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Der 9. November in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der Erinnerung | APuZ 43-44/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 43-44/1999 Der 9. November in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der Erinnerung Der Fall der Mauer -Sternstunde einer friedlichen Revolution Die 25jährigen auf dem langen Weg in das vereinte Deutschland. Ergebnisse einer seit 1987 laufenden Längsschnittstudie bei jungen Ostdeutschen Altere und alte Menschen in den neuen Bundesländern im zehnten Jahr nach der Wende. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz

Der 9. November in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und in der Erinnerung

Peter Steinbach

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

1918 wurde die Weimarer Republik ausgerufen. Fünf Jahre später, am 9. November 1923, Versuchte Hitler erstmals, die Macht zu ergreifen. Geprägt wurde die Erinnerung an den 9. November aber vor allem durch die Verfolgung der deutschen Juden durch die Nationalsozialisten; der 9. November stand deshalb zunehmend im Schatten des Parteipogroms von 1938, das im Volksmund „Reichskristallnacht“ genannt wurde. Ein Jahr nach dem 50. Jahrestag dieses belastenden Ereignisses fiel in Berlin am 9. November 1989 die Mauer; wenig später stürzte die Führung des SED-Staates und machte den Weg für den Beitritt der fünf neuen Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes frei. Die Vielfalt der Erinnerungsbezüge eröffnet die Möglichkeit, am 9. November ein Spektrum deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert vor das Auge zu rücken. Die Erinnerungsbezüge lassen sich miteinander verknüpfen und begründen zugleich Prinzipien des politischen Miteinanders in der Reflexion über grundlegende Daten deutscher Geschichte im Zeitalter der Diktaturen.

I.

Gedenktage bieten nach Theodor Heuss eine Möglichkeit, sich im grundsätzlichen Nachdenken über die Vergangenheit von den Zwängen des Alltags zu lösen. Allerdings entstehen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht selten gerade im Umfeld von Gedenktagen neue und vehement ausgetragene politische Konflikte auf Grund von Kontroversen über die Vergangenheit. Sie sind, so zeigt sich rasch, nicht immer das Ergebnis umstrittener Deutungen, sondern spiegeln unvermeidlich die Vielschichtigkeit der Geschichte selbst wider. Weil sie offen ist, eröffnet sie eine Fülle von Alternativen, die in nachfolgenden Generationen nicht selten derart intensiv erörtert werden, als handelte es sich um gegenwärtige Optionen politischer Entscheidung. Und weil viele Menschen ganz unterschiedliche Erinnerungen mit Ereignissen und deren Folgen verbinden, kann es nur vielfältige Deutungen der Vergangenheit geben.

Geschichte ist deshalb sehr oft ebenso umstritten wie umkämpft. Sie wird zum Politikum und dient dann weniger der Besinnung und Versöhnung als der Zuspitzung von Gegensätzen durch die Produktion von Schlagwörtern Nicht selten prägt die Umstrittenheit auch das öffentliche Gedenken selbst. Besonders deutlich wurde dies am 50. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Können und dürfen wir von „Zusammenbruch“ und „Niederlage“, von der „Stunde Null“ und „Neuanfang“, von „Katastrophe“ sprechen, oder sollten wir „Befreiung vom Nationalsozialismus“ vorziehen? Diese Vielfalt von Begriffen ist nicht allein Ausdruck des semantischen Kampfes um die öffentliche Meinung, sondern Ausdruck ganz unterschiedlicher Erfahrungen, die lebensgeschichtliche Bezüge aufweisen und sich dennoch von der Systemgeschichte nicht trennen lassen.

Dieses Spannungsverhältnis zeigt sich auch, wenn wir den 9. November als deutschen Gedenktag betrachten. Denn er verlangte stets eine Stellungnahme angesichts vielschichtiger Ereignisse und ihrer Verkettungen -für oder gegen die Republik von Weimar, für oder gegen die Nationalsozialisten, für oder gegen die individuelle oder kollektive Verantwortung für das Unrecht der Judenverfolgung, für oder gegen die deutsche Einheit, den SED-Staat, die Ordnung des Grundgesetzes und die Selbstbestimmung der Deutschen. Als Gegenstand erinnernder Reflexion fordert dieser Tag sogar nachträglich zur Entscheidung auf. Zudem standen alle Ereignisse in einem Zusammenhang und entzogen sich dem partiellen Gedenken und einem Erinnern, welches einen Aspekt zu isolieren suchte. Das ist das Erinnerungspotential dieses Tages und macht seine Chance aus. Zugleich liegt in dieser Besonderheit möglicherweise auch die Erklärung dafür, daß es dieser Tag schwer hat, in seiner Vielschichtigkeit wahrgenommen und akzeptiert zu werden.

Die Ambivalenz von Gedenktagen erschwert die Zelebrierung des Gedenkens und macht die Inszenierung der Erinnerung zum immer wieder umstrittenen Politikum. Erinnern wird im politischen Gegeneinander zunehmend fragwürdig und ruft nicht selten Widerstände hervor, die sich bis zum vehement ausgetragenen Historikerstreit steigern können, der weniger auf die Zunft der Fachleute als auf die Öffentlichkeit zielt und ein Symptom problematischen Geschichtsverständnisses darstellt. Nicht zuletzt läßt sich dies in Deutschland spüren, wo man seit etwa 20 Jahren sehr intensiv über Gedenktage streitet. Der Streit um die Vergangenheit ist nicht neu. Geschichts-, gedenk-und erinnerungspolitische Auseinandersetzungen prägten die fünfziger Jahre allerdings wesentlich weniger als die sechziger und siebziger Jahre Und in den achtziger und neunziger Jahren nahmen die Auseinandersetzungen zur Vergangenheit derart zu, daß man von „Geschichtspolitik“ zu sprechen begann. Vorherrschend waren lange zeitgeschichtliche Kontroversen, die vor allem Fragen der politischen Gestaltung, etwa im Zusammenhang mit der befristeten und schließlich völligen Aufhebung der Verjährungsfristen von NS-Gewalt-verbrechen, berührten. Immer waren aber auch Deutungskonflikte spürbar. Strittig waren dabei nicht die Ereignisse, sondern deren Bewertung und tagespolitische Konsequenzen.

