrorismus aus dem Maghreb und dem Nahen Osten, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und unkontrollierte Migrationsbewegungen -all dies sind Herausforderungen, denen sich Europa gegenwärtig in zunehmender Weise aus dem Mittelmeerraum ausgesetzt sieht und auf die es erste Antworten zu geben versucht. Der vorliegende Beitrag will vor dem Hintergrund einiger Überlegungen zum Sicherheitsbegriff der Frage nachgehen, welche konkreten sicherheitspolitischen Herausforderungen für die Mitgliedstaaten von NATO und EU im Mittelmeerraum bestehen, sowie in einem zweiten Schritt die Reaktionen der europäischen und transatlantischen Institutionen einer kritischen Bestandsaufnahme unterziehen.

II. Sicherheit als Forschungsgegenstand

Die ungebrochene Bedeutung von Sicherheit für die Beziehungen zwischen Staaten zeigt sich nicht zuletzt darin, daß mit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Diskussion der Frage, was Sicherheit ist und wann sie bedroht wird, eine Renaissance erlebt hat. Diese Debatte hat bislang allerdings nur wenige Erkenntnisse zutage gefördert. Nach wie vor existiert eine relative Begriffsverwirrung hinsichtlich des Wesens und der Dimensionen von Sicherheit. Lediglich der im Zuge dieser Debatte prominent gewordene sogenannte „erweiterte Sicherheitsbegriff“ konnte breitere Aufmerksamkeit erlangen und ist heute die Grundlage vieler strategischer Analysen. Die Kernaussage dieses erweiterten Sicherheitsbegriffs besteht darin, daß eine Vielzahl von Entwicklungen, die eine potentielle Sicherheitsbedrohung darstellen können (Umweltzerstörung, Migration, Drogenhandel etc.), die gleiche Aufmerksamkeit erfahren sollten, wie die traditionellen militärischen Bedrohungen. Für diese Ausweitung des Sicherheitsbegriffs gibt es gute Gründe. Allerdings bereitet die Erweiterung des sicherheitspolitischen Blickwinkels auch Probleme, da der Begriff „Sicherheit“ als analytische Kategorie dadurch zunehmend an Schärfe verliert und immer weniger operationalisierbar wird. Oder um es anders auszudrücken: „. .. if a term means everything it no longer means anything. -Hinzu kommt, daß die Diskussion um die einzelnen Dimensionen von Sicherheit die wichtigere Frage nach dem Wesen von Sicherheit unberücksichtigt läßt.

Was ist also Sicherheit, und wann ist sie gefährdet? Geht man davon aus, daß Sicherheit, allgemein gesprochen, als „das Gegebensein von Werten in der Zukunft“ bzw. als der „Bestand von Werthaftem in der Zeit“ aufgefaßt werden kann, beinhaltet der Begriff zunächst einen erstrebenswerten Zustand. Aufgrund der Ungewißheit über die Zukunft kann dieser Zustand jedoch niemals zur absoluten Sicherheit werden. Überträgt man diese Vorstellung auf die Internationale Politik, so stellt sich die Frage, welche Werte eines Staates schützenswert sind. Das Minimalziel staatlichen Sicherheitsstrebens besteht in der Selbsterhaltung des Staatswesens. Sicherheit kann somit auch als die „Freiheit der gesellschaftlichen Eigenentwicklung“ bezeichnet werden. Demnach sind alle äußeren und inneren Bedrohungen, die diese Freiheit einschränken und die staatliche Existenzerhaltung grundsätzlich in Frage stellen, als Sicherheitsbedrohungen zu verstehen. Solche Bedrohungen können mithin ökonomischer, gesellschaftlicher, ökologischer und militärischer Natur sein Sicherheitspolitik kann sich demzufolge nicht allein in der Abwehr solcher Sicherheitsbedrohungen erschöpfen, sondern muß vorbeugende Maßnahmen ergreifen, um krisenhaften Entwicklungen bereits früh entgegenzuwirken. Erst dadurch kann verhindert werden, daß diese Bedrohungen jenes Stadium erreichen, in dem sie die Freiheit der Eigenentwicklung anderer Staaten tangieren. Für eine Analyse der Sicherheitsbedrohungen aus dem Mittelmeerraum und der Reaktionen der transatlantischen Staatengemeinschaft folgt daher, daß die identifizierbaren Risiken und Bedrohungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Freiheit der Eigenentwicklung der Mitgliedstaaten von EU und NATO untersucht und bewertet werden müssen. Zu analytischen Zwecken erscheint es dabei ratsam, zwischen zwei Dimensionen von Sicherheitsbedrohungen zu unterscheiden: jenen, die nur durch den Einsatz militärischer Mittel bewältigt werden können, was auch nicht-militärische Bedrohungen einschließt, und solchen, denen durch den Einsatz nicht-militärischer Mittel begegnet werden kann. Die folgenden Überlegungen sollen sich weitgehend auf die nicht-militärischen Mittel beschränken.

III. Risiken und Konfliktpotentiale

Für Europa steht heute weniger die Sorge vor einer gewaltsamen Austragung von Konflikten zwischen den Staaten des Nordens auf der einen und des Südens auf der anderen Seite im Vordergrund sicherheitspolitischer Überlegungen zum Mittelmeerraum, sondern mehr die Vielzahl „neuer“ Risiken, welche sich aus den zahlreichen zwischen-und innerstaatlichen Konflikten in dieser Region ergeben.

