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Die Entstehung des Kosovo-Problems | APuZ 34/1999 | bpb.de

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APuZ 34/1999 Die Entstehung des Kosovo-Problems Zur Haltung der südosteuropäischen Staaten im Kosovo-Konflikt Die Jugoslawienpolitik des Westens seit Dayton Die UCK -Anmerkungen zu Geschichte, Struktur und Zielen

Die Entstehung des Kosovo-Problems

Jens Reuter

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Kosovo-Problem ist ein klassisches Beispiel für einen Territorialkonflikt, in dem historisch begründete mit ethnisch fundierten Ansprüchen zusammenprallen. Die Serben behaupten, daß das Kosovo im Mittelalter die Wiege ihrer Kultur und Kirche sowie das politische Zentrum ihres Reiches war. Für sie ist es das „serbische Jerusalem“. Die Kosovo-Albaner dagegen meinen, sie seien die Abkömmlinge der alten Illyrer und damit die Ureinwohner dieser Region. Als das älteste Volk auf dem Balkan hätten sie schon lange Zeit im Kosovo gelebt, bevor die Slawen am Ende des 6. Jahrhunderts auf den Balkan kamen. Der Beitrag beschreibt die Verwobenheit von politischer Mythologie und Realgeschichte und zeigt die Brisanz auf, die sie bis heute besitzt.

Das Kosovo-Problem ist ein klassisches Beispiel für einen Territorialkonflikt, in dem historisch begründete mit ethnisch fundierten Ansprüchen zusammenprallen. Die Serben insistieren auf der Geschichte und werden nicht müde darauf hinzuweisen, daß das Kosovo im Mittelalter die Wiege ihrer Kultur und Kirche sowie das politische Zentrum ihres Reichs war. Sie bezeichnen das Kosovo als das „serbische Jerusalem“, um ihre starke emotionale Bindung an dieses Territorium zum Ausdruck zu bringen.

Kosovo

Die Kosovo-Albaner behaupten dagegen, sie seien die Abkömmlinge der alten Illyrer und damit die Ureinwohner dieser Region. Als das älteste Volk auf dem Balkan hätten sie schon lange Zeit im Kosovo gelebt, bevor die Slaven am Ende des 6. Jahrhunderts ihren Fuß auf den Balkan setzten. Doch die Kosovo-Albaner haben nicht allein historische Argumente, sie haben auch die ethnischen Fakten auf ihrer Seite. Vor dem jüngsten Krieg waren nicht weniger als 90 Prozent der 2, 15 Millionen Einwohner Kosovos Albaner; das sagen zumindest demographisch fundierte Sc 15 Millionen Einwohner Kosovos Albaner; das sagen zumindest demographisch fundierte Schätzungen. Eine genaue Zahl gibt es nicht, da die Albaner die Volkszählung von 1991 boykottiert haben. Die Anzahl der im Kosovo seit vielen Jahrhunderten ansässigen Serben wurde hingegen auf lediglich 180 000 Menschen geschätzt -verglichen mit den Albanern eine bescheidene Größe. 1948 stellten die Serben noch 24 Prozent der Bevölkerung im Kosovo, die höhere Geburtenrate der Albaner und ein stetiger serbischer Abwanderungsprozeß sorgten für die Verschiebung der Gewichte. Fragt man, weshalb sich nicht nur serbische Nationalisten emotional so stark an ein Gebiet gebunden fühlen, in dem die Serben 1998 weniger als zehn Prozent der Bevölkerung stellten, dann muß man den Kosovo-Mythos erwähnen als den grundlegenden, ethnizitätsstiftenden Mythos der Serben. Dieser Mythos beschreibt im serbisch-nationalen Sinne das Ende einer paradiesischen Urzeit. Besonders im 19. Jahrhundert wurde das romantisch verklärte Bild vom Großreich des Zaren Stevan Duäan (1331-1355) entworfen. Damals erreichte Serbien seine größte räumliche Ausdehnung. Das Kosovo mit seinen Bergwerken, in denen Silber, Gold, Blei und Eisenerze abgebaut wurden, sicherte nicht nur den Reichtum des Herrschers, es stellte auch die wechselnden Hauptstädte und war das Herzstück des Reichs. So waren die serbischen Angelegenheiten vermeintlich auf das Beste geordnet. Alle Serben lebten glücklich in einem großen Gemeinwesen, dessen Architektur, Wandmalerei und Handschriften bis in unsere Zeit Zeugnis von seiner hohen Kultur ablegen. Unter Mißachtung der historischen Tatsachen erweckten Lieder und Legenden den Eindruck, bis zur verhängnisvollen Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) im Schicksalsjahr 1389 sei Serbien ein blühendes Reich gewesen. Danach habe das Martyrium des viele Jahrhunderte dauernden Türkenjochs begonnen. Zwietracht und Verrat seien verantwortlich für die Niederlage, die Vertreibung aus dem Paradies und das Martyrium der Türkenherrschaft. Besonders unter dem Einfluß der Ideen der Französischen Revolution und der deutschen Romantik richtete sich der Wille zum eigenen Nationalstaat am romantisch verklärten Bild des mittelalterlichen serbischen Reichs aus. Herzstück dieses Reiches war das Kosovo, das stereotyp als die „Wiege des serbischen Staats“ bezeichnet wurde 1.

