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Europa und Amerika -Rivalen oder Partner? | APuZ 29-30/1999 | bpb.de

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APuZ 29-30/1999 Der gütige Hegemon und die unsichere Mittelmacht: deutsch-amerikanische Beziehungen im Wandel Europa und Amerika -Rivalen oder Partner? Konfliktlinien in der Atlantischen Allianz

Europa und Amerika -Rivalen oder Partner?

Hans Schauer

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die transatlantischen Beziehungen sind in letzter Zeit besonders von europäischer Seite in die Kritik geraten. Einer der Gründe ist das Streben der Europäischen Union (EU) nach größerer außen-und sicherheitspolitischer Eigenständigkeit. Es lohnt deshalb, der Frage nachzugehen, inwieweit diese Bestrebungen der EU realisierbar sind und ob sie im wohlverstandenen Interesse Europas liegen. Die EU, die neben den Nationalstaaten das aktuelle Gegenüber der USA bildet, hat einerseits ihrem Wirtschaftsraum wichtige wirtschaftliche Impulse verliehen und die europäischen Völker näher zusammengeführt. Andererseits stellte sich wegen der zunehmenden Komplexität ihrer organisatorischen Struktur und der unzureichenden demokratischen Legitimierung ihrer Rechtsetzungsakte eine Nähe zum Bürger jedoch kaum ein. Auch hinderte die Vielfalt der nationalen Traditionen und Interessen eine effektive Zusammenarbeit auf außen-und sicherheitspolitischem Gebiet. Auf der anderen Seite des Atlantik steht die Großmacht USA, die durch ihre individuelle ideengeschichtliche Entwicklung von beachtlichem Selbstbewußtsein, einem starken Führungswillen und als Nation von einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt ist. Die Schwerpunkte der dichten transatlantischen Beziehungen liegen auf wirtschaftlichem, außen-und sicherheitspolitischem Gebiet. Die wirtschaftliche Verflechtung ist eng, wenn auch nicht problemlos. Die außenpolitische Abstimmung bereitet gelegentlich Schwierigkeiten, was an beiden Seiten liegt, vor allem aber am Mangel einer koordinierten europäischen Außenpolitik. Defizite treten auch-in der an sich im Rahmen der Allianz gut organisierten sicherheitspolitischen Kooperation auf, weil die europäischen NATO-Mitglieder ihren Verpflichtungen zur Lastenteilung im Bündnis seit Jahren immer weniger gerecht werden. So richtig es ist, daß die EU ein stärkeres außen-und sicherheitspolitisches Profil sucht -sie sollte es nicht in Rivalität zu den USA und auf Kosten der transatlantischen Gemeinsamkeit tun. Weder reichen dazu ihre Kräfte, noch läge es in ihrem Interesse. Sie braucht den Partner USA.

I. Vorbemerkung

Die Beziehungen zwischen Europa und Amerika sind in letzter Zeit häufig Gegenstand der Diskussion, sehr viel mehr in Europa als in den USA. Der Grund ist nicht nur das Ende des Ost-West-Konflikts, der beide Kontinente in besonderer Weise einte, sondern unter anderem auch der sich schon seit längerem vollziehende Wechsel der Generationen, der das Verhältnis gelockert hat. Der amerikanische Einsatz im Krieg gegen Deutschland, die großzügige Wiederaufbauhilfe Washingtons für Europa oder die Berliner Luftbrücke sind für die heutigen Entscheidungsträger mehrheitlich keine erlebte Gegenwart mehr, so daß die Europäer ihren Ärger über die gelegentlich recht hemdsärmlige Politik der Großmacht ohne Rücksichten auf historische Erfahrungen ausleben. Besonders in Krisenzeiten tritt, keineswegs nur in Frankreich, sondern gerade auch in Deutschland, in Leitartikeln und Kommentaren ein erstaunlicher Antiamerikanismus zutage. Gern gibt man sich bei solchen Gelegenheiten -oft moralisch oder auch kulturell untermauerten -Überlegenheitsgefühlen hin, in denen versteckt zum Ausdruck kommt, daß der Großmacht Amerika ihre Führungsposition mißgönnt wird

Beispiele für diese Haltung sind zahlreich. Ein besonders markantes war der Krieg in Bosnien. Solange die USA nicht eingriffen, wurde häufig von zunehmendem „Isolationismus“ oder von „latenter Zurückhaltung" gesprochen. Kaum aber hatten sich die Amerikaner Anfang August 1995 zu einem vollen Engagement entschlossen und Mitte August Botschafter Holbrooke beauftragt, die streitenden Parteien an einen Tisch zu bringen, wurde sehr bald die tatsächlich vorhandene amerikanische Dominanz beklagt, obwohl allen Beteiligten klar war, daß kein anderes Land -auch keine Gruppe von Ländern -die Kriegsparteien so unter Druck hätte setzen und den Waffenstillstand und das Abkommen von Dayton hätte erzwingen können. Carl Bildt, der frühere Hohe Repräsentant für den Wiederaufbau in Bosnien, der auch zu den Klagenden gehörte, hat gleichzeitig mit dem nötigen Maß an Selbsterkenntnis deutlich gemacht, daß Ärger über die Amerikaner die falsche Reaktion sei, da die Vereinigten Staaten schließlich nicht für die Fehler Europas, d. h. für dessen fehlende gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik, verantwortlich seien

Derartig abgewogene europäische Stimmen sind eher selten. Zwar werden die verbindenden Elemente der politischen und rechtlichen Grundüberzeugungen Europas und der USA bei den gegenseitigen Besuchen der Politiker stets betont, die Abgrenzungsbemühungen der Europäischen Union (EU), insbesondere Frankreichs, lassen die Bindekraft dieser Grundüberzeugungen oft aber recht unverbindlich erscheinen. So richtig es ist, daß die EU bestrebt ist, besonders im handelspolitischen Bereich kein nachrangiger Partner der USA zu sein und auch einen stärkeren verteidigungspolitischen Zusammenhalt der europäischen Staaten zu erlangen, so eigenartig nimmt es sich doch aus, wenn auf dieser Seite des Atlantiks gelegentlich eine geistige Distanz von Amerika, oder genauer, eine Äquidistanz zu den Vereinigten Staaten wie zu allen anderen Kontinenten spürbar wird. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Wenn bei uns in Deutschland auf hoher politischer Ebene die Auffassung vertreten wird, daß in der zukünftigen Welt Machtblöcke bestehen werden, denen gegenüber sich die Europäer behaupten müßten, und bei der Aufzählung der Machtblöcke die Amerikaner in einem Atemzug mit Chinesen, Moslems, Hindus u. a. genannt werden dann drängt sich die Frage auf, ob insbesondere die Nordamerikaner in diesen Zusammenhang gehö­ ren, ob Geschichte und Wertvollstellungen zumindest einiger europäischer Länder nicht enger mit denen Amerikas verflochten sind als mit denen vieler anderer Regionen dieser Welt und ob das Verhältnis zu den USA nicht deshalb ein grundverschiedenes ist. Aus welchem Blickwinkel auch immer die transatlantischen Beziehungen betrachtet werden, das Bild, das sie auf dieser Seite des Atlantik bieten, bleibt, um es milde auszudrücken, diffus.