1. Zwischen-und innerstaatliche Konflikte

Wie in kaum einer anderen Region der Welt ist in den einzelnen Subregionen des Mittelmeerraums (Maghreb, Naher Osten, Balkan und die Türkei) eine komplizierte Gemengelage von Konflikten anzutreffen, die entweder bereits offen zum Ausbruch gekommen sind (jugoslawische Nachfolge-kriege) oder ein hohes Eskalationspotential bergen. Grob gesprochen lassen sich hier zwei Arten von Konflikten unterscheiden: Erstens sind dies zwischenstaatliche Konflikte, bei denen Territorial-oder Minderheitenfragen im Vordergrund stehen, und zweitens innerstaatliche Konflikte, die politische und zunehmend ethnische Ursachen haben Angesichts der Vielzahl aktueller wie potentieller Konflikte im Mittelmeerraum können nachfolgend lediglich einige der wichtigsten kurz angedeutet werden.

Im Hinblick auf den Maghreb gibt in Europa gegenwärtig vor allem der Konflikt zwischen der algerischen Regierung und verschiedenen islamitischen Gruppen Anlaß zur Besorgnis. Die erhöhte Aufmerksamkeit für den algerischen Bürgerkrieg beruht nicht nur auf der extremen Gewaltbereitschaft beider Seiten und der hohen Zahl an Opfern -insbesondere unter der Zivilbevölkerung sondern auch auf der Furcht vor den regionalen und internationalen Rückwirkungen dieses Konflikts. Auch die von der algerischen Krise besonders betroffenen Nachbarstaaten Marokko und Tunesien sind bereits seit längerem in verschiedene konflikthafte Auseinandersetzungen verwickelt

Der Blick auf den Nahen Osten, der an dieser Stelle nur äußerst kurz ausfallen kann, bietet zur Zeit ebenfalls wenig Anlaß für Optimismus. Der israelisch-arabische Konflikt harrt trotz der Fortschritte der Jahre 1993 bis 1995 nach wie vor einer endgültigen Regelung, und auch zwischen den arabischen Staaten selbst existieren eine Reihe bilateraler Konflikte. Insgesamt -so hat es den Anschein -hat auch hier das Ende des Ost-West-Konflikts weniger einschneidende Veränderungen mit sich gebracht, als von vielen Seiten erhofft worden war.

Fundamentale Veränderungen -allerdings zumeist negativer Art -brachte das Ende der Blockkonfrontation hingegen für den Balkan. Diese Subregion war und ist infolge des Zerfalls der titoistischen Bundesrepublik Jugoslawien und der Implosion der Sowjetunion zu einer der größten sicherheitspolitischen Herausforderungen für die transatlantische Staatengemeinschaft geworden. Im Zuge der territorialen und machtpolitischen Neuordnung dieser Region existieren auf dem Balkan eine Vielzahl von potentiellen Konflikten, von denen eine Reihe bereits offen ausgebrochen sind.

Gegenwärtig lassen sich Territorialstreitigkeiten zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien und Albanien (Kosovo), Albanien und Griechenland (Nordepirus), Griechenland und Makedonien, Makedonien und Bulgarien, Bulgarien und Griechenland (Zugang zur Ägäis), Bulgarien und der Türkei (West-Thrakien) beobachten. Bereits diese Aufzählung verdeutlicht, daß sich die Versuche der balkanischen Flügelmächte Türkei und Griechenland, auf die Neuordnung des Balkans einen bestimmenden Einfluß zu nehmen, potentiell konfliktverschärfend auswirken. Hinzu kommt die Problematik der ethnischen Minderheiten. Die Bevölkerungsstruktur in den meisten der balkanischen Staaten ist durch eine vergleichsweise ausgeprägte ethnische Inhomogenität gekennzeichnet Die Türkei und Griechenland nutzen dies aus, indem sie gegenüber den Minderheiten muslimischen und griechisch-orthodoxen Glaubens in den einzelnen Staaten dieser Subregion eine bewußte Protektionspolitik betreiben Eine Sonderproblematik im östlichen Mittelmeerraum stellt auch heute noch der griechisch-türkische Konflikt um Zypern und einige Ägaisinseln dar. Beide Konflikte haben nach den revolutionären Umwälzungen von 1989 bis 1991 an Intensität und Schärfe zugenommen. Im Sommer 1996 wäre es beinahe zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der türkischen und der griechischen Armee um die Insel Kardak/Imian gekommen, wenn die USA ihre Allianzpartner nicht in allerletzter Minute zur Räson gerufen hätten. Zwei Jahre später sorgte die Ankündigung der südzypriotischen Regierung, russische Luft-Abwehrraketen auf ihrem Territorium zu stationieren, für klare Worte aus Ankara: Wenn es zur Stationierung kommen sollte, wäre dies für die Türkei ein Kriegsgrund. Hektische diplomatische Aktivitäten seitens der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs konnten erneut in letzter Minute verhindern, daß Nikosia mit seiner Ankündigung ernst machte. Entspannung ist dennoch nicht eingetreten.

2. Migration und Biirgerkriegsflüchtlinge

Dominiert wird die Debatte um die. Folgen dieser krisenhaften Entwicklungen zur Zeit von der Flüchtlings-bzw. Migrationsproblematik. Die demographische Entwicklung in vielen südlichen und östlichen Mittelmeerstaaten sowie die düsteren Zukunftsperspektiven der immer jünger werdenden Bevölkerungsmehrheiten erzeugen ein hohes Migrationspotential, das sich insbesondere auf Europa richtet. Sollten zudem noch die bereits existierenden Konflikte und Krisen in vielen dieser Länder offen zum Ausbruch kommen, so ist zu erwarten, daß neben die sozioökonomisch motivierten Migranten eine hohe Anzahl von Kriegs-und Bürgerkriegsflüchtlingen tritt.