Im Streit über die Vergangenheit entstand immer wieder eine geradezu paradoxe Situation. Wurde einerseits der Anspruch erhoben, durch historisch-politisches Gedenken den Zusammenhalt von Gesellschaften zu stärken, so war das Ergebnis nicht selten ein heftiger politischer Streit um die Vergangenheit. Er hat manche Feierlichkeiten an Jahrestagen begleitet, weniger allerdings den 9. November. Die Erklärung liegt darin, daß der Jahrestag des 9. November in der Erinnerung nach 1945 durch das Novemberpogrom bestimmt wurde. Aus dem Blick war nämlich die Vielschichtigkeit dieses Datums geraten, die mit dem Mauerfall wieder bewußt wurde und weiter zurückschauen ließ. Nicht nur 1989 und 1938, sondern auch 1918 und 1923 hatte sich dieses kalendarische Datum in das Gedächtnis eingebrannt. So steht er für ganz unterschiedliche Erinnerungsanlässe und verkoppelt sie in der Deutung. Hier könnte die relativierende Vielfalt eines unterschiedliche Systembezüge aufweisenden Gedenktages wie des 9. November heilsam sein. Denn dieser Tag könnte durch die Vielfältigkeit der Erinnerungsanlässe zum einen das Systemübergreifende der Geschichte deutlich machen, die wir trotz aller „Sprünge“ und Epochengrenzen nur als Kontinuum zu denken vermögen, zum anderen aber auch die Differenziertheit des Zivilisationsbruchs ahnen lassen.

II.

Historiker können sich die Vergangenheit nicht zurechtschneiden, sondern sie haben die Aufgabe, die Vielfalt der Vergangenheit auch in ihrer Widersprüchlichkeit in das Bewußtsein ihrer Zeitgenossen zu rücken. So gesehen, bietet der Gedenktag eine große Chance für das „inszenierte Erinnern“, das Gedenken. Gewiß ist das Datum „ 9. November“ zunächst ein Zufall der Geschichte, dessen verschiedene Bezugspunkte sich zu einem sinnvollen Zusammenhang nur durch Reflexion und „Konstruktion“ verbinden lassen. Wenn es aber zu den Aufgaben des Historikers gehört, ein „herkömmliches und allzu bequemes Vergangenheitsverständnis richtigzustellen und zu problematisieren“ dann bietet sich gerade dieser Tag dafür an. Denn die mit ihm verknüpften Ereignisse fügen sich zu einem Spannungsbogen, in dem Chancen und Möglichkeiten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert ebenso sichtbar werden wie das denkbar Negative einer menschlichen Gemeinschaft, die Diffamierung und Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Vernichtung Andersdenkender, mithin die jeweils ganz spezifische Realität eines inneren „moralischen“ und eines äußeren Zusammenbruchs der jeweiligen beiden deutschen „Anti-Zivilgesellschaften“. Überdies aber ist zu fragen, ob sich nicht die Problematik des Erinnerns selbst am Beispiel dieses Tages verdeutlichen läßt? Wird nicht im 9. November der Charakter des 20. Jahrhunderts als Epoche radikal vollzogener Umbrüche sichtbar? Zu diesem Zweck muß man weiter ausgreifen und zunächst an den 9. November 1918 denken, der das Ende des Kaiserreichs markiert, das gleichbedeutend war mit der Geburtsstunde der Weimarer Demokratie. Das hat auch Konsequenzen für die Bewertung der NS-Zeit, die wiederum an das Ende der ersten deutschen Republik geknüpft bleibt. Denn immer wieder wurde das Ende der Weimarer Republik 1930/1933 als Folge eines verfehlten Anfangs 1918 gedeutet.

Die aus dem Bismarckreich hervorgegangene Wilhelminische Monarchie, die aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg hervorgehende erste deutsche Republik, die aus dem Scheitern dieser Monarchie stets bedrohte und bekämpfte, am 9. November 1923 durch den „Hitlerputsch“ fundamental herausgeforderte und gefährdete Republik -aus der letztlich doch die nationalsozialistische totalitäre Diktatur, aus der nach der Befreiung vom Nationalsozialismus der von den westalliierten Siegern ermöglichte freiheitliche Verfassungsstaat hervorging -verknüpft die beiden zuerst genannten „ 9. November“.

Der 9. November 1923 ist wiederum nicht zu trennen vom 9. November 1938, und dieser verweist auf die Notwendigkeit einer Überwindung des Nationalsozialismus. Diese ereignet sich erst spät, zu spät mit der Niederlage 1945, und auch nicht aus eigener Kraft der Deutschen. Die Niederlage führt in die staatliche Teilung, die zwar nicht erträglich ist, aber hingenommen wird als Konsequenz einer mißlungenen deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Mit der Teilung verbunden ist die Etablierung der DDR, der aus der Sowjetischen Besatzungszone hervorgehenden zweiten -diesmal sozialistischen -Diktatur, schließlich die Entstehung eines aus dem Zusammenbruch der DDR hervorgehenden vereinigten Deutschland. Damit steht der 9. November 1989 für die Über-windung der Teilung, die nicht zuletzt aus der NS-Gewaltpolitik begründet wurde. Insgesamt haben die deutschen „ 9. November“ immer auch einen Bezugspunkt in einem der jeweils anderen nachwirkenden Jahrestage des „ 9. November“ dieses Jahrhunderts. Läßt sich diese vielfache, zunächst nur datumsmäßig bedingte Dimensionierung des Tages bündeln? Möglicherweise dann, wenn wir mit diesem Tag an politische und moralische Umbrüche erinnern, die sich gegenseitig bedingen und erklären. Systemumbrüche verlangen von den Bürgern Neuorientierungen. Diese können die Konsequenz gelungener Umorientierungen des politischen Weltverständnisses sein. Die Suche nach neuen Maßstäben und Koordinaten politischen Verhaltens ist nicht mit der Wendebereitschaft und viel zitierten „Anpassungsbereitschaft“ gleichzusetzen, sondern sollte als Ausdruck einer Bemühung um Maßstäbe neuer politischer Wegführung thematisiert werden. So markieren die Jahrestage des 9. November von 1918, 1923, 1938 und 1989 nicht nur einen Umbruch, sondern in ihnen erschließt sich mit der Vielzahl von Systemwandlungen auch eine Fülle politischer Reflexionsanlässe. Jeder der genannten Jahrestage verlangte von dem jeweiligen Zeitgenossen immer wieder aufs neue eine Klärung des grundsätzlichen Verhältnisses von Individuum und Staat. Das Nachdenken über jeden dieser Tage berührte so das politische Menschenbild und das politische Selbstverständnis des Einzelnen. Denn jede Verfassungsordnung propagierte neue Tugenden und Wertvorstellungen und berief sich dabei doch -beschwörend und zugleich oft distanzierend -auf die Vergangenheit.