Es erscheint deshalb nützlich, das europäisch-amerikanische Verhältnis etwas näher zu betrachten und dabei besonders der Frage nachzugehen, inwieweit es im Bereich der Möglichkeiten Europas und in seinem wohlverstandenem Interesse liegt, in Gestalt der EU einen Widerpart oder Gegenpol zu den Vereinigten Staaten zu bilden. Angesichts der staatlichen und völkischen Vielfalt des heutigen Europas zunächst jedoch einige Worte zu dem, was durch gemeinsame Geschichte und kulturelle Entwicklung der „Westlichen Welt“, insbesondere dem Kern Europas, zuzurechnen ist und was nicht.

II. Was heißt Europa?

Europa läßt sich weder politisch noch geographisch eindeutig umschreiben. -Politische Form hat es, so wie wir es heute begreifen, erstmals unter Karl dem Großen, also im Westen des Kontinents, gefunden -und auch dann nur für kurze Zeit. Die Teilungen des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert in das westliche (das künftige Frankreich) und das östliche Frankenreich (das spätere Deutschland) bedeuteten einen tiefen Einschnitt. So stark sich auch das deutsche Kaisertum später unter den Sachsen, besonders zur Zeit Ottos des Großen, der Idee des Reiches Karls des Großen verbunden fühlen mochte, so beherrschte es doch auch in jener Zeit seiner größten Machtentfaltung weder Frankreich noch Skandinavien oder England. Und durch die endlosen, ergebnislosen Konflikte zwischen Papst und Kaiser geriet das Kaiserreich dann mehr und mehr an den Rand der politischen Entwicklung. Das Reich zerfiel. Während der Regentschaft des so viel bewunderten Staufen-Kaisers Friedrich II. wurde mit dem „Statut zugunsten der Fürsten“ aus der Monarchie 1232 endgültig eine Fürstenaristokratie. Die Entstehung der Nationalstaaten begann die noch heute -wenn auch in anderer Form -Europas Fundament bilden. Sucht man die Wurzeln der jetzigen europäischen Gemeinsamkeit, so lassen sich diese weniger im politischen als im kulturellen Bereich aufspüren. Das „Europa der Sechs“ war für seine „Väter“, Schuman, Adenauer und de Gasperi, der Beginn des Zusammenschlusses des christlichen, überwiegend katholischen Abendlandes -geographisch das Reich Karls des Großen. Und auch heute wird, trotz der schwindenden Akzeptanz der christlichen Kirchen in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung, bei der Beschreibung der Wertvorstellungen, die den Europäern gemeinsam sind, meist von den christlichen gesprochen. Wird in solche Aussagen die orthodoxe Ostkirche einbezogen, um z. B. Griechenland nicht auszugrenzen, so ist das im Kern richtig, gleichzeitig aber ungenau. Denn die christliche Glaubenseinheit ging, nachdem sich bereits um 330 n. Chr. west-und oströmisches Reich getrennt hatten, zwischen West-und Ostkirche 1054 vollends verloren, als sich die griechische Kirche endgültig vom Papsttum lossagte. Im übrigen war und ist das Christentum natürlich nicht das einzige kulturelle Band, das Europäer umschließt. Im Westen Europas fließen germanische und klassische, vor allem römische Kulturelemente mit dem Christentum zusammen. Das römische Recht ist vornehmlich in Deutschland, zum Teil aber ebenfalls in Frankreich rezipiert worden und wirkte auch auf das englische Recht ein

Wir sollten uns nicht darüber täuschen, daß die Unterschiede zwischen dem westlichen Kulturkreis Europas und dem östlichen alt und in vielen Bereichen sehr fühlbar sind. Der Historiker Hagen Schulze setzt den Zeitpunkt der Teilung des Kontinents und die Entwicklung zweier unterschiedlicher Zivilisationskreise bereits mit der Trennung des West-vom Oströmischen Reich, also mit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert an Die westliche Zivilisation war im Unterschied zum byzantinischen und russisch-orthodoxen Osten stark von einer frühen Trennung der weltlichen und geistlichen Gewalten geprägt. Außerdem war die vom Osten gesonderte Entwicklung des westlichen Kulturkreises ganz entscheidend durch Renaissance, Reformation, Aufklärung, Volkssouveränität und Demokratie gekennzeichnet. Ohne Frage haben sich der westliche'und der östliche Kultur-und Zivilisationskreis gelegentlich berührt und voneinander auch profitiert. Die russische Oberschicht erlebte die Aufklärung und trat damit in den westlichen Kulturkreis ein. Und zweifellos haben Rußland und die Türkei seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts wiederum eigene, politisch und kulturhistorisch untypische Wege beschritten; aber verschmolzen sind der westliche und der östliche Kultur-und Zivilisationskreis in ihrer fast zweitausendjährigen Geschichte nicht.

Mit der Betonung der unterschiedlichen Entwicklungen in West und Ost soll selbstverständlich nicht nach der Beseitigung des „Eisernen Vorhangs“, der Deutschland spaltete und das Zusammenleben der Völker unseres Kontinents über ein halbes Jahrhundert schwer belastete, der Errichtung neuer Trennwände das Wort geredet werden. Absichtlich ist hier der Versuch einer geographischen Eingrenzung Europas nicht unternommen worden. Das Gesagte sollte lediglich einer Annäherung an den Begriff Europa und weiterhin dazu dienen, deutlich zu machen, wo der Kern des Wertesystems, das uns mit Amerika verbindet, seine Ursprünge hat, nämlich im westlichen Kultur-und Zivilisationskreis. Selbstverständlich kann man auch, wie es oft geschieht, Teile der früheren Sowjetunion Europa zurechnen. Nur sollte man sich auch der Gefahren bewußt sein, die unterschiedliche historische Bewußtseinsbildungen und daraus resultierende politische Grundüberzeugungen hervorrufen können. Nicht ohne Grund hat der stellvertretende Generalsekretär des Europa-rats Leuprecht bei seinem Ausscheiden 1997 beklagt, daß in den letzten Jahren mittel-und osteuropäische Staaten aufgenommen worden seien, die den Anforderungen auf den Gebieten der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht genügten, wodurch die Glaubwürdigkeit der Institution gelitten habe

III. Europa heute: Die Europäische Union

Heute bildet die Europäische Union (EU) in Gestalt eines „Staatenverbundes“ neben den Nationalstaaten das aktuelle Gegenüber der USA auf dieser Seite des Atlantik. Zur Zeit gehören ihr 15 nord-, süd-und mitteleuropäische Staaten an. Mit fünf Osteuropäischen Staaten und Zypern werden Beitrittsverhandlungen geführt. Die Aufnahme von fünf weiteren osteuropäischen Staaten ist ins Auge gefaßt.