So wurde eine politische Mythologie entwickelt, die nicht rational erfaßt, sondern geglaubt werden wollte. Wenn viele Serben noch am Ende des 20. Jahrhunderts im Kosovo ihr „Heiliges Land“ erblicken, so speisen sich die damit verbundenen Emotionen auch aus einer anderen Quelle. Es ist die serbisch-orthodoxe Kirche, die die Jahrhunderte hindurch immer die Religion der Nation predigte. Die Kirche ist der eigentliche Gralshüter des Kosovo-Mythos. Sie sah ihre heiligste Aufgabe darin, den Glauben an ein Königreich zu nähren, das in alter Größe erstehen und alle verstreuten Glieder des serbischen Volkes wieder vereinigen würde. Jedes Jahr am Veitstag (28. Juni), dem Jahrestag der Schlacht, gedenkt die serbische Kirche nicht nur des Zaren Lazar und der mit ihm gefallenen Helden, sondern aller Serben, die seit 1389 ihr Leben für Glauben und Vaterland geopfert haben 2.

Für die serbische Kirche hat das Kosovo eine zentrale Bedeutung. Hier, in der Stadt Pec, hat die Kirche seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ihr Patriarchat. Im Kosovo stehen Dutzende von mittelalterlichen Klöstern, darunter die bedeutenden von Deani und Graanica sowie die berühmte Metropolitankirche Bogorodica Ljeviaka in Prizren. Unter der Hohen Pforte, die ja Religion und Nation gleichsetzte, wurde die orthodoxe Kirche zur Hüterin der serbischen Identität. Ganz bewußt pflegte sie die Erinnerung an die Schlacht von Kosovo und den Glauben daran, daß die Türken nicht unbesiegbar seien, sofern ihnen das serbische Volk geschlossen und einig entgegentreten würde. Mit Hilfe des Kosovo-Mythos gelang es, das nationale Selbstbewußtsein der Serben in den Jahrhunderten der Türkenherrschaft aufrechtzuerhalten und den Gedanken an die Errichtung eines eigenen Reichs zu bewahren.

Wie lebendig der Kosovo-Mythos auch in unserer Zeit ist, zeigte sich am 28. Juni 1989, dem 600. Jahrestag der Schlacht von Kosovo. Damals versammelten sich zirka zwei Millionen Serben aus ganz Jugoslawien in Gazi Meatan, dem Ort, an dem die historische Schlacht stattgefunden haben soll. Anwesend war die komplette damalige Staats-und Parteiführung Jugoslawiens. Beethovens Trauermarsch wurde gespielt, danach die jugoslawische Nationalhymne. Der Slowene Drnoväek legte in seiner Eigenschaft als jugoslawischer Staatspräsident einen Kranz am monumentalen Denkmal für die Helden von Kosovo nieder.

Bemerkenswert an diesem Tag war nicht die eher zurückhaltende Rede, die Slobodan Milosevic hielt. Dem Patriarchen der serbisch orthodoxen Kirche, German, blieb es vorbehalten, wesentliche Bestandteile des Kosovo-Mythos zu verbalisieren. Er sagte: „Wenn es um die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 geht, dann erinnert sich jeder Serbe, ob Kind oder Greis, daran. Er weiß um die Schlacht und ist all dem, was damals geschah und was sich in den folgenden Jahrhunderten ereignete, mit Herz und Seele verbunden. So ist Kosovo mit dem innersten Wesen unseres Volkes aufs engste verwoben. Unser Volk hat begriffen, daß die Tragödie von Kosovo und die darauffolgende 500jährige Sklaverei auf die Sünde zurückzuführen war. Das Unheil geschah, weil unter den Nachfolgern des großen Zaren Duäan Zwietracht herrschte und sein herrliches Reich wegen egoistischer Interessen zerstückelt wurde.“

Was war am Veitstag 1389, dem Schicksalstag der serbischen Geschichte, tatsächlich geschehen? Der serbische Fürst Lazar stellte sich unweit der heutigen Stadt Priätina den Türken zur Schlacht. Ihm zur Seite stand sein Schwiegersohn Vuk Branko-vic, nach ihm der zweite Mann im Staat. Auch die verbündeten Bosnier kämpften unter ihrem Vojvoden Vlatko Vukovic für Fürst Lazar, unterstützt von kroatischen, bulgarischen und wallachischen Hilfstruppen. Auch die albanischen Fürsten Balsha und Jonima kämpften auf der Seite der Serben, was in serbischen Darstellungen gern verschwiegen wird. Die Albaner waren zu dieser Zeit ein christliches Volk, wenngleich sie traditionell zwischen Rom und Byzanz schwankten.

Das christliche Heer war das Ergebnis eines mühsam zusammengezimmerten Bündnisses, denn die serbischen und bosnischen Edlen waren Rivalen im Kampf um den verwaisten serbischen Königs-thron. Nur die späte Einsicht, daß man sich zunächst gemeinsam gegen den gefährlichen äußeren Feind wenden müsse, hielt sie von Fehden gegeneinander ab. Das türkische Heer mit seinen Vasallen wurde von Sultan Murad angeführt, der kurz zuvor bereits die südserbische Stadt Nia erobert hatte.

Die meisten Historiker räumen ein, daß sie nicht viel mehr über die Schlacht wissen. Die zahlenmäßige Stärke beider Heere (40 000 auf türkischer, 25 000 auf serbischer Seite?) ist ebenso unbekannt wie der Verlauf der Schlacht. Man weiß nur, daß das serbisch-bosnische Heer nach Anfangserfolgen eine Katastrophe erlebte. Fürst Lazar geriet in Gefangenschaft und wurde enthauptet, während sich Vuk Brankovic und Vlatko Vukovic retten konnten. Im Lauf der Schlacht fiel auch Sultan Murad. Erst in späteren Berichten tauchte die Version auf, der serbische Held Milos Obilic sei bis zu seinem Zelt vorgedrungen und habe ihn erdolcht.