Systemumbrüche sind eine wichtige Voraussetzung, die Reflexionen über diese ein wichtiger Umstand des politischen Wertewandels, und dies um so mehr, je grundlegender der politische Wandel ist. Dieser Wandel von Wertvorstellungen ist nicht, negativ formuliert, Ausdruck einer schleichenden Erosion oder sozialgeschichtlicher und mentaler Veränderungen, sondern die -positiv zu bewertende -Folge einer grundlegenden politischen Entwicklung, die mit dem zeitgeschichtlichen Wandel die Bezugspunkte politischer Erfahrung verändert. Er kann nicht als Ausdruck eines Verfalls beklagt werden, sondern begleitet einen Prozeß, der in die Tiefen und Krisen der deutschen Geschichte hinein -durch Reflexion und verantwortliches Handeln aber auch aus diesen herausführt. Er trägt letztlich zur Herausbildung demokratischer und freiheitlicher Verfassungsformen und zur Festigung der politischen Normen bei, die wir heute im Konzept der Zivilgesellschaft zusammenfassen. Die Civil Society ist immer auch das Resultat einer Klärung des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sonderwege sind zu bewältigen und das Sonderbewußtsein zu überwinden, welches den Kontakt zu anderen Gesellschaften erschwert, und auch die „Pfadabhängigkeit“ der Gegenwart ist zu reflektieren, um ihre historische Bedingtheit von Gegenwart und Zukunft besser erfassen zu können. Nicht zuletzt geht es um historisch-pädagogisch reflektierte Handlungsmaximen, die zu begründen und zu beschwören sind.

Dazu bietet sich der 9. November in besonderer Weise an, denn er macht vieles zugleich deutlich: -die Unverzichtbarkeit von Menschenrechten und die Folgen der rassischen und politischen Entrechtung und Verfolgung von Mitmenschen für ein Gemeinwesen; -die begrenzte Überlebensfähigkeit reformunfähiger Regime, die Unabdingbarkeit einer freiheitlichen Verfassungsordnung; -das immer von jederzeit möglichen Übergriffen geprägte Spannungsverhältnis zwischen Staatsgewalt und Grundrechten, das im deutschen National-und Verfassungsstaat stets bewältigt werden mußte und prekär blieb; -schließlich die Achtung, die in der internationalen Gemeinschaft ein Staat und seine Gesellschaft finden können, die sich der Vergangenheit stellen und durch die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen politischer Katastrophen und moralischen Versagens nicht nur Anerkennung, sondern auch Vertrauen schaffen. Diese Deutung hat zur Voraussetzung, die Jahrestage des 9. November in einen Zusammenhang zu rücken und so aus der Isolation zu befreien, die Folge einer Konzentration auf nur eines der kategorialen Ereignisse -1938 oder 1989 -sein müßte. Mit Blick auf die „ganze“ deutsche Geschichte zeigt sich: -Der 9. November 1918 bezeichnet den Anfang einer republikanischen deutschen Geschichte und markiert das Ende der Untertanengesellschaft. -Der 9. November 1923 steht für den Versuch, in Deutschland eine Diktatur nach italienischem Vorbild zu errichten, aber auch für eine erfolgreiche Abwehr dieses Staatsstreichversuches. Erst die Nationalsozialisten etablierten mit dem Jahrestag des Münchener Hitlerputsches ihren wichtigsten Gedenktag, um rückblickend ihre Niederlage in einen Sieg umzudeuten. Sie knüpften an den weit zurückliegenden 9. November 1918 an und deuteten ihn als Angriff auf die „Novemberverbredier“. Deshalb steht dieser Tag in Verbindung mit der nationalsozialistischen Machtergreifung, aber auch mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. /9. Mai 1945. Für die Nachlebenden steht der 9. November 1923 für eine ganz andere Tendenz: Die NS-Zeit hat mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus begonnen. So rechtfertigt der Hinweis auf den 9. November 1923 das Konzept der abwehrbereiten und streitbaren Demokratie, die ihre Gegner zu bekämpfen weiß. „Wehret den Anfängen!“ als politisches Schlagwort bekommt von diesem Tag her einen Sinn. -Der 9. November 1938 machte deutlich, wie rasch aus dem Mitmenschen ein Gegenmensch werden kann. Der Tag bietet einen sichtbaren Bezugspunkt, der mit dem Völkermord an den Juden-, den Roma und Sinti sowie der Ermordung Geisteskranker aus rassenideologischen Gründen einen Endpunkt hatte. Er diente immer wieder der zivilisatorischen Selbstverpflichtung der deutschen Nachkriegsgesellschaft. -Der 9. November 1989 sichert eine freiheitliche Lebensordnung für ein vereinigtes Deutschland. Er ist nicht denkbar ohne die Überwindung der Angst vor einer repressiven Staatsmacht und symbolisiert den einzigen gelungenen Massenaufstand deutscher Geschichte. Der Ruf „Wir sind das Volk“ steigert sich zum trotzigen Bekenntnis: „Wir sind ein Volk“ und beendet die Epoche der „Nachkriegszeit“, der deutschen Teilungsgeschichte.