Von diesen Entwicklungen sind jedoch nicht alle europäischen Staaten der NATO gleichermaßen betroffen. Aus der bisherigen Erfahrung mit Migration weiß man, daß Migranten, aber auch Flüchtlinge, Staaten als Zielorte bevorzugen, in denen bereits eine große Anzahl von Migranten aus dem gleichen Herkunftsland leben und eine funktionierende Subkultur aufgebaut haben. Von den Folgen der möglicherweise zu erwartenden Wanderungsbewegungen wären daher in allererster Linie Deutschland, Frankreich und Italien betroffen, in denen bereits heute eine hohe Anzahl von Migranten aus der Mittelmeerregion leben.

Zuwanderung in kontrolliertem Ausmaß und mit vorhandenen Integrationsmöglichkeiten -vor allem Arbeitsplätze -stellt per se keine Bedrohung staatlicher Sicherheit dar. Angesichts weiter steigender Migrantenzahlen werden die aufnehmenden Staaten und Gesellschaften aber zunehmend vor schwerwiegende Probleme gestellt. Von deren Bewältigung wird abhängen, ob Migration auch zu einer sicherheitspolitischen Frage wird oder nicht. Dabei muß zwischen zwei Problem-komplexen unterschieden werden: Erstens muß Migration von den Empfängerstaaten sowohl in politischer als auch ökonomischer Hinsicht bewältigt werden. Angesichts leerer Staatskassen und hoher Arbeitslosigkeit in Westeuropa wird dies zu einem immer schwierigeren Unterfangen. Zuwanderung kann damit vermehrt zu innenpolitischen Spannungen führen, die teilweise in Gewalt eskalieren und zu ernstzunehmenden Bedrohungen für den inneren Frieden werden können. Ein noch größeres Problem resultiert zweitens aus der Möglichkeit, daß Migranten Konflikte ihrer Herkunftsländer in die Empfängerländer hineintragen. Hinzu kommt, daß Regierungen oder politische Gruppierungen der Herkunftsländer zunehmend versuchen, durch eine Mobilisierung ihrer Migrantengemeinden im Ausland Druck auf die Regierungen der jeweiligen Staaten auszuüben, damit diese sich für eine Konfliktregulierung aktiv engagieren oder gar offen Partei für eine der Konfliktparteien ergreifen

3. Fundamentalismus und Terrorismus

Teilweise im Zusammenhang mit der Migrationsproblematik steht die wachsende Sorge vor Terror-anschlägen extremistischer Gruppen aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum. Gaben in den siebziger und achtziger Jahren vor allem nationalistisch motivierte Terrorgruppen Anlaß zur Besorgnis, treten extremistische Gruppen in den neunziger Jahren vor allem unter dem Vorzeichen der Religion in Erscheinung. Die in jüngster Zeit zu beobachtenden politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem islamischen Fundamentalismus haben seither in Europa den Blick für die Bedrohung auch der europäischen Sicherheit durch gewaltbereite fundamentalistische Gruppen aus dem Mittelmeerraum geschärft. Bislang konzentrieren sich diese Gruppen auf die innenpolitische Destabilisierung der Regime in Nordafrika und im Nahen Osten. Zu diesem Zweck versuchen sie auch, bei den im Ausland lebenden Muslimen für ihre Sache Unterstützung zu finden und nutzen Europa als sicheres Rückzugsgebiet für Aktivisten. Entscheidend für die sicherheitspolitischen Risiken, die von den Aktivitäten religiös oder ideologisch motivierter Gruppen für Europa ausgehen, ist nicht nur die Art ihrer politischen Ziele, sondern vielmehr die ihnen zur Verfolgung dieser Ziele zur Verfügung stehenden Machtmittel. Sollten islamistische Gruppen in einem islamischen „Kernstaat“ wie Ägypten oder der Türkei die politische und militärische Macht übernehmen, könnte von diesem Staat der Versuch unternommen werden, eine stärkere Koordinierung der einzelnen islamistischen Bewegungen zu erreichen um dadurch Gegenmacht zu einem vermeintlich dominanten Westen auszuüben.

4. Verbreitung von Massenvernichtnngswaffen

Als wesentlich greifbarer und potentiell gefährlicher ist die Bedrohung durch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ballistischen Ra-keten im Mittelmeerraum anzusehen. Durch den Erwerb solcher Waffen versprechen sich die betroffenen Regierungen einen Ausbau ihrer relativen Machtposition gegenüber ihren Nachbarn zu Vergleichsweise geringen Kosten. Um der abschreckenden Wirkung der israelischen Atomwaffen etwas entgegenzusetzen, sind nicht wenige der nahöstlichen Staaten zum Erwerb oder gar zur Eigenproduktion von ABC-Waffen und ballistischen Trägersystemen übergegangen. Bereits heute verfügen Staaten wie Syrien und Libyen über ballistische Raketen, in deren Reichweite auch südeuropäisches Territorium liegt

Der Besitz solcher Waffensysteme könnte die jeweiligen Regierungen dazu verleiten, in politischen Streitfragen ihren Druck auf einzelne EU-oder NATO-Staaten zu erhöhen. Eventuelle westliche Versuche, den Erwerb und die Dislozierung weiterer ABC-Waffen im Mittelmeerraum zu verhindern, könnten wiederum bestehende Spannungen vertiefen und neue Konflikte schaffen. Schließlich darf auch die Möglichkeit nicht unterschätzt werden, daß terroristische Gruppen versuchen, in den Besitz von ballistischen Trägerraketen zu gelangen, um sie mit leicht herstellbaren chemischen oder biologischen Kampfstoffen zu bestücken. Der Überblick über aktuelle und potentielle Risiken aus dem Mittelmeerraum bietet insgesamt ein komplexes Bild möglicher Bedrohungen. In der Region tut sich eine große Zahl teils verschiedenartiger Einzelprobleme, 'teils die Subregionen übergreifender Risiken auf, die in ihrer Eskalationswirkung und in ihrem Bedrohungspotential für die transatlantische Sicherheit gegenwärtig sehr schwer einzuschätzen sind.