Der Sieg der Türken auf dem Amselfeld wurde erst in den folgenden Jahrhunderten zur alles entscheidenden Schicksalsschlacht hochstilisiert. Entgegen den Tatsachen wurde er mit dem Untergang des serbischen Reichs gleichgesetzt und als der Beginn der 500jährigen Türkenherrschaft gedeutet. Genährt durch unzählige Lieder und Legenden, hinterließ die Katastrophe von Kosovo in der Erinnerung des Volkes unauslöschliche Spuren. Der tragische Ausgang der Schlacht und der Tod beider Heerführer entzündeten die Phantasie. So brachte die Volksdichtung in den nachfolgenden Jahrhunderten immer neue Heldenlieder hervor, die mit den tatsächlichen Fakten nur noch in losem Zusammenhang standen. Nicht mehr das historische Ereignis der Schlacht stand im Mittelpunkt, sondern die zahllosen Lieder und Legenden, die sich um sie rankten und sie zum Mythos werden ließen Während die zeitgenössischen Quellen keine inneren Ursachen für die serbische Tragödie auf dem Amselfeld nannten, hat die Volksdichtung zu Beginn des 17. Jahrhunderts den Schuldigen ausgemacht. Es ist Vuk Brankovic, der angeblich mit 7 000 Gefolgsleuten mitten in der Schlacht zu den Türken überlief. Der schnöde Verrat erklärt die Niederlage der ansonsten als unbesiegbar geltenden Helden. Gegenpol zum Verräter Brankovic ist die strahlende Lichtgestalt des Milos Obilic, der sein eigenes Leben opfert und den türkischen Sultan erdolcht. Türkische Quellen sind hingegen bestrebt, die Rolle des „verfluchten Ungläubigen“, der es wagte, die Hand gegen die „erhabene und allmächtige Person des Sultans“ zu erheben, möglichst herunterzuspielen. Man weiß nicht, ob Milos Obilic wirklich gelebt hat, die Legende aber macht ihn zu einem serbischen Helden, der sich für sein Volk aufopferte. In vielen Liedern erscheint Milos als ein göttlicher Held, begabt mit übernatürlichen Kräften.

Symbol des Serbentums auf dem Amselfeld ist der kosovski bozur, eine Blume ähnlich unserer Pfingstrose, deren dunkelrote Farbe vom Blut der gefallenen Helden herrühren soll. Jeder Serbe kennt auch das „Mädchen von Kosovo“, das die Wunden der noch immer auf dem Schlachtfeld liegenden Helden mit kühlendem Wasser wäscht und die Schmerzgeplagten mit rubinrotem Wein erquickt. Einige Legenden weisen Züge auf, die auch in anderen Nationalepen, etwa dem russischen Igorlied oder dem Nibelungenlied, anzutreffen sind. Vor der entscheidenden Schlacht fechten der Verräter Vuk Brankovic und der strahlende Held Milos ein Duell aus, das durch einen Streit ihrer Gattinnen ausgelöst wurde. Zwei schwarze Raben sind es, die Fürst Lazars Gattin Milica die Nachricht vom unglücklichen Ausgang der Schlacht überbringen. Milica läßt im Kloster Decani zwei Meter hohe Kerzen aufstellen und gibt die Weisung, sie erst anzuzünden, wenn die Schmach von Kosovo gerächt sei. Der serbische Dichter Jovan Skerlic fand für den Stellenwert der Schlacht auf dem Amselfeld folgende Worte: „So wie der Brand von Troja das gesamte griechische Altertum überstrahlt, so überstrahlt das Unglück von Kosovo die gesamte serbische Volksdichtung und nationale Poesie.“

Die Mythen und Legenden, die sich um das Kosovo rankten, erfüllten eine wichtige Funktion: Durch den Glanz, den sie auf die Vergangenheit warfen, ließen sie das serbische Volk die dunklen Jahrhunderte der Türkenherrschaft überstehen und hielten die Hoffnung auf eine nationale Wiedergeburt wach. Es fehlte auch nicht an Versuchen, dem nationalen Schicksal einen religiösen Sinn zu verleihen. Der Untergang des serbischen Heeres und seiner adligen Führer wurde zur Schlacht des Christentums gegen die Mohammedaner hochstilisiert -Kreuz gegen Halbmond, das kultivierte Europa gegen das fanatische Asien. Hier klingt auch der Gedanke an, das serbische Volk habe sich für Europa geopfert und sei dabei von den übrigen christlichen Völkern im Stich gelassen worden. Das „Kosovo" steht für die Kreuzigung des serbischen Volkes, dessen Martyrium nicht einmal Beachtung fand. Gestützt werden soll dieser Gedanke aufgrund der Tatsache, daß sich die Türken trotz ihres Sieges auf dem Amselfeld nach Adrianopel (Edirne) zurückzogen und ihren Weg nicht weiter nach Nordwesten fortsetzten. Sie gaben sich vielmehr mit der Eroberung Serbiens und Bulgariens (1393) zufrieden und setzten ihren Expansionskurs Richtung Westeuropa erst hundert Jahre später fort. Aus der Rolle Serbiens als nichtanerkannter Retter des Abendlands entwickelte sich in unserer Zeit eine Art Opfertrauma. Serbien steht immer allein da, der Westen unterstützt nicht das Land, das sich für ihn aufgeopfert hat, sondern dessen Feinde: die Slowenen, Kroaten, die bosnischen Muslime und die Albaner im Kosovo