Daß die EU, besonders durch die fast vollendete Errichtung eines einheitlichen Binnenmarktes, der Wirtschaft ihrer Mitgliedstaaten wichtige Impulse verliehen hat, steht außer Frage. Heute ist der europäische Markt mit über 370 Mio. Verbrauchern und einem Bruttoinlandsprodukt von mehr als elf Billionen DM der größte einheitliche Markt der industrialisierten Welt. Mit Beginn des Jahres 1999 ist mit der Einführung einer einheitlichen Währung, des Euro, ein weiterer kühner Integrationsschritt unternommen worden, ein Schritt allerdings, den vorerst nur elf der 15 Mitgliedstaaten vollzogen haben. Daß er angesichts der sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften und Sozialsysteme und eines fehlenden zentralen Finanzausgleichs auch Gefahren birgt, liegt auf der Hand.

Auch politisch ist seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahre 1957 Beachtliches erreicht worden. Von Anbeginn war es das erklärte Ziel, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der Völker Europas zu schaffen. Und obwohl manche Unmutsäußerungen besonders der Medien einiger Mitgliedsländer über die Zustände in anderen Ländern auf Differenzen hinweisen und auch die staatlichen Egoismen und Aversionen die Gemeinsamkeiten zuweilen deutlich überschatten, hat sich die Zusammenarbeit der Mitglieder insgesamt kontinuierlich erweitert und verdichtet.

Doch trotz dieser im ganzen positiven wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der EU hat sich eine wirkliche Nähe der Bürger zu der Gemeinschaft und ihren Institutionen nicht einstellen wollen. Die Gründe sind vielfältig. Vor allem ist das organisatorische Gefüge der EU sehr unübersichtlich und für den Bürger nur schwer begreifbar. Während die Vorstellungen der Gründungsväter in dieser Hinsicht noch einigermaßen nachvollziehbar waren, erhöhte sich die Komplexität des Apparats später zusehends. Schon Roy Jenkins, Kommissionspräsident von 1977 bis 1981, sagte hierzu: „Diese (hohe Komplexität) ergibt sich fast zwangsläufig aus dem ungelösten Interessenkonflikt der einzelnen Regierungen, die einerseits ein gut organisiertes Europa wünschen, andererseits so weit wie möglich an ihrer nationalen Souveränität festhalten wollen. Die Folge ist ein unstabiles Gleichgewicht, illustriert durch ein Parlament ohne eigene Gesetzgebungskompetenz, einen Ministerrat (d. h. eine Ansammlung von Exekutiven), der in Wahrheit als Legislative fungiert, eine Kommission, die wenig mit einer Regierung gemein hat .. ,“ Heute ist wahrscheinlich das dem Bürger fremdeste Organ die Kommission, deren Mitglieder ohne eine demokratische Legitimation, gelegentlich auch ohne Qualifikation, von den Regierungen bestellt bzw. abgestellt werden, zum Teil aber weitgehende exekutive Zuständigkeiten besitzen und gehalten sind, ihre Befugnisse unabhängig auszuüben. Die Kontrolle ihrer Tätigkeit durch das Europäische Parlament (EP) ist völlig unzureichend, wie sich wieder einmal erwies, als im Januar 1999 ein Mißtrauensantrag gegen die Kommission keine Mehrheit fand. Aus Anlaß der Aufdeckung der aufsehenerregenden Unregelmäßigkeiten in einzelnen Ämtern der Kommission, die zu dem Mißtrauensantrag geführt hatte, schilderte der ganz sicher nicht als europakritisch bekannte Korrespondent Peter Hort das Wirken der Kommission wie folgt: „Im Mittelpunkt dieses Systems steht eine Institution, deren verschlungene Pfade niemand genau kennt. Zwanzig Kommissare herrschen manchmal wie Duodezfürsten mit ihrem Hofstaat, ohne daß die Öffentlichkeit viel Notiz davon nehmen kann ... Es ist unübersehbar, daß die Kommissare und die vierundzwanzig Generaldirektionen mitsamt ihren Außenstellen ein kaum kontrollierbares Eigenleben führen.“

Aber die mangelnde Bürgernähe der EU resultiert nicht nur aus der Komplexität und Undurchschaubarkeit ihrer Institutionen, es gibt noch eine Reihe anderer Gründe. Der wichtigste, und nur dieser soll hier noch kurz erörtert werden, ist die unzureichende Legitimierung der Rechtssetzungsvorgänge in der Union. Was vor allem fehlt, ist eine effektive Kontrolle der Entscheidungen der Regierungsvertreter in den Ministerräten der Union durch die nationalen Parlamente. Zu meinen, das EP könne durch vermehrte Mitbestimmungsrechte diese Kontrolle wirksam ausüben, ist ein Irrglaube. Die EU ist kein Staat und funktioniert nicht nach den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie. Ihr politisches Machtzentrum ist der Rat, das Organ der Regierungen. Und ihn, den Rat, kann das EP weder wählen noch absetzen. Dazu würde dem Parlament auch jede demokratische Legitimation fehlen, und zwar deshalb, weil es kein europäisches Volk gibt, keinen einheitlichen, historisch gewachsenen Demos, der als Ganzes durch das EP repräsentiert werden, einen gemeinsamen Willen äußern und dem sich die jeweiligen nationalen Bürger verbunden und verpflichtet fühlen könnten Die Identifikation des europäischen Bürgers mit Europa äußert sich, wenn überhaupt, in einer Art Interrail-Befindlichkeit. Ein Credo, eine verbindende, gemeinsame Überzeugung oder gar einen Patriotismus wie in Amerika gibt es in Europa nicht! Es ist wichtig, dies festzuhalten.

Die ernste Sorge, die außerdem auf nationaler Ebene bleibt, solange der jetzige Zustand währt, ist die um die Aushöhlung der Demokratie in Europa, die nun einmal bisher, von regionalen Gremien abgesehen, nur im nationalstaatlichen Rahmen ihre lebendige Ausdrucksform gefunden hat Mehr und mehr Zuständigkeiten auf wirtschaftlichem Gebiet werden den durch den Wähler legitimierten Parlamenten entzogen und den bürgerfernen Brüsseler Entscheidungsmechanismen überantwortet. Unsere Kanzlerdemokratie, ohnehin parlamentarisch nur schlecht kontrolliert, könnte, wenn wir nicht aufpassen, zunehmend zu einer von der Regierung beherrschten Exekutivdemokratie verkommen, auf die die Abgeordneten so gut wie gar keinen und die Wähler nur alle vier Jahre Einfluß nehmen können. Es ist sehr bedauerlich, wie wenig Beachtung gerade in Deutschland, im Gegensatz zu London und Paris, diesem Problem geschenkt wird.