IV. Die Euro-Mediterrane Partnerschaft

Die Europäische Union hat auf diese Sicherheitsproblematik mit einer aktiven Verdichtung ihrer Beziehungen zu den Staaten im südlichen und teilweise auch im östlichen Mittelmeerraum reagiert. Ihren institutionellen Ausdruck fand diese Strategie kooperativer Konfliktprävention bzw. Konfliktregulierung in der im November 1995 in

Barcelona ins Leben gerufenen Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP). Die erklärte Zielsetzung der EMP besteht darin, mit Hilfe einer multidimensionalen, langfristigen Strategie eine dauerhafte, nachhaltige Entwicklung in den Mittelmeerländern zu fördern und dadurch aktiv zur Entstehung einer Stabilitäts-und Sicherheitszone beizutragen Im einzelnen setzt sich die EMP aus drei Kooperationsbereichen zusammen: aus einer Wirtschafts-und Finanzpartnerschaft, die vor allem auf die Errichtung einer mediterranen Freihandelszone bis zum Jahre 2010 zielt, aus einem Dialog über politische und Sicherheitsfragen sowie schließlich aus einer vertieften Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Bereich, der nicht zuletzt der Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dienen soll

Inhaltlich konzentrieren sich die Aussagen der Abschlußdeklaration von Barcelona im politischen Bereich auf eine weitreichende Prinzipienerklärung zur Einhaltung der Menschenrechte und der allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit soll vor allem in der Bekämpfung von Terrorismus, Kriminalität, Drogenhandel und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen angestrebt werden. Angaben darüber, wie die teilweise sehr weitgehenden sicherheitspolitischen Zielsetzungen der EMP -wie etwa die Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone -umgesetzt werden könnten, finden sich in dem Papier nicht.

In institutioneller Hinsicht bietet die EMP wenig Neues. Mit Blick auf die ordnungspolitischen Interessen der USA im Mittelmeerraum hatten die Europäer die Bildung ständiger Institutionen weitgehend vermieden. Konkret wurde in Barcelona lediglich vereinbart, in regelmäßigen Abständen Außenministertreffen und Sitzungen eines Koordinierungsausschusses abzuhalten. Alle weiteren Treffen sollen auf einer Ad-hoc-Basis stattfinden. Die EMP stellt daher auch keine genuin neue Institutionalisierung mediterraner Zusammenarbeit, sondern vielmehr eine Erweiterung der bisherigen Mittelmeerpolitik vor dem Hintergrund sicherheitspolitischer Überlegungen dar.

Neben der externen Stabilisierungsfunktion soll die EMP zugleich auch eine interne Balancefunk­ tion erfüllen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der deutschen Wiedervereinigung war in vielen südeuropäischen Staaten die Sorge aufgekommen, daß sich das innereuropäische Machtgefüge zugunsten Deutschlands und allgemein der nordeuropäischen Staaten verschieben würde. Vor allem aus der Sicht Frankreichs, Italiens und Spaniens sollte die europäische Integrationsstrategie gegenüber Mittel-und Osteuropa daher durch eine Kooperationsstrategie gegenüber den Ländern im Süden ergänzt werden.

Obgleich sowohl nördlich als auch südlich des Mittelmeeres ein politisches Interesse an einer engeren Zusammenarbeit bestand, waren es nicht zuletzt die politischen Fragen, die bei der Umsetzung der EMP bislang Probleme bereiteten. Schon in Barcelona war buchstäblich erst in letzter Minute und nur unter erheblichem europäischen Druck Einigung darüber erzielt worden, wie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Problem der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Kampf gegen den Terrorismus und die Behandlung illegaler Einwanderer in die Abschlußdeklaration Eingang finden sollten Vor allem in der Folgezeit zeigte sich dann, daß die mit der Einbeziehung Israels faktisch gegebene Koppelung des Barcelona-Prozesses an den Friedensprozeß im Nahen Osten zunehmend zum strukturellen Hindernis der EMP werden würde. Die ursprüngliche Hoffnung einiger europäischer Staaten, durch den Barcelona-Prozeß die Zusammenarbeit zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn zu fördern und dadurch indirekt auch den europäischen Einfluß im Nahen Osten zu mehren, zerschlug sich spätestens auf dem ersten Nachfolgetreffen von Barcelona im April 1997 auf Malta, das nahezu ausschließlich zu einem Austragungsort des arabisch-israelischen Konflikts geriet

Auch die inhaltliche Zusammenarbeit in den mit Sicherheitsfragen betrauten Arbeitsgruppen hatte sich bis dahin eher schleppend entwickelt. Bei den verschiedenen Ausschuß-und Arbeitsgruppentreffen wurde zwar ausgiebig über vertrauensbildende Maßnahmen, Konfliktprävention und den französischen Vorschlag eines mediterranen Stabilitätspakts verhandelt, nennenswerte Ergebnisse wurden dabei jedoch nicht erzielt. Noch pro­ blematischer entwickelte sich die Zusammenarbeit in denjenigen Bereichen der EMP, die auf die Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse in den Partnerländern angelegt waren. Wie nicht anders zu erwarten, hielt man auf seiten der arabischen Staaten wenig von der politischen Konditionierung ökonomischer und finanzieller Hilfen und konfrontierte die europäische Seite mit dem Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten. Angesichts dieser Rückschläge reifte auf europäischer Seite nicht nur die Erkenntnis, daß unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen der arabisch-israelische Konflikt nach Möglichkeit aus der EMP herausgehalten werden mußte, sondern auch die Bereitschaft, das langfristige Ziel der Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen dem kurzfristigen Interesse an politischer Stabilität im Mittelmeerraum unterzuordnen. Mit dieser neuen Schwerpunktsetzung gelang es der europäischen Seite im weiteren Verlauf des Dialogs, die mediterranen Partnerstaaten zumindest auf gemeinsame Standards und einen politischen „code of conduct“ zu verpflichten.