Der Veitstag als ein Tag schicksalhafter Entscheidung ist so tief im serbischen Bewußtsein verankert, daß Aktionen von historischer Bedeutung eigens auf diesen Tag verlegt wurden. Am 28. Juni 1914 wurde der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo ermordet. Am Veitstag des Jahres 1921 wurde die zentralistische Verfassung des ersten jugoslawischen Staates gegen den erklärten Willen der Kroaten und Slowenen verabschiedet. Am 28. Juni 1991 setzten die entscheidenden Operationen gegen das abtrünnige Slowenien ein.

Nachdem das Kosovo jahrhundertelang unter osmanischer Herrschaft gestanden hatte, entriß das Königreich Serbien den Türken 1912 im Ersten Balkankrieg dieses auch strategisch ungemein wichtige Gebiet. Das Motto der serbischen Kämpfer hieß: Rache für Kosovo! Sie wollten sich für eine Niederlage rächen, die ihre Vorfahren 523 Jahre zuvor erlitten hatten. Nur der romantische Nationalismus, wie er eigentlich für das 19. Jahrhundert typisch war, macht das nachvollziehbar. Die serbische Armee feierte ihren Sieg mit einem Festgottesdienst im Kloster Graanica -dort, wo mehr als 500 Jahre vorher Fürst Lazar und seine Ritter am Vorabend der Schlacht das Abendmahl eingenommen hatten. Das Vermächtnis der Für-stin Milica schien erfüllt. Doch die riesigen, angeblich von ihr gestifteten Kerzen im Kloster Decani konnten wegen des Ausbruchs des Zweiten Balkankriegs noch nicht entzündet werden. Dieser feierliche Akt wurde erst 1924 von König Alexander vollzogen.

In den Jahrhunderten der Türkenherrschaft hatten sich die ethnischen Verhältnisse im Kosovo geändert. Zweimal -1690 und 1737 -war es zum Auszug der Serben aus dem Kosovo gekommen, weil sie die Rache der gegen Habsburg siegreichen Türken fürchteten. Anfänglich in den verlassenen Dörfern, dann aber auch in den Städten Kosovos siedelten sich Albaner an, die zunächst noch christlichen Glaubens waren, später aber mehrheitlich zum Islam übertraten. Die Serben, die im großen und ganzen der Islamisierung widerstanden hatten, hegten Groll und Verachtung gegenüber den Albanern, die die Religion des Erzfeinds angenommen hatten. In den Augen serbischer Nationalisten waren und sind die Albaner ein nationaler Fremdkörper, der nicht in das Kosovo gehört und kein Recht auf dieses Gebiet hat. Die Albaner haben in einem gewissen Sinne die Rolle des früheren Todfeinds übernommen. Sie sind wie die Türken islamischen Glaubens und halten „urserbisches Territorium“ in ihrem Besitz.

Mit der Befreiung des Amselfelds und der Eroberung ’ Makedoniens in den beiden Balkankriegen (1912/13) sahen die Serben ihre durch den Kosovo-Mythos vorgegebene historische Mission nur teilweise erfüllt. Noch immer gab es Serben in der Diaspora wie in Bosnien und in Kroatien. Erst die Gründung des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ am 1. Dezember 1918 schien die Erfüllung des alten Traums zu sein. Alle Serben waren unter einem staatlichen Dach vereinigt, und zwar in einem Gemeinwesen, das von den Angehörigen der eigenen Nation beherrscht wurde. Es gab jedoch etliche Wermutstropfen im Becher der nationalen Freude: Das seit 1878 international anerkannte Königreich Serbien hatte seine Eigenstaatlichkeit zugunsten eines Landes geopfert, das sich seit 1929 Jugoslawien nannte. So war der serbische Name aus der Staatsbezeichnung getilgt. Zudem stellten die Serben im neuen Staat nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung. Die durch den Kosovo-Mythos vorgegebene historische Mission, nämlich die Gründung eines mächtigen serbischen Nationalstaats, war im eigentlichen Sinne nicht erfüllt.

Im sozialistischen Jugoslawien Präsident Titos rückte die Erfüllung des serbischen Traums in noch weitere Ferne. Als einzige Republik im neuen Staat mußte Serbien auf seinem Territorium die Bildung zweier autonomer Provinzen hinnehmen: Kosovo und Vojvodina. Diese „Dreiteilung Serbiens“ hatte Tito gegen erheblichen Widerstand durchgesetzt. Dabei hielt er sich an die Devise: Ein starkes Serbien bedeutet ein schwaches Jugoslawien, und ein starkes Jugoslawien kann es nur geben, wenn Serbien schwach ist. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre rebellierten die Serben unter ihrem Volkstribun Slobodan Milosevic gegen die vermeintliche Benachteiligung Serbiens. Gestützt auf das berüchtigte „Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften“, schrieb Milosevic die „Wiedervereinigung“ Serbiens auf seine Fahnen. 1989 wurde die Autonomie des Kosovos per Staatsstreich aufgehoben. Daß es dabei im Kosovo zahlreiche Tote und Verwundete gab, störte die serbische Führung nicht. Sie feierte in der Hauptstadt die „Wiedererlangung der serbischen Souveränität“.