Nach dieser kurzen Skizze der internen Verhältnisse der EU noch einige Worte zu ihrer politischen Handlungsfähigkeit nach außen. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde eine Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) eingeführt. Besonders in Deutschland versprach man sich von den vertraglichen Regelungen einen neuen Aufbruch. Die Wirklichkeit, d. h. die schwach entwikkelte Einigkeit der Staaten in wichtigen außenpolitischen Fragen, ist aber die gleiche geblieben. Sie war und ist ernüchternd, oft entmutigend. Einige bezeichnende Fälle seien erwähnt. Der schwerwiegendste und folgenreichste war die fehlende Bereitschaft der europäischen Staaten, in der Jugoslawienkrise 1992 geschlossen zu handeln und das gemeinsame politische Vorgehen notfalls mit einem militärischen Einsatz zu unterstützen. Ein anderer kaum zu erklärender Fall war die innenpolitische Krise in Albanien 1997. Nachdem die NATO entschieden hatte, sich in die dortige Krise nicht einzumischen, konnten sich auch die Europäer nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Deutschland und Großbritannien lehnten eine Teilnahme ab, obwohl es sich nur um eine begrenzte militärische Aktion handelte, bei der die Westeuropäische Union (WEU) einmal ihre Einsatzfähigkeit hätte beweisen können. Es kam dann nur zu einer Ad-hoc-Aktion unter italienischer Führung, der „Operation Alba“, die Italien allein erfolgreich meisterte Das umstrittene Unternehmen „Wüstenfuchs“ der USA gegen den Irak im Dezember 1998 zeigte erneut den mangelnden außenpolitischen Zusammenhalt der EU. Großbritannien nahm teil. Frankreich bedauerte den Einsatz. Spanien bezeichnete das Vorgehen ausdrücklich als gerechtfertigt. Deutschland nahm eine die USA und Großbritannien unterstützende Haltung ein.

Was hingegen im Gegensatz zum außenpolitischen Gewicht der EU im Ausland wirklich ernst genommen wird, ist ihre Wirtschaftskraft. Das gilt z. B. auch für den Nahen Osten. Der israelische Botschafter in Deutschland hat erst kürzlich wieder die israelische Position deutlich gemacht, nach der allein die USA der geeignete politische Vermittler im Friedensprozeß im Nahen Osten seien. Er wies dabei ganz kühl auf die großen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Union über die zu verfolgende Politik im Nahen Osten hin. Die Bedeutung Europas als Wirtschaftsmacht hingegen und als Helfer bei der Entwicklung der Region wurde auch bei ihm hoch veranschlagt Doch genügt das? Läßt es nicht aufhorchen, wenn ein Europa-Kenner wie Ralf Dahrendorf sagt: „Wenn es ernst wird, gibt es Europa in internationalen Fragen nicht.“

IV. Die Individualität Amerikas

Demgegenüber steht auf der anderen Seite des Atlantik die eigenständig gewachsene, von einem starken Gefühl der Zusammengehörigkeit ge­ prägte, auch international entschlossen handelnde amerikanische Nation, über deren Eigenart Alexis de Tocqueville schon 1840 schrieb: „Die Amerikaner haben eine demokratische Gesellschaftsordnung, die ihnen auf natürliche Weise bestimmte Gesetze und bestimmte politische Sitten eingab. Diese Gesellschaftsordnung ließ außerdem in ihnen eine Unmenge von Empfindungen und Anschauungen entstehen, die in den alten aristokratischen Staaten Europas unbekannt waren. Sie zerstörte oder veränderte alte Beziehungen und schuf neue.“

Das, was der schwedische Sozialwissenschaftler Gunnar Myrdal als den „American Creed“ bezeichnete das amerikanische Credo mit seinen Idealen von Freiheit, Chancengleichheit, antietatistischem Individualismus, Demokratie und Patriotismus, das war eine uramerikanische Schöpfung, hervorgegangen aus der relativ liberalen englischen politischen Tradition und dem dortigen Rechtssystem, vor allem aber aus der „frontier“ -Haltung, die sich von Anbeginn aus dem auferlegten Überlebenskampf und der fortschreitenden Bezwingung des Kontinents entwickelte. Sie zeichnete sich durch große individuelle Selbständigkeit, jedoch auch durch Hilfsbereitschaft und ein Einstehen füreinander aus. Aber nicht nur die äußeren Lebensbedingungen bewirkten diese unverwechselbare Geisteshaltung. Mitbestimmend war auch die Tatsache, daß keinerlei feudalistische Strukturen vorhanden waren, die die Entwicklung dieser sich so stark von Europa unterscheidenden Einstellung behinderten.

Außerdem übte die Religon einen ganz anderen Einfluß auf die Entfaltung und Festigung der amerikanischen Gesellschaft aus als auf die europäischen Gesellschaften im vergleichbaren Zeitraum. In Amerika war es eine Art gegenseitiger Ergänzung. Einerseits der amerikanische Glaube an die Demokratie mit ihrer Gleichheit der Chancen für alle, andererseits die Überzeugung, daß die Religion, insbesondere die puritanisch-protestantische, eine friedens-und demokratiestiftende Wirkung ausübe. Besonders im Calvinismus hat der Gedanke des alttestamentarischen Bundes zwischen Gott und den Menschen (Moses, Noah) als Grundlage oder Vorbild der auf dem Gesellschafts-vertrag beruhenden politischen Gemeinschaft eine Rolle gespielt: die christliche Gemeinde als Bestandteil der „civil society“, die Politisches und Unpolitisches umfaßt. Der Beginn der Nation und der Ursprung des amerikanischen Selbstbewußtseins sind nicht zu trennen von der Überzeugung, die sich in zahlreichen Zeugnissen von Predigern des 17. Jahrhunderts findet, daß es die von Gott gewollte Aufgabe Amerikas sei, die Welt religiös zu bekehren. Es bestand im übrigen von Anfang an Übereinstimmung darüber, daß die von allen gewollte Freiheit zu ihrer Regulierung auch der Einschränkung durch die Prinzipien der Religion bedürfe, die Religion aber ihrerseits auch die Freiheit, den Wettbewerb und den Erwerb von Reichtum akzeptieren müsse. Die für uns oft nur schwer verständliche Moralisierung der Politik, wie wir sie im Verlauf der Lewinsky-Affäre, insbesondere in der Amtsenthebungsdebatte im Repräsentanten-haus am 19. Dezember 1998, erlebten, war ein Beispiel für dieses Miteinander von Religion -oder auch schlichter Moralisiererei -und Politik.