Zugleich öffnet sich der Pfad einer Vereinigungsgeschichte, die manche Wurzel in den deutsch-deutschen Mentalitäten hat, ihre Herausforderung aber in den Jahren nach 1989 bestehen mußte bzw. muß: den Jahrzehnten der Vereinigungsgesellschaft.

So bietet die Erinnerung an die verschiedenen Ereignisse dieses Tages dem historisch reflektierenden Zeitgenossen eigentlich die Chance, nicht nur die frühen Hoffnungen, sondern auch die Last und die Schande deutscher Geschichte, nicht zuletzt aber auch die Freude über den unerwartet glücklichen Ausgang einer viele Jahrzehnte als verfehlt empfundenen Zeitgeschichte vor das Auge seiner Zeit zu rücken. Denn am Endpunkt steht die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, deren Teilung eine Folge des Krieges war -vereinigt im Gehäuse des freiheitlichen Verfassungsstaates, ausgestattet mit einer denkbar guten Verfassung, die erstmals in der deutschen Geschichte als Ausdruck einer Verbindung von Nationalstaats-prinzip und freiheitlichem Verfassungsstaat gedeutet werden kann.

III.

Angesichts einer Teilung Deutschlands, die aus außen-und sicherheitspolitischen Gründen über Jahrzehnte hinweg für unüberwindbar gehalten wurde, ist es nicht überraschend, daß die Erinnerung an den Fall der Mauer und die Überwindung der Teilung, die im Spätherbst 1989 in den überraschenden Zusammenbruch der sozialistischen Systeme mündete, die öffentliche Bewertung prägt. Am 9. November 1989 stand die Öffentlichkeit unter dem Eindruck eines offensichtlichen Zerfalls einer der beiden Weltmächte, dessen Verlauf ebensowenig abzusehen war wie dessen Ergebnis. Man ahnte, daß sich aus dem Mauerfall in rasender Entwicklung die deutsche Einheit entwickeln könnte, aber nur wenige gaben diese Erwartung zu diesem Zeitpunkt zu erkennen.

Ein Jahr später herrschte Klarheit. Das Ereignis des „Mauerfalls“ und der sich schnell vollendende Prozeß des Beitritts der neuen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wurde nun nicht nur als unvorstellbar empfunden, sondern als Epochenbruch, als das Ende der Nachkriegszeit gedeutet. Sehr früh wurde aber deutlich, daß das nächstliegende Ereignis keineswegs die vorangegangenen verdrängte. Allerdings wurde nicht einmal einen Monat nach der Einsetzung des nationalen Gedenktages vom 3. Oktober 1990 deutlich, daß sich die Erinnerung an den 9. November verändert hatte und auch wandeln mußte, denn zu vielfältig waren die Bezüge, die mit diesem Tag verknüpft wurden.

Jahrzehntelang war der 9. November nach 1945 vor allem als Jahrestag der Erinnerung an die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen begangen worden. Sie hatten ihren sichtbaren Ausdruck in einem Parteipogrom gefunden, das für die Deutschen ein besonderes Gewicht erlangt hatte. Mit dem Mauerfall 1989 wurde deutlich, daß sich der 9. November in Zukunft ganz augenscheinlich einer eindimensionalen Deutung im Gedenken entzog. Stand für den einen das Ende der DDR im Vordergrund, das sich aus dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des SED-Staates als entscheidender Voraussetzung für die am 3. Oktober vollzogene Vereinigung entwickelt hatte, so verwies der andere auf den 9. November 1938, auf die Kehrseite der deutschen Geschichte im Zeitalter der Destruktivität, die den Untergang des osteuropäischen Judentums besiegelt hatte.

So charakterisiert den 9. November jene historische Deutungsvielfalt, die Kennzeichen und Ausgangspunkt des Geschichtsverständnisses pluralistischer Gesellschaften ist. Zweifellos unterscheiden sich die Erinnerungsbezüge erheblich von jener lebensgeschichtlichen Vielfalt, die Ausdruck höchst unterschiedlicher, aber gleichzeitiger Erfahrungen sind und etwa den 8. /9. Mai 1945 charakterisieren.

Diese Eigenschaft hebt die meisten anderen möglichen deutschen Gedenktage vom 9. November 1989 ab. In der Vielzahl seiner Erinnerungsanlässe spiegeln sich aber vielfältige und völlig widersprüchliche Ereignisse, die auf den ersten Blick nicht in Einklang zu bringen sind und vielleicht gerade dadurch eine besondere Chance für die Auseinandersetzung mit der deutschen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert, für die individuelle Erinnerung und das historisch-politische Gedenken bieten könnten. Dieser Tag lenkt mit seinen Ereignissen den Blick auch auf die unterschiedlichen Verfassungssysteme. Je nach Zählweise haben wir es in Deutschland mit mindestens sechs ganz unterschiedlichen politischen Systemen zu tun, die sich voneinander abgegrenzt und nach 1949 auch gegeneinander abgesetzt haben und doch aneinander gekettet blieben, mit -der konstitutionellen Monarchie bis zum Jahre 1918, -der parlamentarisch-pluralistischen Republik von 1919 bis 1932; -der totalitären Diktatur des nationalsozialistischen Typs 1933-1945; -schließlich der vierfachen Besatzungsherrschaft 1945-1949; -dem liberaldemokratischem Verfassungsstaat, der Bundesrepublik Deutschland seit 1949, der in der Regel mit seiner Bundeshauptstadt Bonn apostrophiert wird und mit der Annahme des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 Kontur gewann; -der sozialistisch-volksdemokratischen „Volksrepublik“, die sich selbst „Deutsche Demokratische Republik“, kurz: „DDR“, nannte und vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 bestand, aber mit dem 9. November 1989 zu vergehen begann.

Die beiden deutschen Teilstaaten stellten ihre Legitimation gegenseitig in Frage und fanden erst allmählich seit den späten sechziger Jahren einen Modus vivendi, der zwar keine Klärung der Souveränitätsfragen und des Staatsbürgerrechtes brachte, gerade dadurch aber die Offenheit der deutschen Frage und die besondere Verantwortung der vier Mächte für Deutschland als Ganzes bis über den 9. November 1989 hinaus manifestierte.