Nach außen hin schien Milosevic voll und ganz in der Tradition des Kosovo-Mythos zu stehen. Am Beginn seiner politischen Karriere nutzte er das Kosovo-Problem als Vehikel für seinen politischen Aufstieg. Er war jedoch nie serbischer Nationalist und verspielte . kaltblütig und ungerührt die heiligsten Güter der Nation. Er instrumentalisierte die Sehnsucht seiner Landsleute nach einem starken und möglichst großen serbischen Staat, um seine persönliche Macht zu institutionalisieren und zu festigen. Durch die von ihm initiierten, finanzierten und eskalierten Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina verloren die Serben ihre jahrhundertealten Siedlungsgebiete in der Krajina und in Zentralbosnien. Durch den jüngsten Krieg im Kosovo (1998/99) hat er mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Kosovo-Serben um ihre angestammte Heimat gebracht.

Das serbische Volk ließ sich in seiner Mehrheit mit Hilfe des Kosovo-Problems manipulieren, weil man glaubte, es sei ein Unrecht, daß das ehemals serbische Kernland ethnisch fast vollständig alba-nisiert wurde. Die ethnischen Säuberungen im Kosovo, die 1998 einsetzten und 1999 im großen Stil fortgesetzt wurden, hat man propagandistisch wie folgt gerechtfertigt: Hunderttausende von Serben seien im August 1995 aus Kroatien vertrieben worden, ohne daß sich die internationale Gemeinschaft entrüstet habe. Jetzt wolle man diese Menschen im Kosovo unterbringen, und deshalb müßten die Albaner die Provinz verlassen, in der sie ohnehin ein Fremdkörper seien. Es liegt auf der Hand, daß das eine Unrecht nicht als Rechtfertigung für neues Unrecht dienen kann. Doch für einen Teil der Serben genügte diese Konstruktion, um die Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo als akzeptabel anzusehen. Es ist bemerkenswert, daß sich der Kosovo-Mythos bei den Serben immer auf die abstrakt emotionale Ebene beschränkte. Der Durchschnittsserbe hatte die heißgeliebte Wiege des Serbentums niemals gesehen, sprach also von einem Land, das er nur aus den Worten seiner Eltern, Lehrer und aus Schulbüchern kannte. Wenn man in den achtziger und neunziger Jahren in das Kosovo reiste, so suchte man dort vergeblich nach serbischen Schulklassen, die Klöster und Kirchen besucht hätten. Es gab keine Bindungen oder intensiven Kontakte zwischen dem Kosovo und dem eigentlichen Serbien. Dennoch fühlten sich die Serben ihrem historischen Kernland auf mystische Weise verbunden. Sie waren bereit, für das Kosovo viel zu opfern, obwohl sie keinerlei Kontakt zur Provinz suchten, in der zu ihrem großen Bedauern fast ausschließlich Albaner lebten. Ein Beobachter hat dieses eigenartige Verhältnis auf die Formel gebracht: Viele Serben sind bereit, für Kosovo zu sterben, aber niemand hat den Wunsch, dort zu leben. Die Kosovo-Serben wiederum spürten im Lauf der neunziger Jahre immer deutlicher, daß Milosevic keinerlei Interesse an ihnen und ihrem Schicksal hatte. Sie schickten mehrfach Delegationen mit ihrem anerkannten Führer Momcilo Trajkovic an der Spitze nach Belgrad. Doch Milosevic weigerte sich, die Vertreter der Kosovo-Serben überhaupt zu empfangen. Daher machten die Kosovo-Serben 1998 den ironisch gemeinten Vorschlag, Milosevic solle das Kosovo für sechs Milliarden US-Dollar an den Westen verkaufen. Die Kaufsumme sei dann unter den 180 000 Kosovo-Serben aufzuteilen

Aus albanischer Sicht ist das Kosovo wiederum deshalb besonders wichtig, weil hier die Anfänge der albanischen Nationalbewegung liegen. Drei Tage vor dem Berliner Kongreß (1878) formierte sich die Liga von Prizren, die mit der Forderung an die Öffentlichkeit trat, alle albanisch besiedelten Territorien zu einer Provinz unter einem türkischen Generalgouverneur zu vereinigen. Noch immer sah man im Osmanischen Reich den geeigneten Protektor albanischer Interessen; man hoffte jedoch, durch eigene Aktivitäten der drohenden Aufteilung albanisch besiedelter Gebiete entgegentreten zu können. Nach einigen Aufständen und enttäuschten albanischen Hoffnungen in bezug auf die jungtürkische Bewegung faßten die politischen Führer der Albaner unmittelbar nach Beginn des Ersten Balkankriegs (Oktober 1912) den Beschluß, das sinkende ottomanische Schiff zu verlassen und einen eigenen Staat anzustreben. Eine in aller Eile einberufene Nationalversammlung proklamierte am 28. November 1912 die Unabhängigkeit Albaniens und bildete eine provisorische Regierung.