Diese überkommenen Grundsätze der Religion und der Philosophie haben sich über die Jahrhunderte wenig geändert. Es ist bemerkenswert, daß auf die staatsrechtlichen Gründungsmythen auch heute noch bei vielen Gelegenheiten mühelos zurückgegriffen wird. Sich auf die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung oder die Gründungsväter zu berufen geschieht ganz selbstverständlich. Fast jeder setzt beim anderen zumindest ihre Akzeptanz, wenn auch nicht immer ein korrektes Verständnis ihrer Bedeutung voraus. Wie Studien aus den achtziger Jahren zeigen, ist das, was wir als amerikanisches Credo bezeichnet haben, nahezu ungebrochen von Generation zu Generation weitergegeben worden und auch in Zeiten vermehrter rassischer und ethnischer Spannungen mehr oder weniger unverändert geblieben. Das gilt auch für die für viele Europäer nicht leicht zu akzeptierende Wettbewerbsgesellschaft, in der der einzelne -auch im Krankheitsfall -nicht selten weitgehend auf sich selbst gestellt ist und die in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den in Europa weit verbreiteten Wohlfahrts-und Anspruchsgesellschaften steht. Wie alle, die Amerika kennen, wissen, vermittelt das Alltagsleben in den Vereinigten Staaten allerdings nicht immer ein den beschriebenen Grundsätzen und Überzeugungen entsprechendes Bild, d. h.den Eindruck einer prinzipeil liberal-religiösen Lebens-und Gesellschaftsform. Manche der Abweichungen haben historische Wurzeln. Im Vergleich mit einer Reihe europäischer Staaten, besonders Deutschland, genießen , Law and Order in den USA z. B. von alters her eine geringere Priorität als die individuellen Freiheitsrechte. Diese durch die Verfassung garantierten Freiheitsrechte sind es auch, die einen Konsens über eine weiter gehende Waffenkontrollgesetzgebung erschweren und deren Fehlen zu einem Teil, aber nur zu einem Teil, die hohe Zahl von Gewaltverbrechen erklärt. Andererseits hält die Mehrheit der Amerikaner aber auch hohe Strafen, selbst die Todesstrafe bei einem Angriff auf das hohe Rechts-gut des Lebens, als Sühne für durchaus gerechtfertigt. Europäische und amerikanische Rechtsauffassungen sind nun einmal trotz grundsätzlicher Übereinstimmungen nicht deckungsgleich.

Zum besseren Verständnis der amerikanischen Überzeugungen sei an einen wichtigen Unterschied zur Entwicklung in Europa erinnert. In Europa mußte das Individuum Ende des 18. und im 19. Jahrhundert einer mehr oder weniger festgefügten staatlichen Macht Freiräume für sich und seine politische Mitwirkung abringen. In Amerika war der Prozeß fast genau umgekehrt. Dort mußte die Regierungsmacht dem einzelnen Befugnisse oft regelrecht entreißen, gegen deren Ausübung durch den Staat er sich bis heute, selbst im Bereich der sozialen Fürsorge, gelegentlich wehrt. Amerikaner wollen möglichst allein handeln. Das Zusammenspiel zwischen Individuum und Obrigkeit funktioniert auf andere Weise als in den meisten europäischen Ländern. In den USA wird obrigkeitliches Handeln im Grunde fast stets mit Mißtrauen betrachtet, es sei denn, die Regierung weckt die starken patriotischen Gefühle der Bevölkerung und appelliert an ihren Gemeinschaftssinn.

Samuel Huntington hat vor einigen Jahren einerseits auf den breiten Konsens hingewiesen, der im Hinblick auf die grundlegenden Werte und Über-zeugungen, den „American Creed“, besteht und ihre Substanz als liberal, individualistisch, demokratisch, egalitär und antietatistisch beschrieben. Andererseits unterstrich er aber die wechselnde Intensität, mit der die Amerikaner diese Maßstäbe als wichtig und richtungweisend empfinden. Nicht der Streit um die Inhalte der politischen Überzeugungen sei für das Selbstverständnis der Amerikaner von entscheidender Bedeutung, sondern die Spannung zwischen dem Ideal und der Realität. Denn das amerikanische Denken sei zwar voll von Widersprüchen, aber es gäbe kein anderes Land, so Huntington, das in einem so hohen Maße mit seinen Ursprüngen identisch sei. Eine Beobachtung, die in ähnlichen, wenn auch allgemeineren Worten schon Tocqueville machte: „Zwei Dinge in den Vereinigten Staaten“, so schrieb er, „erregen Staunen: die große Beweglichkeit menschlichen Tuns und die eigentümliche Festigkeit gewisser Grundsätze.“

V. Die Schwerpunkte der transatlantischen Beziehungen

Bei der Betrachtung des gegenwärtigen europäisch-amerikanischen Verhältnisses scheinen gelegentlich die Gegensätzlichkeiten die Übereinstimmungen zu überwiegen. Einer solchen Sicht mangelt es jedoch an historischer Perspektive. Die Beziehungen USA-Europa waren nachweisbar noch nie so eng und umfassend, die Berührungspunkte, besonders auf politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet, noch nie so zahlreich wie in den letzten fünf Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg. Daß im Rahmen dieser ausgedehnten Wechselbeziehungen auch Divergenzen und Schwierigkeiten spürbarer zutage treten als früher, sollte nicht verwundern; gleichzeitig sind aber gerade in den letzten Jahren die gemeinsamen Überzeugungen von der zentralen Bedeutung der Menschenrechte, insbesondere der unabdingbaren Freiheit des einzelnen und dem unverzichtbaren Erfordernis einer rechtsstaatlichen Demokratie, den Staaten der westlichen Welt als verbindendes Element wieder stärker bewußt geworden. Bosnien und Kosovo sind Beispiele dafür. Vergessen wir nicht: Diese Grundsätze haben ihren Ursprung in der europäisch bestimmten westlichen Welt -nicht in Asien, nicht in Afrika und nicht im Mittleren oder Nahen Osten. Daß der Grundrechtskatalog der französischen Verfassung von 1789 große Ähnlichkeit mit dem der Verfassung von Virginia von 1776 aufweist, ist kein Zufall und einer der vielen Beweise dafür, wie intensiv der verfassungspolitische Dialog zwischen Europa, insbesondere Frankreich, und Amerika im ausgehenden 18. Jahrhundert war und wie eng und tief verwurzelt die Verwandtschaft unserer politischen Systeme und Grundüberzeugungen ist.