Jedes dieser Systeme rechtfertigte sich historisch aus dem Versagen der anderen vorausgegangenen oder gleichzeitig existierenden -Systeme und beanspruchte zugleich, einen Neuanfang nach einem Bruch zu verkörpern. Zum Symbol dieses Anspruchs wurde -in unterschiedlicher Intensität und in je eigener Färbung -der 9. November. Mit diesem Tag rückte in jedem System eine vielfältige, ganz widersprüchliche Empfindungen hervorrufende Geschichte in das Bewußtsein der nach-lebenden Zeitgenossen. So gegensätzlich die Systeme waren, so überraschend ist angesichts dieser rückwirkenden Legitimationsmuster die unbestreitbare Tatsache, daß die sehr verschiedenen 9. November die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert miteinander verknüpfen, geradezu verklammern.

Der Beginn der Geschichte der Weimarer Republik, der frühe Aufstieg des Nationalsozialismus, die gewaltsame Verfolgung von deutschen Juden und ihre zerstörerische Ausschaltung aus dem deutschen Wirtschaftsleben als Steigerung der Entrechtung durch die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 und entscheidende Voraussetzung des Völkermords der vierziger Jahre, schließlich aber auch der Zusammenbruch der DDR als Voraussetzung der ein knappes Jahr später verwirklichten Einheit machten den 9. November in jeder der deutschen Verfassungsordnungen nach dem Ende des deutschen Kaiserreiches immer wieder auf eine ganz grundsätzliche Weise zum Bezugspunkt kollektiver Erinnerung, der dem einzelnen Betrachter viel abverlangt, will er die vielfältigen Erinnerungsbezüge in einer Weise integrieren, die ihm Mißverständnisse ersparen.

Denn er muß in gleicher Weise eine inzwischen weitgehend im Gedächtnis versunkene Erinnerung -1918 -mit einer ideologisch hochgradig verzeichnten und negativ beladenen -1923 -, schließlich mit einem extrem schmerzhaften -1938 -und letztlich wiederum mit einem zugleich sehr freudig und Begeisterungsstürme entfachenden Ereignis -1989 -in Einklang bringen. Dies kann nur gelingen, wenn man dieses Datum in seiner Vielfalt akzeptieren und in das Zentrum einer offenen, gefährdeten, bedrohlichen und dennoch gelingenden Geschichte rücken würde.

Deutsche Publizisten und Historiker tun sich mit der Anerkennung des 1989 eingetretenen Umbruchs schwer, denn für sie ist der 9. Novem­ber viele Jahrzehnte vor allem ein Symbol des Zivilisationsbruchs gewesen, der seinen Ausdruck in einem destruktiven Parteipogrom fand, gegen das sich kaum Widerstand richtete. Bemerkenswert ist deshalb, wie unbefangen sich der amerikanische Zeithistoriker Fritz Stern, der letzte Friedenspreisträger des deutschen Buchhandelns in unserem Jahrhundert, über den 9. November geäußert hat. Man könnte deshalb geradezu von „dem 9. November“ als Symbol der Zäsuren sprechen, welche die Geschichte der Deutschen gliedern Der 9. November gilt so geradezu als ein deutscher Schicksalstag. Fritz Stern brachte das Gewicht dieses Tages auf den Begriff: „Die Koinzidenz dieser Daten versinnbildlicht eine Last, die auf der deutschen Nation liegt: Ihre komplizierte und kompromittierte Vergangenheit ist von ungeheuerlicher Gegenwärtigkeit in der Welt von heute.“

In der Tat: Es gibt wohl kaum ein Datum, in dem sich die ganze Problematik, aber auch die Gefährdungen und Chancen der deutschen Geschichte im Jahrhundert der Diktaturen besser greifen läßt. 1918 wurde an diesem Tag die Republik ausgerufen. Sie verkörperte nicht nur eine große Chance für die deutsche Demokratie, sondern belegte auch, daß Staaten und Gesellschaften, die keine Fähigkeit zur Anpassung an neue Gegebenheiten und Entwicklungen haben, keine Zukunftschance besitzen.

Die Revolution vom November 1918 hatte ihre Voraussetzung in der Unfähigkeit der politischen Führungsschicht des Kaiserreiches, die grundlegenden Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus der Demokratisierung der Willensbildung und der Parlamentarisierung des politischen Systems ergaben, das als „deutscher Konstitutionalismus“ bezeichnet wurde. Sein Kennzeichen ist die faktische, nicht aber die programmatische Verneinung des „monarchischen Prinzips“ durch den Grundsatz der Volkssouveränität. Die militärische Niederlage 1918 war die Voraussetzung für die Wahlen zur Nationalversammlung auf der Grundlage eines demokratischen Wahlrechts Anfang 1919 und die Annahme des Weimarer Verfassungsentwurfs am 11. August 1919. Sie enthielt einen Grundrechtskatalog und sollte das parlamentarische System in Deutschland auf eine feste Grundlage stellen. Für die Zeitgenossen der Weimarer Republik war der 9. November 1918 der Tag, an dem das Kaiserreich unterging. Dieser Tag gilt zugleich als der eigentliche Geburtstag der „deutschen Republik“.

Belastet war diese Republik durch die Notwendigkeit, die Folgen des Krieges zu bewältigen. Unruhen in der Gründungsphase, Hyperinflation, ständige Konflikte zwischen der Rechten und Linken, eine schleichende Erosion der republikanischen Kräfte und der Untergang einer von vielen aktiv bekämpften, schließlich von ihren Anhängern weitgehend preisgegebenen Republik besiegelten ihr Schicksal. Im Rückblick erschien die Weimarer Republik fast als ein von Anbeginn zum Untergang bestimmter Staat, der kaum eine reale Chance hatte, sich zu behaupten. Dieses Bild von der Weimarer Republik als „belagerte Civitas“ (Michael Stürmer) trifft keineswegs ganz die stets gegebene offene historische Situation des November 1918, die immerhin viele grundlegende Reformen wie das Frauenwahlrecht, den Achtstundentag, Fortschritte bei der Jugendpflege und in der Wohlfahrtspolitik sowie eine überwältigende Bildungsexpansion gebracht hatte.