In Anbetracht dieser bescheidenen Ergebnisse stellte sich vor der dritten Barcelona-Nachfolge-konferenz, die im April 1999 in Stuttgart stattfand die Frage, ob der sicherheitspolitische Dialog im Rahmen der EMP und die Knüpfung wirtschaftlicher Hilfe an politische Bedingungen ein erfolgversprechender Politikansatz zur Förderung von Stabilität und Sicherheit im Mittelmeerraum sind. Denn offensichtlich hat nicht nur der festgefahrene Friedensprozeß dem politischen Dialog der EMP den Wind aus den Segeln genommen. Das europäische Ansinnen, durch die politische Konditionierung ökonomischer Angebote eine Ordnungsfunktion im Mittelmeerraum zu übernehmen, wird nicht nur von Israel, sondern auch von den arabischen Staaten strikt abgelehnt. Statt politischen Wandel, der die eigene Machtbasis aushöhlen würde, erhoffen sich die arabischen Regierungen von der EU einen besseren Zugang zum europäischen Binnenmarkt sowie mehr Investitionen und Wirtschaftshilfe. Aus ihrer Sicht -und hier gibt es durchaus Berührungspunkte mit den Interessen einiger europäischer Staaten -sollte der politische Dialog allenfalls dazu dienen, die Terrorismusbekämpfung zu koordinieren und die Europäer in die Regulierungsversuche des Nahostkonflikts einzubinden.

V. Der NATO-Mittelmeerdialog

Bereits zu Beginn der neunziger Jahre machte die Gruppe „Mitteimerraum“ der NATO auf die Gefahren aufmerksam, die der Allianz in Zukunft möglicherweise aus dem Süden drohen könnten. Ende 1994 beschloß der NATO-Ministerrat daher, ausgewählte (prowestliche) Mittelmeerstaaten zu einem politischen Dialog auf Ministerebene nach Brüssel einzuladen. Das erklärte Ziel dieser Initiative bestand darin, nach neuen Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zwischen der NATO und den Staaten im südlichen und östlichen Mittelmeerraum zu suchen, einen besseren Informationsaustausch zu gewährleisten (davon sollten Fragen der militärischen Hardware sowie der Strategie ausgenommen bleiben) und insbesondere in den arabischen Ländern zu einem besseren Verständnis der Aufgaben und Aktivitäten der NATO beizutragen Um eine möglichst große Flexibilität des Forums und seine Unabhängigkeit von regionalen Krisen zu gewährleisten, wollte man den Dialog sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf seine Teilnehmer möglichst offen-halten und auf einer bilaterialen Basis nach dem Prinzip 16 plus 1 abwickeln.

Damit entsprach der NATO-Mittelmeerdialog von Beginn an nicht den Vorstellungen einiger südeuropäischer Allianzmitglieder, die ursprünglich eine Art „Partnership for Peace“ (PfP) für den Mittelmeerraum ins Leben rufen wollten. Aus unterschiedlichen Gründen hatten Bonn, Paris, London und nicht zuletzt Washington die Einrichtung eines solchen PfP-Äquivalents verhindert. Vor allem Deutschland und die USA wollten den Eindruck vermeiden, daß die Allianz den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern den gleichen Stellenwert für die transatlantische Sicherheit beimißt wie den Staaten Mittel-und Osteuropas sowie Rußland Die französische Ablehnung beruhte hingegen im wesentlichen auf der Befürchtung, daß eine weiter gehende Institutionalisierung der Beziehungen zwischen der NATO und den nordafrikanischen Staaten die französischen Sonderbeziehungen zu diesen Ländern unterminieren könnte.

Die Aufnahme des Dialogs erfolgte erstmalig im Mai 1995 und wurde in Form unregelmäßiger Treffen fortgesetzt. Inhaltlich drehten sich die Gespräche vor allen um Fragen der politischen und sozioökonomischen Entwicklung im Mittelmeerraum sowie über Möglichkeiten regionaler Kooperation und gemeinsamer „peace-keeping“ -Einsätze. Als einzig greifbares Ergebnis konnte bis 1997 lediglich die Beteiligung Ägyptens, Marokkos und Jordaniens an der IFOR-und darauffolgend an der SFOR-Mission in Bosnien vereinbart werden

Fast genau ein Jahr nachdem die NATO ihre Mittelmeerinitiative angekündigt hatte, wurde diese auf Anweisung des NATO-Generalsekretärs einer Evaluierung unterzogen. Generell fiel die Einschätzung des Dialogs im Abschlußbericht dieser Evaluierung positiv aus. Obwohl einige Änderungen vorgeschlagen wurden, sollte an der grundsätzlichen Struktur des Dialogs festgehalten werden Die Änderungsvorschläge betrafen vor allem die Treffen der Dialoggruppe, die künftig zweimal im Jahr zusammentreten sollte. Als Ergänzung zu den bisher bestehenden Kooperationsstrukturen wurden ferner multilaterale Mittelmeer-Briefings mit den Dialogpartnern im Anschluß an die Sitzungen des NATO-Rats angeregt, um dadurch ein Klima des Vertrauens und der Zusammenarbeit zu fördern. Auch sollten mehr Beratungen und Informationen zu Fragen des Krisenmanagements im Rahmen des Dialogs stattfinden.