Serbien, das im Ersten Balkankrieg das Kosovo erobert hatte, wollte sich diese Beute natürlich nicht entreißen lassen und wurde darin von Ruß-land unterstützt. Österreich-Ungarn und Italien fürchteten hingegen die Expansion Serbiens und traten für ein Großalbanien ein. Auf der Londoner Botschafterkonferenz (1912/13) entschieden sich die Großmächte für die Schaffung eines Rumpfalbaniens, das nur die Hälfte aller albanisch besiedelten Territorien einschloß. Mehr als 50 Prozent der albanischen Bevölkerung blieben außerhalb dieses Staates und gerieten überwiegend unter serbische Herrschaft. Serbien erhielt den Löwenanteil der heutigen Provinz Kosovo, und damit war eine Entscheidung getroffen, die bis in unsere Gegenwart schwerwiegende Probleme verursacht. Die heutige serbisch-albanische Grenze stimmt im wesentlichen mit der Linie überein, wie sie 1913 von der Londoner Botschafterkonferenz beschlossen wurde. Wie der britische Außenminister Sir Edward Grey damals freimütig eingestand, spielten ethnische Gesichtspunkte bei der Frage der Grenzziehung keinerlei Rolle. Es ging lediglich darum, die Interessen der Großmächte zu befriedigen

So entstand durch die Zweiteilung der albanischen Siedlungsgebiete das bis heute ungelöste Kosovo-Problem. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein Groß-albanien von Hitlers und Mussolinis Gnaden geschaffen. Die scheinbare Erfüllung des Traums von einem Albanien aller Albaner war nur von kurzer Dauer. Mit der Niederlage des Deutschen Reichs endeten alle Illusionen.

In der kommunistischen Ära fühlte sich das stalinistische Regime von Enver Hoxha nicht stark genug, um die Kosovo-Frage auf die Tagesordnung zu setzen. Papierene Proteste wegen der schlechten Behandlung der Albaner im Kosovo waren das äußerste, was sich das Hoxha-Regime in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren abringen konnte. In eine schwierige Lage geriet Albanien, als es 1981 -nur ein Jahr nach Titos Tod -im Kosovo zu gewaltsamen Demonstrationen kam, bei denen der Republikstatus für die Provinz gefordert wurde. Die jugoslawische Armee und Polizei schlugen die vermeintliche Konterrevolution blutig nieder. Tirana verurteilte dieses Vorgehen und mußte sich von Belgrad vorwerfen lassen, als Drahtzieher hinter den Unruhen zu stecken. Von nun an war die Situation im Kosovo äußerst gespannt. Tausende von politischen Prozessen gegen Albaner fanden statt, und schließlich war es der aufstrebende Politiker Slobodan Milosevic, der seine Karriere mit Hilfe des Kosovo-Problems startete. 1990 wurde die Autonomie Kosovos unter Bruch der gültigen jugoslawischen Verfassung aufgehoben. Dieser staatsstreichähnliche Akt begann mit der Auflösung des Parlaments von Kosovo und endete mit der Einführung einer Zwangsverwaltung, die einem Okkupationsregime glich. Das Kosovo wurde de facto zu einem rechtlosen Teil Serbiens degradiert. Schwere Menschenrechtsverletzungen waren fortan an der Tagesordnung. Willkürliche Verhaftungen, Mißhandlungen und Schauprozesse prägten das Bild. Die Albaner wurden aus dem öffentlichen Dienst entfernt und verloren auch ihre Posten in den Unternehmen im Staatseigentum. Arbeit fanden sie zumeist nur noch als Bauern, Händler oder Transportunternehmer.

So kam es zu der grotesken Situation, daß 200 000 Serben die politischen, ökonomischen und kulturellen Schlüsselpositionen in der Provinz innehatten, während 1, 8 Millionen Kosovo-Albaner durch ein offiziell nicht erklärtes Apartheid-System an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Unter ihrem Führer und inoffiziellen Präsidenten Ibrahim Rugova entschieden sich die Kosovo-Albaner für den gewaltlosen Widerstand und den totalen Boykott des jugoslawischen Staates. Sie beteiligten sich weder an serbischen noch an jugoslawischen Wahlen und verpaßten so mit voller Absicht jede Chance, das politische Kräfteverhältnis in dem Staat zu ändern, in dem sie lebten. Die Kosovo-Albaner versuchten, einen Parallel-oder Schattenstaat mit eigenem Bildungs-und Gesundheitswesen ins Leben zu rufen, der von der Diaspora in Westeuropa finanziert wurde. So entstand eine politische Patt-Situation. Belgrad konnte die Albaner nicht zwingen, den jugoslawischen Staat anzuerkennen und zu respektieren. Die Kosovo-Albaner wiederum kamen der von ihnen 1991 proklamierten unabhängigen Republik Kosovo kein Stück näher

Das Mutterland Albanien, das mit Beginn der neunziger Jahre das kommunistische System abschüttelte, betonte ein ums andere Mal, es habe keine territorialen Ansprüche gegen irgendeinen Nachbarstaat. Diese Erklärungen waren ein Gebot der politischen Vernunft. Natürlich wußte man in Tirana, daß man für eine andere Politik weder in Washington noch in Brüssel Unterstützung und die dringend benötigte humanitäre und wirtschaftliche Hilfe bekommen würde. Man hatte aber den Gedanken einer Vereinigung mit dem Kosovo nicht aufgegeben, sondern lediglich auf bessere Zeiten vertagt.