Die Gründung der Weimarer Republik stand so auf höchst problematische Weise im Schatten ihres Untergangs; das Scheitern der ersten deutschen Demokratie diskreditierte den 9. November 1918 in mehrfacher Hinsicht. Die Nationalsozialisten hatten nach 1933 immer wieder gegen die „Novemberverbrecher“ polemisiert; sie verdrängten diesen Tag aus der kollektiven Erinnerung. Die Bundesrepublik Deutschland, die „Bonner Republik“, stand im Schatten der Angst, noch einmal Weimarer Verhältnisse überstehen zu müssen. Die DDR-Führung schließlich lastete den demokratischen Weimarer Parteien und insbesondere der Sozialdemokratie das Scheitern der Weimarer Republik an und beschuldigte die SPD des Kompromisses mit politischen Kräften, die aus Furcht vor ihrer Entmachtung Hitler als Instrument ihrer Klassenherrschaft benutzt hätten, um die Kommunisten zu unterdrücken und jeder Revolutionierung der deutschen Gesellschaft entgegenzutreten.

Die Verknüpfung des Untergangs der Republik von Weimar mit ihrem revolutionären Ursprung begünstigte die Verdrängung der Erinnerung an ein Ereignis, das fünf Jahre nach der Novemberrevolution, am 9. November 1923, geschah: der „Hitlerputsch“. Er endete mit dem fehlgeschlagenen Marsch der NSDAP und der Anhänger des Generals Ludendorff auf die Münchener Feldherrnhalle. Hitler deutete diesen Tag als das Fanal seiner Bewegung; zugleich machte er aber deutlich, daß die Weimarer Republik Widerstandskräfte besaß und sich zu behaupten wußte.

Der 9. November 1938 wurde zum Synonym einer denkbar dunklen Geschichte und prägte die Erinnerung der Beteiligten nachdrücklich. In der Nacht zum 9. November 1938 brannten in Deutschland die Synagogen, wurden Geschäfte und Wohnungen von Juden zerstört und geplündert, ihre Bewohner oder Besitzer mißhandelt, nicht selten durch die Straßen geprügelt und in der ersten rassenpolitisch bedingten Massenverhaftung in Konzentrationslager verschleppt. Seitdem ist die Pogromnacht zum Symbol der destruktiven Übergriffe antisemitischer Ausschreitungen geworden, zu einem Symbol der nationalsozialistischen Verfolgungs-und Ausrottungspolitik. Der 9. November wurde lange Zeit auch in einer höchst umstrittenen Begrifflichkeit als „Reichskristallnacht“ bezeichnet. Bald sprach man aber auch vom „November-“ oder vom „Parteipogrom“, dem Symbol für den Verlust humaner Orientierung, die sich später im Völkermord an den Juden manifestierte.

Der 9. November hätte sich ein Jahr später beinahe auf eine ganz andere Weise in die kollektive Erinnerung gegraben. Denn ein Jahr nach den Übergriffen, die bald als der Anfang vom Ende des deutschen und des europäischen Judentums bezeichnet wurden, am 9. November 1939, verübte der Schreiner Johann Georg Elser im Münchener Bürgerbräukeller ein Bombenattentat auf Hitler, dem dieser nur durch einen Zufall entging. Elser wurde viele Jahre lang verunglimpft und sogar als Agent provocateur, als Werkzeug der NS-Führung bezeichnet. Sein Attentat stand immer im Schatten des 20. Juli 1944 und wurde nur selten und dann sehr spät in das kollektive Gedächtnis der Deutschen gerückt. Den Zusammenhang zwischen seiner Tat und dem Widerstand von Christen, Militärs und bürgerlichen Regimegegnern stellten die Nationalsozialisten eigentlich erst in seiner Todesstunde her. Elser wurde am 9. April 1945 ermordet, am selben Tag wie die Regimegegner Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer.

IV.

Im Jahre 1989 stand die Erinnerung an den Parteipogrom von 1938 ganz im Schatten des Mauerfalls. In der öffentlichen Diskussion des Jahres 1990 hingegen ging es weniger um das Nebeneinander als um die Auseinandersetzung mit der Überlagerung der Erinnerung an das Novemberpogrom durch den Tag des Mauerfalls. Nun erst wurde das Datum „ 9. November“ zu einer Chiffre, die in einem kaum auflösbaren Spannungsverhältnis zu den vorangegangen Weichenstellungen stand, die bislang mit dem 9. November verbunden wurden. Der Tag des Mauerfalls hatte auch eine irritierende Funktion. Denn strittig war nun, ob überhaupt erinnernd und gedenkend an die Fülle historischer Ereignisse angeknüpft werden könnte, die diesen Tag charakterisierten. Der 9. November 1938 galt vor allem als Jahrestag deutscher „Schande“ und „Scham“, der 9. November 1989 als Jahrestag der Freude über die jahrzehntelang nicht für möglich gehaltene Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Angesichts der Gegensätzlichkeit dieser Ereignisse schien es kaum möglich, die Vielfältigkeit von Empfindungen -Scham und Freude, Selbstverpflichtung und Dank -in das sich auf ein einziges Datum konzentrierende Gedenken zu integrieren.