Anläßlich der NATO-Ratssitzung vom 8. Juli 1997 wurde vereinbart, diese Vorschläge umzusetzen und den Dialog insgesamt zu intensivieren. Dazu wurde eine „Mediterranean Cooperation Group“ (MCG) auf der Ebene der Politischen Berater der nationalen Vertretungen ins Leben gerufen, die zukünftig verantwortlich für den Mittelmeerdialog sein sollte. Ferner sollten bei Bedarf erweiterte Treffen mit Regierungsvertretern aus den einzelnen Hauptstädten der Allianz stattfinden. Darüber hinaus verständigten sich die Allianzmitglieder darauf, die Dialogpartner als Beobachter an PfPÜbungen zuzulassen

Obgleich die Errichtung der MCG von NATO-Generalsekretär Solana als ein Zeichen für die gewachsene Bedeutung des Mittelmeerraums für die gesamte Allianz interpretiert wird bedeuteten diese Neuerungen wenig mehr als eine Umbenennung der alten Dialogstruktur Gleichzeitig herrscht innerhalb der NATO eher Skepsis hinsichtlich der Möglichkeiten des Mittelmeerdialogs vor. Solange das politische Ziel dieses Dialogs den Allianzmitgliedern nicht klar sei, so ist in Brüssel zu hören, könne der Dialog mit den Mittelmeeranrainern keinerlei substantielle Fortschritte machen Auch das Problem des fehlenden politischen Konsenses wird sehr klar gesehen.

Ungeachtet dieser eher zurückhaltenden Einschätzung des Dialogs kursieren innerhalb der Allianzbürokratie eine Reihe von Vorschlägen für eine Weiterentwicklung der MCG. Dabei wird u. a. von der Überlegung ausgegangen, daß die NATO im Mittelmeerraum nur in solchen Bereichen aktiv werden sollte, in denen sie gegenüber anderen sicherheitspolitischen Kooperationsformen und Institutionen einen Vorteil aufzuweisen hat, d. h. in ausgewählten militärischen Bereichen. Ohne daß mögliche Aufgaben konkret benannt werden, wird deshalb intern dafür plädiert, daß die NATO den Fokus ihrer Mittelmeerinitiative künftig stärker auf diese Bereiche ausrichten sollte. Um die Bedeutung des Dialogs hervorzuheben, wird ferner angeregt, die Treffen der MCG ein-bis zweimal im Jahr auf der Ebene der Außen-und/oder Verteidigungsminister abzuhalten. Diese sichtbare Aufwertung würde den Wünschen der Dialogpartner entgegenkommen sowie den Südeuropäern signalisieren, daß die NATO ihre Sicherheitsbedürfnisse ebenso ernst nimmt, wie die der übrigen Allianzmitglieder. Einer Beschäftigung der MCG mit sogenannten „hardsecurity issues“ stehen die Brüsseler Bürokraten, wie auch die meisten Mitgliedstaaten, allerdings skeptisch gegenüber. Dje Beratungen und die Kooperation sollte sich lediglich auf die Bereiche der „soft-security“ erstrecken, dort aber deutlich intensiviert werden. Andernfalls, so wird befürchtet, könnte der ohnehin schon fragile Konsens über die NATO-Mittelmeerinitiative noch größe-ren Belastungen ausgesetzt werden Insgesamt wird von verschiedenen Seiten hervorgehoben, daß die Zukunft des Mittelmeerdialogs vor allem davon abhängt, ob die Vereinigten Staaten ihre tendenziell ablehnende Haltung gegenüber dieser Initiative revidieren. Ohne ein stärkeres amerikanisches Engagement, so wird argumentiert, sei eine substantielle Weiterentwicklung der MCG ausgeschlossen

Zumal eine Reihe von NATO-Staaten fundamentale Veränderungen hinsichtlich der Dialog-und Kooperationsbereiche (wie z. B. eine Übernahme des PfP-Modells für den Mittelmeerraum) auch weiterhin strikt ablehnen ist eine Umsetzung dieser ReformVorschläge und eine baldige Verbesserung der Effizienz des Dialogs eher unwahrscheinlich. Angesichts eines fehlenden politischen Konsenses über die Aufgaben des Mittelmeer-dialogs und der MCG hat es gegenwärtig den Anschein, daß der NATO-Mittelmeerdialog ohnehin kaum mehr als eine Geste politischen Entgegenkommens an die Adresse der Südeuropäer darstellt. In Anbetracht seiner geringen politischen Relevanz und Substanz muß er deshalb als institutioneile Kosmetik bezeichnet werden.

VI. Fazit

Welche Ergebnisse lassen sich mit Blick auf die transatlantischen und europäischen Antworten auf die Sicherheitsherausforderungen aus dem Mittelmeerraum festhalten?