1. Das politische Verhältnis Europa -Amerika

Die amerikanische Europapolitik besitzt einige Grundelemente, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg wenig geändert haben. Im Rückblick auf das von ihm für 1973 ins Leben gerufene und wenig erfolgreich verlaufene Europäische Jahr („The

Year of Europe“) schrieb Henry Kissinger, prominente amerikanische Politiker beider Parteien hätten es seit Ende der fünfziger Jahre für selbstverständlich gehalten, daß ein geeintes Europa die globalen ökonomischen Lasten der Vereinigten Staaten mit übernehmen, der politischen Führung Amerikas aber weiter folgen werde Schon damals sah Kissinger die europäisch-amerikanischen Beziehungen sehr viel differenzierter, wobei er allerdings bereits in jener Zeit auch mit Unbehagen die Gefahr witterte, ein geeintes Europa werde seine Identität in Opposition zu den Vereinigten Staaten suchen Daß eine solche Entwicklung auch heute den Interessen der USA zuwiderlaufen würde, ist offenkundig. Erst kürzlich stellte der stellvertretende amerikanische Außenminister Strobe Talbott fest, eine wirtschaftlich prosperierende EU werde von den USA ohne Vorbehalte begrüßt, auch ein militärisch starkes Europa, dieses aber nicht außerhalb des Bündnisses, nicht außerhalb der atlantischen Solidarität

Im Gegensatz zu dieser klaren Position Washingtons gegenüber Europa fehlt auf dem alten Kontinent eine einheitliche Haltung gegenüber den USA. In der EU und einigen ihrer Mitgliedstaaten wurden schon früh der Wunsch und das Bestreben deutlich, aus der Wirtschafts-und Handelsmacht eine politische Großmacht werden zu lassen. Sehr prononciert äußerte sich hierzu zum Beispiel Jacques Delors, EU-Kommissionspräsident von 1985-1994 der sogar darüber nachdachte, der EU die Verfügung über die französischen Nuklear-streitkräfte einzuräumen Auch Jacques Chirac hat deutlich gemacht, wie wichtig es für ihn sei, den Gefahren eines durch die Großmacht USA verkörperten Unilateralismus entgegenzutreten und zu einem „Gleichgewicht der Interdependenzen“ beizutragen, in dem sich Europa und Amerika wechselseitig beschränken. Die Europäische Währungsunion wird von ihm als Mittel angesehen, „um effektiv gegen die amerikanische Hegemonie zu kämpfen“

Großbritannien und Deutschland -die Staaten, denen neben Frankreich in der EU besonderes Gewicht zukommt -haben demgegenüber das Verhältnis zu Washington stets entspannter betrachtet, London vor allem aus einer realistischeren Einschätzung der Machtverhältnisse als Paris. Auch halten die Briten wohl ein aktives Engagement der Amerikaner in Europa zur Kontrolle Deutschlands für wirkungsvoller als unsere Einbindung in die EU. Daß die amerikanische Präsenz in Europa eine wichtige Kontroll-und Ausgleichsfunktion für das friedliche Zusammenleben aller europäischen Staaten -keineswegs nur im Hinblick auf Deutschland -besitzt, wird auch von deutschen Politikern, die sich mit dem europäisch-amerikanischen Verhältnis genauer beschäftigt haben, gesehen Im übrigen ist die deutsche Außenpolitik aber immer wieder von Unsicherheiten durchzogen. Auch hier gibt es europäische Großmachtträume, selbst bei Politikern in herausgehobener Stellung Insgesamt orientiert sich aber die Außen-und Europapolitik zunehmend an den Realitäten, eingeschränkt allerdings durch die seit langem propagierte und auch praktizierte Außenpolitik der „Selbstbeschränkung“, die letztlich darauf hinauslaufen muß, daß dieser in vieler Hinsicht wichtigste Mitgliedstaat der EU meint, sich seiner außen-und sicherheitspolitischen Verantwortung nicht immer in einem den Urqständen angemessenen Ausmaß stellen zu dürfen. So wichtig es ist, das Gedächtnis an die Verbrechen der Hitler-Zeit wachzuhalten-sie sind und bleiben Teil unserer Geschichte -, so wenig vermag es zu überzeugen, „Nie-mehr-Auschwitz“ als das einzige Fundament unserer Republik zu verstehen Das Fundament unserer Republik kann nur die freiheitliche demokratische Grundordnung sein. Sich zu ihr mit Selbstvertrauen und Bürgerbewußtsein und nicht mit Mißtrauen gegen uns selbst zu bekennen, das sollte die Basis und das Selbstverständnis unserer Republik sowie unsere Botschaft an unsere Freunde und Nachbarn sein. Der frühere Unterstaatssekretär im amerikanischen Außenministerium Robert Zoellick schrieb kürzlich: „Die Deutschen müssen darüber diskutieren, was sie tun sollten, und nicht nur darüber, was sie nicht tun können.“

2. Die europäisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen

Die wirtschaftliche Verflechtung der marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften diesseits und jenseits des Atlantik ist groß. Das Gesamtvolumen des transatlantischen Handels beträgt etwa 640 Mrd. US-Dollar. Amerika und Europa sind füreinander jeweils der wichtigste Investitionsstandort. In Deutschland arbeiten etwa 1 700 Firmen mit US-amerikanischem Kapital, und ungefähr 2 500 deutsche Unternehmen operieren als amerikanische Firmen in den USA Die Fusion zwischen Daimler-Benz und Chrysler 1998, die bisher größte in der Automobilgeschichte, ist ein Beispiel für die Vitalität der Handels-und Investitionspolitik. Vergessen werden darf aber nicht, daß Europa für die USA nicht die einzige und wichtigste Exportzone ist. 1994 überstiegen die amerikanischen Exporte in die zur APEC gehörenden asiatisch-pazifischen Länder mit 321 Mrd. US-Dollar die Ausfuhren in die EU von 108 Mrd. US-Dollar fast um das Dreifache.

Außerdem gibt es in einer Anzahl von Sektoren des transatlantischen Handels Spannungen und Auseinandersetzungen. Zu ihnen zählen u. a. die Telekommunikation, die Luftfahrt und vor allem die Landwirtschaft. Seit Jahren schwelt der Streit um die Bananenmarktordnung der EU, durch die die EU Bananen aus Lateinamerika zugunsten von Bananen aus ehemaligen französischen und britischen Kolonialgebieten in Afrika und der Karibik diskriminiert. Andere Beispiele ließen sich nennen, wie die uns seit Jahren begleitende Auseinandersetzung um das Importverbot der EU für Fleisch von hormonbehandelten Rindern. Die Bedeutung dieser Streitfälle sollte nicht unterschätzt werden. Sie sind durchaus geeignet, das transatlantische Verhältnis von Zeit zu Zeit erheblich zu belasten.