Dabei wäre es gewiß nicht nur eine reizvolle, sondern auch herausfordernde Aufgabe gewesen, die Möglichkeiten und Tiefpunkte, die historisch mit diesem Tag verknüpft sind, zusammen zu denken. Denn in der Reihe der Jahrestage verwirklicht sich im 9. November fast die widersprüchliche und schmerzvolle, schließlich die kriegsbedingte Teilung überwindende Entwicklung dieses „deutschen Jahrhunderts“, von dem Eberhard Jäckel in seiner anregenden Synthese deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert sprach: „Es war das deutsche Jahrhundert. Kein anderes Land hat Europa und der Welt im 20. Jahrhundert so tief seinen Stempel eingebrannt wie Deutschland, schon im Ersten Weltkrieg, als es im Mittelpunkt aller Leidenschaften stand, dann natürlich unter Hitler und im Zweiten Weltkrieg, zumal mit den Verbrechen des Jahrhunderts, dem Mord an den europäischen Juden, und in mancher Hinsicht gilt es kaum weniger für die Zeit nach 1945. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war von den Nachwirkungen beherrscht, und noch an seinem Ende nimmt Deutschland wegen dieser Ereignisse einen herausragenden Platz im Gedächtnis der Völker ein.“

Im Sinne dieses breit ausgreifenden Deutungsansatzes liegt es, wenn hier angeregt wird, daß im Zusammenhang mit der öffentlichen Erinnerung an den 9. November 1938 und 1989 immer auch und möglichst zugleich über die Vielschichtigkeit dieses Datums reflektiert wird. Denn rasch wird deutlich, daß Gedenktage sich in der Regel zwar durch ihre Eindimensionalität auszeichnen, daß sie aber gerade dadurch einen Teil ihrer Wirkung für die Auseinandersetzung der pluralistischen Gesellschaft mit vielfältigen, spannungsreichen, vielleicht sogar widersprüchlichen Geschichtsbildern einbüßen. Gedenktage sollen in der Regel an Tatsachen und Ereignisse erinnern, die im Gedenken über Zweifel und Kritik erhoben werden. Komple-xität historischer Ereignisse und schon gar von historischen Verkettungen läßt sich mit ihnen nicht vermitteln; denn in der Erinnerung zielt die historische Reflexion auf die Gegenwart. Diese Reduktion erklärt die Grenzen des Gedenkens für die Prägung nachhaltig wirkender Maßstäbe politischen Verhaltens.

Der Fall der Mauer am 9. November 1989 symbolisierte das Ende der DDR. Wie immer man ihren Stellenwert im Rahmen der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, des 20. Jahrhunderts oder in der deutschen Geschichte bewerten mag, ob man sie aus der anfänglichen Hoffnung auf einen Neuanfang, unter dem Eindruck ihres Scheiterns vom Ende her oder mit Blick auf sich bietende offene Situationen aus der Mitte ihrer Jahre beurteilt, so ist doch nicht zweifelhaft, daß die DDR als „zweite deutsche Diktatur“ bezeichnet werden muß. Sie setzte das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ gegen das Modell des repräsentativen und freiheitlichen Verfassungsstaates und bekannte sich zum Prinzip der Partei-diktatur. SED-Anhänger betonten den Pluralismus als Ziel nur, wenn es eigene Ansprüche in bekämpften politischen Systemen durchzusetzen galt. Als Recht des anders Denkenden konnten sie die Selbstverpflichtung auf eine pluralistische Ordnung niemals akzeptieren. Der SED-Staat gewährte seinen Bürgern die -eingeschränkten -Grundrechte keineswegs voraussetzungslos, sondern knüpfte sie an politische Prämissen, insbesondere an die Anerkennung des demokratischen Zentralismus, den Führungsanspruch der SED, die Akzeptanz einer als Arbeiter-und Bauernstaat bezeichneten Diktatur mit weltanschaulichem Führungsanspruch. Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gehörten nicht zum Kanon ihrer‘politischen Grundprinzipien. Insofern barg die Verfassungsordnung der DDR totalitäre Elemente und Potentiale in sich, die das Individuum der Staatsmacht auslieferten. Überwachung und Repression engten viele Menschen ein, zwangen sie im günstigsten Fall in Nischen oder zur Flucht, und manche wurden als Regimegegner und Widerstandskämpfer im SED-Staat zu Opfern von staatlichen Repressionsmaßnahmen und erlitten lebenslange Schäden.

Gegen Unterdrückung und Zwang hatten sich in der DDR immer wieder Menschen gewandt, als einzelne Oppositionelle und Regimegegner, auch als Angehörige von Gruppen, die sich an jenen Wert-und Weltvorstellungen orientierten, die der SED-Führung als Relikt einer zu überwindenden Epoche galten, aber auch im massenhaften Protest wie am 17. Juni 1953, dem Symbol eines Aufstands, der als Protest gegen Normerhöhungen begann und schließlich in die Forderung mündete, freie Wahlen zu ermöglichen, um die Einheit der beiden deutschen Staaten zu erreichen. Dieser Aufstand wurde gewaltsam unterdrückt. Im „deutschen Herbst“ von 1989, dem Herbst der Montagsdemonstrationen, dachten gewiß viele der Beteiligten an die Junitage 1953. Sie überwanden ihre Angst, ließen sich nicht von den Vertretern der „Staatsmacht“ einschüchtern, forderten Grundfreiheiten und schließlich einen grundlegenden Systemwandel, der die Voraussetzungen für die Vereinigung vom Oktober 1990 schuf. Das Datum des Mauerfalls ist der 9. November 1989. Vielleicht ist die Fixierung auf dieses Datum angesichts der Massenflucht über Ungarn im August und September 1989 sowie der Besetzung der deutschen Botschaften in Prag und Warschau nicht einmal ganz angemessen. Aber es ist zu verstehen, daß tanzende Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor den Zusammenbruch eines Grenzsystems symbolisieren, welches die DDR-Führung in den sechziger und siebziger Jahren als „antifaschistischen Schutzwall“ und „Friedens-grenze“ bezeichnet hatte. An dieser Grenze waren Tausende von Fluchtversuchen gescheitert, Hunderte Flüchtlinge erschossen worden. Nur mühsam war die Durchlässigkeit des hermetischen Sicherungssystems durch Passierscheinverhandlungen und Ostverträge vergrößert worden.

V.