1. Sowohl die NATO als auch die EU reagieren mit einer Verdichtung ihrer Beziehungen zu den Staaten des Mittelmeerraums, deren Ziel der kooperative Abbau von Stabilitätsrisiken (EU) sowie die Verbesserung des eigenen Images bei den südlichen Mittelmeeranrainern (NATO) ist. Aus Sicht der südeuropäischen Mitgliedstaaten von EU und NATO soll die Institutionalisierung der Beziehungen zu den Mittelmeerländern jedoch zusätzlich eine zweite, vielleicht wichtigere Funktion erfüllen: nämlich eine Ostlastigkeit von NATO und EU geographisch auszubalancieren. Auffällig an der Institutionalisierungspolitik beider Organisationen ist, daß die Staaten der balkanischen Subregion, obgleich geographisch am Mittelmeer gelegen, in diesen Prozeß nicht miteinbezogen wurden. Dies hat seinen Grund in der Sonderproblematik, die der Balkan für die europäische Sicherheit gegenwärtig darstellt. 2. Die Gründung der beiden Kooperationsforen Euro-Mediterrane Partnerschaft (Barcelona-Prozeß) und NATO-Mittelmeerdialog ist allein noch kein Indiz dafür, daß die Mitgliedstaaten von NATO und EU die sicherheitspolitischen Herausforderungen aus dem Mittelmeerraum einheitlich wahrnehmen. Bedingt durch ihre unterschiedliche geographische Lage und die daraus resultierenden divergierenden geostrategischen Interessen sowie durch die unterschiedliche Betroffenheit von den Entwicklungen im Mittelmeerraum, ist eher das Gegenteil der Fall. Sowohl in der NATO als auch in der EU herrscht Uneinigkeit darüber, welcher Stellenwert der Beschäftigung mit dem Mittelmeerraum beigemessen werden soll. Diese Interessendivergenzen erklären auch die bescheidenen finanziellen Mittel beider Dialogforen sowie die im Falle der NATO bewußt zurückhaltend formulierten Zielsetzungen.

Die bis zum heutigen Tage magere Bilanz beider Foren beruht neben den Interessenunterschieden innerhalb der transatlantischen und europäischen Institutionen auch auf transmediterranen Interessendivergenzen. Die Erwartungen, welche die südlichen Mittelmeeranrainer mit beiden Prozessen verbinden, sowie die politischen und ökonomischen Ziele, die diese Staaten an eine Teilnahme knüpfen, decken sich nicht mit den Ansprüchen, die seitens der südeuropäischen Staaten mit beiden Prozessen verbunden werden. Angesichts dieses Befundes bestätigt sich die Erfahrung, wonach Kooperation nur unter den Bedingungen einer weitgehenden Interessenidentität zwischen den Kooperationspartnern dauerhaft betrieben wird

3. Schließlich stellt sich die Frage der Zielsetzung europäischer und transatlantischer Politik. Trotz des vagen Profils beider Mittelmeerinitiativen läßt sich konstatieren, daß es weder das Bestreben der NATO noch der EU ist, das Mittelmeer erneut in ein „Mare Nostrum“, also in ein hegemonial strukturiertes Einflußgebiet europäischer und transatlantischer Politik zu verwandeln. Vielmehr soll es in ein „Mare Securum“, also in ein Vorfeld transformiert werden, von dem in absehbarer Zukunft keine Sicherheitsrisiken für die gesellschaftliche Eigenentwicklung der europäischen Staaten sowie der USA ausgehen. Vor diesem Hintergrund sind die Instrumente beider Organisationen als unzureichend zu bezeichnen. Behaftet mit vielfältigen internen wie externen Problemen, werden sie wohl auch in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein, diesen Anspruch zu realisieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theodor Schieder, Einheit in der Vielfalt, in: Franz König/Karl Rahner (Hrsg.), Europa. Horizonte der Hoffnung, Graz 1983, S. 105 f.

  2. Zitiert nach Dieter Mahnke, Parameters of European Security, Paris 1993, S. 8. Die prägnanteste Kritik am erweiterten Sicherheitsbegriff findet sich bei Michael Meimeth, Sicherheitspolitische Interessen und Handlungsspielräume Deutschlands und Frankreichs. Eine Untersuchung zur Problematik der Multilateralisierung von Sicherheitspolitik unter den Bedingungen weltpolitischen Wandels, unveröffentlichtes Manuskript, Saarbrücken 1998, S. 9-10.

  3. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Stuttgart 19732, S. 340.

  4. Daniel Frei/Peter Gaupp, Das Konzept „Sicherheit“. Theoretische Aspekte, in: Klaus-Dieter Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik. Analysen zur politischen und militärischen Sicherheit. Bad Honnef -Erpel 19783, S. 5.

  5. So Richard Löwenthal, Freiheit der Eigenentwicklung, in: Ulrich Scheuner (Hrsg.), Außenpolitische Perspektiven des westdeutschen Staates, Bd. 1, München -Wien 1971, S. 11.

  6. Vgl. Barry Buzan. New Patterns of Global Security in the Twenty-First Century, in: International Affairs, (1991) 3, S. 431-451.

  7. Ausführlicher dazu Barry R. Posen, The Security Dilemma in Ethnie Conflict, in: Survival, 35 (1993) 1, S. 27-47.

  8. An dieser Stelle sei lediglich auf den bis heute noch ungelösten Westsahara-Konflikt verwiesen.

  9. Insbesondere das Problem der albanischen Bevölkerungsgruppen außerhalb Albaniens ist im Urteil vieler Beobachter mittelfristig größer und konfliktträchtiger einzuschätzen als die bosnische Frage.

  10. So nimmt Griechenland für sich in Anspruch, Schutzmacht der griechisch-orthodoxen Minderheit in Albaniep zu sein und unterhält enge Beziehungen zur Bundesrepublik Jugoslawien, um die türkische Einflußnahme auf dem Balkan einzuschränken. Die Türkei hingegen sieht sich für die türkischen Bevölkerungsgruppen in West-Thrakien, Albanien, Bulgarien sowie für die Muslime in Bosnien-Herzegowina verantwortlich.