Am albanischen Nationalfeiertag im November 1994 betonte der damalige Premierminister Aleksandar Meksi, der Volksbefreiungskampf in Albanien habe zwei Ziele nicht erreicht: die Demokratie sowie die völlige Unabhängigkeit des Landes und des albanischen Volkes. Denn außerhalb Albaniens geblieben seien das Kosovo, die Albaner in Makedonien sowie die Albaner in Camaria (Griechenland). Der Gedanke an die nationale Vereinigung war in den Hinterköpfen der meisten albanischen Politiker stets präsent. Gleichzeitig war ihnen klar, daß eine Politik im Kosovo, die in einen Krieg münden würde, für Tirana eine große Gefahr wäre. Man wollte daher zu dieser Zeit einen bewaffneten Konflikt im Kosovo um jeden Preis vermeiden, und daher war Ibrahim Rugova mit seiner gewaltlosen Politik ein natürlicher Verbündeter Tiranas. Er schien die Gewähr dafür zu bieten, daß sich die Kosovo-Albaner nicht zu einem bewaffneten Aufstand hinreißen lassen würden.

Unter der Federführung Rugovas hatten sich im September 1993 die wichtigsten Albanerparteien aus dem Kosovo, Makedonien und Montenegro auf folgende gesamtalbanische Ziele geeinigt: einen unabhängigen Staat Kosovo, die Anerkennung der Albaner in Makedonien als staatsbildendes Volk sowie garantierte Autonomie für die Albaner in Montenegro und Südserbien.

Diese Grundsätze einer gemäßigten Politik, die den erklärten Sezessionisten und Anhängern eines bewaffneten Aufstands den Wind aus den Segeln nehmen sollten, waren von Tirana beeinflußt. Albanien blieb der einzige Staat, der die selbstproklamierte Republik Kosovo offiziell anerkannte -jedoch nur durch einen Parlamentsbeschluß, nicht durch das Außenministerium. Präsident Berisha rückte bald wieder von der Forderung nach einem unabhängigen Kosovo ab, da die internationale Staatengemeinschaft auch im Falle des früheren Jugoslawien am Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen festhielt. Er unterstützte die Idee, die Vereinten Nationen zu einer Intervention im Kosovo und zur Schaffung eines internationalen Protektorats aufzufordern. Doch ein solcher Schritt, der notfalls auch ohne die Zustimmung der serbischen Regierung erfolgen sollte, hatte 1994 keine Chance auf Verwirklichung.

Alle von Rugova ausgehenden Bemühungen, das Kosovo-Problem zu internationalisieren, schienen im Herbst 1995, als das Abkommen von Dayton geschlossen wurde, definitiv in eine Sackgasse zu geraten. Das Kosovo war das „Stiefkind von Dayton“, denn das umfangreiche Vertragswerk, das den Bosnienkrieg beendete, erwähnte das Kosovo-Problem mit keinem Wort. Dayton war deshalb die geistige Geburtsstunde der Befreiungsarmee Kosovos (UCK). Die Lehre von Dayton schien folgende zu sein: Wer wie Ibrahim Rugova über viele Jahre Gewaltlosigkeit propagiert und praktiziert, wird von der internationalen Gemeinschaft ignoriert. Wer sich wie Slobodan Milosevic der brutalen Gewalt verschreibt, wird mit einer Serbenrepublik in Bosnien belohnt.

Die Umorientierung äuf Gewalt allein löste noch nicht die Frage, woher die Waffen kommen sollten. Die inneren Unruhen, die Albanien 1997 erschütterten und den völligen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung nach sich zogen, gaben die Antwort. Die Waffendepots von Polizei und Militär wurden geplündert, mehr als 56 000 Gewehre und 1, 5 Milliarden Patronen sowie 3, 5 Millionen Granaten verschwanden spurlos. Später tauchten sie auf dem schwarzen Markt auf, und zwar in so großer Zahl, daß die Preise ins Bodenlose sanken. Eine Kalaschnikov kostete zeitweise nur 15 DM, bis sich der Preis wieder bei 300 DM einpendelte. Die Kosovo-Befreiungsarmee konnte sich so nach Belieben bedienen und sogar eine geschätzte Reserve von 100 000 Karabinern anlegen.

Im Frühjahr 1998 startete die serbische Spezialpolizei ihren Versuch, die Befreiungsarmee in statu nascendi zu zerschlagen. Die Hochburg der UCK, Drenica, wurde gestürmt, dabei fanden 25 Albaner den Tod. Weitere schwere Angriffe am 5. und 7. März forderten 58 Menschenleben. Das serbische Staatsfernsehen und die Printmedien begleiteten die Aktionen mit Haßkampagnen gegen die Kosovo-Albaner. Serbiens Präsident Milutinovic dankte den Polizeichefs für die erfolgreichen Aktionen ihrer Einheiten im Kosovo und kündigte die „energische und effiziente“ Abrechnung mit den „albanischen Separatisten und Terroristen“ an.

Im Mai erfolgte eine serbische Großoffensive im Zentrum und im Westen Kosovos. Die UCK schlug in der Stadt Pec und im Grenzgebiet zu Albanien zurück. Geblendet durch Anfangserfolge vergaß die UCK-Führung die Grundregel für jede im Aufbau befindliche Partisanenbewegung. Anstatt zuzuschlagen und sich anschließend unsichtbar zu machen, setzte sie sich in Kleinstädten wie Orahovac und Malisevo fest und versuchte 'auch, wichtige Verbindungsstraßen nicht lediglich zu unterbrechen, sondern abschnittsweise selbst zu besetzen. Diese strategischen Fehler wurden von den serbischen Sicherheitskräften gnadenlos bestraft. Unter Einsatz ihrer überlegenen schweren Waffen eroberten sie die von der UCK besetzten Ortschaften zurück und gewannen auch die Kontrolle über die wichtigsten Verkehrsverbindungen. Die UCK war viel zu früh zum Konzept der „befreiten Gebiete“ übergegangen. So gelang es ihr zwar, zeitweise bis zu vierzig Prozent des Territoriums im Kosovo zu kontrollieren, doch gerade dadurch wurde sie zum leicht zu schlagenden Angriffsobjekt ihres ungleich besser gerüsteten Gegners.