Auch sollte uns die für beide Seiten vorteilhafte wirtschaftliche Verflechtung nicht den Blick auf einige noch vor uns liegende Probleme verstellen. Die meisten Staaten Europas stehen vor großen strukturellen Anpassungen, die auch den uns vertrauten Sozialstaat nicht ganz unberührt lassen werden. Er unterscheidet sich wesentlich von der Ohärteren, flexibleren amerikanischen Wettbe-Werbegesellschaft. Die Gefahr einer Abkopplung von den USA darf trotz der gewaltigen Wirtschaftskraft der EU nicht unterschätzt werden. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, daß die sogenannte Globalisierung, d. h. das Zusammenwachsen der Finanz-und Gütermärkte, eine sich von selbst einstellende Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Länder zur Folge hätte. Die Staaten, die sich dem globalen Wettbewerb nicht stellen, können schnell den Anschluß verlieren Die Einschätzung, daß die Einführung des Euro an dieser Problematik Grundsätzliches ändere, entbehrt einer gesicherten Grundlage. Die „Performance“ des Euro als Weltwährung wird letztlich durch die Effizienz der nationalen Volkswirtschaften der EU bestimmt. Fast abenteuerlich mutet die Erwartung an, der Euro werde gar eine wesentliche Änderung der politischen Machtverhältnisse in der Atlantischen Gemeinschaft bewirken

3. Die Allianz

Die Machtverhältnisse in der NATO unterliegen anderen Kriterien. Sie bestimmen sich weitgehend nach den jeweiligen Beiträgen der Mitgliedstaaten zur militärischen Stärke des Bündnisses. Und um die Beiträge der Europäer ist es eher schlecht bestellt, obwohl in Europa seit Jahren davon gesprochen wird, eine Europäische Sicherheitsund Verteidigungsidentität (ESVI) aufzubauen und den „Europäischen Pfeiler“ im Bündnis stärken zu wollen, wofür die WEU als eigene sicherheitspolitische Komponente der EU vorgesehen ist Der europäischen Sicherheitspolitik fehlt es an zwei entscheidenden Elementen. Zum einen scheinen die europäischen Staaten in ihrer Mehrheit nicht bereit, die notwendigen Mittel für wichtiges militärisches Gerät und die Modernisierung ihrer Streitkräfte aufzubringen. Zum anderen, und das ist fast noch gravierender, fehlt den meisten der Wille zu militärischen Einsätzen, die mit Gefahr für Leib und Leben für eigene Staatsangehörige verbunden sind. Nachfolgend nur einige Worte zu den Verteidigungsausgaben. Sie sind als Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in konstanten Preisen ständig zurückgegangen. In Frankreich von 3, 3 Prozent im Jahre 1994 auf 3 Prozent 1997, in Großbritannien im gleichen Zeitraum von 3, 3 Prozent auf 2, 6 Prozent und in Deutschland von 1, 8 Prozent auf 1, 6 Prozent Und diese Entwicklung angesichts des Nachhol-und Modernisierungsbedarfs der europäischen Streitkräfte! Die USA verfügen über 64 Aufklärungssatelliten, die Europäer über fünf. Die Vereinigten Staaten können schweres Gerät und Truppen mit 80 strategischen Transportflugzeugen über große Distanzen verlegen, die europäischen NATO-Staaten besitzen nicht ein einziges derartiges System. Diese Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen, besonders im Bereich der Luftstreitkräfte. Erwähnt sei auch die große maritime Überlegenheit der USA und ihre Führungsposition bei bestimmten, besonders wirksamen Waffensystemen wie den Marschflugkörpern Fachleute sehen die große Gefahr, daß wir Europäer in der durchaus voraussehbaren Zukunft in wichtigen Bereichen der militärischen Sicherheit nicht mehr ohne Komplikationen mit den Amerikanern werden Zusammenarbeiten können. Das erstaunt nicht, bedenkt man, daß die europäischen NATO-Mitglieder in nicht aufeinander abgestimmten nationalen Rüstungsprogrammen insgesamt ca. 12 Mrd. US-Dollar jährlich für die militärische Forschung und Entwicklung aufwenden, die USA hingegen in einem einzigen koordinierten Programm 30 Mrd. US-Dollar

VI. Rivalität oder Partnerschaft?

Die EU wird aus ihrer gegenwärtigen, ihrem wirtschaftlichen Gewicht nicht entsprechenden, außenpolitisch völlig unbefriedigenden Lage nur dann herausfinden, wenn bei ihr auf allen Ebenen mehr Sinn für die Realitäten einkehrt. Das heißt auch, daß von dem Gedanken einer machtpolitischen Rivalität mit den Vereinigten Staaten Abschied genommen und akzeptiert wird, daß eine solche Rivalität weder in Europas Kräften steht noch in seinem Interesse liegt. Will die EU in der Zukunft einen ihrem wirtschaftlichen Potential entsprechenden außenpolitischen Einfluß ausüben, benötigt sie die Partnerschaft mit den USA. Um diese zu erhalten und darin ihr Gewicht zur Geltung zu bringen, bedarf es besonders auf sicherheitspolitischem Gebiet zusätzlicher Anstrengungen. Auch hier muß in Zukunft das Handeln Vorrang vor Worten haben. Ganz sicher ist eine wirkliche Partnerschaft -keine Juniorpartnerschaft -mit Washington nicht immer einfach. Sie war es auch in den Zeiten des Kalten Krieges nicht, als die USA noch nicht die alleinige Welt-macht darstellten. Die amerikanische Außenpolitik, die in besonderem Maße innenpolitischen Einflüssen unterliegt und sehr zum Unilateralismus neigt, ist oft schwierig einzuschätzen. Und die Amerikaner selbst zeigen sich auf Grund der Stärke ihrer Überzeugungen und ihrer Selbstbezogenheit auch Argumenten von Freunden gegenüber gelegentlich wenig zugänglich.