  11. Die algerische Islamische Heilsfront (FIS) -um ein prominentes Beispiel zu nennen -ließ im Sommer 1996 durch in Frankreich lebende Anhänger Bombenanschläge auf die Pariser Metro verüben, um die französische Regierung von ihrer Unterstützung für das algerische Regime abzubringen. Aber auch in Deutschland, das zeigen die jüngsten Entwicklungen, nehmen die Versuche, türkische und kurdische Bevölkerungskreise zu instrumentalisieren, zunehmend gewaltsamere Formen an.

  12. Hier sei an die Wahlsiege der FIS in Algerien Anfang der neunziger Jahre sowie in jüngerer Zeit an die Regierungsbildung durch den Islamisten Erbakan in der Türkei, aber auch an den Bombenanschlag auf das World Trade Center, das Massaker von Luxor sowie an die Anschläge auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im Sommer 1998 erinnert.

  13. Vgl. hierzu Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. München 1998. S. 44 ff.

  14. Vgl. hierzu Shai Feldmann, Nuclear Weapons and Arms Control in the Middle East, Cambridge 1997.

  15. Vgl. „Stärkung der Mittelmeerpolitik der Europäischen Union: Entwicklung einer Partnerschaft Europa-Mittelmeer“. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament, Brüssel, 19. 10. 1994, Kom (94) 427 endg.

  16. Die Barcelona-Deklaration ist abgedruckt in: Internationale Politik, (1996) 4, S. 107-122.

  17. Vgl. Esther Barbe, The Barcelona Conference: Launching Pad of a Process, in: Mediterranean Politics, (1996) 1, S. 36.

  18. Vgl. hierzu Annette Jünemann, Die Euro-Mediterrane Partnerschaft vor der Zerreißprobe? Eine Bilanz der zweiten Mittelmeerkonferenz von Malta, in: Orient, 38 (1997) 3, S. 465-475.

  19. Aus redaktionellen Termingründen konnten die Ergebnisse der Konferenz in diesem Artikel nicht mehr berücksichtigt werden.

  20. Vgl. Jette Nordman, Der Mittelmeerdialog. Beseitigung von Mißverständnissen und Aufbau von Vertrauen, in: NATO-Brief, Juli-August 1997, S. 27.

  21. Vgl. Stephen Larrabee/Jerrold Green/Ian O. Lesser/Michele Zanini, NATO's Mediterranean Initiative. Policy Issues and Dilemmas, Rand DDR-1699-IMD, September 1997, S. 28.

  22. Vgl. Andreas Jacobs/Carlo Masala, Der Mittelmeerraum als Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik, Sankt Augustin 1998, S. 47 f.

  23. So das Ergebnis unseres Interviews im NATO-Hauptquartier, Brüssel, 7. Oktober 1997.

  24. Vgl. „Spain Pushes Outreach to North Africa“, in: Defense News vom 5. bis 11. Juni 1997.

  25. Vgl.seinen Beitrag auf der RAND/CeMiSS-Konferenz vom 10. bis 11. November 1997 in Rom. in: CeMiSS (Hrsg.), The Future of NATO’s Mediterranean Initiative, Rom 1997, S. 18 f.

  26. Zu dem gleichen Urteil gelangen auch S. Larrabee/J. Green/I. O. Lesser/M. Zanini (Anm. 21, S. 26).

  27. ,. A dialogue for dialogue sake goes nowhere.“ So ein hoher Brüsseler Beamter auf einer Konferenz der Bundes-akademie für Sicherheitspolitik, die vom 23. bis 25. September 1998 in Bonn stattfand.

  28. Vgl. dazu die Äußerungen von Jette Nordman anläßlich des dritten Treffens der Mediterranean Dialogue Group der Nordatlantischen Versammlung vom 27. bis 28. November 1997 in Istanbul, in: International Secretariat of . the North Atlantic Assembly (Hrsg.), Mediterranean Dialogue Seminar. Staff Report, AP 303 GSM (97) 14, S. 5.

  29. Vgl. ebd., S. 44.

  30. Auch Javier Solana hat wiederholt darauf hingewiesen, daß die Übernahme von PfP-Elementen in die Agenda des Mittelmeerdialogs gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung steht. Vgl. Javier Solana, NATO and the Mediterranean, in: Mediterranean Quaterly, March 1997 (Internetausgabe).

  31. Zur Erklärung internationaler Kooperation aus der Sicht der Theorie des Neorealismus vgl. Joseph Grieco, Co-operation among Nations, Ithaca-New York 1990, sowie Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading u. a. 1979.

Weitere Inhalte

Andreas Jacobs, M. A., geb. 1969; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Europa und die arabische Welt. Bestandsaufnahme und Perspektiven der interregionalen Kooperation, Sankt Augustin 1995; Hindernisse europäisch-arabischer Zusammenarbeit, in: Außenpolitik, (1996) 1; (zus. mit Carlo Masala) Deutsche Sicherheitsinteressen im Mittelmeerraum, Sankt Augustin 1998. Carlo Masala, Dr. phil., geb. 1968; Akademischer Rat am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Italia und Germania. Die deutsch-italienischen Beziehungen 1963-1969, 2. Aufl., Köln 1998; (Hrsg. zus. mit Ralf Roloff) Herausforderungen an die Realpolitik. Neuere Ansätze in der Theorie des strukturellen Realismus, Köln 1998; (zus. mit Andreas Jacobs) Deutsche Sicherheitsinteressen im Mittelmeerraum, Sankt Augustin 1998; Der Weg der EU von Maastricht nach Amsterdam: Weiterentwicklung oder Stagnation, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (i. E.); Die NATO und der Mittelmeerraum, in: Reader Sicherheitspolitik (i. E.); Demographie Pressure and Ecological Restraints: The Case of the Mediterranean, in: Kurt Spillmann/Joachim Krause (Hrsg.), Security Challenges of the 21st Century (i. E.).