Die UCK erlitt eine Niederlage nach der anderen und mußte sich praktisch kampflos zurückziehen. Anfang August 1998 ließ sich konstatieren, daß die serbischen Sicherheitskräfte die UCK zum Rückzug nach Nordalbanien gezwungen hatten und wieder Herr der Lage im Kosovo waren. Durch diesen ersten Krieg im Kosovo wurden bereits 1998 erhebliche Flüchtlingsströme ausgelöst. Mehr als 250 000 Kosovo-Albaner wurden von Haus und Hof vertrieben. Nur wenigen Zehntausenden gelang die Flucht nach Montenegro und Albanien.

Erst in diesem Jahr wurde erkennbar, daß die Ereignisse des Vorjahrs nur ein Vorspiel zu den umfangreichen und entsetzlichen ethnischen Säuberungen waren, die besonders nach dem am 24. März begonnenen Luftkrieg der Nato intensiviert wurden. Unter Einschluß der Flüchtlinge aus dem Vorjahr wurden bis zum Mai 1999 fast eine Million Kosovo-Albaner zu Flüchtlingen gemacht, die sich zum größten Teil nach Albanien und Makedonien retteten. Nachdem Milosevic Anfang Juni den Friedensplan der G-7-Staaten und Rußlands akzeptiert hatte und die ersten 15 000 Mann der 50 000 Soldaten zählenden Friedenstruppe das Kosovo besetzt hatten, strömten die Flüchtlinge zu Zehntausenden in ihre Heimat zurück.

Der G-8-Friedensplan betont ausdrücklich, die Souveränität und territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien werde nicht angetastet. Klar ist jedoch, wenn das Kosovo in den kommenden fünf Jahren und möglicherweise länger ein UN-Protektorat bleibt, in dem die Nato die Macht ausübt, kann von jugoslawischer Souveränität in der Provinz nicht mehr die Rede sein. Schwer vorstellbar ist auch, daß die Albaner -wie im Plan vorgesehen -ein „Maximum an Autonomie“ erhalten und wieder in den jugoslawischen Staats-verband integriert werden. Die unumgängliche Voraussetzung dafür wäre die vollständige Demokratisierung Serbiens. Nur eine demokratisch gesinnte Regierung ist in der Lage, ein Maximum an Autonomie, zu gewähren, eben weil sie selbst das Konzept der Autonomie bejaht und verinnerlicht hat. Bis Serbien aber diesen Grad der Demokratie erreichen könnte, müßten zwei oder mehr Jahrzehnte vergehen. Einiges spricht dafür, daß sich das UN-Provisorium als äußerst zählebig erweisen wird. Ein wichtiger Grund für diese Annahme ist die Kosovo-Befreiungsarmee. Die UCK unterschrieb im Juni ein Abkommen, in dem sie sich zur eigenen Demilitarisierung innerhalb von drei Monaten verpflichtete. Die ersten Ergebnisse waren nicht eben ermutigend. Bis Ende Juni 1999 waren ganze 576 Gewehre abgeliefert worden Es scheint absehbar, daß sich die UCK zu einer Art Staat im Staat entwickeln wird. Pro forma wird sie einige Waffen und Uniformen abgeben. Als Armee wird sie jedoch weiter existieren, allerdings im Untergrund. Sie wird auch an ihrem Ziel der staatlichen Unabhängigkeit für das Kosovo festhalten. Die zurückgekehrte Zivilbevölkerung wird sie nolens volens in allem unterstützen müssen, denn Ungehorsam gegenüber der Untergrundarmee dürfte drastisch bestraft werden.

Die schrecklichen Ereignisse der Jahre 1998 und 1999 haben das Kosovo-Problem nicht gelöst. Zwar ist die drückende serbische Herrschaft um einen hohen Preis beendet worden, doch die Zukunft der Provinz scheint weiter im ungewissen zu liegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans-Michael Miedlig, Gründe und Hintergründe der aktuellen Nationalitätenkonflikte in den jugoslawischen Ländern, in: SÜDOSTEUROPA, (1992) 2, S. 116-130.

  2. Borba vom 29. 6. 1989.

  3. Vgl. Noel Malcolm, A Short History of Kosovo, London 1997, S. 58 ff.

  4. Rade Mihaljic, Lazar Hrebeljanovic -Istorija-Kult-predanje, Belgrad i 984, S. 288.

  5. Vgl. Juliane Besters-Dilger. Das Herz Serbiens, in: NZZ FOLIO, (Juni 1999), S. 32-34.

  6. Vgl. NIN (Belgrad) vom 2. 7. 1998.

  7. Vgl. Jens Reutet-, Die Albaner in Jugoslawien. München 1982, S. 32 f.

  8. Vgl. Jens Reuter, Die politische Entwicklung in Kosovo 1992/93, in: SÜDOSTEUROPA, (1994) 1-2, S. 18-30.

  9. Vgl. International Herald Tribune vom 30. 6. 1999.

Weitere Inhalte

Jens Reuter, geb. 1942; wissenschaftlicher Referent am Südost-Institut, München. Veröffentlichungen u. a.: Die Albaner in Jugoslawien, München 1982; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften über die Republiken des ehemaligen Jugoslawien.