Neuer Institutionen und neuer Konsultationsmechanismen bedarf es aber nicht. An ihnen herrscht kein Mangel. Ohnehin genießt bei den Amerikanern die Bewältigung praktischer Einzelprobleme Priorität vor allgemeinen institutioneilen Lösungsansätzen. Der in Deutschland mehrfach geäußerte Vorschlag, eine „Transatlantische Problemlösungsund Lerngemeinschaft“ zu gründen, ist eine typisch kontinentaleuropäische, um nicht zu sagen deutsche Idee, die in der amerikanischen Gedankenwelt kaum Widerhall finden kann Was notwendig ist im transatlantischen Dialog, sind vor allem Vertrauen und Offenheit, und zwar auf allen Ebenen Europa und Amerika haben mehr gemeinsam, als es manchmal den Anschein haben mag. Sie sind, trotz aller Unterschiede, die einzigen Machtzentren der Welt, in denen Menschenrechte und Demokratie nicht nur ihren Ursprung, sondern auch besonders tiefe Wurzeln haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Arnulf Baring vermerkt das kritisch in seinem neuen Buch: Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!, Stuttgart 1999. S. 319, B

  2. Vgl. Carl Bildt, Bosnien -Lehrstück für Europa, in: Internationale Politik, 52 (1997) 7, S. 3 ff.

  3. Vgl. Bundespräsident Roman Herzog in Aachen am 8. 5. 1997, in: Bulletin des Presse-und Informationsamts der Bundesregierung vom 15, 5. 1997: „In der Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen, wird es große, geistige und wirtschaftliche Machtblöcke geben, die zu uns in Konkurrenz stehen werden -fast anderthalb Milliarden Chinesen, eine Milliarde Moslems, eine Milliarde Hindus, Hunderte von Millionen Amerikaner, Russen, Schwarzafrikaner.“

  4. Vgl. Jacques Lc Goff, Das alte Europa und die Welt der Moderne, München 1996, S. 13: Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München -Berlin 1947, S. 2; Karl Hampe, Das Hochmittelalter, Berlin 1932, S, 427.

  5. Vgl. P. Koschaker, ebd., S, 212.

  6. Vgl. Hagen Schulze. Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994, S. 16 f. Vgl, zum Thema auch Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London u. a. 1998, S, 158 ff„ S. 162 f.

  7. Späte Einsicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 2. 9. 1997.

  8. So die Begriffsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts in seinem Maastricht-Urteil vom 12. 10. 1993.

  9. Roy Jenkins, Vorwort in: Dick Leonard, Das EG-Handbuch. Frankfurt am Main 1989, S. XI.

  10. Peter Hort, Teures Eigenleben, in: FAZ vom 18. 11. 1998.

  11. Vgl. hierzu Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof im Gespräch mit dem Rheinischen Merkur vom 7. 5. 1999.

  12. Vgl.den Vortrag des französischen Innenministers Jean-Pierre Chevenement: In den Nationen liegt die Zukunft Europas, in: Fazit Nation, Frankfurt am Main 1998, S. 19 ff.

  13. Vgl. Wim F. von Eckelen, Perspektiven der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik der EU, Discussion Paper C 21, Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Bonn 1998, S. 11 f.

  14. Vgl. Avi Primor, Europa, Israel und der Nahe Osten, Düsseldorf 1999; ders., Der Friedensprozeß im Nahen Osten und die Rolle der Europäischen Union, Discussion Paper C 25, ZEI, Bonn 1998, S. 13 ff.

  15. Ralf Dahrendorf im „Interview der Woche“ im Deutschlandfunk vom 27. 12. 1998.

  16. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985, S. 217.

  17. Vgl. Gunnar Myrdal, An American Dilemma, New York 1944. Vgl. dazu auch Georg Kamphausen, Ideen-geschichtliche Ursprünge und Einflüsse, in: Willi Paul Adams u. a. (Hrsg.), Länderbericht USA. Bd. I. Bonn 1992, S. 259 ff.; Hans Vorländer, Liberale Tradition und politische Kultur, ebd.. S. 303 ff.

  18. Vgl. Samuel Huntington, American Politics: The Promise of Disharmony, Cambridge -London 1981.

  19. Zit. in: G. Kamphausen (Anm. 17), S. 264.

  20. Vgl. Henry Kissinger, Years of Upheaval, London 1982, S. 131.

  21. Vgl. ebd., S. 139; ders., Years of Renewal, New York 1999, S. 602.

  22. Vgl. Strobe Talbott, Das neue Europa und die neue NATO, in: FAZ vom 5. 2. 1999.

  23. Vgl. Spiegel-Gespräch mit Jacques Delors, in: Der Spiegel, 41/1991.

  24. Delors will Atomstreitmacht Frankreichs für EG, in: FAZ vom 6. 1. 1992.

  25. Zit. in: Werner Link, Gleichgewicht und Hegemonie, in: FAZ vom 19. 9. 1997.

  26. So der Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit Karsten D. Voigt in einer Vortragsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 25. 3. 1999 in Bonn.

  27. Vgl. z. B. Friedbert Pflüger, Vorsitzender des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, Europa muß Welt-macht werden, in: Internationale Politik, 54 (1999) 1, S. 53 ff.; ders., Europas globale Verantwortung -Die Selbstbehauptung der alten Welt, in: Discussion Paper, C 36, ZEI, Bonn 1999.

  28. So Außenminister Joschka Fischer in einem Gespräch mit Bernard-Henri Levy, in: FAZ vom 18. 2. 1999.

  29. Robert B. Zoellick, Abschied von der Selbstbeschränkung, in: Internationale Politik, 53 (1998) 12, S. 21 ff.

  30. Vgl. Ernst-Moritz Lipp, Auf dem Weg zur transatlantischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Partnerschaft gestalten, Gütersloh 1997, S. 57 ff.; ders., Europa und Amerika gemeinsam gegen Protektionismus, in: FAZ vom 22. 10. 1998; Wolfgang Reinicke, Bausteine für einen euro-amerikanischen Markt, in: W. Weidenfeld, ebd., S. 67 ff.

  31. Vgl. Peter Cornelius, We must hang together. Europa darf wirtschaftlich nicht von Amerika abgekoppelt werden, in: Internationale Politik, 52 (1997) 10, S. 59 ff.

  32. Vgl. Ernst-Otto Czempiel, Europa und die Atlantische Gemeinschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/99 S. 12-21.

  33. Vgl. Christoph Bertram, Europa in der Schwebe. Bonn 1996, S. 119 ff.

  34. Vgl. NATO Brief/Frühjahr 1999.

  35. Vgl. Klaus-Dieter Frankenberger, Noch ist Europa überfordert, in: FAZ vom 16. 4. 1999; Karl Feldmeyer, Ein hoher Preis, in: ebd. vom 26. 3. 1999.

  36. Vgl. Klaus Naumann, Europa in der NATO, in: Internationale Politik, 54 (1999) 4, S. 55 ff.

  37. Vgl. Werner Weidenfeld, Die europäisch-amerikanische Kooperation braucht ein gesellschaftliches Fundament, in: Das Parlament vom 18. 4. 1997.

  38. So eindringlich der amerikanische Botschafter in Deutschland John C. Kornblum auf der Vortragsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung am 25. 3. 1999.

Weitere Inhalte

Hans Schauer, Dr. jur., geb. 1926; Botschafter a. D. Veröffentlichungen u. a.: Europa der Vernunft, München 1993; Europäische Identität und demokratische Tradition, München 1996.