So schließt sich der Kreis. Der 9. November hat als Erinnerungs-und Gedenktag einen Bezug zu allen deutschen Verfassungssystemen des 20. Jahrhunderts. Er symbolisiert 1918 und 1989 den Aufbruch in den freiheitlichen Verfassungsstaat. 1923 verweist er auf die Gefährdungen der Demokratie durch Verfassungsfeinde, die zu allem entschlossen sind und die Freiheiten in Anspruch nehmen, um sie zu zerstören. Der 9. November 1938 verdeutlicht, wie brüchig die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens in einem politischen Gemeinwesen sein können. Der Mensch kann sich des Mitmenschen niemals sicher sein, und er kann sich nicht einmal selbst vertrauen. Und dennoch verkörpern alle Jahrestage des 9. November zugleich eine Hoffnung: Lassen sich die deutschen Verfassungssysteme des 20. JahrHunderts auch durch ihre höchst unterschiedliche Dauer und auch durch ganz spezifische Ziele charakterisieren, so bedeuten sie im Positiven wie im Negativen, daß die „Würde des einzelnen“ von der Staatsgewalt zu sichern ist. Wir unterscheiden zwar totalitäre Regime von Transformationsregimen und Verfassungsstaaten; aber wir messen ihre Bedeutung am Kriterium der Menschenrechte. Eine Auseinandersetzung mit der vielfältigen Geschichte des 9. November zeigt, daß sich unter dieser Voraussetzung ganz verschiedene Zugänge zu diesem Datum bahnen lassen.

Gedenktage haben deshalb ohne Zweifel eine große Bedeutung für die Gesellschaften, die sie zelebrieren. Wenn Eberhard Jäckel in seinem zupackenden Essay unser Jahrhundert als „deutsches“ bezeichnen konnte, dann gibt es nur einen Tag des Jahres, an dem dieses Jahrhundert in seinen entscheidenden Zäsuren und Brüchen, in seinen Schwierigkeiten und Möglichkeiten, in seinen Höhen und Tiefen immer wieder besonders deutlich wird: der 9. November. Gewiß: Die Annäherung an ein Datum der Geschichte, das die Vielfalt wie die des 9. November spiegelt, hat immer etwas Willkürliches. Aber sie bietet Möglichkeiten, Gedenktage aus eindimensionalen Verengungen heraus zu führen und so umstrittene und schmerzende Ereignisse komplexer zu würdigen. Geden­ ken, Erinnern und auch Vergessen sind oft willkürliche Akte, die ihren Sinn erst durch Reflexion und Konstruktion bekommen. Insofern lohnt sich der Versuch, mit der Vielfalt der Erinnerungsbezüge, die dieses Datum eröffnet, auch die Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, vielleicht ganz im Sinne des britischen Historikers Eric Hobsbawn, der einmal von erfundenen Traditionen gesprochen hat. „Invented traditions“ bezeichnen ihm zufolge sowohl „erfundene, konstruierte und offizielle“ Traditionen als auch solche, die „auf weniger leicht nachvollziehbaren Wegen in einem kurzen und datierbaren Zeitraum“ auftauchen Die Betonung derartiger Traditionen dient der Einschärfung bestimmter Werte und Verhaltensnormen, die zugleich die Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit hersteilen sollen. Traditionen stellen sich zwar als Ausdruck einer historischen Kontinuität dar; zugleich ist aber offensichtlich, daß sie die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, in der Regel mit dem Blick auf eine verpflichtende Zukunft, erst stiften.

Dies zeigt nicht zuletzt der 9. November. Seine Vielschichtigkeit in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts bietet eine gute Möglichkeit, das Spannungsverhältnis zwischen Demokratien und Diktaturen am deutschen Beispiel nicht nur sichtbar, sondern auch für das öffentliche Erinnern fruchtbar zu machen. Denn die Erfahrung der Gefährdung menschenwürdiger Existenz gehört zu diesem Jahrhundert und zur deutschen Geschichte ebenso wie die Erinnerung an den Zusammenbruch von Systemen, die den Durchbruch demokratischer Bestrebungen ermöglichten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Klaus Kunkel, der als ehemaliger Verlagskoordinator des Instituts der Deutschen Wirtschaft früh auf die Vielfältigkeit des 9. November hinwies und die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in ihrer Breite und Widersprüchlichkeit förderte. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorf 1978.

  2. Vgl. die grundlegende Arbeit von Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München -Wien 1995.

  3. Fritz Stern, Vier Tage im November, in: Johannes Willms (Hrsg.), Der 9. November: Fünf Essays zur deutschen Geschichte, München 1994, S. 84.

  4. Vgl. Hans Hermann Hertle, Der Fall der Mauer: Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2. Aull, Opladen 1999. Siehe auch den Beitrag von H. -H. Hertll in diesem Heft.

  5. F. Stern (Anm. 3).

  6. Ebd., S. 83.

  7. Eberhard Jäckel, Das deutsche Jahrhundert: Eine historische Bilanz, Stuttgart 1996. Jäckel erinnert dabei an eine Feststellung von Raymond Aron: „Es hätte Deutschlands Jahrhundert sein können.“

  8. Dies wird bereits deutlich, wenn etwa das Kriegsende 1945 mit allen Kriegsfolgen wie der Teilung Deutschlands, der Vertreibung oder der Reparationsleistungen mit der nationalsozialistischen Machtergreifung als Voraussetzung der „deutschen Katastrophe“ verknüpft wird.

  9. Vgl. Bruno Seidel/Siegfried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968; Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert: Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996.

  10. Vgl. Eberhard Sandschneider, Stabilität und Transformation politischer Systeme: Stand und Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung, Opladen 1995; Holm Sundhaussen, Die „Transformation“ Osteuropas in historischer Perspektive oder: Wie groß ist der Handlungsspielraum einer Gesellschaft, in: Hellmut Wollmann u. a. (Hrsg.), Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Opladen 1995, S. 77 ff.

  11. Eric Hobsbawn, Das Erfinden von Traditionen, in: Christoph Conrad und Martina Kessel (Hrsg.), Kultur und Geschichte: Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart t 998, S. 97.

Weitere Inhalte

Peter Steinbach, Dr. phil. habil., geb. 1948; Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Freien Universität Berlin und Leiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte an der FU Berlin; Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen in der öffentlichen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit, Berlin 1981; (Hrsg.) Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren, München 1984; Widerstand im Widerstreit: Die Deutschen und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Paderborn 1994 (2. Aufl. 1999); (Hrsg.) Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, 3. Aufl., München 1994.